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Kapitel 1

Der Februar ging zu Ende. Trüb und grau drängte ein neuer Morgen durch das Fenster, blieb bald vollständig in den dünnen geschlossenen Gardinen hängen und schaffte es kaum in die hinterste Ecke des Appartements, in der das Bett stand.

Vivian lag in Clemens´ Arm. Er strich ihr zärtlich durch das dunkelbraune, fast schwarze Haar und wartete auf das erste Blinzeln, auf das erste Anzeichen, dass sie erwachte.

Das Streicheln holte Vivian aus einem traumlosen Schlaf und brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Es war eine Wirklichkeit, die ihr Leben seit gestern Abend für die nächsten sechs Monate verändern sollte – so war es geplant.

Das möblierte Appartement gehörte der Firma, die die Daily Soap ›Die Liebe siegt‹ produzierte und war Clemens zur Verfügung gestellt worden. Vor einem Jahr hatte er die Schauspielschule in Stuttgart erfolgreich abgeschlossen, und die Rolle eines Schurken in dieser Soap war sein erstes wirkliches Engagement.

»Das ist mein Sprungbrett«, hatte er gesagt, gebrüllt, schlankweg frohlockt, als er die schriftliche Zusage in den Händen gehalten hatte. Und immer wieder war er wie ein kleiner Junge durch seine Wohnung in Überlingen gehüpft. »Mein erstes Engagement, mein Sprungbrett«.

Vivian freute sich für ihn, doch machte dieses ›Sprungbrett‹ sie auch kleinmütig.

Villingen-Schwenningen war nur etwa achtzig Kilometer von Überlingen entfernt, das war nicht das Problem, die Schauspielschule in Stuttgart war weiter weg gewesen, vielmehr beunruhigte sie die Veränderung, das wirkliche Leben, das jetzt für Clemens begann.

Und was wird dann aus uns?, hatte sie sich während seines Jubels immer wieder gefragt – innerlich und lautlos natürlich. Äußerlich hatte sie sich beinahe aufrichtig für ihn gefreut.

Ihre gemeinsamen Pläne, die anders ausgesehen hatten, waren durch dieses Engagement durcheinandergeraten. Eine gemeinsame Wohnung hatten sie, zumindest für das nächste halbe Jahr, gedanklich zurückgestellt. Einen anderen Wunsch, ihren sehnlichsten, von dem Clemens noch nichts wusste, den sie aber seit längerer Zeit in sich trug, würde sie erst in ein oder zwei Monaten langsam an ihn herantragen können. Vielleicht! Jetzt ging das nicht, er würde sich bedrängt fühlen, verpflichtet, am Ende würde er ihr diesen Wunsch verübeln und sich vorschnell und ungewollt von ihr zurückziehen – ein schrecklicher Gedanke.

Vivian hob den Kopf, küsste ihn zweimal auf die nackte Brust, legte die Hand auf seinen muskulösen Oberarm und schmiegte sich wieder an ihn. Sie wollte nicht aufstehen, noch nicht.

Gestern Abend hatten sie einige persönliche Sachen aus seiner Wohnung in Überlingen hergebracht, hatten versucht, diesem Appartement eine eigene, eine wohnliche Note einzuhauchen: durch sieben Bilder, die jetzt die Wände im Flur und in dem Wohn- und Schlafraum verschönerten; durch einen großformatigen Kalender mit Motiven von Mark Rothko – an der Wand neben der Küchenzeile –; durch Bücher, die inzwischen auf dem Regal standen; durch ihre Lieblingsbettwäsche, schlafende Katzen auf lindgrünem Hintergrund und durch weitere ausschmückende Details.

Sie waren erst lange nach Mitternacht fertig gewesen. Vivian wäre fast schon unter der Dusche eingedöst, und sie hatte kaum das zweite Bein im Bett gehabt, da war sie bereits eingeschlummert – obwohl sie es nicht wollte, obwohl sie ihn noch verführen wollte. Sie hatte sich den ganzen Tag darauf gefreut ... und war dann vor Erschöpfung einfach eingeschlafen.

