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II.

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Die Räume der Präfektur sind reichlich düster und ungemütlich, in diesem Augenblick aber doch behaglicher als die Straßen draußen, auf die unaufhörlich ein klatschender Regen niedergeht. Kommissar Valvert entledigt sich mit einem Befriedigungsseufzer seines Hutes und Mantels, legt die nasse Aktentasche zum Trocknen aufs Fensterbrett und sucht seinen Platz hinter dem Schreibtisch auf.

„Kleine Sache“, erwidert er auf den fragenden Blick seines Assistenten. „Einfacher Diebstahl. Immerhin manche interessante Momente. Bitte notieren Sie, Morlain: Eingehende Ermittlungen über Herta Friebel und Josefine Grimmaud. Hier haben Sie die Personalien. Etwas Neues inzwischen?“

Assistent Morlain, noch das Blatt mit den Personalien in der Hand, deutet mit dem Kopf nach einem Aktenstück auf dem Schreibtisch. „Unsere schöne Unbekannte ist wieder auf dem Kriegspfad gewesen.“

„Sacré nom ...! Unsere Unbekannte! L’inconnue de Paris! Ich wollte, sie läge in der Seine wie die andere Unbekannte! Was ist nun schon wieder los?“

„Das alte Spiel, mein Kommissar. Diesmal liegt die Anzeige eines Herrn Lecour vor. Gutsbesitzer aus dem Departement Haut-Auvergne. Den hat sie um 30 000 Franken leichter gemacht. Dazu um eine Brillantnadel, angeblich im Werte von 80 000 Franken.“

„Helas! Wie hat sie das nun wieder fertiggebracht?“

„Diesmal operiert sie mit einem schicken Auto. Eine ungewöhnlich hübsche und elegante junge Dame, die einen schnittigen Wagen lenkte, hat gestern abend auf dem Boul Michel dicht vor diesem Herrn Lecour gestoppt und ihn um Feuer für ihre Zigarette gebeten. Natürlich war Monsieur sofort dazu bereit. Kurze verbindliche Unterhaltung. Dann charmante Einladung, in den Wagen zu steigen. Madame behauptete, den gleichen Weg zu haben, den Herr Lecour zu seinem Hotel einschlagen wollte.“

„Wohin sie dann aber natürlich nicht fuhren?“

„Natürlich nicht. Unterwegs Anfreundung. Herr Lecour erzählte von seinen Weinbergen in der Auvergne. Madame erbot sich liebenswürdig, ihm Paris bei Nacht zu zeigen. Monsieur war natürlich entzückt von diesem Abenteuer. Er verficht jetzt noch energisch die Behauptung, Madame sei keine Kokotte gewesen, sondern eine untadelige Dame der Gesellschaft und habe mit dem Nachfolgenden nichts zu tun. Nun wohl, das Nachfolgende war einfach genug. Gemeinsamer Besuch mehrerer Nachtlokale. Zuerst ein feudales Restaurant, dann mehrere Bars und Kneipen auf dem Montmartre. Herr Lecour ist ein trunkfester Mann und weiß selbst nicht zu erklären, wie es gekommen ist. Aber in vorgerückter Nachtstunde wachte er im Straßengraben zwischen Clichy und Gennevilliers auf und stellte fest, daß Brieftasche und Brillantnadel verschwunden waren. Ebenso natürlich die Dame mit dem schnittigen Wagen. Herr Lecour ist nun in tausend Ängsten, nicht so sehr wegen seines Geldes als um die schöne Unbekannte, die seiner Ansicht nach von Banditen überfallen und entführt worden ist.“

„Großartig! Der Wagen ...?“

Assistent Morlain hebt die Schultern. „Herr Lecour hat es nicht für nötig erachtet, sich die Nummer anzusehen. Er kann nicht mal angeben, welche Fabrikmarke es war. Madame hat sich ihm gegenüber ‚Diane d’Arout‘ genannt.“

„Diane d’Arout? Das ist doch ...“

„Stimmt, mein Kommissar. So heißt die Freundin des bekannten Börsenmannes Roulac. Kommt natürlich gar nicht in Frage. Ich habe der Sicherheit halber sofort Erkundigungen eingezogen. Die wirkliche Diane d’Arout befand sich gestern abend in Gesellschaft des Comte de Polligny in der Oper. Nachher haben die Herrschaften im Hotel Louvre soupiert.“

„Selbstverständlich ausgeschlossen“, stimmt Valvert ohne Bedenken zu. „Madame d’Arout gehört unseren ersten Kreisen an. Wüßte nicht, daß polizeilich jemals irgend etwas gegen sie vorgelegen hätte. Außerdem ... hm, wer so intim mit Herrn Roulac befreundet ist, wie Madame d’Arout, der hat es nicht nötig, Provinzonkels nächtlicherweise auszuplündern. Welche Beschreibung gibt dieser Herr Lecour von seiner Schönen?“

„Sie paßt keinesfalls auf die wirkliche Madame d’Arout. Im übrigen ist sie dürftig und unsicher wie alle bisherigen Beschreibungen der Unbekannten. Groß, schlank, wundervolle Figur, vornehmes, feingeschnittenes Gesicht, blonde, vielleicht gefärbte Haare, Augen braun oder dunkelgrau. Autokappe, elegantes, braun-weiß gestreiftes sportliches Kleid, hellgelbe Lederjacke.“

„Haben Sie die Personalien des Herrn Lecour schon festgestellt?“

„Sofort. Die von ihm angegebenen Personalien stimmen. Er wohnt seit drei Tagen im Hotel d’Etoile. Gestern vormittag hat er im Crédit National 40 000 Franken abgehoben. Ich habe Durand und Jonquières gleich losgeschickt, um die Stelle zu besichtigen, wo Herr Lecour sich nach der Bummelfahrt mit der Schönen wiederfand. Schleifspuren eines Autos sind dort festzustellen, sonst jedoch nichts, was uns als Anhaltspunkt dienen könnte.“

„Schön, mein Guter.“ Valvert hat sich bereits über das Aktenstück gebeugt und studiert aufmerksam die Aussagen des bestohlenen Herrn Lecour, während der Assistent sich am anderen Schreibtisch an seine Arbeit macht. Nachdem er zu Ende gelesen hat, sitzt Kommissar Valvert noch lange in stillem Grübeln da.

Die Sache mit der unbekannten Hochstaplerin beginnt verflucht ungemütlich zu werden. Vor zwei Wochen schon hat der Polizeipräfekt sich ziemlich ungehalten über die Erfolglosigkeit der Sûreté in dieser Angelegenheit geäußert. Die Zeitungen sind voll von versteckten Spitzen gegen die Behörden. Alles was recht ist, die Sache ist auch nachgerade toll geworden. Seit einem halben Jahr hält die Unbekannte die Pariser Polizei zum Narren. Sie arbeitet selten und vorsichtig. Nur etwa jeden Monat einen Coup, aber dann auch so, daß niemand eine Spur von ihr erwischen kann. Natürlich arbeitet sie nicht allein, sondern hat mehrere Helfershelfer, die ihre Opfer vorher sorgsam beobachten. Möglicherweise handelt es sich sogar um eine wohlorganisierte Bande. Aber bis jetzt weiß man nichts, gar nichts über Madame, außer daß sie jung, schön und von bezaubernder Unnahbarkeit ist. Herr Lecour aus der Auvergne ist nicht der erste, der trotz seines üblen Erlebnisses darauf schwört, daß die schöne Unbekannte völlig unschuldig sei. Und niemand hat eine Ahnung, wer sie eigentlich ist! Die Verbrecheralben geben keinen Anhaltspunkt. Die ausländischen Erkennungsdienste vermögen keinen stichhaltigen Hinweis zu geben. Es liegen keine Fingerabdrücke vor. Jede elegante Dame, die in ihrem Kabriolett über die Boulevards rollt, könnte die Gesuchte sein. Aber um Himmels willen keinen Fehlgriff begehen! Der Präfekt hat nachdrücklichst davor gewarnt. Ein Fehlgriff, die Festnahme einer Dame, die sich womöglich nachher als wirkliche Dame der Gesellschaft entpuppt, würde ein Wutgeheul in der Presse auslösen, vielleicht sogar den Präfekten höchstselbst zum Rücktritt zwingen. Und doch muß diesem Treiben ein Ende gesetzt werden. Wer ist diese Gaunerin? Vielleicht wohnt sie im ersten Luxushotel oder gar in einer eigenen, vornehmen Villa. Vielleicht auch haust sie in irgendeinem Kämmerlein auf dem Montparnasse oder in St.-Antoine.

„Schlank, groß, blondes Haar, braune oder dunkelgraue Augen“, wiederholt sich Valvert gedankenvoll die Beschreibung, grübelt noch einige Minuten und reckt den Kopf zu seinem Assistenten hinüber.

„Hören Sie, lieber Morlain, die Sache will mir nicht aus dem Kopf. Ich meine den Diebstahl bei der Firma Pollin. Es sind da gewisse Anhaltspunkte, die auf einen äußerst geschickten Dieb hindeuten. Man könnte fast von einer Meisterleistung sprechen. Ich habe zuerst nur die Sache in die Hand genommen, um meinem alten Freunde, Herrn Pollin, gefällig zu sein, aber jetzt möchte ich sie auch weiter in der Hand behalten. Also alle Eingänge in der Sache sofort an mich! Veranlassen Sie vor allen Dingen möglichst umfangreiche und eingehende Ermittlungen über diese Herta Friebel.“

„Sehr wohl, mein Kommissar.“

Valvert sieht das Erstaunen in den Zügen seines Untergebenen und lächelt leise. „Sie wundern sich, lieber Morlain, daß ich von der kleinen Sache spreche statt von unserer großen Unbekannten? Eh bien, wer weiß, ob uns nicht gerade das auf die so lang ersehnte Spur bringen kann.“

„Ah! Sie haben einen Verdacht, Herr Kommissar!?“

„Wäre zuviel gesagt. Immerhin, mein Lieber, ich lege Wert darauf, möglichst bald Genaueres über die genannte Herta Friebel zu erfahren. Unter anderem auch, wo sie den gestrigen Abend und die Nacht verbracht hat. Veranlassen Sie das sofort!“

*

Noch am gleichen Abend ist Kommissar Valvert im Besitz ausführlicher Berichte über Frau Grimmaud, Herta Friebel und Henry Heitinger. Die leise Andeutung, daß eine der Personen womöglich in Verbindung mit der schönen Unbekannten stehen könne, hat den Leuten von der Sûreté Beine gemacht. Selten ist in Kommissar Valverts Abteilung so schnell gearbeitet worden. Sogar telegrafische Auskünfte der Internationalen Fahndungszentrale Berlin liegen bereits vor.

Kommissar Valvert vertieft sich sofort eifrig in die Berichte.

Über Frau Josefine Grimmaud ist, wie zu erwarten stand, nichts Interessantes zu melden. Ihre Verhältnisse sind klar und einfach. Wesentlich ist höchstens, daß Frau Grimmaud außerhalb ihrer geschäftlichen Arbeit keinerlei Beziehungen weder zu Herta Friebel noch zu dem jungen Heitinger unterhält. Sie wohnt bei ihrer Tante, der Witwe eines mittleren Postbeamten, hat keine Liebschaften, keine kostpieligen Gewohnheiten und noch weniger Schulden.

Valvert legt diesen Bericht bald zur Seite und greift nach den Ermittlungen über Herta Friebel. Seine Hoffnung, hier etwas Interessantes zu finden, scheint allerdings zunächst zu trügen. Die von Herta Friebel angegebenen Personalien sind richtig. Auch was sie über ihre Familie und ihre Lebensgeschichte erzählt hat, stimmt. (Konnte ich mir denken! Diese junge Dame ist viel zu klug, um mir Lügen aufzutischen, die sich als solche festnageln lassen!) Die Berliner Auskunft. besagt, daß die angefragte Herta Friebel unbescholten ist. Auch über ihre Eltern ist bei der deutschen Behörde nichts Ungünstiges bekannt. Die Pariser Polizei hat bisher ebensowenig Veranlassung gehabt, sich mit der jungen Dame zu beschäftigen. Herta Friebel ist im Besitz eines vorschriftsmäßigen Passes und hat Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, die sie bisher stets rechtzeitig hat erneuern lassen. Da die deutsche Staatsangehörige Herta Friebel sich nie gegen die Landesgesetze vergangen und sich auch in keiner Weise politisch betätigt hat, lag kein Grund vor, ihr die fortgesetzte Aufenthaltsgenehmigung zu verweigern.

Herta Friebel steht in enger Verbindung mit Henry Heitinger. Die beiden jungen Leute bewohnen seit Jahren zwei dicht benachbarte Zimmer in der Rue de la Gaité. Ihre Mittagsmahlzeiten nehmen sie meist in der Kantine der Pollinschen Fabrik, führen aber sonst einen gemeinschaftlichen Haushalt und anscheinend auch gemeinsame Haushaltskasse. (Na ja, wie ich mir dachte!) Wirtin und Hausnachbarn wissen über die beiden nur Günstiges zu berichten. Sowohl Herta Friebel wie Henry Heitinger werden als fleißige Menschen geschildert, die einen geregelten und ihren Verhältnissen angepaßten Lebenswandel führen. Bei den Geschäftsleuten der Nachbarschaft, wo Herta Friebel ihre Einkäufe macht, wird sie meist scherzhaft „Madame Heitinger“ genannt.

