Читать книгу SeelenFee - Buch Zwei - Axel Adamitzki - Страница 7
15 – Er öffnete die Haustür, ...
Оглавление… legte seinen Aktenkoffer achtlos auf die Kommode im Flur, hängte den Mantel an die Garderobe und ging dann ins Wohnzimmer zu seiner Frau.
Wie immer saß sie am Panoramafenster und starrte blicklos hinaus in den Garten. Draußen war es bereits dunkel. Das schien sie weder zu stören noch zu trösten.
Rasch lief er zu ihr, hockte sich neben sie und sah sie mit einem warmen Lächeln an. Aber mit jedem Tag, den er sie hier stumm sitzen sah, verlor dieses Lächeln an Zuversicht; auch spürte er, wie ihn seine Kräfte täglich mehr verließen. Dennoch, er musste stark sein.
»Wie geht es dir, mein Herz? Was hast du heute alles so gemacht?«
Obwohl er wusste, dass sie den ganzen Tag nur hier in ihrem Lieblingssessel verbracht hatte, wie jeden Tag seit der Beisetzung ihrer Tochter, stellte er ihr, auch wie jeden Tag, diese entsetzlich dumme Frage. Er brauchte sie, für sich, für sein Gefühl von Normalität.
Auch ihn, den Vater, hatte Melissas Tod unsagbar getroffen. Aber für eine Mutter ist der Tod des eigenen und einzigen Kindes sicherlich noch viel schlimmer. Zumindest versuchte er, sich das Verhalten seiner Frau so begreiflich zu machen. Er war unsagbar hilflos.
»Ich geh dann mal«, vernahm er hinter sich. »Ich habe in der Küche alles vorbereitet. Wie immer«, sagte Frau Herbst, ihre Haushaltshilfe. Früher war sie zweimal in der Woche drei, vier Stunden gekommen … zum Putzen und Bügeln. Seit Melissas Tod kam sie montags bis freitags und blieb den ganzen Tag. Ingmar Scholz war ihr sehr dankbar, denn er hatte Angst um seine Frau. Leider war es ihm momentan nicht möglich, selbst den ganzen Tag bei Sibylle zu bleiben. Er war Inhaber eines Bauunternehmens, und wie jedes Jahr war bis zum herannahenden Jahreswechsel in seiner Firma die Hölle los. Allein schon, dass er nicht bis spät in die Nacht dort saß oder sich in sein Büro im Souterrain des Hauses zurückzog, war ein Zugeständnis, das er mit dem Bearbeiten wichtiger Unterlagen am Wohnzimmertisch, in der Nähe seiner Frau, Abend für Abend machte.
Schleppend löste er den Blick von ihr und ging zu Frau Herbst. Er sah sie fragend an. Sie kannte die Frage, die ihn bewegte. Er stellte sie ihr jeden Abend – in den letzten beiden Tagen nur noch wortlos. Und wie jeden Abend schloss sie bedauernd die Augen und schüttelte stumm den Kopf. Wieder war seine Frau den ganzen Tag nicht aus ihrem Sessel aufgestanden, und wieder hatte sie kein einziges Wort gesprochen. Er hatte es gewusst, dennoch …
»Hat sie etwas gegessen?«
»Wenig. Eine Banane, einen Apfel und ein Müsli.«
Das ist zu wenig. »Und ihren Tee …?«
»Den hat sie getrunken. Zwei Kannen«, sagte Frau Herbst, wobei ihr kurz ein Lächeln über das Gesicht huschte. Sie schien froh zu sein, wenigstens etwas Angenehmes vermelden zu können. »Und Ihr Essen ist auch vorbereitet, Herr Scholz. Im Kühlschrank. Wie immer.«
»Ich danke Ihnen, Frau Herbst.«
»Das tue ich doch gern.«
»Ich weiß, aber trotzdem. Dann bis morgen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen und ruhigen Abend.«
Das wünschte sie ihm auch. Stumm. Worte hielt sie für unangebracht.
Ingmar Scholz ging zurück zu seiner Frau und hockte sich wieder neben sie. Natürlich wäre es einfacher, Sibylle in einem Sanatorium unterzubringen, wenigstens für ein paar Wochen, wie es ihr Hausarzt letztes Wochenende einmal hatte anklingen lassen, aber es wäre sicher nicht besser.
»Nein, mein Schatz, das wäre viel, viel schlechter. Am Ende … nein, daran wollen wir jetzt nicht denken«, beendete er seinen Gedanken bestimmend und streichelte ihr dabei über die Hand, die weiß und leblos auf der Armlehne ruhte. »Das schaffen wir zusammen. Nach Weihnachten nehme ich mir vier Wochen frei. Versprochen. Lass uns dann verreisen! Irgendwohin in den Schnee. Überleg dir schon mal, wohin du gern möchtest.«
Er war unvorstellbar bemüht, konnte dadurch und auch durch die viele Arbeit, die sich täglich auf seinem Schreibtisch türmte, von sich, von seinem eigenen Schmerz ablenken. Doch wie lange noch? Bis Weihnachten schaffst du das. Und dann? Dann wird alles anders.
Aber was würde anders werden? Eine Frage, die er sich nicht stellte.
Sibylle blickte starr in den dunklen Garten. Dennoch hoffte er, dass sie seine Worte vernahm, auch wenn ihre Seele weit weg schien.
»Ich mache mir jetzt etwas zu essen. Möchtest du auch noch etwas?«, fragte er, wobei er keine Antwort erwartete.
Während er sich erhob, den Blick noch immer liebevoll auf seine Frau gerichtet, klingelte es an der Haustür.
Heftig packte Sibylle seine Hand. »Geh … geh nicht. Mach nicht auf. Bleib … hier«, sagte sie. Dass ihre Stimme ängstlich, gebrochen und alt klang, hörte er kaum. Sie bewegte sich und sprach mit ihm. Das erste Mal seit Tagen sagte sie etwas. Beinahe hätte er innerlich frohlockt. Aber letztlich sah er sie erschrocken an. Warum sollte er nicht …? Was hatte sie? Sicherlich, unangemeldet bekamen sie um diese Zeit nie Besuch. Aber vielleicht war es ja nur …
»Ich sehe kurz nach. Vielleicht hat Frau Herbst nur ihren Schlüssel vergessen.«
Als es zum zweiten Mal klingelte, hob Sibylle ängstlich den Blick. »Bitte, mach nicht auf. Nicht um diese Uhrzeit. Es kann nichts Gutes …«
Das war es also! Endlich verstand er. Und er versuchte, seine Frau zu beruhigen. »Es ist an der Tür … Es ist nicht das Telefon. Und auch dort gibt es nicht immer …«
Vor genau achtzehn Tagen, es war auch um diese Uhrzeit gewesen, hatte er – er! – angerufen. Es war nur ein kurzer Anruf gewesen, der aber alles verändert hatte. »Mel … meine geliebte Mel … sie ist bei der Geburt … Es ist so schrecklich … Sie ist nicht mehr.« Diese wenigen Worte, die Sibylle vernommen hatte, die ihr im ersten Moment unverständlich erschienen waren, hatten sich dann in kürzester Zeit auf ewig in ihre Seele eingebrannt.
»Sie ist nicht mehr …«, was für Worte an eine Mutter.
*
Raymond wendete sich ab. Er wollte wieder gehen. Zweimal hatte er geklingelt. Sibylle und Ingmar waren zu Hause; beide Autos standen in der offenen Doppelgarage ihres stattlichen Einfamilienhauses. Aber offensichtlich wollten sie ihn nicht sehen.
Doch Silvana gab Raymond ein Zeichen vom Auto aus. Unmissverständlich. Klingel noch einmal!
Er lächelte. Innerlich. Diese Frau war unglaublich. Schließlich zuckte er die Schultern und sah Rosa an, die mit großen Augen bestrebt war, alles, was um sie herum vor sich ging, in sich aufzunehmen.
Letztlich klingelte er ein drittes Mal.
Wieder blieb alles mucksmäuschenstill. Aber in dem Moment, als er sich erneut und nun endgültig abwenden wollte, ging die Haustür auf.
Ingmar, sein Schwiegervater, stand in der Tür.
