Читать книгу Es ist, wie es ist - ich bin, wie ich bin - Axel Dickschat - Страница 8
Kapitel 1
ОглавлениеEs begann eigentlich ganz normal
Als ich im Sommer 1960 in einer kleinen Wohnung eines Mehrfamilienhauses im Dortmunder Kreuzviertel geboren wurde, wäre damals niemand – auch nur ansatzweise – auf die Idee gekommen, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmen könnte.
Nach der Geburt wurde ich gewogen, und mit knapp 4.700 Gramm Lebendgewicht waren alle Beteiligten einstimmig der Meinung, dass der Junge recht „propper“ sei. Dass ich in den ersten fünf Lebenstagen nicht geschrien habe, fanden vor allem meine Eltern sehr angenehm. Mein Tagesablauf, so weiß es die familiäre Überlieferung zu berichten, bestand aus Nahrungsaufnahme, Schlafen und Vor-mich-hin-Lächeln. Dies war zu der Zeit geradezu vorbildlich.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es hier wohl zu einer Unterversorgung des Gehirns gekommen sein muss. Ob das nun so stimmt oder nicht, weiß ich nicht – was letztlich auch unerheblich ist. Zumindest hatten vor allem meine Eltern später eine plausible Erklärung für meine hochgradige Sehbehinderung.
Meine Zeit als Kleinkind verlief demnach vollkommen unauffällig. Bis zu meinem vierten Lebensjahr lebten wir weiterhin in Dortmund und zogen 1964 nach Hemer ins beschauliche Sauerland, was sich durch eine berufliche Veränderung meines Vaters begründete. Ich kam in einen katholischen Kindergarten und, wenn ich in der ersten Etage unserer neuen Wohnung am Fenster stand, konnte ich relativ präzise meiner Mutter sagen, wenn mein Vater von der Arbeit kam. Ich wusste zwar nicht, wer neben ihm lief – aber ihn erkannte ich recht gut. Die Frage ist an dieser Stelle natürlich, wie ist das möglich? Die Antwort darauf erhielt ich viele Jahre später, als ich mich einmal mit einem sehr bekannten Fußchirurgen über das Thema unterhielt. Er sagte mir, dass kein Mensch genau beziehungsweise exakt so geht wie ein anderer. Die Sauerländer haben einen schönen erklärbaren Spruch dafür; sie sagen: „Der Bauer erkennt seine Schweine am Gang“.
Bis zur Einschulung im Jahr 1966 war niemandem aufgefallen, dass ich keine guten Augen habe. Dies wäre heute natürlich undenkbar. Ich selber finde es zumindest recht erstaunlich. Bei der Untersuchung zur Einschulung gab es dann natürlich kein Entkommen mehr. Wobei, ganz so einfach war es dann doch nicht. Ich konnte also zunächst einmal bei der augenärztlichen Untersuchung die Bilder nicht erkennen, die man mir in fünf Metern Entfernung zeigte. Demnach kam die Fachkraft sehr schnell zu dem präzisen Urteil, dass ich wohl schlecht sehen kann. Allerdings, da meine Augen vollkommen gesund und unauffällig waren, war es damals fast unmöglich, die Ursache festzustellen. Man schlussfolgerte dann messerscharf, dass wohl eine geistige, alternativ psychische Erkrankung die Ursache sei, oder ganz einfach: „Der Junge will einfach nicht!“
Wie man sich an dieser Stelle unschwer denken kann, begann eine Odyssee von Arztbesuchen.