Seit drei Jahren sind die jungen Leute miteinander befreundet, und bisher haben sie ein Zusammenleben geführt, das manche Nachbarsfrau ihrem Ehemann oder Freund oft als geradezu ideal vorgehalten hat. Man sah sie außerhalb der Geschäftszeit fast stets zusammen. Sie besuchten gemeinsam die Lokale ihres Viertels, tanzten vergnügt zusammen, machten Spaziergänge oder saßen gemeinsam in ihrer Wohnung. Beide haben unter den Nachbarn, kleinen Gewerbetreibenden, Angestellten und Arbeitern, eine Menge gute Bekannte.

Das harmonische Verhältnis scheint seit etwa einem Monat eine Änderung erfahren zu haben. Ein Streit oder sonst eine Unstimmigkeit zwischen den beiden ist zwar nicht beobachtet worden. Aber man sieht sie nicht mehr so häufig beisammen wie vorher. Mademoiselle Friebel besucht in den letzten Monaten oft allein die Kinos und auch gelegentlich einmal ein Bistro in der Nachbarschaft, während ihr Freund jetzt sehr oft seine Abende in einem anderen Stadtteil verbringt. Auch Mademoiselle Friebel fährt oft mit der Metro nach Geschäftsschluß fort, ohne erst ihr Heim aufzusuchen. Welche Gegenden oder Lokale in Paris die jungen Leute jetzt bevorzugen, hat sich noch nicht feststellen lassen. In der Nachbarschaft haben sie jedoch dadurch manche Freundschaft eingebüßt. Man verübelt es ihnen, daß sie dem Montparnasse untreu geworden sind, und teilweise wirft man ihnen neuerdings Hochmut vor. Ein Gerücht, daß Demoiselle Friebel in einem intimen Verhältnis zu ihrem Chef stehe, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Monsieur Pollin lebt in ungetrübter Ehe mit seiner Frau und seinen drei Kindern. (Gewiß, mein Freund Pollin ist ein vorzüglicher Familienvater. Aber auch der beste Ehemann macht mal einen Seitensprung. Hm, ich werde dem braven Pollin gelegentlich einen Wink geben, vorsichtig zu sein!) Herta Friebel hat sich bisher nie durch größere Geldausgaben verdächtig gemacht. Sie trägt sich stets elegant und geschmackvoll, weiß jedoch vorteilhaft einzukaufen und schneidert auch zum Teil ihre Kleider selbst. Sie ist lebenslustig, tanzt gern, treibt Sport, ist eine vorzügliche Schwimmerin und chauffiert. Besonders in der letzten Zeit hat man sie öfter — ohne Begleitung — im Wagen ihres Chefs gesehen, wodurch wahrscheinlich das Gerücht von dem Verhältnis entstanden ist. Es ist jedoch erwiesen, daß Monsieur Pollin, der seine Sekretärin sehr schätzt, ihr mehrmals aus freien Stücken seinen Wagen für einen Nachmittag oder Abend zur Verfügung gestellt hat. Herr Pollin selbst hat dabei niemals die Friebel begleitet. Auch Henry Heitinger nicht. (Sie fährt also Auto! Hm. Aber Vorsicht! Weil sie Auto fährt, braucht sie noch lange nicht die verdammte Unbekannte zu sein!)

Über den Aufenthalt der Friebel hat sich folgendes ermitteln lassen: Während Henry Heitinger die Räume der Firma Pollin bei Geschäftsschluß um 18 Uhr verließ, hat Herta Friebel noch bis 19.30 Uhr im Büro Monsieur Pollins auf dessen Wunsch Diktate aufgenommen. Nach Erledigung der Arbeit hat Herr Pollin seiner Sekretärin auf deren Bitte seinen Wagen für den Abend zur Verfügung gestellt. (Oho!) Er konnte das um so leichter, als Herr Pollin an diesem Abend von seinem Geschäftsfreund, dem Produktionsleiter Freeman von der Phaeton-Film-Gesellschaft, in dessen Auto zu einer Uraufführung abgeholt und später auch von Herrn Freeman zu seiner Wohnung gefahren wurde. Herr Pollin vereinbarte mit seiner Sekretärin, daß sie den Wagen erst am nächsten Morgen zur Fabrikgarage zurückbringen sollte.

Herta Friebel ist etwa um 20 Uhr in Herrn Pollins Wagen abgefahren, und zwar in Richtung zur Pont St.-Michel. Zwischen 20.30 und 20.45 Uhr ist sie am Steuer des Wagens auf dem Boulevard Haussmann gesehen worden, und zwar von Herrn Ray, einem ihrer Kollegen aus dem Betrieb Pollin. Nach Aussage des Herrn Ray trug die Friebel das gleiche Kleid, das sie tagsüber im Büro trug, ein dunkelblaues Komplet mit gleichfarbiger Strickmütze. (Hm. Herr Lecour wurde um 22 Uhr auf dem Boulevard Michel von der schönen Unbekannten angesprochen. Die Friebel könnte in der Zwischenzeit in einem Schlupfwinkel ihre Kleider gewechselt haben!) Über den weiteren Aufenthalt der Friebel hat sich nichts feststellen lassen. Sie ist nach dem Zeugnis ihrer Wirtin erst um 3 Uhr morgens heimgekommen. Ob Henry Heitinger zu dem Zeitpunkt bereits daheim war oder erst später kam, vermag die Wirtin nicht zu sagen. Mit der Friebel kam er jedenfalls nicht.

Die Zeitangabe der Wirtin wird erhärtet durch die Aussage des Tankwarts Martin von der Nachtgarage Ecke Rue de Buci und Rue Mazarine. Bei ihm erschien um 2.30 Uhr nachts eine junge Dame, die der Beschreibung nach unzweifelhaft mit Herta Friebel identisch ist, und stellte einen Wagen, Marke Renault, Wagennummer 9293 R F — 9, ab. Der Tankwart Martin sah, wie die Dame nachher quer über die Straße zur Metrostation ging. Am folgenden Morgen gegen 7.30 Uhr erschien die junge Dame abermals bei der Garage, tankte und fuhr nach Bezahlung der Kosten mit ihrem Wagen ab. Eine halbe Stunde später stellte Herta Friebel den Wagen des Herrn Pollin in der Fabrikgarage unter und begab sich zum Dienst. Sie trug nach Aussage des Tankwarts bei ihrem nächtlichen Erscheinen ebenfalls ein dunkelblaues Kleid.

Mehreren Angestellten der Firma Pollin ist aufgefallen, daß Herta Friebel am Morgen des 9. März abgespannt und mißmutig aussah.

Herrn Pollins Wagen trägt die Nummer 9293 R F — 9 und ist eine braune Renault-Limousine.

Das Papier knistert in Kommissar Valverts Hand. Tiens! Wie hat dieser Herr Lecour ausgesagt? Etwa um 3 Uhr hat er mit seiner Unbekannten die Bar „Chez Belmaire“ verlassen und ist wieder in ihren Wagen gestiegen, um erst gegen Morgen in einem Straßengraben aufzuwachen. Das wäre also zu der Zeit, da die Friebel längst ihren Wagen abgestellt hatte und in ihrer Wohnung eintraf! Aber sachte, sachte! Ob der Provinzonkel sich da nicht irrt in seiner Zeitangabe? Er war da doch sicher schon erheblich unter Alkohol gesetzt und kann sich leicht versehen haben. Oder ... Donnerwetter! Sollte hier absichtlich durch irgendeinen Trick ein Alibi geschaffen werden? Genau wie bei dem Diebstahl? Man muß nicht vergessen, Herrn Lecour genau zu befragen, woher ihm die Zeitangabe bekannt ist! Kommissar Valvert macht sich eine Notiz und überdenkt, sich zurücklehnend, noch einmal den Bericht. Es ist da manches, wahrhaftig, wenn man noch so vorurteilslos urteilt, es ist da manches Verdächtige. Die Beschreibung Lecours, die ungefähr auf Herta Friebel passen könnte! Die merkwürdige Tatsache, daß sie sich öfter den Wagen ihres Chefs ausleiht, um — wohlverstanden ohne ihren Freund oder sonst eine Begleitung! — abends in Paris umherzufahren. Es ist immerhin sonderbar, daß eine junge Dame von 20 Uhr bis 2.30 Uhr nachts allein durch die Stadt fährt, eben zu der Zeit, da die Unbekannte ihr Opfer aus der Auvergne fertigmachte! In der Kleidung ist da allerdings eine Unstimmigkeit, aber die schöne Unbekannte ist klug genug, um irgendwo ein Nestchen zu haben, wo sie sich umkleiden kann. Und dann der Wagen selbst! Eine braune Renault-Limousine! Herr Lecour ist ein Mann der alten Schule und kennt leider nicht viel von Automarken, aber auch er beschreibt den Wagen der Unbekannten als einen geschlossenen, braungestrichenen Wagen. Wahrhaftig, es könnte stimmen!

Valvert fühlt Jagdfieber in den Wangen brennen, als er zu dem nächsten Bogen greift. Sehen wir zu, was über Henry Heitinger ermittelt worden ist.

Auch hier ist zunächst festgestellt, daß die Personalien richtig sind. Die nächsten Seiten wiederholen in der Hauptsache nur, was über das Verhältnis zwischen Henry Heitinger und Herta Friebel bereits aus dem vorhergehenden Bericht bekannt ist. Dann aber kommt ein Absatz, den Kommissar Valvert zweimal liest.

„Seit einiger Zeit unterhält Heitinger Beziehungen zu Madame Diane d’Arout. Wie Heitinger zu der Bekanntschaft gekommen ist, steht noch nicht fest. Einwandfrei ermittelt ist jedoch, daß er mehrmals in der Gesellschaft Madame d’Arouts gesehen wurde. So am 20. Februar, als er mit der Genannten in deren Loge die Comédie Française besuchte, und am 3. März bei einem Spaziergang mit Madame d’Arout im Luxembourg. Durch Befragung der Jeanne Vinot, die bis zum 1. März dieses Jahres als Zofe bei Madame d’Arout bedienstet war, habe ich festgestellt, daß Henry Heitinger in der Zeit vom 1. Februar bis 1. März mehrmals zum Tee in der Villa Madame d’Arouts eingeladen war. In einem dieser Fälle war auch Monsieur Roulac zugegen.

Heitinger scheint bisher über die Bekanntschaft gegen jedermann geschwiegen zu haben. Weder seine Geschäftskollegen noch seine Nachbarn wissen etwas davon. Aller Wahrscheinlichkeit nach ahnt auch seine Freundin Herta Friebel nichts von dieser Bekanntschaft.

Größere Geldausgaben hat Heitinger auch in Gesellschaft von Madame d’Arout nicht gemacht.“

Kommissar Valvert zündet sich eine Zigarre an und bläst den Rauch durch die Nase. Das ist ja eine komische Angelegenheit! Wie der Rauch der Zigarre kreiseln und ringeln sich seine Gedanken zu den sonderbarsten Luftgebilden. Der kleine Angestellte Henry Heitinger und die bekannte Weltdame Diane d’Arout! Wie kommen denn die zusammen? Diane d’Arout hat schon zu Lebzeiten ihres Gatten eine nicht unbeträchtliche Rolle in der Pariser Gesellschaft gespielt. Nach seinem Tode — das war etwa vor fünf Jahren — hat sie sich zunächst schicklich zurückgezogen. Bis sie dann eines Tages ihre Trauer abstreifte und wieder in den Salons erschien, viel angestaunt und beneidet, weil der Börsengewaltige Guido Roulac offensichtlich um ihre Gunst warb. Man munkelte damals sogar von einer bevorstehenden Heirat. Dazu ist es nun allerdings nicht gekommen, aber im Laufe der Zeit wurde es öffentliches Geheimnis, daß Madame d’Arout die Freundin Roulacs war. Eine große Dame, eine gefeierte Frau. Dabei kultiviert und von sicherer Vornehmheit. Diane d’Arout ist keine emporgekommene Midinette oder Piseuse, sondern stammt aus einer angesehenen Beamtenfamilie. Ihr Vater war Souspräfekt im Departement Saône et Loire. Madame d’Arout ist eine bekannte Erscheinung bei fast jeder gesellschaftlichen Veranstaltung. Man sieht sie in Auteuil, in Biarritz, in den Salons der alten Aristokratie wie bei den Empfängen der Minister. Ihr Verhältnis zu Roulac gibt ihr einen besonderen Rahmen. Man weiß nicht, ob Madame d’Arout selber sonderliches Vermögen besitzt, aber man weiß, daß sie mit Roulac eng befreundet ist und daß ein Tip von Roulac an der Börse ein Vermögen wert ist. Alles in allem eine große Dame und noch dazu von tadellosem Ruf. Diane d’Arout hat es verstanden, jederzeit das Dekorum zu wahren. Ihr Name ist in keinem der vielen Skandale und Skandälchen der Gesellschaft aufgetaucht.

Und wer ist Henry Heitinger? Ein junger Mann, weiter nichts. Zugegeben, er sieht gut aus, er hat sogar — nach den Bemerkungen seines Chefs zu urteilen — ungewöhnliche Fähigkeiten in seinem Beruf entwickelt. Die optischen Kenntnisse des jungen Heitinger dürften indes Madame d’Arout wenig interessieren. Und sonst? Er ist durchaus nicht der Typ eines Bel-Ami, hat auch sonst keine bestechenden Eigenschaften. Wie in aller Welt kommt der Junge an diese Bekanntschaft? Madame d’Arout pflegt sich einen jungen Menschen, den sie zufällig kennengelernt hat, nicht zum Tee einzuladen und mit ihm das Theater zu besuchen, noch viel weniger eine solche gleichgültige Bekanntschaft Herrn Roulac vorzustellen.

Wie alt mag Madame d’Arout sein? Fünfunddreißig? Vierzig oder gar darüber? Man weiß es natürlich nicht genau, aber wenn man nachrechnet, nüchtern und erbarmungslos, so muß sie wohl an die Vierzig sein. Henry Heitinger ist genau vierundzwanzig, jung und unverbraucht. Sollte am Ende ...? Hm, die Launen einer schönen Frau sind unberechenbar.

Aber Monsieur Roulac? Kommissar Valvert sieht den Geldmann fast greifbar vor sich. Ein hagerer, verkniffener Herr, Anfang der Fünfzig, ein fast menschenscheuer Sonderling, der sich selten in der Gesellschaft zeigt und außer Madame d’Arout keine näheren Freunde hat. Um so häufiger taucht sein Name auf. Es schwebt ein Geheimnis um Monsieur Roulac, der übrigens früher Rotsee hieß und erst vor einem knappen Jahrzehnt die französische Staatsbürgerschaft erwarb. Seine Wiege dürfte in der Nähe von Warschau gestanden haben. Seither aber ist Monsieur Roulac eine Nummer geworden, ein Mann, der seine Finger so ziemlich in jedem großen Geschäft hat. Ein kluger Rechner, ein skrupelloser Geschäftsmann ist er unbedingt. Und dem Mann, der sich sonst vom Gesellschaftsleben fast ganz zurückzieht, zu dem man schwerer gelangt als zum Präsidenten der Republik, sollte Madame den jungen Heitinger in ihrem Heim vorgestellt haben? Oder waren die beiden Herren gegen den Willen Madames dort zusammengetroffen?

Valvert wiegt ärgerlich den Kopf. Was gehen mich Madame d’Arout und Monsieur Roulac an? Aber da war etwas anderes. Hatte die schöne Unbekannte sich nicht Herrn Lecour gegenüber Diane d’Arout genannt? Ausgerechnet Diane d’Arout! Wenn’s wirklich die Friebel wäre ... man könnte leicht auf die Vermutung kommen, daß sie von der Bekanntschaft ihres Freundes weiß und daß ihr der Name Diane d’Arout geläufig ist.

Der Fernsprecher auf dem Tisch klingelt.

„Sind Sie’s selbst, lieber Herr Valvert?“ meldet sich eine dem Kommissar wohlbekannte Stimme. „Ja, hier spricht Pöllin! Ein Glück, daß ich Sie noch in Ihrem Büro erwische. Eben teilt mir mein Nachtwächter mit ... die 5000 Franken unseres Herrn Heitinger haben sich wiedergefunden!“

„Was sagen Sie da, Herr Pollin?“

„Jawohl. Blinder Alarm! Es liegt zum Glück überhaupt kein Diebstahl vor! Kann Ihnen sagen, lieber Herr Valvert, mir ist eine Last von der Seele!“

„Bitte erklären Sie mir genauer. Das Geld ...?“

„Jawohl, das hat sich gefunden. Vielmehr, mein Nachtwächter, der eben jetzt seinen Dienst angetreten hat, meldete sich vor zehn Minuten bei mir. Ich sitze nämlich noch im Büro und arbeite. Geplagter Geschäftsmann, der ich bin. Also der Nachtwächter hat auf seinem Rundgang fünf Tausendfrankscheine gefunden. Unten im Geräteverschlag, dicht neben der Treppe. Da die Tausendfranknoten bei mir sonst nicht so herumliegen, kann es sich nur um Heitingers Geld handeln. Es muß durch den Treppenschacht heruntergefallen sein.“

„Aus Heitingers Brieftasche?“

„Nein, natürlich nicht. In dieser Beziehung muß ein Irrtum vorliegen. Entweder hat Heitinger das Geld gar nicht in seine Brieftasche gesteckt oder er hat es unterwegs, als er von der Kasse kam, herausgenommen. Vielleicht erinnert er sich nicht mehr daran. Jedenfalls muß er das Geld auf der Treppe verloren haben. Die Scheine sind dann durch den Luftzug in den Schacht geweht worden und heruntergefallen. Anders kann ich mir es nicht erklären.“

„Hm. Hören Sie, verehrter Herr Pollin, das klingt aber gar nicht überzeugend.“

„Muß aber doch wohl so sein. Wie sollte das Geld denn sonst in den Verschlag kommen?“

„Der Dieb könnte es dort versteckt haben.“

Die Stimme Pollins lacht etwas gezwungen. „Nun ja, das wäre wohl möglich. Aber warum sollten wir uns nicht an die harmlosere Möglichkeit halten? Die Hauptsache ist, das Geld ist wieder da. Jeder einzelne meiner Angestellten wird erleichtert aufatmen, wenn ich morgen berichten kann, daß der angebliche Diebstahl sich so harmlos aufgeklärt hat. Und ich selber auch.“

„Wenn ich recht verstehe“, sagt Valvert langsam, „so ziehen Sie also Ihre Anzeige zurück?“

„Gewiß, gewiß, lieber Herr Valvert. Bin Ihnen unendlich verpflichtet für Ihre Bemühungen, aber unter den Umständen — nicht wahr, es ist das beste, wir lassen die ganze Sache ruhen.“

„Einen Augenblick, bitte! Weiß Herr Heitinger schon von dem Fund des Geldes?“

„Heitinger ist bereits fort. Aber ich werde Fräulein Friebel bitten, es ihm heute abend noch zu sagen. Morgen früh kann er dann sein Geld bei mir in Empfang nehmen.“

„Fräulein Friebel ist bei Ihnen?“

„Hilft mir bei der Kalkulation. Also wir gehen einig, lieber Herr Valvert? Sie legen die unangenehme Sache ad acta?“

„Nun, wenn Sie es wünschen, so ...“

„Natürlich. Ich bin heilfroh, daß sich die dumme Sache auf die Weise aufgeklärt hat.“

„Gut, ich nehme Ihre Mitteilung zur Kenntnis.“

„Tausend Dank und auf baldiges Wiedersehen, lieber Herr Valvert. Ich rufe Sie dieser Tage mal an. Vielleicht zum gemeinsamen Abendessen bei Riccaud. Er hat einen ganz wunderbaren Chambertin. Aber pardon, ich vergesse, Sie sind ja nicht Herr Ihrer Zeit. Vielleicht rufen Sie mich selber mal an und nennen mir einen Tag, der Ihnen genehm ist. Werden Sie das, bester Herr Valvert?“

„Gern, Herr Pollin. Ich rufe Sie bestimmt dieser Tage an.“

Bedächtig legt Kommissar Valvert den Hörer auf. Was bedeutet das nun wieder? Das Geld ist gefunden, und ausgerechnet auf diese wenig glaubhafte Weise? Hm, der liebe, gute Pollin ahnt augenscheinlich, wer der Dieb ist, und möchte ihn decken. Scheint eine kleine Schwäche zu haben für seine hübsche Sekretärin. Er leiht ihr seinen Wagen zu abendlichen Ausfahrten, und jetzt zahlt er gar 5000 Franken aus seiner eigenen Tasche, um die Friebel vor bösen Folgen zu bewahren! Wenn ich Pollin nicht seit einem Dutzend Jahren kennen würde und wüßte, was für ein grundanständiger Mensch er ist, so würde ich unangenehme Folgerungen für ihn daraus ziehen.

Kommissar Valvert hört draußen auf dem Flur die Schritte des ablösenden Innendienstes und schließt, sich langsam erhebend, seine Gedankenreihe.

Also Pollin möchte, daß wir uns nicht mehr mit der Sache beschäftigen. Ach nein, mein Guter, ich werde mich noch sehr erheblich damit befassen. In aller Stille natürlich. Aber meinem lieben Freunde Pollin muß ich doch gleich morgen einen Wink zur Vorsicht geben. Er ahnt ja gar nicht, wem er da sein Vertrauen und seine Gunst schenkt. Hat keinen Schimmer, wer diese Herta Friebel — möglicherweise — ist!

Rätsel um Herta

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