Beide starrten sich erschrocken an, beide waren einen langen Moment sprachlos.
»Ingmar, mach die Tür wieder zu«, hörten beide von hinten Melissas Mutter aufgeregt rufen. »Lass niemanden herein, bitte nicht. Ich kann nicht!«
»Es ist … Raymond«, sagte Ingmar, wobei sein Blick umständlich von seinem Schwiegersohn zu Rosa wanderte. Der Adlige, zu sagen, hatte er wohl eben noch vermeiden können. Und kaum hörbar ergänzte er: »Mit … mit einem Kind … auf dem Arm.«
»Das ist Rosa. Eure Enkeltochter.«
»Was sagt er?«, rief Sibylle.
»Rosa … unsere Enkeltochter …«, rief Ingmar Scholz halblaut mit tonloser Stimme, ohne das Baby dabei aus den Augen zu lassen. Er schien das, was er vor sich sah, nicht zu begreifen. Noch weniger begriff er, was sich dann ereignete, so sagte er Tage später.
»Was …?«
Sekunden später stand Sibylle Scholz neben ihrem Gatten. Und dann geschah es. Wortlos. Und es kam einem kleinen Wunder gleich. Mit großen, aufgeregten Augen streckte Rosa die Arme nach ihrer Großmutter aus.
»Mel … meine kleine Mel …«
»Das ist Rosa. Eure Enkeltochter«, wiederholte Raymond die einzigen Worte, die er bislang zustande gebracht hatte. Er hatte ein paar inhaltslose Sätze eingeübt, um den ersten »peinlichen« Moment zu überbrücken, doch nicht einmal diese nichtssagenden Floskeln fielen ihm jetzt ein. Sein Kopf schien leer zu sein, und auch nur bedächtig und schleppend, wie es allein in Träumen möglich war, registrierte er die Geschehnisse um sich. Ein surrealer Moment küsste die Vorsehung.
Melissas Mutter streckte nun ebenfalls die Hände aus … ihrer Enkeltochter entgegen.
»Mel … nein … Rosa … nein … Mel … Genau so hat Melissa ausgesehen.«
Und noch bevor Raymond auf die ein oder andere Weise reagieren konnte, hatte Sibylle Scholz ihr Enkelkind auf dem Arm, atmete gelöst ein und schien glückselig zu sein. Ja, das war sie, von einer Sekunde zur nächsten … glückselig.
Raymond ließ die beiden nicht aus den Augen. Melissas Mutter wirkte kränklich, obwohl … ihr Blick, eben noch glanzlos und müde, war plötzlich voller Leben.
Was Raymond nicht sah, war der erstaunte, beinahe verwirrte Gesichtsausdruck seines Schwiegervaters, der seiner Frau galt. Er schien fassungslos zu sein. Ihre Kräfte schienen zu erwachen, Kräfte, die er lange nicht gesehen hatte. Er konnte nicht glauben, was er im Moment erlebte.
Melissas Mutter ging mit ihrem Enkelkind im Arm durch den Flur zum Wohnzimmer, und Ingmar ließ seinen Schwiegersohn mit einer umständlichen Geste eintreten. Raymond drehte sich kurz um, blickte zu seinem Wagen, doch konnte er Silvana dort jetzt nicht erkennen.
»Bist du nicht allein?«, fragte Ingmar mehr aus Höflichkeit, trat aber dennoch einen Schritt vor das Haus und sah sich um.
»Silvana … Sie wartet dort im Auto.«
»Silv ist auch hier?«, rief Sibylle, die im nächsten Moment wieder neben ihnen stand. »Wo ist sie?«
»Dort, in meinem Auto.«
»Aber da ist es doch kalt.«
»Ja, schon. Aber sie wollte nicht … Wie hätte das auch ausgesehen, wenn wir zu dritt …«, sagte Raymond, wobei er sich im nächsten Moment über die allzu tumbe Erklärung ärgerte.
»Ich verstehe«, sagte Sibylle, und das erste Mal, es muss das allererste Mal gewesen sein, lächelte sie Raymond an – nie zuvor hatte ihr Lächeln ihm gegolten.