»Guten Morgen, da bist du ja«, sagte Clemens. »Hast du gut geschlafen?« Zärtlich küsste er ihr Haar. »Und hast du was Schönes geträumt? Du weißt ja, was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.«

Vivian überlegte nicht lange und antwortete, jetzt hellwach: »Leider nicht. Ich hab nur einfach geschlafen ... wie ein Stein.«

Er hob eine Augenbraue und dachte kurz nach. »Das freut mich, denn ich glaube, das ist auch ein gutes Zeichen.« Und wieder strich er ihr durch das halblange Haar und küsste es dabei. »Möchtest du frühstücken?«

Vivian schüttelte den Kopf. Sie wollte jetzt nicht frühstücken, sie wollte etwas anderes, sie wollte endlich ihn, und sie ließ die Hand von seinem Oberarm nach unten gleiten, strich ihm über die Brust, über den Bauch und tiefer ...

»Was machst du da?«

»Wonach fühlt es sich an?«

»Du böses Mädchen.«

»Möchtest du lieber ein braves Mädchen?«

Sie zog die Hand zurück, und mit arglos naiver Stimme sagte sie: »Wir können natürlich auch frühstücken.«

Sie wusste genau, wie er reagieren würde, wie bald jeder Mann reagieren würde, aber zwischen ihnen war es mehr, war es ein Spiel, beinahe ein Ritual – vom ersten Tag an.

Vor über drei Jahren, als Vivian ihm auf einer Party begegnet war, war es nicht sein sportliches Auftreten, waren es nicht die dunkelblonden, welligen und nackenlangen Haare, die sie beeindruckt hatten, es waren die graublauen Augen gewesen, die ruhig und dabei gelangweilt das Treiben auf der Party beobachteten.

Er stand allein in einer Ecke des Partykellers seines Freundes, hielt sich an einer Flasche Bier fest und schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn er zum Tanzen aufgefordert wurde. Seinem Aussehen nach war er ein Frauentyp, und obwohl er bereits vierundzwanzig war, schien er das nicht zu wissen, denn er wirkte furchtbar schüchtern.

Vivian hatte sich augenblicklich und unsterblich in ihn verliebt, in seine Art, in diese Zurückhaltung, in diese graublauen Augen.

Sie wusste es sofort, er ist es und kein anderer, nie würde sie einen anderen Mann – einen anderen Kerl! – so lieben wie ihn. Doch sie musste es langsam angehen.

Tanzen wollte er nicht, da war sie sich sicher, also stellte sie sich neben ihn, fast blicklos, reichte ihm wie selbstverständlich eine neue Flasche Bier und sah den Leuten auf der Tanzfläche zu.

Ein harmloses Gespräch über Popmusik und Sport entwickelte sich allmählich, wovon beide keine Ahnung hatten, und sie lachten darüber.

Und die nächsten Stunden vergingen rasend schnell, viel zu schnell.

»Ich werde dann mal ...«, sagte Clemens irgendwann mitten im Gespräch. Das ging natürlich nicht, er konnte nicht einfach gehen, Vivian hatte anderes mit ihm vor.

»Wie spät ist es denn?«

»Kurz nach zwei.«

»Oh, dann muss ich auch los. Ich kann dich ja noch ein Stück begleiten, dann musst du nicht so einsam durch die Nacht ... Nicht, dass dich noch irgendwelche Frauen anfallen«, hatte sie scherzhaft gesagt.

Und er war darauf angesprungen. »Gern. Aber dann bringe ich dich nach Hause, wenn du erlaubst.«

Vivian hatte nur genickt, gleichgültig, fast unschuldig, doch waren ihre Gedanken, ihre Gefühle keineswegs unschuldig gewesen, denn sie wollte ihn an diesem Abend, in dieser Nacht ... sie wollte ihn verführen oder von ihm verführt werden.

Vivian gestand sich ein Empfinden, ein Verlangen ein, das sie bis dahin an sich nicht gekannt hatte, wovon sie bis dahin nicht einmal geträumt hatte. Aber sie war auch noch nie so verliebt gewesen.

Er hatte sie brav nach Hause gebracht, und sie hatte ihn noch auf einen Kaffee eingeladen. Er war auf der Couch gesessen, beinahe ein wenig schüchtern, und hatte wohl tatsächlich auf einen Kaffee gewartet. Nach kurzer Zeit ergriff Vivian schließlich die Initiative und küsste ihn vorsichtig, doch er reagierte kaum.

Entmutigt hatte sie Clemens angesehen und mit enttäuschter und naiv klingender Stimme gesagt: »Wir können natürlich auch einen Kaffee trinken.«

Doch diese Worte, dieser enttäuschte, naive Klang ihrer Stimme, hatten ihn geweckt, das hatte er ihr später erzählt. Und sie hatten sich geliebt, den Rest der Nacht und den ganzen nächsten Tag.

Und nach drei Jahren konnten sie noch immer nicht genug voneinander bekommen ... es war echte Liebe ... Und nach drei Jahren reagierte er auch noch immer ungestüm und unersättlich auf diesen enttäuschten, naiven Klang ihrer Stimme – den nur er kannte.

Clemens packte sie, ganz zärtlich. Vivian versank in seinen Armen und schmiegte sich an seinen nackten Körper. So begann es. Immer. Und sie liebten sich, waren bald eins, ein Körper, ein Fühlen, eine Seele. Alles um sie herum war alsbald bedeutungslos und nichtig.

Und nie sollte es anders sein. Nie! Schworen sie einander erneut, als sie verschwitzt und ermattet nebeneinanderlagen.

*

Eine Stunde später saßen sie am Frühstückstisch.

»Wann musst du in diesem Studio sein?«, fragte Vivian und hoffte, nicht wehmütig zu klingen.

»Um eins.«

Es war jetzt kurz vor zwölf.

»Musst du nicht auch noch in die Akademie?«

Sie nickte nur und holte sich eine weitere Tasse Kaffee.

Vivian studierte an der Freien Kunstakademie in Überlingen und stand kurz vor ihrem Abschluss. Die Bildhauerei hatte es ihr angetan, speziell Freiplastiken aus Metall. Trennen, Schleifen und Schweißen waren Arbeiten, die sie während ihres Studiums kennengelernt hatte und die sie von Anfang an fasziniert hatten. Ihre Professoren bescheinigten ihr einen kreativen Blick für das Wesentliche. Letztes Jahr war ihre Plastik ›Mutter mit Kind im Arm‹, die ausschließlich aus großen und kleinen Blechzylindern, aus verschieden großen Blechkegeln und kurzen und langen Stahlstäben bestand, auf der ›Lindauer Kunstwoche‹ für ihre erstaunliche Tiefenwirkung mit dem zweiten Preis gekürt worden. Das Kunstwerk hatte noch an Ort und Stelle einen älteren Liebhaber gefunden, der es für die horrende Summe von fünfundzwanzigtausend Euro gekauft hatte. Dieses Geld befreite Vivian für viele Monate von der finanziellen Unterstützung durch ihre Mutter.

Ab und an hatten sich weitere Interessenten für ihre Objekte gemeldet, doch war es bislang zu keinem erneuten Verkauf gekommen – keines ihrer anderen Objekte hatte einen Preis gewonnen.

Auch heute war sie um drei Uhr mit einem Interessenten verabredet – doch das hatte noch Zeit. Viel wichtiger waren, jetzt und hier, andere Fragen: »Wie lange wird es wohl heute in dem Studio dauern?«

Clemens zuckte die Achseln.

Vivian sah ihn betrübt an. Woher sollte er es auch wissen, es war sein erster Tag am Set, wobei es heute eigentlich nur um Vorbereitungen gehen sollte – ein erstes Kennenlernen war angekündigt.

»Dann schick mir zwischendurch immer mal eine SMS«, sagte sie mit wehmütiger Stimme.

Er lächelte. »Mach ich. Und du auch.«

»Ich?« Vivian sah ihn fragend an, was sollte schon Wichtiges in ihrem Leben passieren.

»Vielleicht verkaufst du ja wieder eines deiner Werke ... für viel, viel Geld.«

»Ach so, ja, vielleicht«, sagte sie und wirkte nicht sehr hoffnungsvoll. Viel wichtiger war er, waren sie beide. »Sehen wir uns dann später noch?«

»Sicher, Vivian. Heute Abend bin ich wieder in Überlingen.«

Das wollte sie hören.

»Ich freue mich schon. Ich möchte dann auch alles erfahren, vom Set, von deiner Rolle, von deinen Kollegen.«

Vivian drängelte ein wenig und war verunsichert, ängstlich. Doch wenn er sie wirklich liebte, dann würde er das verstehen.

»Und ich schicke dir eine SMS«, fuhr sie fort, »kurz bevor ich komme. Dann hast du noch genug Zeit, um deine hübschen Kolleginnen wegzuschicken. Hier oder in Überlingen.«

»Gute Idee. Tu das«, antwortete Clemens mit der gleichen Ironie und nahm sie noch einmal in den Arm.

»Schluss jetzt damit. Heute Abend feiern wir zu zweit meinen Einstand am Set, nur wir beide.«

Ja, das werden wir, dachte Vivian, und sie freute sich.

Wenig später war Vivian dann auch schon auf dem Weg in die Akademie. Der Himmel über ihr glich einer grauen verwaschenen Wand. Ein paar bedeutungslose weiße Wolken, die darunter rasch dahinzogen, veränderten stetig ihre Formen, lösten sich schließlich auf und verschwanden bald gänzlich in dieser tristen Unendlichkeit.

Auf der rechten Spur der Autobahn reihten sich Lkw an Lkw. Vivian, in ihrem roten Polo, fuhr zügig an dieser endlosen Schlange vorbei, als ihr Mobiltelefon piepste.

Sie suchte augenblicklich eine Lücke, fädelte sich ein und fuhr im Strom der Lkw. Sie blickte auf das Display. Ein Herz ... von Clemens. Ein Lächeln huschte ihr über das Gesicht. Sie schickte ihm einen Kuss und fuhr glücklich weiter. Als sie aus der Schlange ausscheren wollte, piepste es erneut. Lächelnd sah sie nochmals auf das Display. Er hatte etwas geschrieben. Nein! Diese Nachricht war nicht von ihm, sie war von ihrer Mutter:

>Melde dich bitte. Umgehend! Es geht um deinen Vater.

Vivian starrte auf das Display, war fassungslos und erschrocken.

»Was?«, rief sie lauthals ins Innere des Autos. »Um meinen Vater?«

Vivian schüttelte den Kopf. Sie war betroffen. Und wieder bremste sie, unabsichtlich und hart. Der hinter ihr fahrende Lkw musste heftig auf die Bremse steigen. Er hupte, lange und sichtbar genervt. Doch das bekam Vivian kaum mit, denn für einen Moment schnürte sich ihr Magen zusammen, presste sich der Gurt mit unsagbarer Kraft auf den Brustkorb, sie konnte kaum atmen, und sie wurde blass.

»Mein Vater?«, rief sie erneut entgeistert ins Auto und fuhr irritiert weiter. Vivian begriff diese zwei Worte nicht, sie begriff diese SMS ihrer Mutter nicht.

Vivian war fünfundzwanzig Jahre alt. Sie war ohne Vater aufgewachsen und hatte bislang vergebens versucht, von ihrer Mutter zu erfahren, wer ihr Vater war ... und dann diese SMS?!

Ihre Mutter hatte auf all ihre Fragen nach ihrem Vater nur einmal, vor vielleicht fünfzehn, sechzehn oder achtzehn Jahren, geantwortet: »Nie werde ich darüber reden, niemals!« Und danach hatte sie geschwiegen. Nicht eine einzige Andeutung hatte sie je gemacht. Nicht eine.

In Vivians Geburtsurkunde stand: Vater unbekannt.

Aber eigentlich war er mehr als unbekannt, er war nicht existent, er war ihrer Mutter in fünfundzwanzig Jahren nicht ein einziges Wort wert gewesen. Und jetzt diese SMS von ihr: Es geht um deinen Vater!

Vivian schüttelte den Kopf, begriff es nicht, und plötzlich begannen ihre Hände zu zittern, der Kopf, die Beine, die Gedanken ... aber warum? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur eines: Alles andere war schlagartig unwichtig. Alles!

Es geht um deinen Vater.

Wie sehr diese Worte ihr Leben, sie selbst, verändern sollten, wusste sie in diesem Moment noch nicht.

Glücklicherweise.

LiebesTaumel

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