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1982 – 1987

ICH BIN HSV!

2. Oktober 1982

HSV – VfL Bochum 0:0


Ich bin jetzt zehn Jahre alt und fahr mit Mama und Papa und meiner Schwester im Zug nach Hamburg. Wir fahren eigentlich immer überall mit dem Zug hin, weil, mein Papa ist bei der Deutschen Bundesbahn und da gibt’s – na klaro – keine zwei Meinungen, wie wir reisen. Bevor es losgeht, darf ich mir, wie eigentlich immer, noch ein Lucky-Luke-Heft holen. Meine Schwester, die ist man gerade zwei Jahre älter als ich, tut schon ganz schön erwachsen und liest die Bravo und Mama, die rennt irgendwo rum, um „noch schnell einen Kaffee zu organisieren“. Papa behält in der Zwischenzeit den Überblick und regelt den Verkehr im Zug, von wegen: „ Moin Moin! Ich bin ja übrigens auch bei der Bahn.“

Und dann geht das Kluggeschnacke und Gebrasche los, und meine Schwester und ich verdrehen die Augen und schämen uns ein bisschen und denken: „Wo bleibt Mama nur?“ Nur ist von Mama weit und breit nichts zu sehen und so fährt der Zug los und so langsam bekommen wir ein bisschen Angst, dass wir Mama am Husumer Bahnhof vergessen haben und ohne sie mit der Deutschen Bundesbahn nach Hamburg fahren. Wir sind schon ziemlich in Panik und schreien ein bisschen rum, von wegen: „Du Papa, Mama ist weg!“ Aber während Papa in irgendwelche Bahnfachgespräche vertieft ist und uns gar nicht so richtig zuzuhören scheint, kommt Mama schon durch die Abteiltür gestiefelt. Die Familie ist also komplett und so kann ich mich in unserem Zugabteil endlich mal ein bisschen zurücklehnen mit meinem Lucky-Luke-Heft auf meinem Fensterplatz.



Wir wohnen auf Nordstrand. Das ist nur eine kleine Insel im nordfriesischen Wattenmeer, die eigentlich gar keine richtige Insel, sondern eher eine Halbinsel ist, weil sie nämlich eine Straßenverbindung mit dem Festland hat, den Nordstrander Damm. Einen Bahnhof hat Nordstrand nicht, höchstens einen Hafen, genauer gesagt zwei, aber mit dem Schiff nach Hamburg, das geht nun nicht. Erstens wäre das wohl zu teuer und zweitens ist Papa schließlich bei der Deutschen Bundesbahn und nicht Seemann.

Unser Zug hat Nordfrieslands Kreisstadt Husum kaum verlassen, da haben wir uns das auch schon mit den mitgebrachten Brötchen und Frikadellen und Capri-Sonnen und Lucky Lukes und Bravos gemütlich gemacht. Das gilt zumindest für Mama und Papa und meine Schwester, denn ich kann hier nicht lange gemütlich rumsitzen und Lucky Luke lesen, wo ich doch so aufgeregt wie nur was bin, schließlich fahren wir gerade zum ersten Mal ins Hamburger Volksparkstadion. Da spielt nämlich HSV, und HSV ist das Superste, was es gibt!

Schon die HSV- Rocker, die in Friedrichstadt und Heide mit ihren Schals und Fahnen und Jeanswesten voller Aufnäher zusteigen, finde ich ja total super. Papa erklärt mir, dass die Westen „Kutten“ heißen. Woher er das wieder weiß! Aber Papa hin oder her, wenn mal jemand gefährlich ist, dann ja wohl diese HSV- Rocker! So viel steht schon mal fest. Die laufen mit HSV-Schal, -Fahne, und -Kutte und Plastiktüten voller Bier und Schnaps durch den Zug und trinken Dosenbier und rauchen. Stark! Und ich stehe an der Abteiltür und denke so bei mir: einmal in meinem Leben mit HSV-Schal, -Fahne, -Kutte und Dosenbier rauchend durch den Zug laufen, und dann gucken die kleinen Jungs aus ihren Abteilen voller Angst aus der Wäsche! Die würden dann weiter in ihren Lucky Lukes blättern und an ihren Capri-Sonnen nuckeln, während ich Dosenbier trinken und rauchen und durch den Zug gehen würde.

So geht die Bahnfahrt weiter. Irgendwo zwischen Heide und Itzehoe weigert sich Papa zwar endgültig, mit mir auch ein drittes Mal an den HSV- Rockern vorbei zur Toilette zu gehen, aber nach so ungefähr einer Stunde stelle ich mich dann doch schon einmal vorsichtshalber auf den Flur, um die Flutlichtmasten des Hamburger Volksparkstadions auch ja nicht zu verpassen, denn die kann man von der Strecke Westerland-Hamburg-Altona gut sehen. Meine Schwester behauptet zwar immer, dass die links sind, aber ich weiß das besser, bin ja Fachmann, was ich mit einem hysterischen Schreikrampf, einem lautem „Das Stadion ist reeeechts!“ und lautem Weinen und Fluchen unterstreiche.

Knapp vierundfünfzig Minuten später liegen sie dann vor mir auf der, wer hat’s denn gesagt, rechten Seite: die vier Flutlichtmasten vom Hamburger Volksparkstadion. Es ist ganz einfach zum Verrücktwerden: Wir sitzen in einem Zug mit den härtesten HSV- Rockern überhaupt und ich habe schon von Weitem das Volksparkstadion gesehen und gleich geht’s zum Bundesliga-Topspiel HSV gegen VfL Bochum! Wie super ist das bloß alles?!

Nach bummelig zwei Stunden Fahrt kommen wir mit unserem D-Zug in Hamburg-Altona an, wo es gleich erst mal zu McDonald’s reingeht. Den Laden kenne ich bisher eigentlich nur von Maik, meinem besten Kumpel und Nachbarn von Nordstrand. Der war schon mit seinen Eltern drinne und schockt damit schon seit Längerem total rum. Klaro, schließlich haben wir auf Nordstrand überhaupt gar nichts, das so ist wie McDonald’s, außer vielleicht Hans Wurst. Jeden Sonntag fahren wir mit unserem von Papa frisch gewaschenen Auto mit Tempo 20 über die Insel rüber, hören Radio und kehren dann irgendwann auf eine Pommes bei Hans Wurst ein. Der Imbiss heißt Hans Wurst, weil der Besitzer Hans heißt. Hans ist übrigens einmal mit seinem


Imbiss in der Fernsehprogrammzeitschrift Hörzu gewesen. Die Hörzu gehört bei uns genauso dazu wie HSV und SPD. Hör mir auf mit TV Hören und Sehen, Bayern oder CDU. Bei uns zu Hause ist die Welt noch in Ordnung. Zumindest, wenn das um Hörzu, HSV, SPD und Hans Wurst geht.

Bei McDonald’s steht am Eingang „Hamburger Schnellrestaurant“ dran, was endgültig beweist, wie super der Tag heute ist: Wir fahren mit der Deutschen Bundesbahn, gehen ins Stadion und vorher noch in ein Restaurant! Dem Ganzen die Krone aufsetzen tut, dass da nicht nur die HSV- Rocker von gerade eben aus dem Zug drinne sind, sondern überhaupt ein ganzer Sack voller gefährlicher HSV- Rocker, die sich vor dem großen Spiel mit einer Apfeltasche, einem Erdbeer-Milchshake und einer kleinen Tüte Pommes stärken. Für mich ist das ein Gefühl, als wenn ich mitten in der HSV-Fankurve stünde, mitten in der Westkurve, und zwar nicht so außen, in Block A oder B, sondern richtig in Block E, wo das voll schocken und zur Sache gehen soll. Papa sagt nämlich immer: „In Block E kommst du nicht rein! Viel zu gefährlich, mit den ganzen Rockern!“ Tja, hat Papa gesagt, und nun bin ich schon fast in Block E, ob Papa mir das erlaubt oder nicht. Zwar nur bei McDonald’s und nicht im Stadion, aber immerhin! Wie ich so an meiner Cola schlürfe, denke ich heimlich, lass Papa man quatschen, irgendwann gehe ich auch rein in Block E. Und da ist es ja nur gut, dass ich meine bald-besten Freunde hier schon mal unter die Lupe nehmen kann.

In der S-Bahn Richtung Stellingen-Volksparkstadion sitzen und stehen bestimmt Tausende von Fußballfans um Mama und Papa und meine Schwester und mich rum, und überall sind Aufnäher und Schals und Dosenbier und es ist ein einziges Rülpsen, Fluchen und „HSV“ -Bölken – sowas von 1a! Ganz im Gegensatz zum Spiel. Ich hab das Gefühl, dass HSV nicht ein einziges Mal auf das Tor schießt, nicht ein einziges Mal kommt HSV-Mittelstürmer Hrubesch – der wegen seiner super Kopfbälle übrigens Kopfballungeheuer genannt wird – mit dem Kopf an eine Flanke von HSV- Verteidiger Kaltz – der wird wegen seiner guten, krummen Flanken übrigens Bananen-Manni genannt – ran und da ist es ja nur logisch, dass die ganze Schose 0:0 ausgeht. Mein Papa ist ja sowieso schnell „mit den Nerven zu Fuß“ und wohl auch darum total sauer und pöbelt HSV-Mittelfeldspieler Hartwig an: „Beweg dich mal, Jimmy!“ Ich weine ein bisschen, weil erst Papa Hartwig anschreit und dann Mama Papa, weil: „Was schreist du hier so rum!“


Meine Schwester, die geht mit mir dann auf der Südtribüne ein wenig spazieren, und irgendwann stehen wir zwei unten am Zaun und ich wedele wie bekloppt mit meiner kleinen HSV-Fahne rum. Ich muss schon sagen, 0:0 hin oder 0:0 her, aber wenn ich an den ersten Blick auf den grünen Rasen denke und an die vielen Zuschauer, immerhin sind hier 17.000 auf einem Haufen, fast so viele, wie Husum Einwohner hat, dann frag ich mich nur eines: Wann ist das nächste HSV-Heimspiel?

Auf dem Fußmarsch vom Stadion zurück zur S-Bahn-Station Stellingen schaue ich mir, während Papa noch immer über das „primitive Spiel“ und die „brotlose Kunst“ rumpöbelt und Mama mit Papa wegen des ganzen Rumgepöbels schimpft und meine Schwester mit ihrem neuen Walkman beschäftigt ist, die ganzen Aufnäher auf den Kutten der HSV-Rocker an. Und im Zug nach Hause habe ich – ein Glück, dass Mama immer Papier und Stifte zum Malen dabei hat – nichts anderes zu tun, als HSV-Kutten noch und nöcher zu malen, mit den härtesten Rocker-Aufnähern weit und breit drauf: „HSV-Fan-Club Dragons“ oder „Mighty HSV!“ oder „Westkurven-Power“ oder „Number One HSV “, um hier nur die härtesten zu nennen und ohne zu wissen, was „mighty“ heißt oder „Number One“ bedeutet. Ist ja auch egal, denn ich weiß jetzt, dass ich bestimmt schon bald wieder zum HSV fahre und dass das Beste, was mir jemals in meinem ganzen Leben passieren kann, eine HSV-Jacke mit solchen Aufnähern drauf ist!


25. Mai 1983

HSV – Juventus Turin 1:0

Ich hab den ganzen Tag draußen Fußball gespielt und mich auf heute Abend gefreut, denn ich darf länger aufbleiben, weil: HSV spielt gegen Juventus Turin im Europapokal-Endspiel! Also flitze ich, nachdem Maik und ich sämtliche Siegesvariationen schon einmal auf dem Nordstrander Fußballplatz vorgespielt haben, schnell nach Hause, springe in die Badewanne rein, spiele noch etwas mit dem Playmobil-Piratenschiff, springe aus der Badewanne raus, ziehe den Bademantel an, Puschen an, Bademantel aus, Schlafanzug an, HSV-Trikot drüber, Mütze auf, gehe noch mal pieschen, greife mir den großen HSV-Schlumpf, den ich neulich beim Husumer Jahrmarkt beim Entenangeln gewonnen habe, und ab geht’s nach unten.

Mein Onkel aus Schweden ist übrigens zu Besuch. Er ist eigentlich gar kein Schwede, sondern nur vor vielen Jahren dahin ausgewandert. Er und Papa sind noch mal kurz zum Angeln, um uns „einen ordentlichen Fisch aus der Nordsee zu ziehen“, meint Mama. Mein Onkel aus Schweden und mein Papa sind super.

Die Nachrichten laufen schon und von meinem Onkel aus Schweden und Papa ist noch nichts zu sehen. Ich hab aber schon einen Mordshunger.

„Mama, darf ich Würmer und Cola?“, frag ich Mama. Mama hat eigentlich die Kartoffeln schon auf dem Herd, schließlich kommen mein Onkel aus Schweden und Papa ja gleich.

„Nimm dir, was du willst“, sagt sie. Mama ist super. Nur frage ich mich, warum sie so komisch dabei guckt. Ich hab doch gebadet! Was will die denn noch?

Es ist nun schon fast acht Uhr und gleich geht das Spiel los.

„Mannomann, die beiden haben bestimmt einen Mordsfisch an der Angel, was, Mama?!“, ruf ich Mama in der Küche vom Sofa aus zu. „Mama!?“

Mama antwortet nicht, aber das ist ja auch nicht so schlimm, schließlich hab ich ja meine Würmer und Cola und gleich gibt es auch noch frischen Fisch, wenn mein Onkel aus Schweden und Papa mit ihrem Mordsfisch nach Hause kommen. Würmer und Cola und dann auch noch ein Mordsfisch und dann auch noch HSV – was für ein Abend!


Das Spiel läuft jetzt und ich vergesse so ein bisschen Würmer, Cola und den Mordsfisch.

„Heute verliert HSV bestimmt, Mama!“, sage ich zu meiner Mama.

„Die verlieren nicht!“, versucht sie mich zu beruhigen.

„Doch!“, rufe ich. Ich will mich nicht beruhigen lassen.

„Nein, tun sie nicht!“ Mama nun wieder.

„Doch“, versuche ich sie zu überzeugen.

„Okay, dann verlieren sie heute eben, wenn du das so genau weißt!“, meint meine Mama, was mich nun wieder völlig schockiert. Wie kann Mama davon ausgehen, dass HSV dieses wichtige Spiel verlieren könnte!? Ich fange ein bisschen an zu weinen und frage mich, warum Mama plötzlich kein HSV-Fan mehr ist.

Mama kommt rein und beruhigt mich, sie hätte es nicht so gemeint. „HSV gewinnt!“ Puh! Mama ist super. Und HSV gewinnt. Und dann darf heute auch noch der große HSV-Schlumpf ausnahmsweise neben mir auf dem Sofa sitzen statt, wie sonst immer, in der Ecke neben dem Fernseher. Hat Mama mir erlaubt, was ich erst nicht so ganz verstehe: „Und wo sollen dann die beiden Angler sitzen, wenn die gleich kommen?“, frag ich Mama.


„Die können stehen.“

Was meint Mama nun wieder damit? Ist ja auch egal. Hauptsache, der Schlumpf hat das schön bequem!

Ich drück mir grad bestimmt zwanzig Würmer auf einmal rein und spül die salzigen Dinger mit Cola runter, da knallt Felix Magath – der wird übrigens, weil er so gut Fußball spielen kann, Mittelfeld-Regisseur genannt – mal voll drauf und schon steht es 1:0 für HSV. Ich und der Schlumpf, der von mir ein paar Mal hoch in die Luft geworfen wird, wir flippen ein bisschen aus vor lauter Freude, und Mama, die flippt in der Küche auch aus, denn auch von da kann ich lautes Geschrei hören. Die hört wohl HSV im Radio.

„Mensch, Mama, du machst ja ganz schön Stimmung in der Küche! Wir hier aber auch! Vielleicht bringen die beiden Superangler ja eine schöne Scholle mit, was, Mama?!“, ruf ich Mama zu, damit die in der Küche mit ihren Kartoffeln und dem Radio nicht so alleine ist. Und dann bölken der Schlumpf und ich auch schon wieder rum: „HSV! HSV!“ Als Felix Magath schon wieder so einen „Super-Pass in die Spitze“ spielt, wie der Mann im Fernseher sagt, da rufe ich in Richtung Küche: „Mama! Magath hat schon wieder so einen Super-Pass gespielt! Total geil!“

Nun guckt Mama plötzlich böse um die Wohnzimmer-Ecke. „Geil? Was sind das denn hier für Ausdrücke?!“

Uiuiui. Dann lass ich das mal lieber bleiben. Dabei hat mir Maik das Wort „geil“ gerade erst beigebracht.

So läuft das Spiel vor sich hin. Und ich und der Schlumpf sitzen auf dem Sofa. Und Mama steht in der Küche. Und irgendwann sind nur noch zehn Minuten zu spielen. Gerade, als ich da so sitze und immer doller die Daumen drücke für HSV, da klopft es an der Tür und das nicht grade leise und wer kommt reinspaziert? Mein Onkel aus Schweden und Papa. Endlich sind sie da. Das Erste, was ich von den beiden mitbekomme, ist ein ganz schön lautes Rülpsen – Papa fragt Mama später, was sie denn an einem beherzten Rülpsen auszusetzen habe – von meinem Onkel aus Schweden, das bestimmt noch bei Maik und denen in der Nachbarwohnung zu hören ist.