Nur noch einmal kurz zur Erinnerung. Wir befinden uns gerade im Jahr 1966, im sauerländischen Hemer und kein eigenes Auto – das kam erst später. Sollte ein vergleichbarer Fall heute vorliegen und man lebt zumindest in einer mittelgroßen Stadt, dann geht man in ein Ärztehaus, fängt in der ersten Etage beim Internisten an, endet nach einer Woche in der fünften beim Neurologen und man weiß zumindest ansatzweise, welche Befunde vorliegen. Dies gestaltete sich damals etwas aufwendiger. Insgesamt hatte es fast ein halbes Jahr gedauert, bis ein Augenarzt der Städtischen Klinik in Dortmund eine Rückenmarkpunktion durchführte, um mir auf diesem Weg Gehirnwasser zu entnehmen und feststellte, dass mein Sehnerv verkrüppelt ist. Mit anderen Worten, es liegt eine beidseitige Optikusatrophie (Sehnervenschwund) vor – irreparabel. Bei dieser Gelegenheit stellte man nebenbei fest, dass mein fünf Jahre älterer Bruder die gleiche Behinderung hat – allerdings nur auf einem Auge; von daher war es bei ihm noch weniger aufgefallen. Spannend war zu dieser Zeit vor allem die Erkenntnis, dass es sich hier um eine Erbkrankheit handelt, die sich auf Jungen überträgt, von Kind zu Kind schlimmer wird, jedoch eben nur auf Jungen – nicht auf Mädchen, sie können es nur übertragen! Das heißt aber, so war damals die Erkenntnis, dass mein älterer Bruder die Behinderung auf einem Auge hatte, ich auf beiden und, würde nach mir noch ein Junge kommen, wäre er blind. Nun war meine Mutter zu dieser Zeit wieder schwanger und es erübrigt sich an dieser Stelle, darüber zu berichten, dass sie ein nervliches Wrack war. Als sie dann im Juli 1967 entbunden hatte und ein Mädchen das Resultat der neunmonatigen Schwangerschaft war, wären meine Eltern vermutlich persönlich zum „lieben Gott“ gelaufen, wenn sie gewusst hätten, wo man ihn findet.
Unabhängig davon, dass zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, was ich denn nun genau hatte, standen zumindest zwei Dinge relativ fest: erstens, der Axel muss in die Schule und zweitens, er kann nicht gut sehen! Demnach war klar, ich sollte in eine Sonderschule für Sehbehinderte eingeschult werden. Dies kam für meine Eltern aus zweierlei Gründen nicht in Frage: 1.) in eine „Sonderschule“ schon mal gar nicht, und 2.) die nächste Sehbehindertenschule war in Dortmund. Besonders kurios an dieser Situation war, dass wir bis 1964 in der Dortmunder Innenstadt wohnten und zwar genau 100 Meter neben dieser Schule. Ich hätte, wären wir damals in Dortmund geblieben, mehr oder weniger nur über den Zaun springen müssen und schon wäre ich auf dem Schulhof gewesen.
Neben der besonderen Situation der Schwangerschaft machten sich meine Eltern natürlich zusätzlich wahnsinnige Vorwürfe, dass sie zwei Jahre zuvor von Dortmund nach Hemer gezogen waren. Aber wie heißt es immer so schön: „Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man immer schlauer.“
Also, die Frage, ob ich von Hemer jeden Tag mit einem Schulbus nach Dortmund fahre, stellte sich für meine Eltern zur damaligen Zeit gar nicht. Es war klar, dass ich zunächst in eine Regelschule eingeschult werde.
Bis zur dritten Klasse klappte dies auch – relativ – gut. Wir arbeiteten zu Anfang erst einmal mit den Fibel-Büchern und auf den Tafeln wurde so großgeschrieben, das hätte man auch von der anderen Straßenseite sehen können. Ich saß natürlich immer in der ersten Reihe und mit der Stab-Lupe meiner Großmutter ging es zu Anfang ganz gut. Dies änderte sich dann ab der vierten Klasse, als die „Normalschrift“ eingeführt wurde und mein damaliger Klassenlehrer (den Namen sage ich hier besser nicht – wobei ich ihn nicht vergessen werde) - der Meinung war, dass ich eh nur simuliere, weil man mir ja nichts ansah und mich im Rahmen der erzieherischen Maßnahme in die letzte Reihe setzte. Dies hatte natürlich zur Folge, dass ich einen klassischen Absturz hinlegte, einmal sitzenblieb und die vierte Klasse noch einmal machen durfte mit dem Ergebnis, dass ich es beim zweiten Mal wieder nicht schaffte. Im Jahr 1971 stand dann fest, so geht es nicht weiter, Axel muss nach Dortmund zur Sehbehindertenschule – es gab jetzt keine Alternative mehr.
Kurze Anmerkung für diejenigen, die zeitlich nachrechnen: zur damaligen Zeit gab es noch Kurzschuljahre. Das heißt, ein Schuljahr der ersten beiden Klassen dauerte ein halbes Jahr.