»Bitte, hol sie herein«, sagte Sibylle und blickte zu Raymonds Auto. »Was für ein Tag …«, schob sie flüsternd nach. »Was für ein ungewöhnlicher Abend«, sagte sie zu Rosa, die sie aus großen und merkwürdig versöhnlichen Augen anblickte.
Wie recht sie hat, dachte Raymond, wie recht sie hat.
Er ging ein paar Schritte, und als er Silvana endlich auf dem Beifahrersitz erkannte, winkte er ihr zu.
Geschwind war sie aus seinem Wagen gesprungen und stürmisch kam sie angerannt. Fünf Schritte vor Sibylle stoppte sie, und dann geschah es. Der nächste surreale Hauch dieses schicksalhaften Moments.
»Hallo, Herr Scholz«, sagte sie, wobei sie nur Melissas Mutter ansah.
»Hallo, Silvana«, sagte der, doch das hörte sie kaum.
»Hallo … Mama Sibylle.«
Ohne hinzusehen, reichte Sibylle ihrem Schwiegersohn das Baby und breitete die Arme für die beste Freundin ihrer Tochter aus. »Komm her, meine kleine Silv. Es ist so, so, so wohltuend, dich zu sehen.«
Und weinend lagen sich die beiden Frauen dann einen langen Moment in den Armen.
»Warum hast du dich nicht gemeldet?«
»Ich wusste ja nicht …«
»Du Dummchen … zwischen uns hat sich doch nichts geändert.«
»Aber …«
»Kein Aber … Du weißt genau, du warst mir immer eine zweite Tochter. Oder weißt du das nicht mehr?«
»Doch schon, aber …«
»Noch einmal: Kein Aber … Und daran wird sich nichts ändern.«
»Ich danke dir, Mama Sibylle.«
Mama Sibylle. Diese zwei Worte, vor über zwanzig Jahren geboren: »Natürlich hat jeder Mensch seine eigene Mama. Und das ist auch gut so. Doch bei dir ist das etwas anderes, Silv. Du bist mir beinahe so lieb wie meine eigene Tochter. Deshalb würde ich mich freuen, wenn du nicht Frau Scholz, sondern Mama Sibylle zu mir sagst. Aber nur, wenn du möchtest.« Und sie hatte gemocht. Vom ersten Moment an – und so kitschig diese beiden Worte für einen Außenstehenden wie Raymond und auch Ingmar klangen, waren sie in diesem Moment dennoch Balsam für Sibylles Seele, für die Seele einer Mutter.
Anfänglich etwas unbehaglich – jedes Wort, jede Bemerkung schien unpassend – saßen sie dann beisammen. Silvana musste sich dicht neben Sibylle auf die Couch setzen, Raymonds Schwiegermutter hatte darauf bestanden. Ingmar und Raymond hatten jeweils einen Sessel gewählt.
Ingmars Angebot, eine Flasche Wein zu öffnen, hatten alle abgelehnt. Stumm blickten sie jetzt nur zu Rosa, die damit beschäftigt war, umständlich und ungestüm, das Gesicht ihrer Großmutter zu erkunden. Niemand wusste, wie er ein Wort an die anderen richten sollte, niemand wollte diese neue, ungemein zerbrechliche Ergriffenheit zerstören.
Allein, dass man hier zusammensaß … vor Stunden für alle noch nicht fassbar.
Bei dem Gedanken an die Ereignisse dieses Tages, spürte Raymond das erste Mal, dass seine Energie beinahe aufgebraucht war. Erst der Traum, der ihm endlich seinen Weg gezeigt hatte, dann die Rückkehr zum Gut und bald danach schon der erste Blick auf seine Tochter, die ihn mit einem einzigen Lächeln auf immer und ewig in ihren Bann gezogen hatte. Jeder dieser Momente war bereits ein vollkommener Moment des Glücks gewesen. Eine Erlösung.
Und jetzt das hier … Er konnte kaum glauben, dass er tatsächlich bei Melissas Eltern im Wohnzimmer saß.
Wann war er das letzte Mal hier gewesen?
Er wusste es noch genau: Beinahe acht Wochen vor der Hochzeit. Als er um Melissas Hand angehalten hatte. Sie hatte darauf bestanden.
»Ist das in euren Kreisen nicht mehr üblich?«, hatte sie spöttisch gesagt.
Natürlich war das noch üblich, leider. »Aber ich hatte ja bis heute nicht gewusst, dass du so melodramatisch sein kannst.«
»Glaube mir, ich kann noch viel melodramatischer sein«, hatte sie geantwortet, ihn dann wollüstig geküsst und anschließend mit ihm von einem »rosaroten« Leben geträumt.
Worte, Küsse und Träume, die er nie vergessen würde.
Das waren seine Erinnerungen. Dennoch … Jeder von ihnen hatte seine eigenen an Melissa, die aber hier und heute unausgesprochen bleiben würden, im Augenblick auch ein wenig zwischen ihnen standen … sie verstummen ließen. Die sie aber wohl auch zusammenhielten.
Raymond beobachtete mit einem Lächeln seine Tochter, die ausgelassen juchzte. Rosa war noch keine drei Wochen alt und zeigte ein Verhalten, das Babys vielleicht mit fünf oder sechs Monaten äußerten. Normalerweise müsste die Kleine schlafen, viel schlafen – doch das wusste Raymond nicht. Woher auch?
Dann fiel sein Blick auf Silvana. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass sie, Melissas beste Freundin, einen unsagbar großen Anteil an jedem seiner heutigen Glücksmomente hatte. Kommt der Albtraum immer wieder, dann träume ihn bis zum Ende … Oder auf dem Landgut: Sie ist ein Segen für Rosa … Schließlich bei der ersten Begegnung mit seiner kleinen Tochter: Ich bin mir jetzt sicher, sie bekommt … nein, sie hat einen wundervollen Vater.
Worte, die er erst allmählich begriff. Auch wäre er ohne sie sicher nicht hier.
Silvana! Was für eine Frau.
Lange und nachdenklich sah er sie nun an. Ihr Gesicht war voller Freude. Ihr Mund, ihre Augen, schienen im Moment nur unberührte, ungetrübte Gedanken zu kennen. Sie hatte am wenigsten mit all dem hier zu tun, und doch war sie es, die den Unterschied ausmachte. Alle lehnten sich mit ihren Gedanken und Hoffnungen an sie an. Und sie gab und gab und gab.
Der Saum ihres dunklen Jerseykleides war ihr über die Knie gerutscht und ließ die nicht gar so schlanken Oberschenkel erahnen, auch schmiegte sich der weiche Stoff an der einen oder anderen Stelle dicht an ihren Körper, der kaum irgendwelchen Idealmaßen entsprach. Aber er entsprach ihr. Vollendet.
Sie spürte seinen Blick, und sie packte und erwiderte ihn gleichermaßen … einen kurzen Atemzug lang. Doch rasch verloren ihre Augen wieder diesen Hauch von Intimität, trugen sie wieder dieses Bestimmende und Fordernde in sich. Wir sind hier, weil du etwas klären wolltest. Der Moment ist jetzt günstig. Sie musste es nicht sagen, er verstand sie einfach.
Und er lächelte. Offensichtlich hatte sie ein untrügliches Gefühl für den richtigen Moment.
»Am Sonntag …«, durchbrach er sanft die Stille, räusperte sich noch einmal und gab seiner Stimme damit die Klarheit, die seine Worte unterstreichen sollten. »Am Sonntag soll die Taufe sein.«
Er brach kurz ab, denn plötzlich ängstlich geworden, blickte Sibylle ihren Mann an und nahm dabei die Hand des Babys hinunter, die sie im Moment wohl nicht mehr im Gesicht spüren wollte. Ingmar begriff die Gedanken seiner Frau scheinbar sofort.
»Bevor du weiterredest … Sicherlich kommen wir gern in die Kirche. Aber mehr –«
»Ihr seid die Großeltern. Und wie ihr seht, liebt Rosa euch«, unterbrach Raymond ihn.
Sibylle und Ingmar zuckten distanziert die Schultern.
Raymond wollte nicht glauben, was sich hier einschlich. Es war wie damals – ein Déjà-vu. Er erinnerte sich an die Hochzeit. Sie hatten sich auch damals selbst ausgegrenzt. Seine Schwiegereltern hatten es ganz allein getan. Sie hatten es so gewollt. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Er verstand sie nicht. Ingmar war ein überaus erfolgreicher Geschäftsmann, doch offensichtlich schien ein Adelstitel beide zutiefst zu beeindrucken und aus unerfindlichen Motiven gar abzuschrecken.
Aber dieses Mal wollte er das nicht zulassen. Rosa liebt euch, sie braucht euch, seht ihr das nicht?
»Es wird nur eine sehr kleine Feier geben«, fuhr er fort. »Und ausschließlich mit den Personen, die für Rosa in den ersten Wochen ihres Lebens da waren.« Er sah seine Tochter an, und er lächelte. »Und auch mit den Personen, die leider nicht da waren, die Rosa aber … die sie offensichtlich von ganzem Herzen liebt. Damit meine ich nicht nur euch, sondern … auch mich.«
Einen Augenblick schwieg er und betrachtete liebevoll das kleine Mädchen, das seine Gedanken mehr und mehr bestimmte.
»Ja, Rosa ist eine Prinzessin. Daran führt kein Weg vorbei. Und ganz ohne Frage wird sie irgendwann auf den Bällen der Gesellschaft tanzen und wird sich dort hoffentlich ausgelassen vergnügen. Vielleicht wird sie da auch ihren Prinzen kennen und lieben lernen. Aber bis dahin … Rosa ist auch ein Mädchen … ohne Mutter. Mel hätte ihr mit Freuden gezeigt, wie Leben geht. Davon bin ich überzeugt. Und bestimmt hätte sie es gut und richtig und mit viel Liebe getan. Auch davon bin ich überzeugt. Und warum hätte sie es so und nicht anders tun können?« Nun hob er den Blick und sah seine Schwiegermutter an. »Weil sie es selbst erfahren hat. Hier. Durch dich. Durch ihre eigene Mutter.«
Sibylle lief eine Träne über die Wange, und hastig griff sie nach der Hand ihrer Enkeltochter.
Raymond überlegte kurz, ob er jetzt … Nein, nicht heute. Irgendwann werde ich ihnen alles erzählen. Von der Geburt, von Mels Entscheidung. Aber nicht heute. Alles hat seine Zeit.
Und verhalten fuhr er fort: »Und deshalb bitte ich dich … bitte ich euch … nicht nur kurz in der Kirche zu erscheinen. Sondern werdet Teil von Rosas Leben. Und fangt heute und am Sonntag bei der Taufe damit an. Dort, für jedermann sichtbar, als Taufpaten. Auch wenn es ungewöhnlich ist, da ihr ja sowieso schon die nächsten Verwandten seid.«
Ängstlich und fragend blickte Sibylle erst Raymond und dann schließlich ihren Mann an.
Der zuckte die Achseln und sagte zu seiner Frau: »Wenn du dir das zutraust? Natürlich bin ich auch da. Für dich. Für euch … Im Hintergrund.«
Nun lächelte sie. Voller Liebe.
»Sollen wir zu zweit …?«, fragte Sibylle dezent. »Oder gibt es in deinen Kreisen nur einen Taufpaten?«
Die Abneigung saß tief. Dennoch …
»In ›meinen Kreisen‹, zu denen ihr im Übrigen seit mehr als sechs Jahren auch gehört, gibt es auch zwei Taufpaten. Manchmal sogar drei.«
»Und wer wird der zweite sein?«, fragte Sibylle etwas ängstlich und spielte dabei verlegen mit der Hand ihrer Enkeltochter.
»Silvana wird –«
»Du Silv?«, unterbrach Sibylle ihn hastig und sah aufgeregt die Freundin ihrer Tochter an.
Silvana nickte. »Ja. Raymond hat darauf bestanden. Und wenn ich Rosa so betrachte, dann denke ich, ist all das hier eine gute Entscheidung.«
Sibylle Scholz schien ein Stein vom Herzen zu fallen, sie wirkte erleichtert, nein, mehr noch: Sie schien das erste Mal seit Wochen nicht mit dem Schicksal zu hadern.
»Du hast recht. Und ich denke, dann soll es so sein.«