Jetzt sind nur noch einige Minuten zu spielen und gleich ist HSV Europapokalsieger – juchhu! Ich halt es vor Spannung nicht mehr aus, da kommen mein Onkel aus Schweden und Papa endgültig ins Wohnzimmer reingestürzt. Von einem Mordsfisch ist weit und breit nichts zu sehen und die beiden sind so super-merkwürdig. Papa ruft irgendwas von wegen „Ausziehen! Alle Mann!“, während mein Onkel aus Schweden andauernd rülpst und wie am Spieß „Ja, dann is Danz op de Deel, Danz op de Deel, jümmers noch een Mal, quer so dörch den Saal!!“ schreit und dann auch noch am Fernsehgerät rumspielt und plötzlich, als sei das nicht alles schon schlimm genug, UMSCHALTET! HSV gewinnt gleich und Juventus Turin drückt auf den Ausgleich und mein Onkel aus Schweden schaltet um.

Ich frag Mama, warum die beiden so komisch sind.

„Du, wenn dein Onkel aus Schweden kommt, ist hier Saufen offenbar Pflicht“, meint Mama und sie erzählt mir, dass sich die beiden dann immer benehmen würden „wie die allerletzten Zyklopen“. Ich will Mama eigentlich gerade fragen, was ein Zyklop ist, weil, das hört sich eigentlich ganz lustig an, „Zyklop“, und ich wäre auch gerne einer, aber da hat mein Onkel aus Schweden mich schon am Wickel, hebt mich hoch, knutscht mich ab und schleudert mich herum. Papa singt: „Wo de Nordseewellen trekken an de Strand, wo de geelen Blomen blöhn in’t gröne Land!“

Ich würde so gerne wissen, ob HSV tatsächlich gewonnen hat, aber vor lauter Durch-die-Luft-geworfen-und-geschleudert-Werden und Rumgegröle und -gesinge kann ich an gar nichts mehr denken, außer daran, dass ich lieber doch kein Zyklop sein möchte. Im Wohnzimmer herrscht mittlerweile das absolute Chaos. Nur der HSV-Schlumpf sitzt ruhig und alleine auf dem Sofa, guckt aber auch irgendwie traurig aus der Wäsche.


Mittlerweile finde ich meinen Onkel aus Schweden und Papa so richtig scheiße und außerdem kommt mir vom lauter Durch-die-Luft-geworfen-und-geschleudert-Werden langsam aber sicher die Tüte Würmer hoch, als plötzlich Maik in der Tür steht. Schon aus dem Flur kann ich ihn rufen hören: „Yeah! Hast du das gesehen!? HSV hat es geschafft!“ Doch als er uns vier so fast ineinander verkeilt im Wohnzimmer sieht, da dreht Maik sich um und sagt noch im Rausgehen: „Äh, ich muss auch mal wieder rüber. Du kannst dich ja morgen mal bei mir melden…“

Als Maik längst verschwunden ist und ich oben im Bett endlich meine Ruhe habe, da denke ich: Zum Glück gewinnt HSV nächstes Jahr wieder den Europapokal. Und dann gucke ich mir das Endspiel aber in Ruhe bei Maik zu Hause an, hundertpro!

28. Juli 1983

HSV – 1. FC Kaiserslautern 5:1

(nicht „in echt“, sondern „im Spiel“)

Maik kommt vorbei und wir laufen sofort los und rauf auf den Fußballplatz. Der liegt eigentlich direkt bei uns im Garten, naja, zumindest fast. Wir wohnen nämlich gleich bei der Schule, was ja eigentlich so super wie nur was ist. Für Mama, weil, die ist Lehrerin an genau der Schule, und für mich na klaro auch, weil: Wenn das zur ersten Stunde klingelt, dann schiebe ich mir noch schnell ein Mettwurstbrot in den Mund rein, greife mir meinen Scout-Ranzen und düse los, zur Schule. Ich muss nicht lange Bus fahren, nicht groß auf das Fahrrad rauf, ich muss einfach aus der Haustür raus und quer über den Schulhof, rein in die Schule. Obwohl: Die schöne Grundschulzeit ist nun leider bald vorbei. Nach den Sommerferien muss ich in Husum zur Schule. Mama und Papa meinen wohl, ich bin neunmalschlau und darum geh ich zum Gymnasium hin oder, wie Maik immer sagt, „zum Gumminasium“, was auch immer er damit meint.

Kann na klaro auch sein, dass Mama bloß keine Lust hat, mich an der Realschule selber zu unterrichten und mich darum auf eine andere Schule schickt. Ich habe in meiner ganzen Grundschulzeit nur ein einziges Mal Unterricht bei Mama gehabt. Wir hatten Mama als Vertretung in Sport, und da dachte ich, na klaro, dass es jetzt ganz sicher für mich läuft, aber als wir dann gar kein Fußball, sondern dieses verfluchte Handball spielten, da habe ich ein bisschen geschrien und geweint und da musste ich die ganze restliche Stunde am Rand auf der Bank sitzen und zugucken, während die anderen ziemlich viel Spaß hatten und mir immer wieder, wenn sie an meiner Bank vorbeikamen, zuriefen: „Sport bei deiner Mama ist super!“

Pah! Fußball ist viel superer als Handball! Ein Glück, dass ich Maik hab! Der kommt also vorbei und wir düsen los. „Ich rieche schon den Rasen“, ruf ich und ich könnte verrückt werden, so viel Bock hab ich auf Fußball! Wir bolzen die Pille schon Richtung Fußballplatz, als der – kein Wunder bei all den Hagebuttensträuchern drum herum – noch gar nicht zu sehen ist. Rumms! Das schockt!


Der Platzwart vom TSV Nordstrand heißt auf Plattdeutsch, was bei uns in Nordfriesland viel gesprochen wird, Fiete Oog, was auf Hochdeutsch so viel heißt wie Friedrich Auge, was so viel heißt wie: Der Platzwart schielt. Und nicht zu knapp, was jedes Wochenende aufs Neue die gekreideten Außenlinien auf dem Fußballplatz beweisen. Das ist einem als Fan der ersten Herren des TSV jedes Mal ein bisschen peinlich, wenn die Linien bei den Spielen so schief sind. Die gegnerischen Mannschaften müssen ja denken, dass die sonst wo gelandet sind, wenn sie auf Nordstrand spielen müssen. Mit Fiete Oog ist auch sonst nicht zu spaßen, so nimmt er zum Beispiel nach den Spielen immer schnellstmöglich die Tornetze ab, damit uns Jungs Fußballspielen auch ja keinen Spaß bringt und keiner auf die Idee kommt, auf dem Fußballplatz Fußball zu spielen. Außer die richtigen Fußballer vom TSV, die Erwachsenen, mit denen sich Fiete Oog nicht anzulegen traut, die dürfen Fußball auf Tore mit Netzen spielen, was ja wenigstens was ist, wenn man sich die schiefen Linien einmal anschaut.

Heute haben wir Glück. Gestern war im TSV-Clubheim offenbar noch bös was los, so dass Fiete Oog noch nicht aus den Federn gekommen ist und darum eines der kleinen Tore tatsächlich und ausnahmsweise mal ein Netz draufhat, und los geht das. Einer von uns beiden geht ins Tor. Der andere spielt draußen Bundesliga und kommentiert nebenbei die Spiele und das bin na klaro ich, schließlich rufe ich gleich bei uns zu Hause, bevor wir losrennen: „Erster Draußenspieler ohne Streit!“ Fußballspiele ohne Kommentator schocken überhaupt nicht, das geht bestimmt jedem vernünftigen Fußballfan so. Ganz genauso wie im Fernsehen, in der Sportschau, muss das bei uns laufen. Und während ich mir selber die Bälle zuspiele und herumgrätsche und Einwürfe mache und Freistöße schieße und bei Schiedsrichter-Fehlentscheidungen die Hände in die Luft werfe, kommentiere ich die Szenen, die ich fleißig vor mich hinspiele: „Anpfiff am Münchengladbacher – oder hieß das Mönchengladbach? – Bökelberg.“ Und ich lege mir den Ball ein bisschen vor und renne hinterher. „Und hier ist Winfried Hannes, der Libero, am Ball und… .“ Ich schieße aufs Tor, der Ball fliegt jedoch weit drüber, rein in die Hagebuttenbüsche. „….whooooooooooooaaaaaaaaaaaa! – das sind die Fans – drüber!“

Maik kriecht in den Hagenbuttenbusch, in dem der Ball liegt, flucht ein bisschen, holt ihn raus, wirft ihn mir zu und ich bin schon wieder unterwegs. „Nun treibt Ata Lameck – was ist Ata bloß für ein 1a-Vorname – den Ball für den VfL Bochum nach vorne!“

Und ich will schon wieder abziehen, da drehe ich mich mit dem Ball am Fuß vom Tor weg und schiebe den Ball ein wenig zur Seite, denn bei so einem richtigen Fußball-Bundesligaspiel, da kann es natürlich nicht immer nur rauf und runter gehen, da sind auch mal schwächere Phasen dabei: „Schön den Ball erobert, aber was ist das jetzt für ein Mittelfeldgeplänkel der Gladbacher Borussen?!“ Wie auch immer das Spiel läuft: Im Kommentieren bin ich ziemlich gut.

Das findet auch Maik, der, während ich nun Fortuna Düsseldorf gegen Bayern München spiele, laut jubelt: „Geil, dass Bayern 0:3 zurückliegt. Aber jetzt kann doch auch Atli Edvaldsson noch ein Tor machen, oder? Ich werf dir den Ball zu und Kopfball und 4:0 für Fortuna Düsseldorf!“

„Geile Idee!“

Und ich krieg den Ball auf den Kopf und Maik bewegt sich extra ein bisschen langsamer in die Ecke und – „whhhhoooooaaaaaaaaa! – 4:0 für Fortuna Düsseldorf! Wenn das so weitergeht, meine Damen und Herren, dann löst der HSV den FC Bayern nach diesem Spieltag als neuer Tabellenführer ab.“ Ich quatsche ja echt zu gerne das nach, was die Radiofritzen immer so rumreden, und diesen Schnack von wegen „Wenn das so weitergeht…“, den hab ich erst neulich bei NDR2 am Samstagnachmittag gehört.

Wobei ja eigentlich die Saison noch gar nicht angefangen hat. Das schockt übrigens echt am meisten, sich vor der Saison mit dem Kicker-Sonderheft aus der vorigen Saison zu überlegen, welche Spieler zu welchen Vereinen wechseln könnten. Maik und ich liegen dann den ganzen lieben langen Tag zwischen Schafkötteln und Touristen am Deich, also direkt an der Nordsee rum, baden aber nicht, wie auch, dafür haben wir schließlich gar keine Zeit, wir haben wichtige Transfergeschäfte abzuwickeln! Wir lesen also das alte Kicker-Sonderheft und lernen die Kader der Mannschaften auswendig und machen Transferlisten und überlegen uns, was solche Spieler wie Bodo Mattern von Darmstadt 98 kosten, wenn die zum Beispiel zum VfB Stuttgart wechseln würden. Bayern und Werder und Köln kaufen immer die größten Krampen zusammen und für HSV haben wir – na klaro – immer die supersten ausländischen Starspieler in petto, am liebsten die geilsten Spieler aus England und die schlagen dann regelmäßig wie die allergrößten Bomben ein, schießen an den ersten Spieltagen prompt mindestens zwei Tore und werden von uns auf dem Nordstrander Fußballplatz mit Ehrenrunden um die Hagebuttenbüsche gefeiert: „Und da läuft Steve Archibald jubelnd in die Westkurve und bedankt sich bei seinen Fans!“

Das geht dann meistens so lange, bis die supersten ausländischen Star spieler dann am nächsten Tag wieder langweilig werden und wir uns neue ausländische Starspieler ausdenken, die für HSV spielen könnten und die dann am ersten Spieltag wieder gleich zwei Tore machen und von uns dann mit Ehrenrunden um die Hagebuttenbüsche gefeiert werden, und so geht das dann, bis wir wieder an der Nordsee liegen, und so weiter und so fort.

Und zwischen diesem ganzen Geschacher um neue Spieler spielen Maik und ich – na klaro – Fußball und das schockt dann erst so richtig! Borussia Mönchengladbach trennt sich am ersten Spieltag vom VfL Bochum mit 1:1. Fortuna Düsseldorf gewinnt mit 4:0 gegen Bayern München, die für 1,2 Millionen Mark Peter Loontiens von Bayer 05 Uerdingen gekauft haben, wobei der allerdings „überhaupt nicht eingeschlagen“ hat, wie Maik nach dem Spiel meint. „Ich hätte von dem ja echt mehr erwartet.“

So stehen wir herum, trinken einen Schluck gelbe Brause und schnauben mal durch.

„Jetzt wird’s aber mal Zeit für das HSV-Spiel!“

Das finde ich – na klaro – auch: „Geile Idee!“

Und dann geht’s los.

Mit dem Diskutieren. Maik findet nämlich, wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht: „Du hast schon zwei Spiele gespielt. Jetzt bin ich aber mal Draußenspieler.“

Wir wollen ja beide, dass HSV gewinnt, aber Maik wird immer so schnell fickerig, wenn das in der – sagen wir mal – 80. Minute noch nicht 1:0 für HSV steht. Ich dagegen mag ja auch gerne mal ein 1:1 oder so, weil nämlich: „Das ist viel realistischer!“ Was Maik ganz anders sieht: „Du immer mit deinem ‚realistisch‘!“ Womit er allerdings wahrscheinlich schon wieder gar nicht mal so Unrecht hat, denn ein klarer Sieg im ersten Spiel – klaro zu Hause, im Volksparkstadion – würde HSV nun echt gut zu Gesicht stehen, das weiß auch ich, und so steht es nach – na klaro von mir gespielten – siebzig Minuten dann etwas überraschenderweise 5:0 für HSV und die Torschützen heißen Dieter Schatzschneider – der ist tatsächlich gerade für Horst Hrubesch gekommen und macht bei uns gleich in seinem ersten Spiel für HSV drei Tore! Was für ein Einstand! – und Manfred Kaltz mit Elfmeter – nach Foul an Schatzschneider, anders ist der ja auch gar nicht zu bremsen – und Charly Nicholas – so ein englischer Spieler, von dem Maik im Kicker gelesen hat – mit einem „Flatterball“, das meint zumindest Torwart Maik.

Es ist kurz vor Schluss beim Spiel HSV gegen Kaiserslautern und ich spiele mir selber den Ball so ein bisschen lässig hin und her und spiele mal zurück zum Torwart, weil, auch Maik meint: „Kaiserslautern ist ja sowieso noch gut bedient mit dem 0:5!“

Doch jetzt geht das Affentheater erst richtig los.

„Und Kaiserslautern im Angriff.“

„Was soll das denn jetzt? Müsste doch schon längst Schluss sein!“ Maik ist entsetzt.


„Und Torbjörn Nilsson – das ist der schwedische Mittelstürmer von Kaiserslautern und der heißt wirklich so – müsste schießen!“

Maik versucht zu retten, was zu retten ist: „Aber pass auf, nicht so doll!“

„Und er schießt!“

Und Maik hält. „Aber Uli Stein hält!“

Maik strahlt erleichtert. „Den hat Uli aber in echt richtig gut gehalten. Das wäre beinahe in die Hose gegangen!“

„Ja. Hast recht. Aber einen Freistoß kriegt Kaiserslautern noch!“

Und das ist für Maik dann wirklich zu viel. Er droht: „Wenn der reingeht, dann bist du überhaupt gar kein richtiger Fan.“

„Bin ich doch!“

„Bist du nicht! Warum lässt du HSV nicht einfach mal zu null gewinnen? So ein Zu-null-Spiel wäre doch für Uli Stein auch mal gut!“

Ich will hier nicht lange rumquatschen, sondern schieße flach ins Eck, wobei Maik so dermaßen mit Schimpfen beschäftigt ist, dass er den eher schwach geschossenen Ball durchlässt. „Und das 5:1 für Kaiserslautern durch Axel Brummer! Und, meine Damen und Herren, hier ist auch schon der Schlusspfiff.“


Ich gehe zum Tor, um mir meine Trainingsjacke anzuziehen.

„Ich muss jetzt auch nach Hause.“

Maik zieht seine Torwarthandschuhe aus, holt den Ball aus dem Netz und klingt ziemlich sauer. „Ich auch. Ich glaube, wir essen jetzt sowieso Abendbrot.“

„Wir auch. Kommst du morgen wieder vorbei?“

„Meinetwegen. Aber dann bin ich HSV!“

29. Juli 1983

HSV – Werder Bremen 2:0 (nach nur wenigen Minuten und auch nicht „in echt“, sondern nur „im Spiel“)

Einen Tag später regnet es schon den ganzen Tag, aber dann ruft Papa, der heute Spätschicht hat und darum nachmittags zu Hause ist, von unten hoch: „Maik ist da!“

Ich lese gerade in meinem Lieblingsbuch „Donald vor, noch ein Tor“, und wie ich Papa rufen höre, da lege ich das Lustige Taschenbuch zur Seite, freue mich und renne runter, um Maik zu begrüßen.

„Wollen wir drinnen spielen?“

„Super! Dann können wir ja wieder Kassetten aufnehmen mit Fußball-Bundesliga-Reportagen.“

Und schon sind wir unterwegs in das Zimmer meiner Schwester, die mal wieder nicht zu Hause ist. Wir borgen uns eine von ihren Aufnehmkassetten aus, schmeißen die in den alten Kassettenrekorder aus der Küche rein und hören erst mal, was drauf ist: „Och, das ist ja nur Chris de Burgh“, winke ich ab und Maik bewertet genauso fachmännisch: „Alter Hut!“ Und schon wenig später heißt es bei uns beiden: „Aufnahme läuft!“

Wie immer starten wir mit dem Bundesligazug, der auch beim NDR wöchentlich die Samstagnachmittagsbundesligasendung einläutet und den wir gekonnt und laut in das kleine Radiomikrofon hineinschmettern: „Düüüüü-düdel-düdel-düdel-düdel-düüüü – runter mit der Stimme! – DÜDÜ! – rauf mit der Stimme! – Düüüüü-düdel-düdel-düdel-düdel-düüüü – rauf mit der Stimme! – DÜDÜ! – nochmal rauf mit der Stimme!…“ Und so weiter, und während im Hintergrund Maik immer weiter, nun aber leiser, „düdel dü“ summen muss, melde ich mich direkt aus dem Studio: „Ja, meine Damen und Herren, der Bundesligazug, er rollt wieder! Herzlich willkommen zum ersten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Mein Name ist Günther Maletzko!“ Den finde ich ja besonders stark, weil er immer so super aus der Nase raus kommentiert. Und durch die Nase kündige ich auch die, wie es bei uns Fachmännern heißt, „Bundesliga-Paarungen“ an: „HSV gegen Werder, Bayern gegen Bielefeld…“ und so weiter und so fort. Aber bevor das mit den „Bundesliga-Paarungen“ losgehen kann, spielen wir „erst mal etwas Musik, meine Damen und Herren!“.

