Читать книгу Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler - Axel Schade - Страница 4

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Buchbeschreibung:

Krankenschwester Friederike findet den Patienten Thilo van der Leuwen erhängt im Treppenhaus der Zentralklinik! KHK Ronny Mittler glaubt nicht an einen Suizid des jungen Segelsportlers. Er setzt die MordermittlerInnen Lena Schösteen und Merle Jörgisdottir auf den Fall an. Durch die Befragung der Wirtin „Lola“ Andersen im Vereinslokal BOOTHAUS fällt der Verdacht auf das Liebespaar Dennis & Carola. Die KommissarInnen glauben nicht an ihre Schuld. Die Zufallsbekanntschaft mit Rentnerin Hilde Bogena führt zu neuen Erkenntnissen. Kurz darauf wird die alte Dame bestialisch ermordet. Indizien sprechen für einen psychisch schwer gestörten Mörder. KHK Mittler bezweifelt, dass ein Einzeltäter verantwortlich ist. Bei der Tätersuche entdecken die Kriminalisten unaufgeklärte Vermisstenfälle, die bis ins Jahr 1947 zurückreichen. Alle Spuren führen zu einem einsam gelegenen Haus. Je näher die Ermittler der Wahrheit kommen, desto mehr schweben sie selbst in höchster Todesgefahr!

Der Nachtwolf ist der dritte Fall von KHK Ronny Mittler, der im Ruf steht, spektakuläre Verbrechen wie ein Magnet anzuziehen.

Über den Autor:

Axel Schade, 1959 in Siegen geboren, lebt seit 2001 in Ostfriesland. Er arbeitete im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2009 ist er wegen einer Lungenkrankheit Renter.

1. Auflage, 2021

© Alle Rechte vorbehalten.

Blinddarmdurchbruch.

„Er kommt zu sich.“, flüstert Lena Schösteen ihrer Kollegin zu. Merle Jörgisdottir sitzt auf der Fensterbank des Krankenzimmers 611 im 6. Stock der Zentralklinik. Sie schaut auf den künstlich angelegten See vor dem Gebäudekomplex in Georgsheil. „Wie bitte? Was sagtest du?“ „Der Chef wacht auf!“ Lena tritt näher an das Bett des Patienten. Zuckende Bewegungen der Augenlider deuten an, Ronny Mittler erwacht aus der Narkose. Merle gesellt sich zu ihrer Kollegin. „Blass ist er.“, findet sie. „Was hast du erwartet nach der OP?“ „Stimmt auch wieder.“

Schleichend kehrt Mittlers Körperwahrnehmung zurück. Er hat ein taubes Gefühl im Unterleib. Gemächlich tastet er sich ab. In der Leistengegend berührt die Rechte einen Fremdkörper. Ein fingerdicker Schlauch verschwindet in seinem Bauch. Mit Klebeband und Verbandsmaterial ist er fixiert. Mittlers Kopf dröhnt, wie nach einem Glas Mariacron zuviel am Abend zuvor. Behäbig bewegt er ihn hin und her, öffnet und schließt den Mund. Es löst schmatzende Geräusche aus. Eine Frauenstimme findet den Weg in sein Unterbewusstsein. Sie klingt, wie aus einer fernen Welt.

„Ob er Durst hat?“ Mittler dreht sein Gesicht in die Richtung, aus der ihre Worte ihn erreichen. Schemenhaft nimmt er Konturen wahr. Lena holt einen Schnabelbecher vom Nachttischschrank. Sie führt das Gefäß an die Lippen des Patienten. „Hier Ronny. Trink einen Schluck Wasser.“ Er trinkt mit saugenden Zügen.

„Darf er überhaupt schon was zu sich nehmen, so kurz nach der OP?“, fragt Merle besorgt. „Sicher. Sonst hätte die Krankenschwester es ihm bestimmt nicht hingestellt.“ „Danke,“, krächzt der Kriminalhauptkommissar (KHK) heiser. Lena stellt den Becher zurück.

Merle drängt sie zur Seite, um zu Mittler zu gelangen. „Da ist er wieder!“, freut sie sich und schmatzt dem Patienten einen Kuss auf die Stirn. Im Anschluss gibt sie den Platz für ihre Kollegin frei. „Du kannst einem Schrecken einjagen! Mach das nicht nochmal mit uns!“, schimpft Lena. Sie umarmt und drückt ihren Vorgesetzten behutsam.

„Schluss mit der Gefühlsduselei! Erklärt mir lieber, wie ich hierherkomme! Was ist passiert?“ „Weißt du das nicht mehr?“ „Nein. Keine Ahnung.“ „Du bist im Büro umgekippt. Blinddarmdurchbruch.“, berichtet Lena. „Kannst von Glück reden, das du nicht alleine warst. Das hätte tödlich enden können!“ „Blinddarmdurchbruch? Damit erklären sich meine anhaltenden Bauchschmerzen. Nebst anderen Problemchen. Hatte ich seit ein paar Tagen.“

Merle boxt den Hauptkommissar mit geballter Faust gegen den Oberarm. „Problemchen? Du Honk! Wenn ich das schon höre! Typisch Mann! Bloß nicht zum Arzt gehen. Wird schon nichts Großes sein. Hängt sicher nur ein Furz quer! Was von selbst kommt, geht auch wieder, bla, bla, bla! Das sind Machosprüche. Dabei bist du vom Macho so weit entfernt, wie die Sonne von der Erde. Ich verstehe nicht, warum du nichts sagst.“, schimpft sie. „Was denn?“ „Na, dass es dir nicht gut geht, zum Beispiel?“ „Ich dachte, es sind Blähungen. Das ist ein Thema, das ich ungern mit jungen Damen bespreche, Kommissarin Jörgisdottir.“ „Sicher. Alles klar! Wenn der Papst pupst, steigt weißer Rauch auf!“ „Jetzt lass den Chef in Ruhe, Merle. Er ist zu geschwächt, um mit dir über Flatulenzen zu diskutieren.“ „Hahaha!“, lacht Mittler und hält sich den Bauch. Die Frauen stimmen in sein Gelächter ein.

„Wir waren in deiner Wohnung, Ronny.“ „Oje! Klingt nach Hausdurchsuchung, wenn du das sagst!“, scherzt er. Kriminaloberkommissarin Lena Schösteen ignoriert seine Bemerkung. „Wir packten das Notwendigste ein.“ Sie zählt auf: „Wasch- und Rasierzeug. Zahnbürste. Zahncreme. Waschlappen. Handtücher. Duschgel und so weiter.“ Merle öffnet eine Schranktür neben dem Bett. „Hier sind deine Klamotten.“, zeigt sie. „Unterwäsche. Schlafanzug. Jogginganzug. Jeans. T-Shirts. Pullover. Uns ist aufgefallen, du hast ein paar echt schicke Outfits zuhause im Schrank! Die hattest du in der Dienststelle noch nie an.“ Lena nickt. „Ja wirklich, Ronny, du könntest viel mehr aus dir machen!“ „Klamottentechnische Typberatung bekommst du von uns gratis. Nutz das doch!“, ergänzt Merle. „Kommen bei euch Muttergefühle auf, oder was? Ich mach mich doch nicht zu eurer Anziehpuppe!“ Mittler lacht aus vollem Hals bei der Vorstellung. „Ach du oller Blödian.“, kichert Merle und schließt die Schranktür. „Muttergefühle! Also wirklich! Bilde dir mal nichts ein!“ Lena fügt einen Seufzer ausstoßend an: „Ich bin enttäuscht. Den Hang zu dämlichen Kommentaren entfernte man dir bei der OP nicht. Dabei hatte ich extra darum gebeten!“

Mittler will kontern, da klopft es an die Zimmertür und unterbricht ihre Alberei. Ein Herr in Arztkittel tritt ein. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und auf dem Rücken verschränkten Armen bewegt sich der Mann mit Trippelschritten zum Krankenbett. Eine pummelige Krankenschwester begleitet ihn. „Moin zusammen.“, grüßt der Arzt. „Freudiges Gelächter dringt in meine Ohren. Schön. Sehr schön. Lachen ist immer noch die beste Medizin, nicht wahr? Ich diagnostiziere, damit befinden sie sich auf dem Weg der Besserung! Schön. Sehr schön.“

„Moin.“, antwortet Mittler. „Wenn sie das sagen, Herr Doktor, dann muss es wohl stimmen.“ Der Kriminalist betrachtet den Mann. Tastet ihn von Kopf bis Fuß mit den Augen ab. Auf 60 Jahre taxiert er ihn. Auf der Nasenspitze jongliert er eine Nickelbrille. Das Modell wirkt aus der Zeit gefallen. Es erinnert an Ex-Beatle John Lennon, der eine Ebensolche trug. Das antike Nasenfahrrad des Professors ist zweifelsfrei vierzig Jahre alt. Annehmbar, dass er die Brille bereits als Student besaß. Der Arzt schaut aus braunen Augen in die Welt. Darüber wuchern dichte buschige Brauen. Von seinem eckigen Schädel stehen in sämtliche Richtungen graue Haare ab. Sie schreien nach Kamm, Bürste und professioneller Behandlung. Die eigenwillige Frisur erinnert Ronny Mittler an einen geplatzten Kanarienvogel. Und an den britischen Premierminister Boris Johnson, was kaum einen Unterschied ausmacht. Am Hals des Doktors baumelt ein Stethoskop. Sein Arztkittel reicht ihm bis zu den Füßen, was unter Umständen daran liegt, dass der gute Mann kaum größer wie 1,65 m ist. In der Brusttasche stecken 4 Kugelschreiber! Darüber prangt ein silberfarbenes Namensschild.

ZENTRALKLINIK GEORGSHEIL

Prof. Dr. med. H. Harr

„Ich darf mich vorstellen.“, leitet er seine Präsentation ein. „Harr, lautet der werte Hintername. Vorne heißt es Hermann. Macht zusammen Hermann Harr. Professor Doktor med..“ Elegant deutet er eine Verbeugung an. „Ich leite diese Station. Hilfreich zur Seite steht mir meine Perle Oberschwester Ulrike Kill. Wo steckt sie?“

Die pummelige Frau hält sich bis zur Namensnennung hinter ihm auf. Nun tritt sie aus seinem Schatten. Zu der Zeit wo Harr das Hohelied über Perle sang, verzog die Gelobte nicht ansatzweise ihre Mine. Als ginge sie sein Geschwätz nicht das mindeste an ignorierte sie es. Keine Gefühlsregung war in ihrem Mondgesicht abzulesen.

„Moin“ grüßt sie mit rauer Stimme. Mehr trägt sie nicht zum Gespräch bei. Unaufgefordert macht sie sich nützlich. Überprüft medizinische Gerätschaften. Schaut hier. Kontrolliert dort. Gibt sich geschäftig.

„Oberschwester Ulrike ..., gute Seele der Station!“, nuschelt Professor Harr grübelnd. „Ich wüsste nicht, wie der Laden ohne sie funktionieren sollte!“ Er lacht zweimal kurz hintereinander, was dem Kläffen eines Hundewelpen ähnelt. Mittler erkennt keinen Witz und wundert sich. „Ulrike.“, näselt der Doktor wiederholt. „Gute Seele. Wie gesagt. Schön, schön.“

Dr. Harr zieht Mittlers Patientenblatt aus einem Kästchen, das am Bett angebracht ist und murmelt: „Die jungen Damen verlassen jetzt bitte das Zimmer. Patientenschutz, Datenschutz und dergleichen. Sie verstehen? Wie gesagt. Schön, schön. Auf Wiedersehen.“ Die angesprochenen Kommissarinnen schauen sich vielsagend an. Lena winkt ihrem Chef lächelnd zu. „Bye-bye. Wir gehen dann mal. Morgen besuchen wir dich wieder Ronny. Mach es gut.“ „Mach es besser!“, schließt sich Merle an. „Tschüss ihr zwei. Danke für alles.“ Bei der Zimmertür dreht sich Merle um. „Mir fällt gerade ein, sollen wir irgendetwas mitbringen?“ „Ja gerne! Wenn möglich, das neue Lustige Taschenbuch.“ „Okay, geht klar.“ Die Frauen verlassen das Zimmer.

„Sie schmökern Comics?“, erkundigt sich Professor Harr. „Ja. Ein Überbleibsel aus der Kindheit. Hinübergerettet in die Erwachsenenwelt.“ „Aha! Schön. Sehr schön. ... Nett. ... Ein Rudiment der Vergangenheit und dergleichen. ... Ein Hobby ... wie Modelleisenbahn. ... Nur zum Lesen. Schön. Schön. Wie gesagt.“ Weiter äußert sich Professor Doktor Harr nicht zu Comics, Kindheit und Reliquien. In Gedanken versunken studiert er das Patientenblatt.

Obwohl Modellbau zu Mittlers Hobbys zählt, greift er das Thema nicht auf. Es drängt ihn zwar, profunde Sachkenntnis kundzutun, aber der Mediziner macht nicht den Eindruck, des passenden Gesprächspartners. Doktor Hermann Harr führt ein Arztgespräch. „Face-to-Face-Kommunikation.“, tituliert er die Konsultation. „Darauf hat ein Privatpatient Anspruch. Wie gesagt! Ein Fachgespräch und dergleichen. Von Arzt zu Patient. Wie es sich gehört! Schön. Schön. ... Nun denn. Ein Blinddarmdurchbruch ist die Eskalation einer Blinddarmentzündung. Der Wurmfortsatz platzt. Der Darminhalt gelangt in die Bauchhöhle. Das kann zum Exitus führen!“

Bildhaft doziert Professor Harr über die fachgerechte Entfernung des Blinddarms. Mittler, der es gar nicht so detailliert wissen möchte, denkt zur Ablenkung ganz fest an Donald Duck, Modelleisenbahnzüge und Einhörner, die mit Delfinen schwimmen.

Der Erhängte.

„Hallo? Herr Mittler?“ Krankenschwester Friederike steht am Bett des Kommissars und stupst ihn an der Schulter. „Bitte wachen sie auf.“

Friederike stellte sich ihm vor, wo sie ihren Nachtdienst antrat. Eine zierliche Person mit schwarzem Zopf. 1,65 m groß. 25 Jahre alt. Eine Weile unterhielten sie sich. Später servierte sie Abendbrot. Erklärte, wie das TV-Gerät bedient wird. Koppelte sein Smartphone mit dem Ladegerät. Friederike ist freundlich, hilfsbereit, höflich, eifrig, andernteils schüchtern und kindisch.

„Was ist denn?“, murmelt der aus dem Tiefschlaf gerissene. „Können sie ganz schnell mitkommen?“ „Was? Jetzt?“ „Bitte. Herr Mittler!“ „Wie spät ist es?“ „3 Uhr 10.“ „Oh je. Ich hoffe, es gibt plausible Gründe mich zu wecken!“ „Da ist ein Toter.“

Der Kriminalhauptkommissar glaubt, nicht richtig zu hören. Augenblicklich ist er hellwach. „Was?“

„Ein Mann. Ein Patient. Er hat sich erhängt!“ „Wo?“ „Im Treppenhaus! Kommen sie. Ich zeige es ihnen.“, drängt Friederike. Fahrig zieht sie ohne Vorwarnung die Bettdecke weg. „Ich helfe ihnen beim Aufstehen.“ Vor dem Bett steht ein Rollstuhl. „Sie haben an alles gedacht!“, wundert sich Mittler und richtet sich mit ihrer Hilfe auf. „Ich weiß doch, dass sie nicht gut gehen können, so kurz nach der OP.“

Schwester Friederike steuert den Rollstuhl auf den Flur und schlägt den Weg zum Treppenhaus ein. Vor der Glastür zum Hausflur stehen drei Verkaufsautomaten. Süßwaren. Limonade. Heißgetränke. Es ist dermaßen still im Haus, das man ihre Aggregate summen hört. Im Moment, wo sie daran vorbei kommen, erfasst sie ein Bewegungsmelder. Automatisch schwingt die Glastür auf. Friederike schiebt den Rollstuhl im Treppenhaus an die Brüstung.

„Sehen sie?“ Die Krankenschwester zeigt auf ein Seil. Es ist am Handlauf des Treppengeländers verknotet. Ein Kletterseil, schießt es Mittler durch den Kopf, wo er das blau-schwarz gefärbte Kunststoffseil erblickt. Der Strick ist mehrmals um das Geländer gewickelt und mit Knoten befestigt. Das übrig gebliebene Seilende bildet auf dem Boden einen kleinen Haufen.

Mittler erhebt sich mit Friederikes Hilfe aus dem Rollstuhl, um ins Treppenhaus hinabzuschauen. 5 bis 6 Meter entfernt hängt ein Mann am Ende des Seils. „Das ist Thilo van der Leuwen.“, wispert Schwester Friederike dem Ermittler ins Ohr. „Sie kennen ihn?“ „Ja. Er ist Privatpatient von Doktor Harr. Zimmer 609.“

Der Körper des Erhängten schwingt sanft. Dreht sich in mäßigem Tempo um die eigene Achse. Verantwortlich ist ein Luftzug, der durch das sechs Stockwerke tiefe Treppenhaus zieht. Der Kopf des Toten ist auf die Brust gesackt. Nach Mittlers Erfahrung spricht dies für einen Genickbruch. Der Verstorbene hat schwarze Haare. Bekleidet ist er mit einem blauweiß gestreiften Schlafanzug. Der rechte Arm ist in Höhe des Handgelenks eingegipst. Am linken Fuß trägt er einen Hausschuh mit Schachbrettmuster. Der andere Fuß ist nackt. Den fehlenden Pantoffel sieht Mittler nirgends. Mehr gewahrt der Hauptkommissar nicht. Das Alter des Toten ist aus dieser Warte nicht einzuschätzen, weshalb er Friederike fragt. „Ich glaube, er ist 20.“, antwortet sie flüsternd.

Dem Kriminalhauptkommissar werden die Knie weich. Ihm schwindelt. Er zittert vor Anstrengung. Vor seinen Pupillen tanzen silberne Sternchen. Die aufrechte Position ist strapaziös, obwohl er sich auf dem Geländer abstützt. Friederike hilft ihm in den Rollstuhl. Mittler ist froh, wo er wieder sitzt.

„Was machen wir nun?“, fragt die Krankenschwester. „Die Polizei holen. Was sonst? Schildern sie den Vorfall. Melden sie ihren Vorgesetzten, was passiert ist. Und sorgen sie bitte dafür, dass keiner auf die Idee kommt, den Toten abzuhängen. Das bewerkstelligen meine Kollegen.“ „Und was machen sie?“ „Ich? Ich lege mich wieder ins Bett. Wo ich hingehöre.“

Suizid?

„Herein!“, ruft Mittler. Doktor Albert Meyer tritt ein. Er stellt seinen Tatortkoffer, den er beständig bei sich trägt neben den Nachtischschrank und reicht dem Patienten die Hand. „Na, du alte Runkelrübe, was machen Sachen?“, grüßt der Gerichtsmediziner seinen besten Freund. „Ich hole Kinderkrankheiten nach! Das machen Sachen!“ „Aha. So lautet deine Ausrede! Du drückst dich doch vor der Arbeit. Gib´s zu.“, lacht der Pathologe. Er zieht einen Stuhl ans Bett, lässt sich darauf fallen. „War in der Gegend. Dachte, schau mal bei Ronny rein. Wie geht´s, alter Kumpel?“ „Ist gerade noch zu ertragen. Danke der Nachfrage!“

Meyer und Mittler sind seit der Kindheit Freunde. Sie begegneten sich erstmals in der 5. Klasse des Gymnasiums von Waldgrund, ihrer Heimatstadt. Nachdem es Ronny beruflich an die Nordseeküste verschlug, besuchte Albert ihn dort. In diesem Urlaub lernte er eine Frau aus Mittlers Bekanntenkreis kennen und lieben. Es dauerte sechs Monate, da verlagerte Meyer seinen Lebensmittelpunkt ebenfalls nach Ostfriesland.

„Du kannst von Glück reden, das Merle und Lena bei dir waren! Wenn der Blinddarmdurchbruch zuhause passiert wäre, ... ich will lieber nicht darüber nachdenken.“ „Ja, ich verdanke den Mädels viel. Zeige mich erkenntlich, sobald ich aus dem Krankenhaus komme. Ich lade sie zu einem todschicken Essen ein.“ „Das klingt nett. Darüber freuen sie sich. Ein paar Tage bleibst du aber noch unter Beobachtung. Schone dich. Werde gesund.“

„Du bist beruflich in der Klinik, richtig? Wegen des Erhängten im Treppenhaus.“ Der Gerichtsmediziner ist sichtlich überrascht. „Du weißt davon? Wie das?“ „Ich sah den Toten vergangene Nacht. Die Stationsschwester weckte mich deswegen. Sie fand ihn.“ „Alter Schwede! Langsam wirst du mir unheimlich! Am Ende stimmt der Flurfunk noch ...? Hast du doch einen Magneten in der Tasche, der Todesfälle anzieht?“ „Sicher hab ich einen! Was denkst du denn? Der Schlingel zeigt sogar die Richtung an. Genau an dieser Stelle sitzt er!“ Mittler tippt mit dem Zeigefinger auf die Bettdecke in Höhe seines Geschlechtsteils. Sie lachen.

„Jetzt im Ernst, Albi. Was ist los? Haben wir einen Fall?“ „Ich weiß es nicht. Muss die Leiche auf dem Tisch haben, bevor ....“ „Ja, ist klar, ich kenne den Spruch.“, unterbricht Mittler. „Was kannst du inoffiziell sagen? Dein erster Eindruck?“ „Na hör mal! Du gehst ja ran. Stehst schon wieder auf dem Gaspedal. Du bist krank, Mann. Sollst dich nicht damit beschäftigen, sondern gesund werden! Ich verweigere die Aussage!“

Es klopft. Lena und Merle betreten das Zimmer. „Moin Ronny!“, zwitschern sie aus einem Mund. „Wie geht es dir heute?“, erkundigt sich Lena. „Danke der Nachfrage, ganz gut.“ „So blass wie gestern bist du nicht mehr.“, bemerkt Merle. Sie reicht Mittler eine Papiertüte. „Hier. Deine Bestellung.“

„Ich wette 500 Euro, es ist ein Walt Disney Lustiges Taschenbuch! Stimmts? Hab ich recht?“, meldet sich Meyer. „Bitteschön. Sieh selber nach.“ Mittler reicht ihm die Tüte. „Aber die Kohle bekomme ich, wenn du falsch liegst!“ „Klar. Wettschulden sind Ehrenschulden!“, versichert sein Freund und zieht den Inhalt heraus. „Wusst ich´s doch!“, triumphiert er, das Comicbuch in der Luft schwenkend. „Wann wirst du eigentlich erwachsen, Ronny?“ „Bevor ich so eine Spaßbremse, wie du werde? Dann nie!“, lacht der Hauptkommissar. „Spaßbremse! Das ist mein Stichwort! Ich muss los. Sachen machen!“ Meyer steht auf. Reicht Mittler die Hand. „Mach´s besser, alter Freund. Ich halte dich auf dem Laufenden. Smartphone hast du? Ich erreiche dich, wie gewohnt?“ „Ja. Alles an Bord. Danke für den Besuch. Lass dich bloß nicht nochmal bei mir blicken und frohes Sachen machen!“ „Tschüss die Damen und tschö mit Ö alter Sack.“, verabschiedet sich Meyer und rauscht aus dem Krankenzimmer.

„Wer euch zuhört, denkt, er hätte zwei Minderbemittelte vor sich.“, grinst Lena und führt die Scheibenwischergeste aus. „Man merkt, das ihr alte Freunde seid. Kein normaler Mensch versteht euer Sachenmachen Gelaber.“

Merle gähnt. „Spät ins Bett gekommen?“, erkundigt sich Mittler. „Nein. Zu früh raus.“ „Warum?“ „Wegen des Toten im Treppenhaus! Von dem du selbstredend längst weißt, wie wir von Schwester Friederike erfuhren. Du hast den Leichnam als erster besichtigt.“ „Erwischt! Zwar aus einiger Distanz, aber ja. Was wisst ihr über den Verblichenen? Irgendwelche Erkenntnisse?“

Lena kramt ihr Notizbuch aus der Tasche. Ein für sie wichtiges Arbeitsutensil. Merle macht darüber Witze. Nennt es uncool oder Oldschool. „Warum benutzt du nicht dein Smartphone?“, fragte sie kopfschüttelnd und erklärte: „Das hat eine Memofunktion und einen Rekorder. Du kannst schreiben oder diktieren. Keine Ahnung, aus welchem Grund du dir die Mühe mit der Kladde machst.“ Lena antwortete: „Ich traue Handys nicht. Dauernd hört man von Datenklau. Das Notizbuch habe ich lieber.“

Lena schaut Mittler an. „Eigentlich wollten wir dir nichts sagen. Weil du krank bist und Ruhe benötigst. Andererseits konnten wir uns an fünf Fingern abzählen, dass du fragst. Erst recht, da du Wind von der Sache bekommen hast.“ Sie öffnet die Kladde und liest: „Bei dem Verstorbenen handelt es sich um Thilo van der Leuwen. 20 Jahre alt. BWL Student. Einzelkind. Sohn des Volkmar van der Leuwen und Gattin Griselda, geborene Baroness von Siegtal. Schwerreiche Familie. Inhaber diverser Firmen der Baubranche. Das sind die sogenannten Bau-Leuwen, Ronny. Ihnen gehören Handwerkermärkte. Darunter ein Baustoffhandel, ein Betrieb für Hoch- und Tiefbau sowie die Firma AruH - Alles rund ums Haus. Darin beinhaltet sind Dachdeckerbetrieb, Schreinerei, Fensterbau und Glaserei.“

„Kenne ich! Habe im Frühjahr fünf neue Fenster von AruH einbauen lassen. Das Dach meiner Garage erneuerten sie ebenfalls. Solides Unternehmen. Verlässlich. Gut organisiert. Preiswert und akkurat!“

„Thilo lag hier auf der Privatstation.“, sagt Lena. „Zwei Türen weiter. Zimmer 609.“ „Weshalb war er im Krankenhaus?“, erkundigt sich Mittler. „Ich sah einen Gips an seinem rechten Arm.“

„Nichts Schwerwiegendes. Fraktur des Handgelenks. Interessant ist allerdings der Grund, der zum Bruch führte.“ „Ah ja? Der da wäre?“ „Schlägerei im BOOTSHAUS. Das Vereinslokal des Yacht & Segelsportvereins in Norddeich am Hafen. Thilo ist 1. Vorsitzender der Jugendabteilung. Er ist Segler. Mehrfacher Landesmeister seiner Bootsklasse. Seit zwei Jahren gehört er zum Olympiakader. Der hatte was drauf.“ „Lass mich raten, Lena. Gehe ich recht in der Annahme, der Zoff drehte sich nicht um den Segelsport?“ „Volltreffer. Der Kandidat hat hundert Punkte! Wir haben den Klassiker des Knatsches unter Männern. Bei dem Streit ging es um eine Frau! Genaueres wissen wir noch nicht.“ „Wurde Anzeige erstattet? Kontrolliert bitte, ob es eine Akte gibt.“ Lena trägt es ein, dann klappt sie ihr Notizbuch zu. „Das war´s vorerst. Was sagst du zu der Sache, Ronny?“

„An Suizid glaube ich nicht. Ich gehe von Mord aus!“ „Echt? Wie kommst du zu diesem Schluss?“, wundert sich Merle. „Mehrere Anzeichen machen mich stutzig. Zum Beispiel das Seil, an dem der junge Mann hing. Woher hatte er es? Kein normal tickender Mensch nimmt ein solch spezielles Seil mit ins Krankenhaus, oder? Diese Art benutzt man zum Klettern. Unter Umständen verwendet man es beim Segelsport. Vorstellbar ist es. Ich weiß es nicht. Findet es für mich heraus. Notier das bitte, Lena. Lass den Notizblock offen, es kommt noch was hinzu.“ Die Oberkommissarin macht sich zum Mitschreiben bereit.

„Was für meine Mordtheorie spricht, ist die Art, wie das Seil ans Treppengeländer gebunden war. Mehrmals um den Handlauf gewickelt, mit simplen Knoten befestigt. Schließt ihr euch der Meinung an, dass ein ausgewiesener Segelsportler wie Thilo van der Leuwen mutmaßlich eher einen Seemannsknoten verwendet hätte?“ „Vorausgesetzt er war dazu in der Lage.“, merkt Merle an. „Was meinst du?“, erkundigt sich Lena. „Bedenkt bitte, er war gehandicapt. Der Gips! Konnte er mit dieser Einschränkung Seemannsknoten binden?“ „Ein berechtigter Einwand. Das müssen wir abklären.“, erklärt Lena. Sie kritzelt in ihr Notizbuch. „Ich notiere ebenfalls, das wir wegen des Stunks im Vereinslokal nachfragen. Was war da genau los? Wer waren die Beteiligten? Gibt es ein Rachemotiv?“ Mittler bittet: „Fragt nach, ob Thilo Feinde hatte. Wie war sein seelischer Zustand? Litt er unter Depressionen? Grabt alles über ihn aus.“

„Fangen wir im Vereinslokal an, Lena? Das BOOTSHAUS öffnet um 10 Uhr. Ich habe es auf der Homepage gecheckt.“, erklärt Merle und steckt ihr Smartphone ein. „Danke. Ja gut. Beginnen wir dort. Ein Ausflug zum Hafen am morgen. Wie schön!“, grinst Lena. Sie steht auf, zieht ihre Jeansjacke an.

„Ich spreche bei der Visite mit Doktor Harr und frage, ob Thilo einen Knoten hinbekam. Schaut ihr nachmittags nochmal bei mir rein? Vielleicht hat Albert bis dahin ein Ergebnis, das uns voranbringt.“ „Machen wir. Falls was dazwischen kommt, rufen wir an. Brauchst du was? Sollen wir etwas mitbringen?“ „Nein. Alles gut.“ „Okay. Bis dann.“ „Viel Erfolg bei der Ermittlung.“ „Danke. Tschüss Ronny. Bis später.“ Sie gehen.

„Moment bitte! Kommt nochmal rein!“, ruft Mittler ihnen nach. „Was ist?“, fragt Merle. „Ich werde alt oder es liegt an den Medikamenten. Ich vergaß, zu fragen, ob ihr den rechten Hausschuh des Verstorbenen gefunden habt?“ Die Kommissarinnen sehen sich überrascht an. „Im Augenblick bin ich überfragt ....“, gesteht Lena. „Ich dito.“, schließt Merle sich schulterzuckend an.

Mittler erklärt: „Während ich in der Nacht den Leichnam betrachtete, bemerkte ich, dass an seinem rechten Fuß kein Pantoffel war. Der Fuß war nackt. Am Linken war ein karierter Hausschuh. Schwarze und weiße Quadrate hatte der. Wie ein Schachbrett, versteht ihr? Wo ist er? Lag er auf dem Grund des Treppenschachts? Im Treppenhaus vielleicht?“ „Davon weiß ich nichts, Ronny. Was ist mit dir Merle?“ „Nein. Keine Ahnung. Ich höre zum ersten Mal davon.“

Lena erklärt: „Wo wir eintrafen, war der Tote bereits geborgen. Albert Meyer veranlasste es. Er war vor uns am Ort des Geschehens. Der Tote war schon im Leichensack, bereit zum Abtransport in die Rechtsmedizin. Wie der Verstorbene aufgefunden wurde, sahen wir auf dem Kameradisplay eines Kollegen der Gerichtsmedizin. Dass ein Hausschuh fehlte, bemerkten wir nicht.“

„Dann los! Geht ins Zimmer des Toten. Seht nach, ob ihr den Pantoffel findet. Wenn nicht, fragt im Haus, ob ihn jemand fand. Putzfrauen. Hausmeister. Schwestern. Pfleger. Jeden, der in Frage kommt. Ich will wissen, wo der Latschen ist.“ „Puh! 6 Stockwerke. 41000 Quadratmeter Nutzfläche. 814 Betten.“, stöhnt Merle. „Damit sind wir den restlichen Tag beschäftigt. Ist das nicht ein bisschen viel Aufwand wegen dem Hauslatschen?“ „Nein, ist es nicht! Es kommt vor, dass Kriminelle Trophäen ihrer Taten sammeln. Psychisch Gestörte vor allem.“ „Entschuldigung. Das habe ich nicht bedacht. Du hast recht! Tut mir leid.“ „Noch was! Erkundigt euch nach Überwachungskameras. Lasst euch die Aufnahmen aushändigen.“

Später erhält Mittler eine Textnachricht auf sein Smartphone: Pantoffel im Zimmer gefunden. Fotos anbei. Hausmeister hat uns eine DVD mit Film der Überwachungskamera gebrannt. Sind unterwegs zum BOOTSHAUS. Merle & Lena.

Visite.

„Moin Herr Mittler.“, grüßt Doktor Harr. Er macht einen übernächtigten Eindruck. Unter den Augen des Mediziners zeigen sich dunkle Ränder. Oberschwester Ulrike Kill folgt ihm auf dem Fuße. Sie schiebt einen Rollwagen ins Zimmer. Der enthält Akten aller Patienten der Privatstation. Einen Ordner sucht sie heraus, legt ihn auf den Wagen. Im Anschluss widmet sie sich Mittler. „Moin“ nuschelt sie kurz angebunden. Mehr bringt Perle nicht über die Lippen. Sie schüttelt das Kopfkissen auf. Professionell erledigt sie ihre Aufgaben, wuselt geschäftig umher.

„Wie ist heute ihr Befinden?“, erkundigt sich Dr. Harr. „Danke der Nachfrage, ich fühle mich besser.“ „Schön. Schön. Das freut mich. Wie gesagt.“

Er greift die Patientenakte. Blättert. Liest. Tippt mehrmals auf ein Blatt und sagt: „Nachtschwester Friederike protokollierte Schwindel. Sie nennt einen Schwächeanfall aus Überanstrengung als Grund. Was war da los?“ „Das ist richtig. Bei der Inaugenscheinnahme des verstorbenen Herrn van der Leuwen wurde mir schwindlig.“ „Ah ja. Ich entsinne mich. Friederike erwähnte es. Sie bat sie um Rat, nicht wahr? Als anwesenden Experten sozusagen.“ „So war es. Beim Betrachten des Verstorbenen schwächelte ich dann.“ „Verständlich. Ungewöhnliche Situation, der sie ausgesetzt waren.“

Mittler zuckt mit den Schultern, sagt: „Nicht wirklich.“ „Sie sind bei der Mordkommission, richtig?“ „Das trifft zu. Ich bin KHK.“ „Diese Abkürzung steht vermutlich nicht für Koronare Herzerkrankung?“, scherzt Professor Harr. „Nein!“, lacht Mittler. „Kriminalhauptkommissar.“ „Ah ja! Schön, schön. ... Ergo ist der Anblick Verstorbener für sie, ... wie drücke ich es aus ... professioneller Alltag und dergleichen?“ „In der Tat kann man es so bezeichnen.“

„Sie bekommen des Öftern Unappetitliches vor Augen?“ „Das ist unumgänglich.“ „Zu diesem Beruf ist vermutlich nicht jeder geeignet.“ „Sie sagen es, Doktor Harr. Ein Mordermittler muss psychisch topfit sein und Charakterstärke besitzen. Ein belastbarer Magen ist ebenso von Vorteil.“ „Der Anblick eines Verstorbenen ist für sie Routine, nehme ich an, Herr Kommissar?“ „Wie sie sagen. Es gehört zum Arbeitsalltag eines Mordermittlers.“

Oberschwester Kills Tätigkeiten sind beendet. Sie bezieht Position neben Professor Harr. Fachlich erweckt sie einen kompetenten Eindruck. Ansonsten zeigt Ulrike nicht die Herzlichkeit, die Frauen ihrer Berufsgruppe auszeichnet. Ihr Gesicht ist schwer zu lesen, stellt der Kriminalhauptkommissar fest. Nicht die geringste Gefühlsregung ist erkennbar. Die braunen Knopfaugen sind ausdruckslos geradeaus gerichtet. Perle erweckt den Anschein ins Leere zu stieren. Dessen ungeachtet sind ihre Sinne scharf gestellt. Nichts entgeht ihr.

„Darf ich eine Frage an sie richten, Herr Professor?“, erkundigt sich Ronny Mittler. „Bitte gerne. Womit kann ich dienen?“ „Der verstorbene Thilo van der Leuwen trug wegen Fraktur des Handgelenks Gips am rechten Arm.“ „Das ist richtig.“ „War er trotz des Handicaps in der Lage, einen Knoten zu binden?“ „Einen Knoten? Wie kommen sie darauf?“ Der Professor zeigt sich überrascht. „Konnte er?“, fragt Mittler nach. „Selbstverständlich. Das ginge zwar nicht flott wie gewohnt, dennoch ist es möglich.“

Doktor Harr wendet sich an Oberschwester Kill. „Ulrike, was sagen sie? War Thilo mit Gips in der Lage Knoten zu binden?“ „Herr van der Leuwen war motorisch eingeschränkt, aber dass schaffte er.“ Ulrikes raue Stimme dröhnt, dennoch bewegen sich ihre Lippen beim Sprechen nur minimal.

„War der Patient depressiv?“ Mittler stellt die Frage in den Raum, schaut beide an. In Schwester Kills Gesicht erkennt er keine Regung. Sie schweigt. Harr ringt um Antwort.

„Herr Hauptkommissar, ich bin unsicher, ob ich zu Auskunft verpflichtet bin. Datenschutz. Patientenschutz. Ärztliche Schweigepflicht und dergleichen. Sie verstehen? Heutzutage wird man schneller verklagt, wie man seinen Namen ausspricht. Sie wissen, wie es heißt: Ist der Ruf erst ruiniert .... Wie gesagt.“

„Ich möchte sie einen Moment unter vier Augen sprechen.“, bittet der Kriminalhauptkommissar. „Ist das möglich?“ Oberschwester Kill zeigt eine menschliche Reaktion. Die Knopfaugen weiten sich, ihre Kinnlade klappt herunter. Der Mund formt ein „O“. „Ulrike, sind sie so freundlich?“ Ihr Chef weist mit einer Hand Richtung Tür. Schwester Kill dreht auf dem Absatz um, stampft aus dem Zimmer. „She is not amused!“, kommentiert Harr ihren Abgang.

„Herr Professor, ich glaube nicht, dass Thilo van der Leuwen Suizid beging.“ „Wie bitte? Im Ernst?“ Der Doktor reist die Augen auf. „Sie vermuten, ... er ... wurde ...?“ „Ich gehe von Mord aus!“ „Ach du Scheiße!“, reagiert der Arzt sehr menschlich. „Darf ich?“ Er zeigt auf einen Stuhl neben Mittlers Bett. „Bitte nehmen sie Platz.“ „Entschuldigen sie meine Wortwahl. Zugegebenermaßen überrascht mich ihre These. Sie erwischen mich sozusagen auf dem falschen Fuß. Sagt man das so?“ Er ist sichtbar erschüttert, pustet kräftig durch und fragt: „Was veranlasst sie zu dieser Annahme?“

„Doktor Harr, ich bitte um Verständnis. Beim derzeitigen Ermittlungsstand benenne ich keine Einzelheiten. Wir verfolgen verschiedene Hinweise. Es gibt Indizien. Nochmals meine Frage. War Thilo depressiv? Zeigte er psychische Auffälligkeiten?“

„Nein. Ich kenne den Jungen, seit er auf die Welt kam. Hätte er seelische Probleme, wüsste ich das. Da bin ich sicher. Seine Eltern wären auf mich zugekommen, um Rat zu suchen. Thilos Vater Volkmar und ich sind Freunde. Es besteht ein Vertrauensverhältnis zwischen uns. Ich bin Gründungsmitglied des Yacht & Segelsportvereins, wie die van der Leuwens. Wir sehen uns regelmäßig.“

„Was wissen sie darüber, wie Thilo sich das Handgelenk brach?“ „Eine harmlose Geschichte. Ein Zank unter jungen Burschen. Wie er alle nasenlang vorkommt. Nicht der Rede wert.“ „Harmlos? Finden sie? Ein Mensch wird verletzt, landet mit Armbruch im Krankenhaus. Ohne Übertreibung ist der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, betrachtet man es von rechtlicher Seite, Herr Harr.“

„Schön. Schön. Sie haben recht. Ein Krankenhausaufenthalt war im Grunde nicht notwendig. Er hätte nach Röntgen und Eingipsen nach Hause entlassen werden können.“ „Warum blieb er?“ „Volkmar und Griselda bestanden darauf. Sie wünschten, dass ich den Heilungsprozess persönlich begleite.“ „Aus welchem Grund?“ „Wie gesagt. Sie baten darum.“

„Ihre Antwort reicht mir nicht. Wenn die Verletzung eine Banalität darstellte, frage ich mich, warum die Eltern diese Bitte an sie richteten.“ „Sie wünschten, dass ihr Sohn zu einhundert Prozent wieder hergestellt wird. Das er sich erholt. Im Krankenhaus sei er unter Kontrolle, meinte Volkmar. Zu Hause ist der Junge doch nur auf Achse. Das sagte er wörtlich.“

„Sie wollten ihn unter Aufsicht wissen? Weshalb?“ „Sie befürchteten, ihr Filius nähme die Blessur auf die leichte Schulter. Thilo ist aussichtsreicher Kandidat für das Olympiateam der Segler. Eine schwerwiegende Verletzung oder gar Behinderung käme äußerst ungelegen.“

„Verständlich. Zum Leben eines Spitzensportlers gehören Selbstdisziplin, hartes Training, Verzicht und Durchhaltevermögen. Der Wille, sich für den Erfolg zu quälen, muss vorhanden sein. Stimmen sie zu?“ „Das ist richtig, Herr Mittler.“ „Mangelte es Thilo an der nötigen Disziplin?“ „Ich fürchte, der Junge war irdischen Freuden mehr zugetan, wie eisernem Training.“ „Genauer?“

Professor Harr windet sich auf dem Stuhl. Man sieht, wie unangenehm es ihm ist, Auskunft zu erteilen. „Thilo war Partygänger. Ständig auf Achse. Feiern stand bei ihm hoch im Kurs. Wein, Weib und Gesang und dergleichen. Er nahm das Leben leicht. Übernahm nicht die notwendige Verantwortung. Dem Alkohol entsagte er nicht, wie man es von einem Sportler erwartet.“

„Wie kam es zum Bruch des Handgelenks? Spielte Trunkenheit eine Rolle?“ „Details sind mir alleinig vom Hörensagen bekannt. Ich war kein Augenzeuge der Auseinandersetzung.“ „Ich bin mit allem zufrieden, was sie wissen. Erzählen sie, Herr Doktor. Wurde getrunken?“ „Alkohol war sicher im Spiel. Davon ist auszugehen. Sitzt Thilo samstagabends mit Freunden im BOOTSHAUS, trinken sie. Vorglühen nennen die jungen Leute es heutzutage. Für den nachfolgenden Clubbesuch.“

„Kam es innerhalb der Gruppe zu einer Auseinandersetzung?“ „Nein. Soweit ich informiert bin, drehte es sich bei dem Streit um Carola. Sie kellnert aushilfsweise im BOOTSHAUS. Verdient sich was dazu. Nettes Mädchen. 19 Jahre alt.“

„Sie war der Grund der Auseinandersetzung? Wie kam das?“ „Thilo verhielt sich ihr gegenüber, ... wie drücke ich es aus ...? Er benahm sich nicht wie ein Gentleman.“ „Was deuten sie an? Genauer bitte.“

Stockend berichtet Doktor Harr: „Er berührte Carola. ... In unangemessener Weise. ... Am Gesäß. ... Zwang sie, ... sich auf seinen Schoß zu setzen, ... dergleichen.“ „Er begrapschte sie gegen ihren Willen?“ „Ja. Soweit mir bekannt ist.“ „Nötigung und sexuelle Belästigung also. Was weiter? Wie kommt der andere Teilnehmer der Streitigkeit ins Spiel? Wie heißt er? Was macht er?“

„Dennis Jakobs. Auch ein Segler. Er ist Carolas Freund. Ihr Verlobter, wenn ich nicht irre.“ „Wie alt ist er?“ „Das weiß ich nicht. Mitte zwanzig vielleicht.“ „Was ist er von Beruf?“

Professor Doktor Harr legt die Stirn in Falten. „Einen Moment bitte. ... Kurz nachdenken. ... Er arbeitet bei der Stadtverwaltung. Welche Position er begleitet, ist mir unbekannt. Ich kenne nicht jedes Vereinsmitglied persönlich. Zu den jungen Leuten pflege ich kaum Kontakt. Allenfalls sehe ich sie bei Vereinsfeiern. Hin und wieder sonntags beim Tee trinken im BOOTSHAUS. Diesbezüglich bin ich außerstande weiterzuhelfen, Herr Mittler.“ Er erhebt sich. „War es das? Haben sie noch Fragen? Ich muss los, Visite, sie verstehen?“

„Falls ich weitere Auskünfte benötige, weiß ich ja, wo ich sie finde. Danke für ihre Zeit Professor Harr.“

Im BOOTSHAUS.

Lena öffnet die Tür des Lokals, tritt ein und geht zur Theke. „Moinchen.“, grüßt eine Frau hinter dem Tresen. Unverblümt mustert sie den frühen Gast vom Scheitel bis zur Sohle. „Was weht mir der raue Nordseewind denn da Hübsches in die Hütte?“ In ihrem Mundwinkel klemmt eine Zigarette, die beim Sprechen wippt. Sie nimmt den Glimmstängel raus, löscht ihn im Spülwasser, wirft den Stummel in einen Mülleimer. „Dämliches Rauchverbot. Gilt auch für mich. Ab und zu ziehe ich mal eine durch, wenn keine Gäste da sind. Aber nun bist du ja reingeschneit, Schätzchen. Was darf ich für dich tun? Käffchen? Tee? Erotische Massage?“ Sie lacht, als sei es ein Scherz, trotzdem entsteht bei Lena der Eindruck, das Angebot sei Ernst gemeint.

„In der Reihenfolge wäre schön!“, spielt sie den Flirt mit und setzt sich auf einen Barhocker. „Hoppla. Jetzt wird´s interessant!“ Die Bedienung lehnt sich auf die Theke, schaut ihrem Gast tief in die Augen. „Scheint doch kein schlechter Tag zu werden, wie ich beim Aufstehen dachte. Fangen wir mit dem Käffchen an?“ „Gerne.“, antwortet Lena mit brüchiger Stimme. Sie räuspert sich. „Frosch im Hals?“, erkundigt sich die attraktive Frau gutgelaunt. „Lieber einen Kräutertee?“ „Nein. Alles gut!“, flunkert die Oberkommissarin und ärgert sich insgeheim, das es ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug.

Die dunkelblonde Bedienung steht mit dem Rücken zu Lena, derweil sie die Kaffeemaschine mit Wasser befüllt. „Dauert einen Moment. Ich muss die Maschinerie erst in Gang bringen.“, erklärt sie. Sie hat eine sportliche Figur. Ihr Haar trägt sie lang bis zu den Hüften. Hübsch, denkt Lena, gefällt mir. Ihr Herz klopft schneller, wie normal.

Die Tür zum Gastraum wird geöffnet. Merle Jörgisdottir tritt ein. „Moin.“, grüßt sie. „Auch ein fröhliches Moinchen!“, trällert die Bedienung und wendet sich ihrem neuen Gast zu. „Hallihallo! Hab ich ein Glück!“, raunt sie anerkennend. „Hat eine Fähre mit Schönheitsköniginnen angelegt, oder was geht ab?“, scherzt sie.

„Kein Parkplatz zu finden!“, erklärt Merle und knallt den Autoschlüssel auf den Tresen. „Norddeich ist rappelvoll mit Touris.“, nörgelt sie. „Den Wagen habe ich notgedrungen direkt vors Lokal gestellt und das Blaulicht aufs Dach gepackt. Wenn einer nicht dran vorbeikommt, muss er sich melden.“

„Blaulicht? Hab ich was mit den Öhrchen oder hast du das wirklich gesagt?“, fragt die Wirtin. „Kommissarin Jörgisdottir. Kriminalpolizei.“, stellt sich Merle vor. Sie hält ihr den Dienstausweis vor die Nase, zeigt auf Lena und sagt: „Meine Vorgesetzte. Oberkommissarin Schösteen.“

„Vorname Lena.“, fügt diese apart lächelnd hinzu. Die Wirtin wendet sich ihr zu und raunt: „Lena heißt das schöne Kind. Nett! ... Sehr nett!“ Der Angesprochenen rieseln angenehme Schauer den Rücken hinunter. An ihren Armen stellen sich Härchen auf.

„Und sie sind wer?“, fragt Merle diensteifrig. „Wer ich bin? Das werde ich dir sagen.“ Zur Überraschung der Polizistinnen beginnt die Gefragte zu singen: „Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison, ich hab ein Pianola, daheim in mein´ Salon. Ich bin die fesche Lola, mich liebt ein jeder Mann, doch an mein Pianola, da lass ich keinen ran.“

Sie streckt Merle die Hand zum Gruß hin. „Dreimal darfst du raten, wie ich heiße. Ein Tipp: Rumpelstilzchen ist es nicht!“ Sie lacht sympathisch. „Nur ein Späßchen. Lola nennt man mich. Lolita Andersen lautet der Name, der im Perso steht. Inhaberin dieser Gaststätte. Geboren in Hamburg. 1,70 m. Augenfarbe grün. Naturblond. 31 Lenze. Schuhgröße 39. BH Doppel D. Lesbisch. Alleinstehend. Was habe ich verbrochen Kommissarin?“

„Wegen Falschsingen werde ich sie jedenfalls nicht verhaften!“, verkündet Merle amüsiert. „Respekt! Das war klasse! Sind sie Sängerin?“ „Danke für die Blümchen, Schätzchen. Schön wär´s. Nee, ich bin nur eine Bardame, die gerne singt.“

„Frau Andersen ...“ „Nenn mich Lola.“ „Na gut. ... Frau Lola, ... was können sie ...“ „Also bitte!“, unterbricht die Wirtin Merle. „Was bist du denn für eine? So steif? So förmlich? Wir sind doch unter uns, Goldstück. Sag du zu mir!“ „Okay. ... Du. ... Ja. ... Ist gut.“, stammelt Merle verdattert. „Wie wär´s mit einem Käffchen zum Auflockern?“, fragt Lola. „Was?“ „Tass Kaff? Braun. Heiß. Leckerschmecker! Kennste?“ „Äh. Ja. .... Gerne.“

Es ist ein selten vorkommender Umstand, Merle verwirrt zu sehen. Für gewöhnlich ist sie für Witze, Sprüche und Alberei zuständig. Entsprechend rar gesät sind Momente, wo sie jemand aus dem Konzept bringt.

Sie setzt sich auf den Barhocker neben Lena. Die kichert, hält sich eine Hand vor den Mund.

„Was denn?“, flüstert Merle und stößt ihre Kollegin in die Seite. Die wispert sich lustig machend: „So steif? So förmlich? Goldstück?“ Sie kriegt sich kaum ein vor Vergnügen. „Ach du bist blöd!“, grinst Merle.

Lola stellt zwei dampfende Kaffeetassen auf die Theke. „Keks dazu?“ „Nein danke.“, antwortet Merle. „Ich hätte gerne einen.“, meldet Lena Bedarf an. „Was Süßes für die Süße.“, schäkert Lolita. „Bitteschön.“

Sie legt ein Gebäckstück auf die Untertasse und sagt: „Jetzt raus mit der Sprache. Was wollt ihr von Lola. Hab ich falsch geparkt? Oder sucht ihr jemanden der im Stadtpark die Bürger belästigt? Ich nehm den Job!“ Die Polizistinnen brechen in Gelächter aus. „Bedauerlicherweise ist die Stelle schon besetzt.“, antwortet Lena. „Na sie mal eine kuck! Humor hast du auch, Herzblatt! Das wird ja immer besser!“, freut sich Lola.

„Der Grund, aus dem wir hier sind, ist leider unerfreulich.“, erklärt Merle. „Au. Das klingt unschön.“ „Sie kennen, ... äh, du kennst Thilo van der Leuwen?“ „Klar! Und ob! Was hat die Knalltüte angestellt?“ „Er ist tot!“ „Was?“ Lolas Gesichtszüge frieren ein. Sie muss sich am Tresen festhalten. „Er wurde vergangene Nacht tot aufgefunden.“ „Der lag doch im Krankenhaus!“

Lola ist bitterernst. Die Fröhlichkeit mit der sie sich präsentierte, ist verschwunden. Man sieht ihr die Bestürzung an. Sie zieht einen Hocker unter der Theke hervor, setzt sich.

„Wollt ihr einen Schnaps?“ Die Kommissarinnen verneinen. „Also auf den Schreck brauche ich einen.“, ächzt Lola. Sie gießt Weizenkorn in ein Schnapsglas, kippt ihn runter. „Die armen Eltern ...!“, flüstert sie. „Wie kam er um? Autounfall? Er fuhr immer wie eine gesenkte Sau. Mehr als einmal hab ich gesagt, dass ihn das mal Kopf und Kragen kostet. Stell dir vor, du fährst ein Kind tot, da wirst du deines Lebens nicht mehr froh, sagte ich zu ihm. Die sind längst im Bett, wenn ich rase! Das war seine dämliche Antwort! So ein Schwachmat!“

„Es war kein Autounfall. Er wurde erhängt aufgefunden.“ „Was? ... Selbstmord? ... Thilo?“ Lola zeigt sich wie vom Schlag getroffen, gleichfalls überzeugt. „Der doch nicht! Niemals!“ „Wie meinst du das? Du scheinst deiner Sache sicher zu sein?“, beurteilt Lena die Reaktion der Gastwirtin. „So einer bringt sich doch nicht um! Der Junge ist der größte Narzisst, den ich im Leben zu Gesicht bekam! Das ist ein dermaßen selbstverliebter Arsch! Am Liebsten hätte er einen Butler eingestellt, der mit einem Spiegel vor ihm herrennt.“ „Thilo war ichbezogen, findest du?“ „Haha!“, lacht sie zynisch. „Das wär untertrieben. Er ist ein Angeber! Ein Großmaul! Ein Gernegroß durch und durch!“

„Ein Gutaussehender noch dazu!“, merkt Merle an. „Zugegeben, er sieht heiß aus, ... für einen Kerl ... falls frau auf sowas abfährt. Vielleicht schaut sie dann blauäugig über seinen Narzissmus hinweg.“ Sie hält inne, überlegt einen Augenblick. „Mein Typ ist er nicht. Nicht als Mensch ... und erst recht nicht als Sexualpartner. Da habe ich einen vollkommen anderen Geschmack! Sagte doch, ich steh auf Frauen.“ Bei den letzten Worten schaut sie Lena tief in die Augen. Die Oberkommissarin läuft knallrot an, unterdessen die Wirtin weiterspricht.

„Thilo ist tot! Nicht zu fassen! Und ich rede, wie wenn er noch da wär.“ Lola schüttelt fassungslos den Kopf. Sie schüttet Wasser in ein Glas und trinkt. Urplötzlich hält sie inne und fragt: „Was seid ihr eigentlich für Polizistinnen? Von der Kripo, sagtest du? Welche Abteilung?“ „Mordkommission.“, antwortet Lena.

„Scheiße! Ich habs geahnt! Wegen der Klopperei Samstagabend kommt ihr, stimmts?“ „Erzähl. Was war los, Lola?“ „Thilo geriet in Streit mit Dennis. Carolas Freund. Sie bedient aushilfsweise, wenn es ihre Zeit erlaubt.“ „Wie kam es zur Auseinandersetzung?“ „Ich bekam es nicht von Anfang an mit. Hatte alle Hände voll mit Bierzapfen zu tun. Samstagabend ist es immer rappelvoll. Weil viele Leute vor der Theke standen, hatte ich den Teil der Gaststube achtern kaum im Blick. In der Nische am Stammtisch saßen sie. Da hinten.“ Lola zeigt auf einen massiven Tisch, an dem zwölf Personen Platz finden.

„Die ganze Clique war da. Samstags treffen sie sich im BOOTSHAUS, bevor sie woanders hinfahren.“ „Wer sind die Leute?“ „Der Hofstaat von Thilo. Handverlesene Vollpfosten wie er. Kinder reicher Eltern. Schnöselbälger! Thilo hat das Sagen.“

Lena zückt ihr Notizbuch. „Hast du Namen für uns?“ „Ich muss nachdenken. Wer war da? Rollo. Der beste Kumpel von Thilo. Genauso ein Angeber. Roolfs ist der Nachname. Arbeitet im Betrieb seines Vaters. Irgendwas mit LKW.“ „Fahrzeugbau Roolfs im Gewerbepark Leegemoor.“, ergänzt Merle, die den Namen in ihr Smartphone eingab. Lena schreibt es auf.

„Weiter bitte, Lola.“ „Oke Krause.“ „Der Sohn von Tinus Krause? Der mit den Lebensmittelmärkten?“, erkundigt sich Merle. „Ja genau!“ „Ist Oke ein Spitzname?“ „Nein. Ein ostfriesischer Vorname.“ „Nie gehört.“ „Wer war noch dabei?“, fragt Lena. „Harold und Carina. Geschwister. Wie heißen die mit Nachnamen? Moment, ... ich hab´s gleich. Ihre Eltern betreiben Bäckereien.“ „Dornbusch?“ „Stimmt. An jeder Ecke ´ne Filiale und ich komm nicht drauf!“, wundert sich Lola. Sie zwinkert Lena zu und fragt: „Was bringt mich nur so aus dem Konzept?“

Die Oberkommissarin muss sich kurz sammeln, um zu fragen. „Wer fällt dir noch ein?“ „Hilko Starck. KFZ-Zubehör verkaufen seine Eltern. Auch im Gewerbepark ansässig.“ „Okay.“ Lena schreibt eifrig mit. „Keke Glas. Von Beruf Tochter. Eine Zicke, wie sie im Buch steht. Ihre Alten sind Inhaber des Großhandels Nordland. Geschenkartikel. Souvenirs. Süßwaren und was weiß ich ....“ „Kenne ich. Alteingesessene Firma.“, bestätigt Merle. „Aber Keke? Wer nennt sein Kind denn so?“, fragt Lena. „Ist gleichfalls ein ostfriesischer Name. Alter Landadel, die Familie. Da benennt man die Nachkommen traditionell.“, weiß Lola. „Bei dir trifft sich die Prominenz!“ „Manchmal könnte ich darauf verzichten, aber sie bringen das Geld ins BOOTSHAUS, von dem ich lebe.“

Merle zählt: „ 1, 2, 3, 4, 5, 6. Rechnen wir Thilo hinzu, sind es bisher 7 Personen. Wer fehlt noch?“ „Siemke Busch. Caroline Meierhof. Jelto Möller. Mehr fallen mir nicht ein. Ihr müsst Carola fragen. Sie kennt die Clique besser.“ „Das werden wir.“, versichert Merle.

„Schildere uns bitte aus deiner Perspektive, was Samstagabend geschah.“, fordert Lena die Gastwirtin auf. „Ich stand am Zapfhahn.“ Lola stellt sich zur Demonstration hin. „Der Laden war gerammelt voll. Gegen 22 Uhr gibt es Geschrei. Was gebrüllt wurde, verstand ich wegen der Musik und dem allgemeinen Lärmpegel nicht. Alle Gäste drehen sich um und schauen zur Nische. Ich höre Affengeräusche. Ich stelle mich auf eine Wasserkiste, um über die Köpfe hinwegzusehen. Thilo schlägt sich wie ein Gorilla auf die Brust.“ Lola macht es vor. „Er spuckt Dennis ins Gesicht. Der packt ihn am Hemdkragen und stößt ihn weg. Thilo fällt rückwärts auf den Fußboden. Im Fallen knallt er mit dem rechten Arm auf eine Stuhlkante. Das war´s. Ich ging hin und sagte der Clique, sie sollen das Lokal verlassen. Thilo jammerte wegen des schmerzenden Arms, ist aber mit seinem Gefolge abgerauscht.“

„Was war mit Carola?“ „Sie weinte. Dennis ging mit ihr in die Küche, um sie zu trösten. Sie beruhigte sich schnell und bediente weiter Gäste.“ „Was erzählte sie über den Vorfall?“ „Nachdem es im Lokal ruhiger war, übernahm Dennis die Theke. Er hilft ab und zu. Ist ein total lieber Mensch. Ich wollte eine rauchen und setzte mich in die Küche. Carola kam hinzu. Ich fragte, was los war. Sie erzählte, wo sie bei der Clique abkassierte, streichelte Thilo mit der Hand über ihren Po. Sie hätte sich weggedreht. Er hörte nicht auf, langte ihr unter den Rock. Daraufhin sagte sie ihm, er soll die Finger bei sich behalten, oder sie klebe ihm eine. Er packte sie, zerrte sie auf seinen Schoß und begrapschte ihren Busen. Das bekam Dennis mit und schritt ein. Thilo hatte natürlich nicht den Hauch einer Chance gegen ihn.“

„Wieso nicht?“ „Dennis ist ein Hüne. Fast 2 Meter lang. Ein Muskelpaket. Total durchtrainiert. Er ist Kraftsportler. Gewichtheben und sowas.“ „Neigt er zu Gewalt?“ „Nein! Überhaupt nicht! Das ist ein sanfter Riese. Ein liebevoller Mensch. Sagte ich doch schon. Der tut keiner Fliege was. Für den lege ich die Hand ins Feuer.“ „Was ist er von Beruf?“ „Er arbeitet bei der Stadtverwaltung. Beim Bauamt. Sachbearbeiter für .... keine Ahnung!“ „Wie lautet sein Nachname?“ „Jakobs.“ „Und der von Carola?“ „Siemers. Ich schreibe Adressen und Telefonnummern auf, wenn ihr wollt.“ „Das ist nett, vielen Dank.“ Lola beschriftet einen Zettel, den sie Merle reicht.

„Ja, ich denke, wir sind fürs Erste fertig. Oder hast du noch Fragen Lena?“ „Nein. Vorerst nicht. Ich lasse meine Visitenkarte da. Falls dir was einfällt, Lola, ruf mich an.“ „Darauf kannst du dich verlassen, dass mir was einfällt!“, grinst sie vielsagend, haucht einen Kuss auf das Kärtchen, bevor sie es in ihren Ausschnitt steckt.

Dennis.

Im Auto fragt Merle breit grinsend: „Sag mal, was war das denn?“ „Was?“ „Lola hat dich volle Granate angebaggert!“ „Ach? Ist das so?“, gibt sich Lena betont ahnungslos. „Hab ich gar nicht mitgekriegt!“ „Haha! Jetzt hör aber auf! Verarschen kann ich mich alleine!“

Lena lacht über die Bemerkung, greift zum Gurt und schnallt sich an. Merle sitzt mit verschränkten Armen auf dem Fahrersitz und stiert ihre Kollegin an.

„Was ist? Übst du Röntgenblick? Fahr los. Worauf wartest du?“ „Gibs zu!“ „Was?“ „Lola gefällt dir!“ Stille. „Hallo?“ Schweigen. „Los sag!“ Ruhe. „Erde an Lena. Bitte melden!“ Statt Antwort zu geben singt Lena: „Sie ist die fesche Lola, die Schönste im Salon ....“ „Ja! Du magst Lola!“, jubelt Merle und trommelt aufs Lenkrad. „Ich habe es gewusst! Jippi Ja Yeah Schweinebacke!“

„Wenn du dich beruhigt hast, gib mir bitte Lolas Zettel mit den Adressen. Ich rufe diese Carola an.“ Grinsend übergibt Merle die Notiz. Lena tippt Carolas Handynummer. Sie schaltet auf Lautsprecher, um Merle mithören zu lassen.

„Hallo?“, meldet sich eine Frauenstimme. „Moin. Spreche ich mit Carola Siemers?“ „Ja, ... das bin ich.“, lautet zögernd die Antwort. „Mein Name ist Lena Schösteen. Ich bin Oberkommissarin der Kriminalpolizei.“ „Ist was passiert? Mit Dennis?“ „Nein, keine Sorge. Frau Siemers, ich möchte sie in einer polizeilichen Angelegenheit sprechen. Wo halten sie sich derzeit auf?“ „In der Berufsschule. Wir haben Pause.“ „Conerusschule?“ „Ja genau.“ „Ich befinde mich in der Nähe. Können wir uns unterhalten?“ „Nein. Das geht nicht, wir schreiben in der nächsten Stunde eine Arbeit.“ „Wann haben sie Schulschluss?“ „Um 13 Uhr.“ „Vorschlag. Um die Ecke ist die Pizzeria Palazzo. Kennen sie die?“ „Ja.“ „Treffen wir uns dort? 13 Uhr 15? Ist das für sie okay?“ „Ja, das passt. Wie heißen sie noch?“ „Schösteen. Lena. Oberkommissarin der Kripo.“ „Ist es wegen Samstagabend?“ „Das erzähle ich ihnen, wenn wir uns sehen. Viel Erfolg bei der Klausur. Tschüss Frau Siemers.“ „Dankeschön. Bis dann.“

Lena schaut auf Lolas Notizzettel. „Ich rufe Dennis Jakobs an.“ Sie tippt die Telefonnummer. Besetzt. „Jede Wette, Frau Siemers telefoniert mit ihm! Das kontrolliere ich.“ Im Register des Smartphones sucht sie die vorher gewählte Nummer von Carola und aktiviert sie. Besetzt. „Siehst du!“ „War zu erwarten.“, sagt Merle. „Sicher war es das!“ „Hättest du mit Lola nicht anders gemacht, oder?“, kichert Merle. „Also weißt du was!“, entrüstet sich Lena. „Du freches Stück! Macht Witze auf meine Kosten!“ Lachend haut sie Merle auf die Schulter. „Redet man so mit seiner Vorgesetzten? Für dich gibts heute keinen Nachtisch, damit du es weißt! Los jetzt! Wir fahren zum Revier und gehen ins Bauamt. Schauen wir uns den jungen Mann persönlich an.“

Merle parkt den Wagen auf dem Stellplatz der Kriminalpolizei. Von dort spazieren sie zum Nachbarhaus, in dem das Bauamt untergebracht ist. Im ersten Stock finden sie das Büro von Dennis Jakobs, wie das Schild an seiner Tür ausweist. Lena klopft an.

„Herein.“, tönt es von innen. Sie treten ein. „Moin Herr Jakobs. Schösteen und Jörgisdottir. Kriminalpolizei.“ Er steht auf, reicht zur Begrüßung die Hand. Wie Lola beschrieb, ist er ein Riese.

„Bitte nehmen sie Platz, was kann ich für sie tun? Möchten sie etwas trinken?“ „Nein Danke. Ich komme gleich zur Sache. Herr Jakobs, ihre Lebensgefährtin Frau Siemers teilte ihnen telefonisch mit, dass wir mit ihr Kontakt aufnahmen?“, beginnt Lena das Gespräch. „Ja. ... Vorhin. Woher wissen sie das denn?“, staunt er. „Wir sind die Kripo.“ Er lacht bemüht.

„Herr Jakobs. Wir möchten uns mit ihnen über den Vorfall Samstagabend im BOOTSHAUS unterhalten.“ „Deshalb sind sie zu mir gekommen? Wurde ich angezeigt?“ „Nein.“ „Was wollen sie dann von mir?“ „Schildern sie uns, was vorfiel.“

„Na gut. Ich unterhielt mich mit Hein de Beers. Das ist ein Segelkamerad. Ich stand mit ihm an einem Stehtisch. Ich beobachtete, das Thilo van der Leuwen meine Freundin am verlängerten Rücken betatschte. Sie schob seine Hand weg und trat einen Schritt zur Seite. Daraufhin beugte er sich zu ihr, fasste unter ihren Rock. Carola schrie auf, schlug seinen Arm weg und sagte, er soll die Finger bei sich behalten, oder sie klebe ihm eine. Thilo stand auf, packte sie, setzte sich wieder und zog sie dabei auf den Schoß. Mit dem linken Arm umklammerte er sie, mit rechts befummelte er ihre Brust. Da war ich schon auf dem Weg dorthin. Wie er mich sieht, lässt er Carola los. Sie springt zur Seite. Ich schnappe den Drecksack am Kragen. Er lacht höhnisch und ruft: Schaut mal Leute, Tarzan ist wieder da! Dann macht er Affengeräusche, haut sich auf die Brust und spuckt mir ins Gesicht. Da schubse ich ihn Richtung Stuhl. Er stürzt und fängt an zu jammern.“

„Was sagte er?“ „Mein Arm, mein Arm. Das zahl ich dir heim. Ich verklag dich. Das wirst du teuer bezahlen. Du wirst deines Lebens nicht mehr froh.“ „Was geschah weiter?“ „Lola kam. Sie schmiss die Clique raus. Ich bin mit Carola in die Küche gegangen, um sie zu beruhigen. Das war alles.“

„Herr Jakobs. Wir möchten, dass sie ihre Darstellung zu Protokoll geben. Kommen sie dazu aufs Revier.“ „Zeigte Thilo mich also doch an? Oder warum soll ich eine Aussage machen?“ „Bedauerlicherweise sieht die Sachlage anders aus, Herr Jakobs. Herr van der Leuwen wurde vergangene Nacht tot aufgefunden.“

„Thilo ist tot? Ich war das nicht. Er ist zwar ein Arsch, aber ich bringe doch keinen um!“ „Ich sprach nicht von Mord, Herr Jakobs. Ich sagte, er wurde tot aufgefunden. Wieso gehen sie sofort von Mord aus?“ Er stammelt: „Ich, ... ich dachte, ... weil sie, ... von der Kripo sind ....!“

Dennis Jakobs zeigt Stressreaktionen. Er schwitzt, ist nervös. Auf seiner Stirn bilden sich Schweißtropfen. Lena macht Druck: „Gehen wir einmal davon aus, Thilo van der Leuwen wurde ermordet. Sie haben ein Motiv Herr Jakobs. Er begrapschte ihre Freundin, beleidigte sie in der Öffentlichkeit, verhöhnte und bespuckte sie. Morde werden schon aus geringeren Beweggründen verübt.“

„Aber ich doch nicht! Sie müssen mir glauben! Ich versaue mir doch nicht das Leben.“ Er setzt sich kerzengerade auf, faltet die Hände, erklärt: „Carola und ich. Wir planen unsere Zukunft. Wenn sie mit der Lehre fertig ist, heiraten wir. Wir wollen bauen und Kinder. Mindestens vier. Das setze ich nicht aufs Spiel wegen diesem eitlen Pfau! Das setze ich für nichts und niemanden aufs Spiel!“

„Haben sie ein Alibi für den gestrigen Abend?“ „Allerdings! Das habe ich!“ Ein Lächeln zeigt sich in seinem Gesicht, das zu einem Strahlen erblüht. „Ich war beim Sport. Das können mindestens zehn Leute bezeugen.“ „Wo waren sie?“ „Im Fitnesscenter. 19 bis 22 Uhr.“ „Und anschließend?“ „Bin ich heimgefahren.“ „Gibt es Zeugen?“ „Vielleicht sahen Nachbarn mich heimkommen. Eventuell mein Vermieter.“ „Das bedeutet, ihnen fehlt für den Zeitraum ab 22 Uhr ein Alibi!“

Carola.

Lena und Merle gehen zu Fuß zur Pizzeria Palazzo. „Ich glaube Dennis. Er ist keiner von der Sorte, die einem eiskalt lächelnd ins Gesicht lügen.“, ist Merle überzeugt. „Ich glaube ihm auch.“, antwortet Lena. „Warum hast du dann so einen Druck gemacht? Wir wissen doch noch gar nicht, ob es sich überhaupt um Mord handelt.“ „Ich verlasse mich auf Ronnys Riecher. Wenn er sagt, es ist einer, stimmt es in 99 von 100 Fällen. Das weißt du so gut wie ich.“ „Klar weiß ich das. Aber kriminalistisches Gespür ist keine Beweisgrundlage. Das ist, ... äh, ... Dingens.“ „Sprich dich aus, Merle“ „Jetzt hab ich´s! Ein Bauchgefühl. Mir fiel das Wort nicht ein. Mehr ist es nicht. Ronny ist schließlich nicht der heilige Spekulatius!“ „Hihi. Der ist gut! Muss ich mir merken.“, kichert Lena. „Aber dennoch. Gesetzt den Fall, es war Mord, ist Dennis Jakobs Hauptverdächtiger, bis wir einen anderen ermitteln.“

In der Pizzeria sind alle Tische frei. Sie wählen einen am Fenster, der am weitesten von der Bedientheke entfernt ist. Hier ist eine Unterhaltung möglich, ohne das jeder mitbekommt, worum es geht. Um 13 Uhr 14 betritt eine junge Frau die Pizzeria.

„Das ist sie gewiss.“, vermutet Lena und ruft „Frau Siemers?“ Die Angesprochene tritt an den Tisch. „Ich bin Oberkommissarin Lena Schösteen.“ Sie zeigt ihren Dienstausweis. „Das ist meine Kollegin Kommissarin Merle Jörgisdottir.“ Carola begrüßt die Beamtinnen. „Setzen sie sich. Was möchten sie essen? Ich lade sie ein.“, bietet Lena an. „Hungrig bin ich, bezahlen kann ich aber selber.“ „Worauf haben sie Appetit?“ „Auf jeden Fall Pizza. Die schmeckt im Palazzo sehr lecker.“

„Darf es etwas zu trinken sein?“, erkundigt sich der Kellner, während er Speisekarten austeilt. „Eine Cola Zero bitte.“, ordert Lena. „Für mich das gleiche“, schließt sich Merle an. „Danke, ich brauche keine Speisekarte. Ich bekomme eine Fanta und eine Pizza Spinat.“, bestellt Carola. „Große oder kleine Pizza für die Signorina?“ „Klein bitte.“ „Wird pronto erledigt. