Читать книгу Der Kronzeuge - Ava Patell - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеWie in einer Falle fühlte sich auch Aiden. Sam Wilkins schloss die Tür hinter sich und mit einem Mal wurde Aiden klar, dass er nun mit diesem Mann, der in seinem Rücken stand, allein war. Barones Blick spürte er deutlich in seinem Nacken und nur schwer schaffte er es, ein Schaudern zu unterdrücken. Sich leise räuspernd drehte sich Aiden auf dem Stuhl zurück und sah zu Barone auf. Der war einen halben Kopf größer als er selbst, vielleicht sogar etwas mehr. Aiden fühlte sich wie eine lebendige Maus in einem Adlerhorst und wusste nicht, was er sagen sollte.
Gabriel Barone sah auf den jungen Mann vor sich. Vielleicht Ende 20. Dunkelbraunes Haar. Blasse, fahle Haut und blasse Lippen, von denen er vermutete, dass sie der Situation geschuldet waren. Helle, braune Augen sahen ängstlich zu ihm auf und warteten offensichtlich auf den nächsten Schritt, den er tun würde. Detective Sam Wilkins hatte ihm eine ganze Menge Informationen geliefert und dieser junge Mann war offensichtlich der Schlüssel dazu, Cortez das Handwerk zu legen. Den Mann aus dem Verkehr zu ziehen, den er bis aufs Blut hasste. Der vor nichts zurückschreckte. Der ein gewissenloser Bastard war und kein Fünkchen Ehre im Leib trug. Gabriel setzte sich wieder und griff nach dem Stift.
»Also gut. Was genau haben Sie beobachtet?«
Aiden seufzte leise. »Wenn ich das noch einmal jemandem erzählen soll, bekomme ich Fusseln am Mund«, murmelte er, aber Barones Blick ließ ihn schlucken. Es war ein kalter Blick, fordernd und fest und er konnte sich durchaus vorstellen, dass es Menschen gab, die diesem Mann sofort alles gaben, was er haben wollte, denn auch Aiden begann wie von selbst weiterzusprechen.
»Ich habe gesehen wie Cortez jemandem die Kehle durchgeschnitten hat.«
»Wann?«
»5 Uhr 40. Etwa.« Müde strich sich Aiden durchs Haar.
»Wo?«
»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mit Ihnen darüber reden sollte.«
Gabriel griff nach einem Zettel und notierte sich etwas darauf. Bei dieser Antwort jedoch hob er den Blick und sah den jungen Mann fest an.
Aiden erwiderte den Blick. »Lincoln Road. Wieso fragen Sie denn?« Dieser Blick, der Aiden klarmachte, dass er zu antworten hatte. Wie machte dieser Mann das, nur mit den Augen?
»Hm.« Gabriel notierte sich auch das. »Wie sah der Mann aus, der getötet wurde?«
Sollte Aiden all das Barone erzählen? Sam Wilkins hatte ihm dazu keinerlei Anweisungen gegeben und dieser Mann kannte Cortez offensichtlich und auch seine Kreise. Was, wenn er helfen konnte, Beweise zu liefern? Ein blauer Blick sagte ihm, dass er zu lange mit seiner Antwort brauchte.
»Untersetzt, kleiner als Cortez. Er hatte kurzes Haar, kürzer als Ihres. Ich weiß nicht viel, es war dunkel und es ging alles so schnell.«
»War er weiß?«
Aiden nickte. »Ja. Vielleicht... Vielleicht Latino, ich bin nicht sicher, aber nicht schwarz.«
»Hm«, machte Barone nur erneut und schrieb etwas auf den Zettel, als die Tür aufging. Diesmal ohne ein Klopfen oder eine Ankündigung. Asali Sorkov betrat den Raum.
»Ich habe den Detective gehen sehen und... Oh.« Sie stutzte. »Er hat seinen Welpen vergessen, wie ich sehe.« Sie kam näher. »Was machen wir jetzt damit?«
Gabriel reichte ihr den Zettel und sie griff danach, als sie nah genug war. Forschend sah sie den jungen Mann an, der im Büro ihres Chefs auf einem Stuhl gestrandet war und missmutig zu ihr aufsah.
»Wir behalten ihn«, sagte Gabriel knapp.
Sie schürzte die Lippen. »Behalten?«
Er nickte. »Ja. Such ein Zimmer für ihn. Ruf Pavel an. Und lass ihn bis dahin nicht aus den Augen.«
Während er sprach, scannten ihre Augen den Zettel. »Cortez?«, fragte sie und der Name klang aus ihrem Mund wie eine ansteckende Krankheit.
Gabriel nickte knapp.
»Na schön.« Sie strich sich eine Falte aus dem Rock. Dann nickte sie dem jungen Mann zu. »Dann komm mal mit, Schätzchen.«
Aiden sah zu der Sekretärin auf, die viel mehr zu sein schien als das. Doch er blickte noch einmal zu Barone zurück. »Was für ein Zimmer? Wer ist Pavel?«
Die schwarze Frau schnalzte mit der Zunge. »Na, na.« Sie schüttelte den Kopf. »Aus und bei Fuß, Süßer. Man bedrängt das Herrchen nicht. Und jetzt hoch mit dir.« Sie lief zur Tür, die sie vorhin offen hatte stehen lassen.
Für einen Moment begegnete Aiden dem Blick von Gabriel Barone, der ihm keine Antworten liefern wollte. Mit einem Ruck erhob er sich. Er wurde wütend! Niemand sprach mit ihm, ständig bekam er nur ausweichende Antworten, die ihm überhaupt keine Sicherheit gaben! Aber genau deshalb war er doch hier, oder? Aidens Schritte trafen fester auf den Boden als es normal gewesen wäre, als er der schwarzhäutigen, langbeinigen Schönheit aus dem Büro folgte. Vielleicht trugen auch Schlafentzug und Hunger zu seiner aktuellen Stimmung bei. Im Vorbeigehen fing er den dunklen Blick der Frau auf.
»Vergleichen Sie mich nicht noch einmal mit einem Hündchen, Mrs. Sorkov.«
»Das kann ich nicht versprechen«, meinte sie und schloss die Tür hinter sich, als sie das Büro verlassen hatten. »Aber fürs Erste, verrate mir deinen Namen.« Sie lief langsam den Flur hinunter.
»Aiden Miller«, antwortete er, während er neben Mrs. Sorkov herlief.
»Mein Name ist Asali Sorkov. Aber Asali reicht vollkommen. Wie alt bist du?« Sie bogen um eine Ecke, dann um eine weitere.
»Neunundzwanzig. Und das genügt jetzt an Fragen. Wenn Mr. Barone etwas über mich wissen möchte, dann soll er mich selbst fragen«, beschloss Aiden und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Oh, aber das sind Dinge, die mich interessieren.« Sie öffnete die Tür zu einem weiteren Büro. Von der Einrichtung her unterschied es sich zu dem von Gabriel Barone. Viel weiß und schwarz und ein paar Grünpflanzen. Sie deutete auf einen gemütlich aussehenden Sessel. »Setz dich, Schätzchen.«
Aiden seufzte, setzte sich aber. Immer, wenn Mrs. Sorkov ihn Schätzchen nannte, fühlte er sich wie einer der Klienten von Josephine Baxter, seiner Kollegin.
»Trinkst du Alkohol?«, fragte sie jetzt, während sie zu einem Schrank ging und dort eine Tür öffnete.
»Ja. Ich trinke Alkohol, aber solange Sie da drin keinen mindestens 12jährigen Single Malt haben, trinke ich lieber nichts.«
Sie hob nur eine Augenbraue, lächelte geheimnisvoll und griff dann nach einer Flasche, drehte den Verschluss auf und kippte einen guten Daumenbreit in ein Glas. Die Flüssigkeit war bernsteinfarben und hinterließ ölige Tropfen am Glasrand, als sie zu ihm trat und es ihm reichte.
»Macallan 17. Das Hündchen hat Geschmack.«
Aiden nahm das Glas aus schlanken schwarzen Fingern. An einem funkelte ein filigraner Ring.
»Trinken. Jetzt«, meinte Asali und goss dann ein Glas mit Wasser halb voll, in das sie eine Tablette drückte, die daraufhin zu sprudeln begann und sich schäumend auflöste. Leicht schwenkte sie es, um den Vorgang zu beschleunigen.
Ja, dachte Aiden, wie ein Klient von Josephine. Er trank einen Schluck und seufzte innerlich auf, als ihm das rauchige, wenig blumige Aroma im Mund zurückblieb und der Whisky ein angenehmes Brennen in seinem Hals auslöste. Prompt breitete sich Wärme in ihm aus und er nahm noch einen zweiten und einen dritten Schluck, leerte damit das Glas. Der Geschmack würde ihm lange im Mund bleiben, das wusste er - bis Asali auf ihn zutrat, ihm das leere Glas abnahm, durch ein halb gefülltes ersetzte und sagte: »Jetzt das.« Sie stellte das benutzte Glas auf den Servierwagen und trat dann an ihren Schreibtisch.
Aiden sah skeptisch auf die milchige Flüssigkeit in dem Glas.
»Moment. Was ist das?«
»Aspirin.« Sie griff nach ihrem Telefon und wählte eine Kurzwahltaste an.
»Oh.« Aiden runzelte die Stirn, den Blick immer noch auf das Glas gerichtet. Er hatte eigentlich kein Kopfweh. Vielleicht war es Vorbeugung, dachte er sich. Er hob kurz den Blick zu Mrs. Sorkov, die ihm mit einer knappen Handbewegung bedeutete, das Glas zu leeren. Nun, immerhin war es Flüssigkeit, sagte sich Aiden und trank in kleinen Schlucken, bevor er das Glas auf dem Schreibtisch abstellte und sich zurücklehnte. Auf Asalis Gesicht zeigte sich ein lobendes Lächeln, bevor sie zu sprechen begann.
»Pavel, hey! Hier ist Asali. ... Danke, gut. Und dir? ... Na wunderbar. Du kannst dir sicher denken, warum ich anrufe? ... Ganz genau. So schnell wie möglich.« Während sie sprach, trat sie an die Fensterfront, die auch hier einen Teil des Raumes ausmachte und sah auf den Zettel, den sie von Gabriel bekommen hatte, las erneut die Informationen darauf. »24 Stunden. Und du weißt, dass das noch nie eine Rolle gespielt hat.« Sie lachte leise. »Genau. Danke. Bis später.« Sie beendete das Gespräch und sah noch eine Sekunde nach draußen. Dann drehte sie sich zu dem jungen Mann um, der nun unter ihrer Obhut stand.
»Was hältst du von einem verspäteten Frühstück?«
»Wer ist dieser Pavel und was ist in 24 Stunden?«, fragte der nur zurück.
»So neugierig«, meinte sie lächelnd und legte das Telefon auf den Schreibtisch, trat dann davor und lehnte sich an die Tischplatte. »Pavel ist Personenschützer.« Sie überlegte kurz. »Ja. Nennen wir es einfach so. Er hat eine kleine Firma und bietet bestimmten Leuten seine Dienste an. Seine Angestellten werden ein Auge auf dich haben, damit dir nichts passiert.« Lächelnd sah sie in das blasse Gesicht, welches jetzt zumindest im Ansatz wieder Farbe bekam. »Und es geht nicht darum, was in 24 Stunden passiert, sondern, dass er dafür sorgt, dass du 24 Stunden am Tag überwacht wirst.«
Aiden schluckte schwer. Nickte dann aber. Er war sich sicher, dass Amy ihm inzwischen geschrieben hatte. Ihre Verabredung heute Abend würde nicht stattfinden und damit würde innerhalb seiner Familie eine Chaoslawine losbrechen, das wusste er. Doch er erreichte sie nicht. Oder vielleicht doch? Er hob den Blick in Asalis Augen.
»Darf ich telefonieren?«
»Nein, Schätzchen. Das geht leider nicht.«
Mit dieser Antwort hatte Aiden gerechnet. Er machte sich nichts vor, er würde das Chaos nicht abwenden können. Genauer gesagt befand er sich schon mittendrin. »Ich weiß nicht, ob ich was runter bekomme«, antwortete er viel zu spät auf die Frage nach einem Frühstück.
»Einen Versuch ist es wert. Was möchtest du haben?« Ihre Stimme klang jetzt sanft, fast so als würde sie fühlen, was in dem jungen Mann vorging und dieser sanfte Unterton ließ Aiden schlucken.
»Ich weiß nicht. Etwas Leichtes.« Er erhob sich mühsam und fühlte seinen Körper streiken, doch er konnte auch nicht länger sitzen bleiben. Aiden trat auf den Servierwagen zu, hob ein Glas nach oben, in das Initialen hinein graviert waren und betrachtete es abwesend.
»Toast? Ein bisschen Rührei? Obst?«
Aiden spürte Asalis Blick auf sich ruhen. »Toast reicht«, murmelte er und stellte das Glas vorsichtig wieder ab. Er musste sich irgendwie davon abhalten, zu viel nachzudenken. Noch war dafür nicht die Zeit und er wollte all seinen Gedanken noch keinen Raum lassen. Nicht vor dieser fremden Frau. Aidens Blick ging aus dem Fenster. Unter ihnen, weit unter ihnen, lag die Stadt, inzwischen geschäftig im Vormittagstrott. Dienstagmorgen.
»Wie spät ist es?«, fragte er Asali und sah dabei über seine Schulter zu ihr.
Sie griff nach dem Telefon und tippte eine Nummer ein. »Kurz vor 11.« Es wurde am anderen Ende beinahe sofort abgehoben und sie bestellte in der Küche ein kleines Frühstück.
»Hm«, machte Aiden so leise, dass er Asali nicht störte und erst jetzt kam er dazu, seine Jacke abzulegen. Er hängte sie über die Stuhllehne, sah sich weiter um. Das Büro wirkte weniger angsteinflößend und klarer, beinahe beruhigte es ihn. Es kam ihm vor als wäre er bereits seit 48 Stunden auf den Beinen, dabei waren es gerade sieben einhalb. Aiden bemerkte gar nicht, dass er einen unsichtbaren Punkt an einer der Bürowände fixierte.
Das Telefon landete wieder auf dem Schreibtisch und Asali richtete den Blick auf den jungen Mann. »Wie fühlst du dich?«, fragte sie.
Aiden schreckte aus seinen Gedanken. »Ging mir schon mal besser.« Er sah über seine Schulter. »Ich will nicht darüber reden.« Asalis Blick folgte ihm, als er auf ein Kunstwerk zutrat und davor stehen blieb. Leicht legte er den Kopf schief.
»Gut.« Sie war der letzte Mensch, der Aiden jetzt drängen würde. Dafür kannte sie ihn nicht gut genug und im Grunde konnte es ihr auch egal sein. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und holte den PC aus dem Schlafmodus, rief das E-Mail-Programm auf und sah erneut auf den Zettel. Sie würde ein paar ihrer Kontakte anzapfen müssen, um etwas herauszubekommen.
Noch einmal warf Aiden einen Blick über seine Schulter, doch da war Asali schon in ihre Arbeit vertieft und Aiden würde sie nicht davon abhalten. Je weniger sie ihn fragte, desto besser. Er vertiefte sich wieder in das Kunstwerk an der Wand, es war modern, wenig verspielt, dafür aber klar und bestand nur aus wenigen Farben, dennoch konnte sich Aiden kaum darauf konzentrieren und er war froh, als es an der Tür klopfte und jemand ein Frühstück auf einem silbernen Wagen hereinschob.
Auch an diesem Mitarbeiter konnte Aiden keinen Makel feststellen. Wie schon Sam Wilkins war auch Aiden das perfekte Äußere aller Mitarbeiter hier längst aufgefallen. Auf dem Servierwagen stand eine kleine Frühstücksauswahl. Aiden griff nach einem Toast, der noch warm in einem Brotkorb lag, und schob sich eine Ecke in den Mund. Er fing immer mit einer Ecke an, während seine Schwester immer an einer Kante zuerst abbiss. Früher hatte sie deshalb immer Marmelade oder Nougatcreme in den Mundwinkeln gehabt. Aiden musste lächeln bei diesem Gedanken. Er setzte sich wieder und kaute langsam auf dem Toast herum. Das leise Klackern der Tastatur unter Asalis Fingern klang regelmäßig an seine Ohren. Nach dem Toast pickte Aiden noch etwas im Rührei, doch viel bekam er nicht hinunter.
Es dauerte eine gute Stunde, bis Asalis Telefon klingelte und die Ankunft von zwei Mitarbeitern von Pavel ankündigte. Sie ließ sie heraufschicken und kurz darauf klopfte es an der Tür. »Ja«, rief sie deutlich und zwei Personen traten ein. Ein schlanker, mittelgroßer Mann mit blondem Haar und eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und sehniger Statur.
»Mrs. Sorkov. Wir kommen von Pavel.«
Asali strich sich eine Strähne hinter das Ohr. »Wunderbar. Zuverlässig wie immer.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück. »Pavel hat Sie bereits über die Grundlagen informiert?«
Beide nickten knapp.
»Gut. Kein Kontakt. Zu niemandem außer zu mir und Mr. Barone. Es sei denn, er oder ich sagen etwas anderes.«
Wieder nickten beide.
»Es geht um Cortez. Wir wissen noch nichts Genaues, aber ich informiere Sie, sobald ich weitere Informationen habe. Für heute geht es erst einmal hauptsächlich darum, Mr. Miller von allem abzuschirmen. Wir werden dann sehen, was die Zeit bringt.«
»Ja, Ma’am.«
»Gut.« Asali erhob sich und nickte zu Aiden. »Komm Schätzchen. Bringen wir dich dahin, wo du es gemütlicher hast.«
Sie zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf und nahm eine Chipkarte heraus. Dann lief sie zur Tür und sah sich nach Aiden um.
Aiden blieb nichts weiter übrig als zu folgen. In seinem Magen rumpelten Toast, Rührei, Whisky und Aspirinlösung durcheinander. Er trug seine Jacke über dem Arm und erinnerte sich an das Beruhigungsmittel, das er in einer Jackentasche verstaut hatte. Die beiden Personenschützer, die ihnen folgten, gehörten jetzt wohl zu ihm. Er sollte sich wichtig fühlen und schützenswert, aber alles, was er wollte, war sein einfaches Leben zurück. Zurück nach Hause. Und das alles hier vergessen.
»Wo bringen Sie mich hin?«, fragte er Asali.
»In ein Zimmer.« Sie drückte den Rufknopf des Fahrstuhls und gemeinsam stiegen sie in die großzügige Kabine. »Da kannst du dich ausruhen, vielleicht etwas schlafen.«
»Hm.« Aidens Blick fiel auf die beiden Personen, die noch mit ihnen im Fahrstuhl waren. Noch mehr Fremde. Ob sie mit ins Zimmer kommen würden? In Filmen und Serien blieben sie immer vor der Tür stehen und dann kam jemand durchs Fenster ins Zimmer und brachte die darin befindliche Person doch um. Aiden wusste nicht, ob es ihm lieber wäre, wenn sie im Zimmer oder davor blieben.
Der Fahrstuhl hielt nur zwei Stationen später wieder an und entließ sie in einen geräumigen Flur. Asali führte die Truppe an, den Flur hinunter, um eine Ecke und dann zu einer Zimmertür. Sie zog die Karte durch das Schloss und ein grünes Licht zeigte an, dass die Tür nun zu öffnen war. Sie betrat das geräumige Zimmer, das eher eine Junior-Suite war als ein normales Hotelzimmer. Die Sicherheitsleute folgten ihr und sahen sich kurz um, während Asali ihren Blick auf den jungen Mann hielt, der unsicher vor ihr stand.
»Mach es dir gemütlich, komm etwas zur Ruhe. Hier kann dir nichts passieren.«
Nur kurz hatte Aiden seinen Blick durch das Zimmer gleiten lassen, das sich in einer erstaunlichen Größe vor ihm ausbreitete, bevor Asalis Stimme seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Gut«, hörte er sich antworten, »danke.«
»Wir bekommen das schon hin, Schätzchen. Keine Sorge.« Sie lächelte Aiden noch einmal aufmunternd zu und verließ dann das Zimmer, gefolgt von den beiden Personenschützern.
***
Gabriel hob nicht einmal den Blick, als es an der Tür klopfte, welche gleich darauf aufging. Es gab nur eine Person, die sich das erlaubte. Asali. Und sie war wohl auch die einzige, die mit solch einem Verhalten durchkam. Sie schloss die Tür wieder hinter sich, ließ sich elegant auf einen der Sessel vor seinem Schreibtisch sinken und schlug die Beine übereinander.
»Also wenn ich schon Babysitter spielen muss, dann möchte ich jetzt wenigstens die ganze Geschichte hören.«
Nun nahm er doch den Blick vom Computermonitor und sah sie an. Sie hatte eine Augenbraue gehoben und die Arme vor der Brust verschränkt. Sie arbeiteten jetzt schon so lange zusammen, dass er diese Körperhaltung bei ihr als Angriffshaltung deutlich zuordnen konnte. Sie war sauer. Also lehnte er sich zurück und zog es vor, sie kurz über das Gespräch mit dem Detective zu informieren. Alles andere wäre ineffektiv gewesen. Er kannte Asali gut genug, um zu wissen, wann er gar nicht erst kämpfen musste und der Kampf schon von vornherein verloren war.
Sie war auf dem Stuhl nach vorne gerutscht, als er fertig war. Die Hände mit den fein manikürten Nägeln zu Fäusten geballt.
»Gott, ich hasse diesen Typen.«
Er lächelte schmal. »Du kennst meine Meinung dazu«, sagte Gabriel schlicht.
»Hm«, machte sie knapp und zupfte einen Moment an ihrem rechten Ohrring. »Also behalten wir ihn?«, fragte sie dann.
»Woher kommt diese Metapher mit dem Hund?«, fragte er ruhig. Das war ihm schon vorhin aufgefallen.
Asali gluckste. »Ach komm. Wirklich? Sag mir nicht, das wäre dir nicht aufgefallen. Dieser Blick. So große Augen. Und so ängstlich, als hätte er den Schwanz zwischen den Beinen eingeklemmt.« Sie stutzte selbst, als ihr dieser Vergleich auffiel und lachte leise. »Na, du weißt schon, was ich meine. Es hätte doch nicht viel gefehlt und er hätte sich auf den Rücken geworfen und dir den Bauch dargeboten. Der Kleine hat Angst vor dir. Und vor der ganzen Situation. Wie ein Welpe. Wer kann es ihm verdenken?«
»Wäre es klug, ihn zu behalten?«, fragte er schließlich und sah seine Assistentin und Vertraute wieder an. »Du weißt, dass ich Cortez lieber tot als lebendig sehen würde. Er hat keinen Funken Ehre im Leib, er vergiftet diese Stadt und es wird immer schlimmer und jetzt fängt er auch noch an, Leute aus unseren Reihen zu ermorden.«
Asali hob die Augenbrauen und sah ihn groß an. »Du meinst, das Opfer war jemand von uns?«
Er nickte und sah auf den Monitor, auf dem die E-Mail geöffnet war, welche er von einem Kontaktmann bei der Polizei erhalten hatte. Jeff Rogue. 43 Jahre alt. Verheiratet. Zwei Kinder. Er war einer seiner ›Watch-men‹ gewesen. Und auch wenn er Jeff Rogue nicht persönlich kannte, so hatte er dennoch für ihn gearbeitet. Und hatte das laut Personalakte gut gemacht. Hatte einen guten Blick gehabt für die Personen, die in seinen Casinos saßen und die Summen zurückgewannen, die sie waschen wollten. Es war wichtig, Mitarbeiter einzusetzen, die darauf achteten, dass sie auch nur die Summen zurückbekamen, die abgesprochen und vertraglich zugesichert waren. Und nicht mehr. Man konnte niemandem vertrauen. Und dafür hatte er die ›Watch-men‹ eingestellt.
Jetzt war einer von ihnen tot und Gabriel vermutete, dass es nicht der erste seiner Mitarbeiter war, der auf Cortez' Konto ging. Insgesamt sieben seiner Mitarbeiter waren auf unerklärliche Weise verschwunden. Das konnte Zufall sein und bei den meisten von den sieben war es sicherlich auch so. Es passierte häufiger, dass jemand am Morgen nicht zum Dienst erschien.
Aber wenn Jeff Rogue auf die Kappe von Cortez ging, dann konnte oder konnte er auch nicht der Einzige sein.
»Wie schätzt du den Detective ein?«, fragte er Asali, die daraufhin leise lachte.
»Ach bitte. Ich weiß ganz genau, dass du ihn respektierst. Der Mann ist akkurat und hält sich an die Regeln und ist doch wie ein Pittbull. Ihr könnt euch vielleicht beide nicht sehr leiden, aber Respekt füreinander habt ihr. Das sehe ich dir an und das sehe ich ihm an. Er weiß, dass du kein Killer bist. Nicht wie Cortez. Und du weißt, dass er ehrlich ist und pflichtbewusst. Sonst würde der kleine Welpe jetzt nicht alleine im Zimmer sitzen. Atmend.« Sie seufzte und überlegte dann einen Moment, wobei sie wieder am Ohrring zupfte. Eine Nachlässigkeit, die sie nur in Gegenwart von Personen zuließ, die sie kannte und denen sie vertraute. Ein Fallenlassen ihrer Maske.
»Es ist riskant ihn zu behalten«, sagte sie dann. Ihr Blick ging unfokussiert aus dem Fenster. »Er schwebt in großer Gefahr und ja, Detective Wilkins hat Recht. Du bist vermutlich der Einzige, der den Kleinen am Leben erhalten kann. Cortez hat trotz allem gehörigen Respekt vor dir. Du bist eine Gefahr für ihn, genauso wie er eine für dich ist. Ich denke, das ist ein klassisches Patt.«
Gabriel verlagerte leicht sein Gewicht. »Jetzt kommst du auch noch mit Schach?«
Sie winkte unwirsch ab, um ihren Gedankengang nicht zu unterbrechen. »Der Detective ist genauso versessen darauf wie du, Cortez das Handwerk zu legen. Er will ihn aus dem Verkehr haben. Also denke ich, wird er sich um den richtigen Richter bemühen. Was ein Problem werden könnte, wäre der Staatsanwalt. Du kennst ihn besser als ich. Denkst du, er wird Anklage erheben gegen Cortez?«
Leicht legte Gabriel den Kopf zur Seite und sah in die dunklen Augen der Frau vor ihm.
»Ich denke, es gibt ein paar wirksame Mittel, dafür zu sorgen, dass der Staatsanwalt ganz versessen darauf wird, Anklage zu erheben. Meinst du nicht?«
»Ich denke schon, ja«, grinste sie und lehnte sich zurück. »Du wirst alleine nie an Cortez ran kommen. Seien wir mal realistisch. Wenn da nicht eine Menge Zufall mitspielt oder Glück oder was weiß ich, was da noch dazu gehört, dann wirst du niemals lebendig aus so einer Nummer herausgehen. Dazu ist er zu gut bewacht. Genau wie du selbst. Der Detective allerdings geht einen weniger aggressiven Weg und der gesamten Justiz kann selbst Cortez sich nicht entziehen. Es sei denn, er verlässt das Land. Und das wird er nicht tun. Dafür ist er zu stolz und sich seiner selbst zu sicher.« Sie sah jetzt wieder aus der Fensterfront.
»Er wird bleiben und darauf vertrauen, dass er alle möglichen Leute schmieren kann und wieder einmal mit einem Freispruch davonkommt und er wird darauf vertrauen, dass er bis zur Hauptverhandlung an den Welpen herankommt, um ihn in einer Regentonne zu ertränken.« Sie sah Gabriel an. »Es ist vielleicht nicht klug, ihn zu behalten, aber es ist das einzig Richtige, um endlich was gegen Cortez ausrichten zu können. Der Typ ist die Pest und es wäre eine Freude, ihn endlich hinter Schloss und Riegel zu sehen.«
»Was seinen Einfluss nicht unbedingt schmälern würde.«
Sie grinste jetzt wieder und er war froh, dass er diese Frau nicht zum Feind hatte. Sie hatte in diesem Moment etwas Raubtierhaftes. »Er hat genug Feinde im Gefängnis. Und du kennst die richtigen Leute.«
»Ich bin geschockt, dass du mir solche Machenschaften unterstellst. Ist das eine Anspielung, dass ich Cortez im Gefängnis umbringen lassen könnte?« Er legte gespielt gekränkt eine Hand auf seine Brust.
Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. »Niemals, Gabriel. Dazu wärst du doch gar nicht in der Lage.« Die Ironie in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Gut. Aber du gehst mit ihm Gassi«, meinte er dann und sie grummelte.
»Das habe ich fast befürchtet. Aber schön, solange er abends mit dir nach Hause geht, übernehme ich das Füttern und die Spaziergänge.« Sie erhob sich und strich den Rock glatt. »Er wird frische Kleidung brauchen.«
Gabriel hatte sich schon wieder dem PC zugewendet. »Dann besorge ihm welche.«
»Na schön.« Sie drehte sich auf den Zehenspitzen um und ging zur Tür. »Aber sei nachher nett zu dem Kleinen. Das muss ein ziemlicher Schock für ihn sein.«
»Ich bin immer nett«, meinte Gabriel ruhig und ignorierte das Lachen von Asali, während sie die Tür schloss.
***
Aiden atmete einmal tief durch. Langsam drehte er sich zurück ins Zimmer. Seine Schritte wurden gedämpft von einem hochflorigen Teppich, der hier im Wohnbereich ausgelegt war. In der Sitzecke standen schwere Möbel hinter einem dunklen Holztisch. Das dunkle Holz war auch im Schlafzimmer verwendet worden, in das Aiden nun durch eine Flügeltür trat. Der dunkle Fußboden, dazu die schweren Stoffe vor dem Fenster und auf dem Bett. Hier und da blitzten - wie schon im Wohnraum - goldene Dekorationen auf. Geschwungenen Beine verliehen den Nachttischen einen antiken Eindruck. Langsam trat Aiden zurück ins Wohnzimmer. Durch die Fenster schien die Sonne hinein und er bemerkte den Kronleuchter, der ihn an das pompöse Foyer erinnerte. Anscheinend war das gesamte Hotel in diesem Stil gehalten, denn auch im Badezimmer glänzten goldene Armaturen am Waschtisch, in der geräumigen Dusche und auch an der freistehenden Badewanne. Aiden drehte den Wasserhahn auf und hielt die Hände unter den kalten Wasserstrahl.
Alles hier wirkte nobel, aber ohne zu aufdringlich zu sein, ohne kitschig zu wirken. Normalerweise gefiel Aiden so eine Einrichtung überhaupt nicht, aber hier schien auf alles geachtet worden zu sein, einschließlich der Kordeln an den Bändern, die die Vorhänge zusammenhielten. Diese Harmonie verlieh dem Zimmer einen Charme, den er bei der Einrichtung nie für möglich gehalten hätte. Aiden spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und es wunderte ihn nicht, dass das Handtuch so weich in seinen Händen lag, wie er es noch nie gespürt hatte. Es wunderte ihn auch nicht, dass es außerordentlich sauber war. Mr. Barone schien kein Mann, der Fehler seiner Mitarbeiter tolerierte. Schon im Foyer war ihm ja die perfekte Kleidung der Angestellten aufgefallen.
Zurück im Wohnzimmer ließ sich Aiden auf eines der Sofas fallen. Die Polster waren nicht zu weich, aber auch nicht zu hart. Er schlüpfte aus den Schuhen und zog die Füße auf die Sitzfläche, legte beide Arme darum und die Stirn auf seine Knie. Für einen Moment schloss er die Augen. Stille umgab ihn, aber er nahm sie kaum wahr, weil in seinem Kopf ein tosendes Durcheinander herrschte. Kurz dachte er darüber nach, den Fernseher einzuschalten, aber er ertrug gerade keine weiteren Geräusche. Er hatte sein Handy nicht, er durfte mit niemandem Kontakt aufnehmen, so verlockend das auch war mit dem Telefon auf dem Schreibtisch, der hier im Wohnzimmer als Arbeitstisch diente. Jeder Kontakt würde die Personen in seinem Umfeld gefährden und so zerrissen Aiden auch war, dieses Risiko würde er nicht eingehen. Seine Finger krallten sich in seine Jeans und tief sog er ihren Duft in sich auf. Wenigstens etwas, das ihn an sein Leben vor der letzten Nacht erinnerte. Denn das war jetzt erst einmal Geschichte. Für wie lange? Er wusste es nicht. Überhaupt wusste er nicht viel. Hatte er richtig gehandelt, als er Sam Wilkins vertraut hatte? Als er sich hierher begeben hatte? Er hatte kaum eine Wahl gehabt.
Das oder der sichere Tod. Zumindest, wenn er Wilkins’ Worten glauben konnte. Fest kniff Aiden die Augen zusammen, hinter denen es bedrohlich zu brennen begann. Zitternd holte er Luft, besann sich darauf, dass er noch lebte, dass er das Richtige getan hatte und dass es ein Ende haben würde. Irgendwann. Dann wäre sein Leben wieder das alte.
Zur Ruhe kommen. Vielleicht etwas schlafen. Asalis Worte gingen ihm durch den Kopf. Er wusste, es war das einzig Vernünftige, aber an Schlaf konnte er nicht denken. Nicht jetzt. Was war nur passiert, dass er jetzt plötzlich hier saß? Die letzten Stunden schienen vollgestopft von Ereignissen gewesen zu sein, die ihn mit immerwährenden Erinnerungen quälten. Aiden erinnerte sich an das Beruhigungsmittel und hob den Kopf.
Wo hatte er seine Jacke gelassen? Er sah den dunkelblauen Stoff auf der Lehne eines hohen Sessels liegen. Anscheinend hatte er sie selbst dort abgelegt. Aidens Füße glitten über den weichen Stoff des Sofabezugs. Langsam erhob er sich, trat auf den Sessel zu und zog den weißen Streifen aus der Tasche hervor, in dem die einzelnen Tabletten in ihren kleinen Aushöhlungen saßen. Sollte er jetzt eine oder zwei nehmen? Der Arzt hatte ihm auf die Rückseite geschrieben, wie er sie einzunehmen hatte, aber Aiden war sich ganz und gar nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt war. Alles schien sich im Augenblick um den richtigen Zeitpunkt zu drehen.
Er hatte diese grausige Tat mitangesehen und das nur, weil er zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war. Was, wenn es anders gewesen wäre? Dann würde er jetzt mit Mr. Gettisburgh von ihrem Spaziergang zurückkehren und in die Mittagspause gehen. Mr. Gettisburgh erzählte immer gern aus seiner Vergangenheit als professioneller Rennfahrer, während er ruhig an seinem Stock neben Aiden herlief. Heute hatte er hoffentlich jemand anderen gefunden, dem er darüber berichten konnte. Aiden dachte über die vielen neuen Menschen nach, die er heute kennengelernt hatte. Die Polizisten auf der Wache, Sam Wilkins, Asali Sorkov, die ebenso eine Ruhe ausgestrahlt hatte wie es Mr. Gettisburgh tat. Aiden hatte diese Ruhe gut getan, aber jetzt war er allein.
In einem Hotel von diesem Gabriel Barone, den er nicht einschätzen konnte. Aidens Gedanken führten ihn wie von selbst zu dem toten Mann. Seine weit aufgerissenen Augen, in denen er das Weiße hatte sehen können, würde Aiden nicht so bald vergessen und auch das Röcheln und Gurgeln seines Atems und das dunkel glänzende Blut nicht. Schon jetzt schien alles wie ein Hintergrundgeräusch, das sich permanent unter alle anderen Geräusche der Umgebung mischte. Noch immer starrte Aiden auf die Verpackung in seiner Linken. In der Rechten hielt er seine Jacke. Nun ließ er beides sinken.
Noch nicht, beschloss er. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Beruhigungsmittel. Er wusste nicht einmal, ob er hier bleiben würde. Ob das hier jetzt seine Unterkunft für die nächsten Tage sein würde. Fester schlossen sich Aidens Finger um die Blisterpackung. Er hatte das Richtige getan. Das einzig Richtige. Was auch immer das jetzt für ihn bedeuten würde. Für einen Moment konnte er sich wieder spüren. Aiden schob das Beruhigungsmittel zurück in seine Jackentasche.
Er würde gern duschen. So richtig heiß duschen, den Schweiß des Morgens von seiner Haut waschen. Doch anschließend würde er wieder in seine benutzte Kleidung steigen müssen und wenn er ehrlich war, konnte er sich darin schon selbst riechen. Eine Dusche wäre damit hinfällig, also ließ er die Jacke auf der Sessellehne liegen und trat vor das Fenster. Ob Cortez schon Bescheid wusste? Er konnte auf die Stadt hinabsehen. Irgendwo da draußen lag die Leiche des Mannes, dessen Mord er beobachtet hatte. Irgendwo da draußen lebte der Mann, der die Schuld an dieser Misere trug. Irgendwo wurde vielleicht eine Familie darauf aufmerksam, dass der Vater nicht ans Telefon ging. Oder der Bruder, der Mann, der Sohn. Vielleicht nur ein Angestellter. Aiden wusste nichts über diesen Mann, der umgebracht worden war, aber er war sich sicher, sein Tod würde nicht unbemerkt bleiben - genau wie sein eigenes Verschwinden.
Wieder dachte er an seine Schwester, an seine Eltern, seine Freunde und ihm fiel die Liste ein, die Sam Wilkins noch von ihm verlangt hatte. Leicht zog Aiden die Augenbrauen zusammen. Sie alle konnten gefährdet sein, wenn Cortez ihm auf die Schliche kam. Sie alle brauchten Schutz. Entschlossen öffnete Aiden die Bänder, die die Vorhänge zusammenhielten und mit einem kräftigen Ruck zog er sie vor die breiten Fenster. Er trat an den Schreibtisch, schaltete die Tischlampe mit dem dunkelgrünen Lampenschirm ein und zog einen Bogen des hoteleigenen Briefpapiers hervor. Er hob den ungewöhnlich schweren Kugelschreiber von der dunklen Tischplatte, sah auf das beleuchtete Papier. Dann begann er zu schreiben. Eine Liste seiner Freunde, selbst von denen, mit denen er weniger eng befreundet war.
Nicht alle Adressen hatte er im Kopf, bei einigen kannte er nur die Straße, aber nicht die Hausnummer, bei anderen nicht einmal die. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sich Aiden sicher war, keinen vergessen zu haben und er betrachtete sein Werk. Hier und da waren Fragezeichen neben seiner engen, klaren Handschrift zu sehen. Leicht nickte er. Zumindest hatte ihn diese Liste beschäftigt. Der Stift hatte nicht mehr gezittert, als er ihn geschlossen und wieder abgelegt hatte. Und nun? Er drehte sich auf dem Stuhl und sah in das Hotelzimmer, das nun in gedämpftem Licht vor ihm lag.
Nach einigem Zögern schaltete Aiden doch den Fernseher ein, wählte aber einen Musiksender aus der Liste. Nicht einmal seinen MP3-Player hatte er hier - nichts. Keine Hygieneartikel, keine Kleidung, nichts, das an sein Leben vor dem Mord erinnerte. Als es irgendwann an der Tür klopfte, schreckte er zusammen, doch wie sich herausstellte, war es nur Asali, die ihm neue Kleidung und eine kleine lederne Reisetasche brachte. T-Shirts, Pullover, Jeans, Socken und Unterhosen für die nächsten Tage, alles in der Größe M. Aiden war es unangenehm, dass eine fremde Frau für ihn einkaufen gegangen war, aber die Situation ließ wohl nichts anderes zu, also bedankte er sich. Asali sah ihm fest ins Gesicht, nachdem ihr Blick kurz zu den zugezogenen Vorhängen geglitten war.
Sie strahlte eine innere Ruhe aus und Aiden wusste, ihre dunklen braunen Augen konnten ihm in die Seele sehen, so sehr er sich auch dagegen wehren wollte. Sie konnte die Angst sehen, die in ihm auf einen schwachen Moment wartete, die Unsicherheit ihr und Gabriel Barone gegenüber. Er war ihr dankbar, dass sie all das nicht ansprach. Nicht seit ihrer Frage nach seinem Befinden vorhin.
»Versuch’ ein wenig zu schlafen«, sagte sie nur. Der Tonfall war streng, also nickte Aiden, die Kleidung auf dem Arm, von der sämtliche Schilder bereits entfernt waren. Er legte alles auf dem Sessel ab, nachdem Asali den Raum verlassen hatte. Es machte ihn schier wahnsinnig, dass ihm niemand sagte, wie es weitergehen würde, also konzentrierte er sich auf das Hier und Jetzt, nahm eine Shorts aus dem Kleiderstapel, zog sich aus und ging ins Bad. Nicht einmal die heiße Dusche vermochte es, seine verkrampften Muskeln zu entspannen, aber wenigstens sorgte sie dafür, dass er wieder gut roch. Das Hotel bot Duschbad und Shampoo an, das Aiden benutzte und das nach Orange und Minze duftete. Er versuchte sich auf all diese Details zu konzentrieren, die seinen Kopf davon abhielten, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken.
Aidens Blick fiel in den an den Rändern beschlagenen Spiegel und er hielt einen Augenblick die Luft an. Wer war dieser fremde, blasse, ängstlich schauende Mann darin? So kannte er sich selbst nicht. Er hatte sich für die Arbeit im Altersheim ein dickeres Fell angeeignet als er es noch während der Ausbildung gehabt hatte, doch von seinem Selbstbewusstsein und seinem sicheren Auftreten fehlte momentan jede Spur. Stattdessen hatte er rote Augen, unter denen sich der Schlafmangel dunkel abzeichnete. Seine Haut war blass, selbst die Lippen waren nur hauchzart gefärbt. Aiden sah sich selbst in die goldbraunen Augen, während er tief durchatmete.
»Also gut«, flüsterte er. »Du lebst noch.«
Die letzten Worte wiederholte er noch einmal, beinahe tonlos. Er nickte sich selbst zu, die Hände lagen auf dem kühlen Marmor des Waschtisches, fanden Halt in einer brüchigen Welt. Nur in der neuen Shorts und mit noch feuchtem Haar trat Aiden ins Wohnzimmer, zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an. Das Shirt war vielleicht eine Spur zu groß und in die Jeans zog Aiden den Gürtel seiner eigenen Hose, doch ansonsten passten die Sachen gut.
Seine nackten Füße standen auf dem weichen Teppich, bis er sie mit Socken überzog. Kein Kribbeln, bemerkte er. Für gewöhnlich konnte er neue Jeans nicht tragen, da sie ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut auslösten. Er musste sie immer einmal waschen, bevor er sie tragen konnte, doch das war hier nicht der Fall. Kein Kribbeln und Aiden fragte sich, woran das liegen mochte, ahnte aber bereits, dass das Preissegment eine Rolle spielen könnte. Vom Fernseher drang immer noch leise Musik und als sich Aiden jetzt im Schneidersitz auf die Couch setzte, umgab ihn ein völlig fremder Geruch. Orange und Minze, neue Kleidungsstücke, in denen ein undefinierbarer Ladengeruch haftete.
Schwer schluckte Aiden. Seine eigene benutzte Kleidung lag als flacher Stapel auf dem Schreibtischstuhl und er unterdrückte mit Mühe den Impuls aufzustehen und an seinem Shirt zu riechen. Er ließ sich von den Musikvideos berieseln, bis seine Gedanken ihn wieder einmal in ihren Sog zogen. Bisher war er nie so nah an einem Verbrechen gewesen wie heute. Er selbst vermied es sogar, bei rot über eine Ampel zu gehen oder irgendwelche Rechnungen zu spät zu bezahlen und nun das. Womit hatte er das eigentlich verdient? Wieso gab es Menschen wie Cortez, die andere Menschen töteten? Aiden ließ seine Gedanken vorbeiziehen wie Wolken, betrachtete jeden einzelnen ohne genauer auf ihn einzugehen oder ihn zu untersuchen.
***
Gabriel Barones Schritte waren fest auf dem engmaschig gewebten Teppich, der in jedem Stockwerk verlegt war, um die Schritte vor den Zimmern zu dämpfen. Nur kurz nickte er den zwei Personenschützern zu, die vor dem Zimmer Posten bezogen hatten, dann zog er die Karte durch das Schloss und drückte die Tür auf. Er wollte nach Hause und er hatte keine Lust auf Verzögerungen. Asali hatte sich um den Welpen gekümmert, wie sie es zugesichert hatte und nun war es an ihm, seinen Teil der Abmachung einzuhalten und den Mann so lange am Leben zu erhalten, bis er gegen Cortez aussagen konnte.
Die Tür sprang ohne irgendeine Vorwarnung auf und vertrieb Aidens Gedankenwolken wie ein aufziehender Sturm. Ein großer Schatten erschien in dem kleinen Flurbereich und Aiden erkannte seinen Gastgeber selbst im Halbdunkel des Zimmers, als dieser in den Wohnbereich trat. Er war sich sicher, dass er die einnehmende Aura, die von Barone ausging, nie mehr vergessen würde. Gespannt sah er zu dem Mann auf, immer noch im Schneidersitz.
Gabriels Blick fiel auf den Mann, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Er trug neue Kleidung. Und deutlich hochwertiger als die, die er noch zu Beginn des Tages getragen hatte. Asali verstand ihr Handwerk.
»Wir gehen«, sagte Gabriel knapp und hoffte, dass der junge Mann nicht von der langsamen Sorte war.
Wie von einem Marionettenspieler gesteuert erhob sich Aiden und verfluchte sich im nächsten Moment dafür. Sein Körper reagierte in diesem Angstzustand auf jede Ansage, die Gabriel Barone machte, obwohl Aiden das nicht wollte. Mit kraus gezogener Stirn schlüpfte er in seine Jacke und sammelte die Kleidung ein, sowohl alte als auch neue.
»Wohin gehen wir?«, fragte er, als er in seine Turnschuhe schlüpfte.
»Zu mir«, antwortete Gabriel knapp.
Aiden schob die Kleidungsstücke in die kleine Reisetasche, die Asali ihm von ihrem Einkauf für ihn mitgebracht hatte und hob sie vom Sessel. Direkt am Gerät schaltete er den Fernseher aus, bevor er sich einen Ruck gab und von unten in Barones Augen sah. Beinahe leuchteten sie wie Aquamarine im Halbdunkel. Gabriels Blick lag fest auf ihm.
»Gut.« Er nickte zur Tür und ging dann vor, hörte die Schritte Aidens hinter sich. Die zwei Personenschützer folgten ihnen in den Fahrstuhl und schließlich durch das Atrium des Hotels. Vor dem Hotel wartete der schwarze Wagen Gabriels und Frank, sein Fahrer, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.
»Mr. Barone«, grüßte er und effizient wie er war, nickte er auch dem jungen Mann an dessen Seite zu, nahm ihm die Tasche ab, um sie im Kofferraum zu verstauen.
»Steig ein«, sagte Gabriel ruhig und deutete auf die andere Seite des Wagens, bevor er sich selbst auf die Rückbank schob und die Tür zuzog.
Wieder tat Aiden einfach, was ihm gesagt wurde. An das Herzklopfen in seiner Brust hatte er sich inzwischen gewöhnt und nur am Rande bekam er mit, wie die zwei Personenschützer selbst in ein Auto stiegen um ihnen zu folgen. Er landete auf weichem Leder, als er einstieg. Im Inneren des Autos roch es danach. Aiden kannte sich nicht gut mit Fahrzeugen aus, aber er war sich sicher, dass dieses Auto einiges mehr gekostet hatte als der gebrauchte Kombi, den sich seine Eltern im letzten Jahr zugelegt hatten. Noch nie war er mit einem Auto gefahren, das von einem Chauffeur gelenkt worden war. Während er sich anschnallte, sah er sich um. Getönte Scheiben, hochwertige, glänzende Armaturen. Plastik konnte er kaum entdecken. Dass Barone viel Geld hatte, hatte er ja geahnt, dennoch verschlug ihm die Präsenz dieses Reichtums den Atem und er war sicher, dass die Wohnung oder das Haus oder das Schloss oder was immer Barone bewohnte, dem Ganzen noch die Krone aufsetzen würde.
Es dauerte nur ein paar Sekunden bis Frank sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete, um sich dann in den Verkehr auf der Happy Street einzureihen, nachdem er die Auffahrt des Hotels verlassen hatte.
Aus dem Augenwinkel warf Aiden einen Blick zu Barone, der seinerseits aus dem Fenster sah. Aiden wandte seine Aufmerksamkeit dem Fahrer zu.
»Es muss praktisch sein, hier nicht selbst fahren zu müssen«, wagte er sich zu sagen als sie auf der dicht befahrenen Happy Street drei Ampeln hinter sich gelassen hatten. Er wagte es kaum, den großen Mann neben sich anzusehen.
Gabriel hatte sich inzwischen in sein Smartphone vertieft und rief seine E-Mails ab als die unsichere Stimme an sein Ohr drang.
»Hm«, machte er nur kurz angebunden.
»Wie lange fahren wir denn?«
»Nur ein paar Minuten, Sir«, mischte sich jetzt Frank ein, der deutlich gesprächiger war als sein Chef.
Aiden sah nach vorn. »Oh. Gut.« Ein grau-grünes, freundliches Augenpaar begegnete ihm im Rückspiegel und Aiden versuchte ein Lächeln. »Wie heißen Sie?«
»Frank, Sir.«
»Und ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«, hakte Aiden nach.
»Mein Vorname, Sir.«
»Ich verstehe.« Kurz warf Aiden einen Blick zur Seite, doch Barone schien beschäftigt zu sein. »Haben Sie auch einen Nachnamen, Frank?«
»Ja, Sir. Aber Frank reicht vollkommen«, meinte der Mann und sah kurz durch den Rückspiegel, bevor er wieder auf die Straße achtete.
»Dann können Sie mich Aiden nennen.« Um Frank nicht weiter von seiner Arbeit abzuhalten, sah Aiden nun lieber aus dem Fenster. Die kurze Unterhaltung hatte ihn von der Anspannung abgelenkt, die ihn in Besitz genommen hatte, doch ganz würde er die verkrampfte Haltung nicht loswerden. Auf der Happy Street war um diese Zeit sehr viel los. Casinos, Hotels, Restaurants und Bars wechselten sich ab und die Leuchtreklame zog Aidens Aufmerksamkeit auf sich.
Gabriel konnte die Nervosität Aidens fast mit den Händen greifen und kurz sah er zu dem jungen Mann hinüber. Natürlich hatte er Angst. Er hatte einen Mord mit angesehen. Für einen Menschen, der nicht aus diesem Milieu kam, musste das ziemlich erschütternd sein. Dennoch. Das Seelenheil dieses jungen Mannes war nicht sein Problem. Er musste nur dafür sorgen, dass er lebend zur Hauptverhandlung erscheinen würde. Und das möglichst unversehrt.
Den Rest der kurzen Fahrt verbrachten sie schweigend, während Frank den Wagen sicher durch den Feierabendverkehr lenkte, hinein ins Hill-Valley. Einem Teil von Tribent, der sich durch High-Class-Wohngebäude und gediegene Shops auszeichnete, zusammen mit einem wundervollen Blick über die Stadt, da Hill-Valley auf einer Anhöhe gelegen war. Die Preise hier waren überirdisch, aber all das waren Dinge, über die sich Gabriel keine Gedanken machte, während er aus dem Wagen stieg und auf Aiden wartete.
Dieser verließ das Wageninnere und nahm Frank seine kleine Tasche ab, lächelte dem Mann zu. Er hatte schütteres schwarzes Haar und kaum war der Mann wieder eingestiegen, umgab Aiden die kühle Distanz Gabriel Barones, der sich nun in Bewegung setzte und durch gläserne Türen das Foyer eines Hochhauses betrat. Es wunderte ihn kaum, dass Barone ausgerechnet in diesem Viertel wohnte.
Gabriel nickte dem Portier kurz zu, welcher hinter einem Tresen saß und ging dann zum Fahrstuhl. In das Tastenfeld tippte er seinen Sicherheitscode ein und die Tür öffnete sich. Die Stille im Inneren des Fahrstuhls war einen Moment lang bedrückend. Bis Gabriel das Wort ergriff, während der Fahrstuhl in die oberste Etage fuhr.
»Eine Frage. Werden wir Probleme miteinander bekommen?«
Aiden erschrak beinahe, als Barone das Wort an ihn richtete. Bis jetzt hatte er auf die Tasche in seinen Händen gesehen, doch nun sah Aiden auf in das markante Gesicht neben ihm.
»Probleme?«
»Ja. Probleme. Wirst du versuchen abzuhauen? Zu telefonieren? Oder sonst irgendwelchen Mist anzustellen?«
Aiden hielt dem eisigen Blick stand und erwiderte ihn, obwohl ihm ein kalter Schauder über den Rücken rann. »Das weiß ich nicht.«
»Also muss ich dich an die Leine legen? Obwohl dein Leben davon abhängen kann?«
Leicht reckte Aiden das Kinn vor. »Nein... Ich...« Er schnaubte leise über sich selbst. »Was ist irgendwelcher Mist? Was ist mit Emails, Briefen, Postkarten?« Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, seine Familie und seine Freunde zu erreichen!
»Nichts dergleichen, Kleiner. Tote schreiben keine Briefe. Und genau das solltest du im Moment für deine Familie sein. Tot.«
Ich bin aber nicht tot, wollte Aiden schreien. Sollte es ihm wirklich unmöglich sein, jemandem mitzuteilen, dass es ihm gut ging? Wenigstens das? Nur eine kleine Information wie diese... Fester schlossen sich seine Finger um die Henkel der Tasche und er senkte den Blick.
»Nennen Sie mich nicht Kleiner«, protestierte er gegen das Einzige, was ihm übrig blieb.
»Bei guter Führung können wir darüber verhandeln, Kleiner«, sagte Gabriel und stieg aus dem Fahrstuhl, dessen Türen sich in diesem Moment öffneten.
Aiden biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat. Er sollte dankbar sein, dass ihn dieser Mann aufnahm, dass er ihn schützen würde, aber gerade verspürte er nur Wut, während er Barone folgte.
Die Wut war jedoch mit einem Schlag verflogen, als Aiden den Eingangsbereich der Wohnung betrat und Barone den Lichtschalter betätigte. Sie standen auf dem dunklen Holzfußboden eines Luxus-Penthouses, das sich angesichts der Treppe, die man ein Stück entfernt sehen konnte, über mindestens zwei Etagen zog. Die hohen, weißen Decken waren mit Spotlights ausgestattet, deren Licht ein Ensemble aus Grau-, Creme- und Brauntönen beleuchteten. Aiden wusste nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Er konnte hier und da einen Blick in weitere Räume erhaschen, da die Räume hintereinander angelegt waren. Bodentiefe Fenster hinter hellen Vorhängen, klare Linien und dann wieder beinahe verspielte Raumtrenner, die wie Gitterfenster den Blick in dahinterliegende Räume preisgaben.
»Ich glaub’, ich spinne«, entfuhr es ihm, als Barone ihn weiter in die Wohnung führte. Sitznischen und Salons schienen sich abzuwechseln und Aiden fragte sich, wofür man so viele Räume mit Sitzgelegenheiten brauchte - und sie befanden sich immer noch in der unteren Etage! Aidens Blick blieb an einem seltenen Farbtupfer hängen: Zwei senffarbene Sessel passten sich perfekt in die Erdtöne ein.
Barone öffnete eine Tür und deutete in das Zimmer dahinter. »Dein Schlafzimmer. Das Bad ist en suite.«
Jeder Raum strahlte für sich eine unglaubliche Eleganz aus. Kunstvoll gearbeitete, große Vasen und moderne Lampen auf Beistelltischen. Beinahe wäre Aiden in Barone hinein gelaufen, da er noch immer damit beschäftigt war, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, die auf ihn einströmten. Doch er kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen und trat an Barone vorbei in ein Schlafzimmer, das wohl als Gästezimmer diente.
Hier mischten sich goldene und violette Farbtupfer in das Gesamtbild. Helle Vorhänge vor einer Glasfront. Von dem riesigen Bett aus konnte man aus dem Fenster sehen. Eine Bank und ein Sessel dienten als Ablage, außerdem gab es einen Flachbildfernseher an der Wand und ein großes Gemälde, von dem Aiden sicher war, dass es ein Original war. Von wem auch immer. Ein großer Kleiderschrank mit Schiebetüren aus hellem Holz und stilvolle, silberne Nachttischlampen. Eine Tür führte in das Bad, war aber zum jetzigen Zeitpunkt verschlossen. Aiden konnte nur starren. Selbst der Teppich und die Bettwäsche wirkten hochwertiger als alles, was er in seiner vergleichbar winzigen Wohnung hatte.
»Du kannst hier tun und lassen, was du willst. Abgesehen davon, die Wohnung in Brand zu stecken oder versuchen, Kontakt zu deiner Familie aufzunehmen. Ich zeige dir noch das Wohnzimmer und die Küche. Der Rest der Wohnung ist Tabu für dich.«
Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich und führte Aiden dann hinaus zurück in den Flur und die Treppe hinauf in die obere Etage.
Aiden folgte Gabriel. Die Treppe war mit Glaswänden gesichert. Auch in der oberen Etage setzte sich der Stil der Wohnung fort. An einer Stelle war Marmor in den Boden gearbeitet und die Küche war unbeschreiblich. Eine Arbeitsplatte aus Granit hatte Aiden noch nie gesehen. Ein Tresen, an dem man auch sitzen konnte, teilte die Küche der Länge nach. Dahinter befand sich ein Essbereich. Überall herrschte eine beinahe sterile Atmosphäre. Lediglich auf dem Wohnzimmertisch, an dem er lag eine Tageszeitung. »Also...« Aiden schluckte, aber er musste nachfragen.
»Wohnzimmer, Gästezimmer und Küche?«
»Und die Bibliothek. Aber stell die Bücher wieder dahin, wo du sie vorgefunden hast.«
»Biblio... Ah.« Aiden spürte ein irrsinniges Lachen in sich aufsteigen, das er mit einem Räuspern unterdrückte. »Natürlich.« Unsinnigerweise trug er immer noch die kleine Reisetasche mit sich herum. »Also...« Seine Finger fühlten sich kalt an, als er sich durch das Haar strich. »Dann... pack ich mal aus.« Leicht hob er die Tasche an, sah zu Barone.
Mehr als ein Nicken bekam er nicht zur Antwort.
Aiden drehte sich auf den Hacken um und während er die Treppenstufen hinabstieg, spürte er Gabriel Barones Blick in seinem Nacken. Die Tür des Gästezimmers fiel leise ins Schloss und Aiden lehnte sich dagegen.
»Ich glaub’, ich spinne«, wiederholte er. Wo zum Geier war er hierhin geraten? Mit ganz viel Glück verlief er sich nicht zufällig in einen der verbotenen Räume. Er ließ die Tasche zu Boden fallen. Musste er überhaupt auspacken? Er wollte sich hier nicht einrichten, denn immer noch wollte er nichts sehnlicher, als nach Hause zurückkehren. In diese Welt gehörte er nicht! Vermutlich würde er Blumen in ein Kunstwerk stellen oder das Arrangement von Kissen durcheinander bringen. Vorsichtig setzte sich Aiden auf die Bettkante und atmete tief durch. Okay. Er musste nur ein paar Tage durchhalten. Nur ein paar Tage, dann konnte er flüchten und nie, niemals wiederkehren. Seine Finger strichen über den weichen Stoff der Bettwäsche, die Matratze unter ihm gab im genau richtigen Maß nach. Aidens Blick fiel auf die Tür zum Badezimmer.
Schnell erhob er sich, um dahinter zu sehen. Heller Marmorfußboden, schwarze Marmorwände. Eine geräumige ebenerdige Dusche, ein extra beleuchteter großer Spiegel über dem modernen Doppelwaschtisch, der Staumöglichkeiten bot. Selbst der Topf der weiß blühenden Orchidee passte ins Bild. Alles glänzte, von der Toilette bis hin zu jeder einzelnen Wand.
»Verdammter reicher Arsch«, murmelte Aiden. Auf dem Waschtisch standen zwei noch in Plastikfolie gehüllte Zahnbürsten in einem Glas bereit wie in einem Hotel. Ungläubig schüttelte Aiden den Kopf und erinnerte sich an die Reisetasche.
Vielleicht... Erleichtert stellte er fest, dass Asali auch an Duschbad, Shampoo und ein Deo sowie an Rasierer und Rasierschaum gedacht hatte. Alles roch natürlich nicht wie seine üblichen Pflegeprodukte, aber er war froh, überhaupt etwas zu haben und brachte die Sachen ins Bad. In den Schubladen fand er einen Föhn, Zahnstocher, Zahnpasta, eine weitere Rolle Toilettenpapier und sogar Haarbürste und Kamm. Wieder konnte Aiden nur den Kopf schütteln. Selbst Zahnseide war vorhanden.
Er ging zurück in das Schlafzimmer, schaltete den Fernseher ein. Alle Programme, selbst Prime TV. Unfassbar. Er schaltete das Gerät wieder ab, zog die Vorhänge auch hier vor die Fenster, vor denen inzwischen die Nacht hereinbrach.
Aiden starrte an die Decke als er schließlich im Bett lag. Das Essen mit Amy wäre jetzt längst vorüber. Er war sich sicher, dass seine Familie längst die Polizei eingeschaltet hatte. Die ihn natürlich nicht finden würde. Aidens Hände ballten sich zu Fäusten. Er war sicher, aber niemand durfte es wissen. Tot, hallte es durch seinen Kopf. Für alle war es besser, wenn er tot war. Doch er war nicht tot! Tief atmete Aiden durch, öffnete bewusst seine Hände, bevor der sich ankündigende Krampf Gewalt über seinen linken Arm bekam. Nur in Shorts und T-Shirt lag er hier. Er hatte keine Möglichkeit, seine Sachen zu waschen und die neuen rochen noch nicht nach ihm. Es war nur einer von vielen Gedanken in diesen Stunden. Als er das nächste Mal auf den Radiowecker sah, war eine knappe Stunde vergangen. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf.
***
Gabriel traf an diesem Abend noch ein paar Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass der junge Mann in seiner Wohnung keine Möglichkeiten hatte, irgendetwas Dummes anzustellen. Er informierte den Portier, Carter, welcher heute Nachtdienst hatte, niemanden hinauf zu lassen, ohne ihn vorher anzumelden. Es sei denn, es handele sich um Asali und sie käme alleine. Der Personenschützer würde draußen vor dem Haus Stellung beziehen, um zu observieren, ob sich verdächtige Personen dem Haus näherten oder es ihrerseits observierten. Hier oben hatten sie im Grunde nichts zu befürchten. Nicht von außen, jedenfalls. Nicht im Moment. Er schaltete die Alarmanlage ein, bevor er zu Bett ging, die ihn warnen würde, wenn der Welpe versuchte auszubüchsen. Viel mehr gab es nicht zu tun und alles, was ihm blieb war, sich nach einer ausgiebigen Dusche ins Bett zu legen und sich mit dem Gedanken anzufreunden, jetzt die Verantwortung für ein fremdes Leben zu haben. Ein Gedanke, der ihm gar nicht passte und es passte ihm im Grunde auch nicht, diesen Aiden in seiner Wohnung zu haben. Aber sowohl der Detective als auch Asali hatten Recht. In seiner Nähe war Aiden sicher.