Das machen die im Radio in echt auch immer, weiß der Teufel, warum, schließlich wollen wir und alle anderen Fußballfans, die samstagnachmittags Fußball im Radio hören, ja sowieso nur Fußball hören und nicht Musik, aber weil die das in echt auch immer tun, müssen wir das auch machen, „sonst ist das nicht realistisch“. Doof ist das für uns nur immer dann, wenn ausgerechnet an der Stelle, an der Maik und ich „eine kleine Musikpause zum Durchpusten“ einlegen wollen, gerade überhaupt keine Musik ist, weil nämlich auf der Kassette, die meine Schwester aufgenommen hat, gerade da eine Liedpause ist. Maik findet das überhaupt nicht komisch und geht mit meiner Schwester hart ins Gericht: „Deine Schwester ist echt bescheuert. Warum hat die da kein Lied drauf?“ Zwar kommt dann meistens doch noch irgendeine Schnulze, aber die Pause ist – na klaro – trotzdem drauf und „die hört sich scheiße an“. Sagt Maik. Und wo er recht hat, hat er recht.

Aber es muss ja weitergehen: „Wir gehen rüber nach Hamburg, zu Kurt Emmerich!“

Und nun ist Maik dran. Er darf heute alle Bundesligaspiele kommentieren, während ich als Günther Maletzko im Funkhaus den Überblick behalte. „Ja, meine Damen und Herren, hier steht es schon 1:0 für den HSV, durch Jürgen Groh…“


Und ich kann nicht anders und unterbreche Maik. „Wieso steht das schon 1:0? Da sind doch erst 5 Minuten gespielt!“

„Ja, und? Ist das verboten, dass HSV ein Tor schießt, oder was? Was bist du eigentlich für ein Fan!?“

„Zumindest bin ich nicht so ein ‚1:0-nach-fünf-Minuten-Fan‘ wie du!“

„Pah!“ Maik lässt sich nicht beirren: „Jürgen Groh ist da alleine durch die Bremer Abwehr gegangen und hat einfach mal trocken abgezogen und Dieter Burdenski keine Chance gelassen! Hier ist eine Riesenstimmung im Hamburger Volksparkstadion! Ich gebe zurück in die angeschlossenen Funkhäuser!“

„Ja, meine Damen und Herren – die Ansage ‚Meine Damen und Herren‘ gehört immer dazu, das machen die im Radio in echt auch immer – das war Kurt Emmerich und was höre ich? Da ist irgendwo ein Tor gefallen?“

„Jooo, hierrr ist Gerrrd Rrrrubenbauer. Und die Bayern-Sprrrechchöre sind verstummt. Es steht 1:0 für die Arrrminia aus Bielefeld und Torschütze in der siebten Spielminute war Grrrregorrr Grrrillermeier. Ich gebe zurrrück in die angeschlossenen Funkhäuser, oder ist da noch irrrgendwo etwas passiert?“

„Elfmeter in Hamburg!“ (Maik nun wieder!) „Elfmeter für Werder!“ (???) „Eine umstrittene Entscheidung von Walter Eschweiler. Und Uwe Reinders tritt an und – WOOOOOOAAAAHHHHHHH! – die Fans rasten aus! – Gehalten!“ (!!!) „Uli Stein hält den Elfmeter! Es bleibt beim 1:0 für den HSV!“

Und nun geht es drunter und drüber: „TOOR für die Eintracht aus Braunschweig! 1:0 durch Ronny Worm! Dieser nahm eine Flanke von…“


„Und TOOOOR in Hamburg! WOOOAAAHHHHHHHHHHH! 2:0 für den HSV! Nach 14 Minuten schießt Lars Bastrup das 2:0. Ein eleganter Heber!“

Dann ist ja alles wieder in Ordnung in Hamburg. Das findet Maik auch. Und strahlt. HSV führt nach nur wenigen Minuten mit 2:0.

„Morgen bin ich aber mal wieder dran mit Reporter sein, okay?“

„Okay, aber nur, wenn’s regnet!“

19. Mai 1984

HSV – Eintracht Frankfurt 0:2


Wir spielen heute mit der TSV-Nordstrand-Fußballjugend bei Frisia Husum, wobei wir uns überhaupt nicht richtig auf unser Spiel konzentrieren können, weil, wir denken eigentlich die ganze Zeit nur an HSV. Heute ist nämlich vorletzter Bundesligaspieltag, und HSV spielt gegen Eintracht Frankfurt, die ja nun wirklich richtig schlecht sind, und das sollte ja nun eigentlich überhaupt kein Problem sein. Bei einem Sieg wäre HSV fast schon wieder Deutscher Meister, und wie super ist das bitteschön! Seit ich HSV-Fan bin, wird HSV nur noch Meister, zum dritten Mal schon hintereinander!


Wie wir selber spielen, ist uns also total schnuppe, Hauptsache, Maik und ich haben unsere HSV-Pudelmützen im Spiel auf, die bringen nämlich Glück. Nur mein Papa, der uns hingefahren hat, steht draußen am Spielfeldrand und schimpft die ganze Zeit nur rum.

„Los, Jungs! Bewegt euch mal!“

Papa tut manchmal echt so, als ob er unser Trainer wäre. Okay, wir spielen echt schlecht und verlieren mit 0:6 und bewegen tun wir uns eigentlich auch erst so richtig, als Maik und ich nach dem Abpfiff schnell vom Platz rennen, weil wir doch unbedingt und schnell nach Hause wollen, damit wir in der Sportschau auch ja noch sehen können, wer die ganzen HSV-Tore zur Meisterschaft geschossen hat.

Auf der Rückfahrt nach Nordstrand hält Papa uns so eine richtige kleine Gardinenpredigt, die wir gelassen über uns ergehen lassen. „Lass den man reden“, flüstere ich Maik auf der Rückbank gerade ins Ohr, als Papa plötzlich nebenbei am Radio rumfummelt. Nun greifen wir von hinten aber doch mal ein, schließlich wollen wir uns die Spannung bis zur Sportschau erhalten.

„Radio aus!“, rufen wir wie aus einem Mund. Und tatsächlich, Papa macht das Radio aus. Aber er muss ja auch was zu tun haben, die Fahrt dauert schließlich fast zwanzig Minuten, also geht es weiter mit seiner Spielanalyse: „Ihr müsst euch einfach mehr bewegen.“ Und er erzählt allerlei Zeug, das wir nicht kapieren, wie zum Beispiel: „Da müsst ihr vorne auch mal pressen!“ Oder: „Die Abseitsfalle muss zuschnappen, Jungs! Zuschnappen muss sie!“ Am besten finden wir aber den Spruch hier, ohne dass wir wüssten, was er damit meint: „Im Deckungsverbund müsst ihr sicherer stehen!“

Wir nicken artig mit den Köpfen und sagen in regelmäßigen Abständen „Jaja“ und so ein Zeug, und – wer sagt es denn – schon nach kurzer Zeit fahren wir bei uns zu Hause auf die Auffahrt rauf.

Es ist schon fast 18 Uhr und gleich fängt die Sportschau an. Benny Hill hab ich heute ja leider verpasst. Das ist so eine Quatschsendung, die immer vor der Sportschau läuft und mir wegen der Aufregung, die sich nun immer doller bei mir breitmacht, jetzt doch ganz gut getan hätte. Maik flitzt schnell rüber zu sich nach Hause und auch ich renne rein, halte mir die Ohren zu und summe laut vor mich hin, damit ich das Radio in der Küche auch ja nicht höre, damit die Spannung nicht schon weg ist, wenn ich hoffentlich, vielleicht, höchstwahrscheinlich höre, wie HSV in Hamburg schon als Meister mit einem Bus durch die Straßen fährt und eine Riesensause macht.

Doch kaum läuft die Sportschau, ist die Ernüchterung groß. HSV hat 0:2 verloren! Zu Hause! Gegen Eintracht Frankfurt! Und ich sitze auf dem Sofa und kann das gar nicht so richtig glauben, weil, jetzt müsste HSV am letzten Spieltag in Stuttgart schon mit 5:0 gewinnen, um noch Meister zu werden! Das wird doch eh nichts und ist so was von – wenn das Mama lesen würde – scheiße, dass ich erst mal weine und Mama verfluche, weil, die hatte schließlich das Radio schon wieder an, als ich nach Hause gekommen bin, und dabei weiß sie doch, dass ich das nicht mag, wenn ich nach Hause komme und das HSV-Ergebnis noch nicht kenne. Und Papa hat das Radio im Auto auch kurz angehabt. Der hat also genauso Schuld! So kann man ja auch gar nicht Meister werden, wenn die eigenen Eltern so dermaßen nachlässig sind, und das wird dann ja mal wieder so eine richtige Blamage, wenn ich nächste Woche zu Maik zum Geburtstag soll und Maiks Papa mich die ganze Zeit mit der HSV-Niederlage von heute aufzieht, was fast noch schlimmer ist, als wenn mein Papa über „Opa Kaltz“ und „diese brotlose Kunst“ meckert und wieder alles und jeden beim HSV „so was von primitiv“ findet…

26. Mai 1984

VfB Stuttgart – HSV 0:1


Maik feiert seinen Geburtstag und wir gucken bei ihm die besten „Tom und Jerry“-Streiche auf so einer Leinwand, die sein Papa zu Hause extra aufgestellt hat. Die ist zwar ziemlich gut, aber längst nicht so groß wie die Leinwand, die letzte Woche in der Nordstrander Gaststube auf dem Süden gestanden hat. Da ist nämlich das Wanderkino zu Gast gewesen, und Maik und ich und ein paar Jungs aus der Nachbarschaft waren da. Klaro, wann bekommt man bei uns in der Ecke schon mal die neuesten heißen Kinostreifen zu sehen?

Wir hatten also unsere letzten Kröten zusammengesammelt und fünf Mark bezahlt und Colawassereis und Pepsi-Cola für noch mal fünf Mark gekauft und dann gab’s unsere Helden Bud Spencer und Terence Hill in Aktion. Bud Spencer ist echt so super wie nur was. Der fackelt nicht lange, der haut immer gleich auf die Rübe drauf! Den könnten wir uns stundenlang angucken und dann auch noch im Wanderkino!


Nach der Vorstellung sind Maik und ich und ein paar andere zu dem Chef von dem Wanderkino gegangen. Der stand neben so einem Transporter und Maik meinte noch: „Was für eine Rostlaube! Wenn ich mal Chef von einem Wanderkino bin, dann fahre ich BMW!“

Der Typ packte die Leinwand ein und wollte grad anfangen mit Geldzählen, da fragte ihn Maik: „Du, wie geht der Film eigentlich aus?“ Was eine berechtigte Frage war, weil nämlich, wir kriegten nur so ein paar Szenen zu sehen, nicht den ganzen Film.

Ein Junge aus der Nachbarschaft hatte uns kurz davor erklärt, dass die Filmrollen zu groß für den ollen, kleinen Projektor seien. „Darum sehen wir immer nur ein paar Stellen.“

Wir wollten das aber genau wissen und wie wir so den Chef von dem Wanderkino persönlich gefragt hatten, da machte der große Augen, drehte sich nach links und nach rechts um und fragte uns hinter vorgehaltener Hand, ob wir übergeschnappt seien.

„Wieso?“

„Na, ihr wollt euch doch nicht die Spannung verderben! Ich komme bald wieder nach Norddeich…“

Ich korrigierte ihn: „Nordstrand!“

Und der Wanderkinoheini klärte uns weiter auf: „… ja ja, Nordstrand, ist ja auch egal, na ja, ich komm auf jeden Fall irgendwann wieder und dann zeig ich euch das Ende vom Film!“

Und wir guckten uns strahlend an und umarmten uns und jubelten: „Hurra!“

Bei Maik gibt es keinen Bud Spencer und auch keinen Terence Hill – Maiks Papa meint, das wäre zu brutal für uns – aber Tom und Jerry sind auch ganz okay und dazu gibt es ja auch noch Würmer und Wackelpudding und alles ist so super wie nur was, wenn bloß HSV nicht wäre. Und Maik sein Papa. Der ist nämlich – das hab ich ja schon geschrieben – mindestens genauso schlimm, wenn das um HSV geht, wie mein Papa und hört überhaupt gar nicht damit auf, die ganze Zeit, während er den Film einstellt, mich zu veräppeln.

„Du, wie hat HSV eigentlich letzte Woche gespielt?“

Mit „du“ meint er mich und ich lächle ein bisschen und denke mir, vielleicht hört er dann ja damit auf, wenn ich lächle. Das hab ich mal irgendwo aufgeschnappt, dass man so tun soll, als ob man das gar nicht so schlimm findet, wenn einen jemand ärgert. Man soll dann einfach lächeln und der hört dann auf.

Aber Maik sein Papa hört nicht auf.

„Wird HSV heute in Stuttgart eigentlich Meister? Die gewinnen bestimmt 5:0, was? Mindestens!“

Die ganze übrige Bande hält sich die Bäuche vor lauter Lachen über Tom und Jerry, während ich kaum was von den Filmen mitbekomme, weil ich die ganze Zeit versuche, Maiks Papa nicht aus den Augen zu verlieren. Immer wieder zerzaust er mir von hinten die Haare, wenn er an mir vorbeigeht. „Ich glaub, es steht schon 4:0 für den HSV!“

Und er starrt mich fast ein bisschen verrückt an und lacht dabei so laut wie dieser Pirat, den ich letztens im Fernsehen gesehen hab: „Harhar!“ Und immer wenn die Flurtür ein Geräusch macht, zucke ich zusammen, weil, da kommt er schon wieder! Kann der nicht mal wen anders ärgern?

So geht das bestimmt eine Stunde, aber irgendwann kommt er rein, ohne mir groß die Haare zu zerzausen, und verrät, schon nicht mehr so verrückt wie zuvor, das Ergebnis. „HSV hat tatsächlich 1:0 gewonnen, aber Meister sind sie nicht geworden.“

Nun hab ich das also fast schriftlich, dass HSV kein Meister geworden ist. Einen kurzen Augenblick denke ich, dass Maik sein Papa mich bestimmt angelogen hat. Zutrauen kann man dem das.

Naja. Nächstes Jahr wird HSV sowieso wieder Meister und dann wollen wir doch mal sehen, wer wem die Haare zerzaust!

3. April 1985

HSV – Werder Bremen 2:0

Ich bin so was von aufgeregt. Heute ist Mittwoch, morgen haben wir schulfrei, HSV spielt gegen Werder, Maik schläft bei mir und wir werden lange aufbleiben und Chips essen und Radio hören und die Zusammenfassung im Fernsehen gucken und dann die ganze Nacht Scheiße bauen, bis Mama reinkommt und sagt: „Jungs, nun ist aber mal gut.“ Und wir werden sagen: „Jaa-ha!“ Und Mama wird sich wieder schlafen legen und ein paar Minuten später wieder in der Tür stehen, weil wir nicht aufhören können mit Scheißebauen, und sie wird uns noch einmal ermahnen und sich hinlegen und dann werden wir wieder zu laut sein und so weiter.


Ich bin schon die ganze Nacht vorher so was von aufgeregt wie nur was. Erstens ist HSV-Torwart Uli Stein verletzt, was bedeutet, dass Ersatztorwart Uwe Hain ins Tor muss, was allein schon wegen seiner Dauerwelle, die fast genauso aussieht wie die von Mama, merkwürdig ist und dann auch noch ausgerechnet gegen Werder! Wenn das man gutgeht. Vor allem aber bin ich aufgeregt, weil, immer wenn Maik bei mir schläft oder ich bei ihm, dann tun wir die ganze Zeit so, als wären wir HSV-Spieler und schlafen im Hotel. Als wir noch klein waren, spielten wir immer die beiden Superstürmer Horst Hrubesch und Lars Bastrup und mit den Fernbedienungen, die wir irgendwo in der Wohnung gefunden hatten, telefonierten wir immer mit unseren Spielerfrauen und fragten, was unsere Spielerkinder denn so trieben und wie es beim Frisör gewesen war und was der Hund so machte und ob überhaupt zu Hause alles in Butter war, während wir auf Tour mit dem HSV waren. Und mit dem Softball haben wir im Hotelzimmer dann „Pfeilrückzieher“ geübt, ganz genauso wie es Hrubesch und Bastrup in ihrem Hotelzimmer bestimmt auch gemacht haben, in echt.

Nun sind Hrubesch und Bastrup allerdings schon längst weg, und seitdem läuft es auch nicht mehr so gut beim HSV. Mal wieder ist eine Saison schon fast rum und schon wieder gibt es neue Spieler. Dieses Jahr spielen wir am liebsten Mark McGhee und Gerard Plessers. Mark McGhee ist ein schottischer Mittelstürmer, den HSV vom FC Aberdeen geholt hat. Mark McGhee ist super. Er kann zwar nicht so gut Fußball spielen wie Horst Hrubesch, aber er scheint voll nett zu sein und das ist doch ein super Anlass, Englisch zu sprechen. Englisch sprechen kann ich nämlich jetzt, denn ich habe Englisch in der Schule. Gerard Plessers spricht mit Mark McGhee bestimmt auch Englisch. Dann passt das ja, dass die beiden zusammen auf einem Hotelzimmer liegen und mit ihren Frauen telefonieren und sich mit einem Softball ein bisschen warmspielen für das Bundesligaspiel am nächsten Tag. Gerard Plessers ist ein belgischer Libero, den HSV von Standard Lüttich geholt hat, und das Geilste bei Gerard Plessers ist, dass er immer die supersten Rückpässe zu Uli Stein spielt. Er steht dann ungefähr an der Mittellinie und immer, wenn er nicht weiß, wohin mit dem Ball, knackt er ihn halt zurück zu Uli Stein und zwar mit vollem Karacho! Soll Uli doch sehen, wohin mit dem Ball! Gerard Plessers ist super.

Und Uli Stein ist verletzt und ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, weil ich so aufgeregt bin. Ein Glück, Maik kommt schon früh am Nachmittag und wir können den ganzen Tag McGhee und Plessers spielen. Abends hören wir dann das Spiel im Radio. Werder kommt angeblich gar nicht groß vor das HSV-Tor und wenn, dann ist Uwe Hain da und hält den Ball. Ein Glück! HSV gewinnt mit 2:0, wobei das zweite Tor Thomas von Heesen schießt, von dem Papa später auf dem Sofa sagt, während wir alle die Zusammenfassung im Fernsehen sehen: „Was hat der denn für ein Vogelnest auf dem Kopf? Unmögliche Frisur!“


Papa soll sich mit seiner Frisur gerade melden! Ich finde ja sowieso, dass es am HSV überhaupt gar nichts auszusetzen gibt, schon gar nicht von Papa, der alten Meckerziege!

20. April 1985

HSV – Bayern München 2:1

HSV spielt gegen Bayern, und Papa und ich fahren mal wieder mit dem D-Zug von Husum nach Hamburg, allerdings nicht ohne uns von Mama, bevor wir losfahren und sie uns einige belegte Brote einpackt, noch sagen lassen zu müssen, dass wir schön aufpassen sollen, wenn wir in Hamburg sind.

Wenn man mit Papa Fußball guckt, wird es meistens ein bisschen anstrengend und schon auf der Hinfahrt ist Papa, während ich mit dem Lüftungsgitter in der Abteiltür herumspiele, nur am Quaken, was Mark McGhee doch für eine Pflaume sei, und ich denke, wenn hier heute einer aufpassen muss, dann ja wohl Papa, so ein loses Mundwerk, wie der hat. Der soll man im Stadion nicht an den Falschen geraten, mit seinem ewigen Gemecker. Okay, HSV hat letzte Woche bei Bayer Uerdingen verloren, aber was Papa hier so alles vom Stapel lässt, geht doch zu weit. McGhee ist eine Pflaume? Dann kann Papa ja nachher mal nach unten auf den Rasen gehen und mitspielen und dann kann er mal sehen, wo er bleibt! Selber Pflaume!

Und überhaupt soll der sich melden! Das Stadion ist heute nämlich dermaßen ratzeputzevoll, dass Papa nur noch Karten für die Ostkurve bekommen hat. Nicht zu fassen! HSV spielt gegen Bayern und wir stehen in der Ostkurve! Aber groß am Meckern! Während die Westkurve auf der anderen Seite heute besonders super aussieht, stehen wir also mit ein paar Bayern-Fans und Rentnern und Vätern mit ihren Kindern in der Ostkurve und ich gucke genervt rüber zu Papa und denke nur: „Mannmannmann!“

Das Spiel wird angepfiffen und mein Papa hört gar nicht mehr auf mit Meckern gegen McGhee. Ich überlege mir, dass ich nun langsam alt genug sein müsste, bald mal alleine ins Stadion zu gehen. Und ich male mir aus, wo ich später mein Dosenbier kaufen kann und wie ich über die Kinder lachen werde, die mit ihren Vätern in der Ostkurve stehen, da rauscht ein Schuss von Mark McGhee vom Strafraumeck aufs Bayern-Tor und drin ist er! 1:0! Papa und ich umarmen uns und Papa brüllt mir ins Ohr: „Das war ja echt ein Supertor von McGhee!“ Und ich gucke Papa das ganze Spiel über von der Seite an und bin richtig stolz und freue mich, dass er McGhee jetzt auch super findet. Genauso wie ich!


Als wir abends wieder zu Hause sind und gemütlich mit Mama und meiner Schwester auf dem Sofa hocken, da sagen sie im Aktuellen Sportstudio im ZDF, dass McGhee eigentlich flanken wollte und nicht schießen, und weil der Wind so doll war, ist der Ball „aus Versehen“ im Bayern-Tor gelandet, so dass das Tor nur „Windtor“ genannt wird. Klar, dass mein Vater nun auch noch seinen Senf dazugeben muss: „Kein Wunder. Ohne den Wind hätte McGhee in zehn kalten Wintern kein Tor geschossen. Die Pflaume.“ Und ich Blödmann dachte, Papa ist jetzt auch McGhee-Fan. Ich hätte das besser wissen müssen…

3. August 1986

Rot-Weiß Niebüll – HSV 1:8

Heute spielt HSV bei uns, fast um die Ecke, in Niebüll. Klar, dass Papa und ich da hinmüssen. Zumindest ich. „Fahren wir nun da hin, Papa? Fahren wir nun da hin?“, nerve ich so lange rum, bis der irgendwann nachgibt. „Ja, wenn’s denn unbedingt sein muss, dann fahren wir da eben hin!“

Ich jubele laut los und bin den ganzen Tag damit beschäftigt, das Auto für das große Spiel schön herzurichten. Für das Spiel Rot-Weiß Niebüll gegen HSV! Soll ja jeder sehen, dass wir zum HSV fahren, und so ziehe ich meinem HSV-Schlumpf den Schal, die Mütze, den Pulswärmer aus und außerdem hab ich noch die Bettwäsche von oben geholt und dann hab ich alles schön sauber auf die Rückbank von unserem neuen Opel Rekord gelegt.

Leider hat Papa den Blumenkranz, den unsere Nachbarn an die Stoßstange geflochten haben, schon abgenommen. Wir sind letzte Woche, glaube ich, jeden Tag auf sämtlichen Straßen kreuz und quer über Nordstrand gefahren, damit auch alle sehen, was wir für eine neue Karre haben. Und dann sind wir irgendwann tatsächlich an Maik vorbeigefahren und ich hab schön das Fenster runtergekurbelt und den Arm locker raushängen lassen und dann gerufen: „Ey, Maik! Geile Karre, was!?“ Der hat vielleicht Augen gemacht!

Wir kommen nach einer Stunde Fahrt und – die Aufregung – zwei Pinkelpausen in Niebüll an, wo Papa für mich und für sich bezahlt und – na klaro – nicht vergisst, kräftig über diese „total wahnsinnigen Eintrittspreise“ von knapp fünf Mark zu fluchen: „Beim TSV Nordstrand kommt man noch für ’n Appel und ’n Ei rein, Leute! Für ’n Appel und ’n Ei!“, und er guckt zu mir rüber und sagt mit ernstem Blick: „Diese Halsabschneider!“


Für mich ist das, was so alles passiert, unfassbar. Ich sehe die ganzen HSV-Stars von Nahem und hole mir von fast allen – bis auf Manfred Kaltz, den ich noch gar nicht gesehen habe – Autogramme. Irgendwann warten alle auf den Einlauf der Mannschaften und ich stehe vor den Kabinen rum, wo ich ein wenig Smalltalk mache, wie man unter den Erwachsenen sagt, und zwar mit den jungen HSV-Dachsen – das sagt mein Zweitlieblingsradioreporter Günther Koch immer zu jungen Spielern – wie Bernd Bressem und Jens Duve.

Die Spieler sind echt nett und werden von mir über allerhand Weltbewegendes befragt, weil nämlich, ich will doch wirklich mal aus erster Hand wissen, ob Uli Stein eigentlich auch so nett ist und die WM in Mexiko und das ganze Trara mit dem Rauswurf durch Teamchef Beckenbauer gut überstanden hat und warum Mark McGhee eigentlich verkauft worden ist, mein Lieblingsspieler – was ich ihnen allerdings lieber nicht sage, sonst sind die noch traurig, dass sie nicht auch meine Lieblingsspieler sind. Schließlich frage ich noch, ob die beiden den Schnauzbart von Heinz Gründel auch so gut finden wie ich, ob Jakobs sich in der Kabine rasiert und was Kaltz so von zu Hause erzählt: „Ist das mit Manni und seiner Frau wieder alles roger, Leute? Man hat da ja in der Presse so einiges gelesen!“ Also ehrlich, ich fühle mich einfach super, wie ich hier so stehe und tatsächlich mit HSV-Spielern rede!

Dann kommt’s aber ganz dicke, echt jetzt, weil, plötzlich spaziert Manfred Kaltz – der Manfred Kaltz! – aus der Kabine und will an mir vorbei. Ich fall fast in Ohnmacht, so unglaublich, wie ich das finde. „Manfred Kaltz will an mir vorbei“, denke ich noch, da guckt mir der superste Außenverteidiger aller Zeiten auch schon in die Augen, berührt mich ein bisschen mit seiner Hand und ich denke noch: Wie super ist das denn? Manfred Kaltz berührt mich! Doch dann sagt Kaltz laut: „Ey! Hau ab, du Klotz!“

Ich dreh mich schnell um und frage mich empört, was für ein frecher Fettwanst da Manfred Kaltz – dem Manfred Kaltz! – den Weg versperren will, aber da steht niemand anderes. Manfred Kaltz meint mich. Oh Mann. Ich fang gleich damit an, mich zu entschuldigen, weil, das wollte ich ja nun nicht, Manfred Kaltz den Weg versperren. Der winkt nur genervt ab und ich find das noch voll nett, dass Kaltz nicht noch weiter rumpöbelt, und bin dann zu Papa hin, um ihm aufgeregt zu erzählen: „Papa! Papa! Ich hab Kaltz den Weg versperrt! Ich hab Kaltz den Weg versperrt!“

Papa scheint wenig beeindruckt zu sein.

„Und, was hat er gesagt?“

„Hau ab, du Klotz!“


Was Papa überhaupt nicht lustig zu finden scheint: „Was für ein Riesenarschloch ist das denn bitte? Na warte, der kann was erleben!“

Und schon ist Papa unterwegs, Richtung Spielfeldrand.

Das Spiel hat längst begonnen und als Manfred Kaltz einige Minuten später an Papa vorbeitrabt, da kann ich Papa laut rufen hören: „Kaltz, du Opa, was bist du bloß für ein Arsch! Kannst das ja mal mit mir aufnehmen, falls du dich traust!“

Papa lässt auch noch einiges mehr vom Stapel. 45 Minuten lang macht mein Papa ein Riesenspektakel an der Außenlinie und ich denke: Was Papa an Beleidigungen draufhat, einfach stark, bleibe aber doch lieber weiter hinten stehen, was wohl besser so ist, nicht, dass Kaltz mich neben meinem Papa stehen sieht und dann noch saurer auf mich wird, und wenn ich dann noch daran denke, was meine Mama zu den ganzen Ausdrücken hier sagen würde, wenn sie das mitbekommen würde, dann aber Prost Mahlzeit!

Als ich abends im Bett liege und die HSV-Torschützen vom 8:1-Sieg aufschreibe und notiere, dass Kaltz gleich die ersten beiden Tore gemacht hat, da denke ich: Kaltz hat das bestimmt nicht so gemeint. Und so liege ich in meinem Bett und denke noch ein bisschen an HSV, als Papa zum Gutenachtsagen nach oben kommt und wir noch ein bisschen über das Spiel sprechen. Ich frage Papa, ob er glaubt, dass HSV mit der jungen Truppe, die wir heute gesehen haben, mal wieder ganz oben in der Tabelle landen kann und ob er den Schnauzbart von Heinz Gründel auch so super findet wie ich und ob er denkt, dass Kaltz jetzt sauer auf mich und auf ihn ist, weil wir ihm ja schließlich erst den Weg versperrt und ihn dann auch noch wie nichts Gutes angepöbelt haben, und wie ich so frage und frage, da kommt Papa ein bisschen weiter runter zu mir und sagt: „Junge, merk dir eins…“


Und ich denk noch, wie lieb ich Papa trotz all seinem Fußballgemecker habe, und dann hat er jetzt auch noch einen guten Ratschlag für mich! Papa ist vielleicht 1a! Er beugt sich zu mir runter und sagt: „Junge, merk dir eins: Kaltz ist und bleibt ein Riesenarschloch!“

28. März 1987

HSV – Bayern München 1:2

Endlich ist HSV mal wieder Zweiter und vielleicht werden sie Meister, vielleicht aber auch nicht, denn Bayern ist mal wieder Erster und nun spielt also der Zweite gegen den Ersten und Papa und ich fahren schon wieder mit der Bahn zum Bundesligaspitzenspiel. So langsam traut selbst meine Mama der ganzen Sache mit dem Stadion offenbar über den Weg und sagt zwar kurz: „Passt auf euch auf!“, aber das war’s dann auch schon, und sie macht dabei längst nicht so ein besorgtes Gesicht wie noch beim letzten HSV-Spiel, zu dem Papa und ich gefahren sind. Wie man also sieht, ich werde langsam erwachsen und kann bestimmt schon bald alleine nach Hamburg hin. Ich bin jetzt fünfzehn Jahre alt, da muss man sich um mich nun wirklich keine Sorgen mehr machen!

Und alles ist super und wie immer: Ich steh während der Bahnfahrt die ganze Fahrt im Flur rum, denn „gleich kommen die Flutlichtmasten“ und keine Schwester nervt rum, dass die auf der anderen Seite zu sehen wären.

Kaum in Hamburg-Altona angekommen, gehen wir dann zu McDonald’s und steigen anschließend in die proppevolle S-Bahn, in der es nochmal deutlich ruppiger zugeht als bei meinen bisherigen HSV-Heimspielbesuchen. Das Spiel heute ist scheinbar noch ausverkaufter als sonst gegen Bayern. Kein Wunder. Es geht ja auch um die Deutsche Meisterschaft.

In Stellingen steigen wir aus und sind froh, endlich wieder ein bisschen Luft zu bekommen, allerdings nur kurz, denn auch hier ist alles ein einziges Gedrängel und Gezerre und Gerülpse und Gebrülle und Geschubse, aber ich finde das alles trotzdem so super, dass ich gar nichts anderes mehr machen möchte, als nach Hamburg zu fahren und in Stellingen mit drängelnden und zerrenden und rülpsenden und brüllenden und schubsenden Leuten rumzulaufen und mich gemeinsam mit denen auf HSV zu freuen, am liebsten jeden Tag!

Während ich das denke, gehen wir in den langen Tunnel rein, der von der S-Bahn-Station – unter den Schienen und der Autobahn entlang – zum Stadion führt. Papa ermahnt mich immer wieder, dass ich nicht zu weit weggehen und in seiner Nähe bleiben soll. „Ich bin so was von mit den Nerven zu Fuß, bleib schön dicht bei mir!!“

Ich denke noch, dass ich kein Baby bin, und wir also rein in den Tunnel und wir sind grad so richtig mittendrin, da rennen von vorne die Leute plötzlich gegen den Strom und voll in unsere Richtung, zurück zur S-Bahn, was wirklich ziemlich gefährlich aussieht. Papa hat zum Glück sofort den totalen Durchblick: „Komm, wir stellen uns an die Seite!“, ruft er mir zu und zieht mich mit sich.

Wir stehen also an der Seite und wollen die rennende Masse an uns vorbeirennen lassen, weil, wie heißt es doch so richtig, „keine Panik auf der Titanic“, doch gerade als wir denken, wir wären so was von clever und alles sei in schöner Ordnung, reibt sich Papa die Augen und schreit mir ins Ohr: „Da ist Tränengas im Spiel, die Schweine!“


Wir rennen also genauso wie alle anderen Richtung S-Bahn zurück und aus dem Tunnel raus. Kaum habe ich das Wort „Tränengas“ gehört, da tränen mir die Augen auch schon und tränen von da an den ganzen Tag und das ganze Spiel über, das später auch noch 1:2 für Bayern ausgehen wird. Wie passend eigentlich, dass einem schon vor und während des Spiels die Augen getränt haben, da muss man wenigstens nach dem Spiel nicht mehr groß weinen.

Zum ersten Mal in meinem Leben haben wir übrigens Karten für die berüchtigte Westkurve, wobei Papa wegen „dieser verdammten Fußballkrawalle“ mit den Nerven so dermaßen „zu Fuß“ sei, wie er sagt, dass ich mir meinen ersten Westkurven-Besuch ohne Papa wohl erst mal von der Backe schmieren kann. Er lässt mich während der ganzen 90 Minuten nicht aus den Augen und fummelt ständig an mir rum und hier „Achtung!“ und da „Vorsicht!“.

Ich kann mir richtig vorstellen, was die harten HSV-Rocker neben uns, die Bier mit ins Stadion reingeschmuggelt haben und die leeren Dosen später einfach immer in die Menschenmenge reinwerfen und sich dafür von meinem Papa gehörig was anhören dürfen, zu mir sagen, wenn ich in ein paar Jahren alleine ins Stadion gehe: „Ey, bist du nicht der Dödel mit dem Vater, der uns 1987 gegen Bayern krumm angemacht hat, als wir die leeren Dosenbiere in die Menschenmenge geworfen haben?!“


Voll die Latte

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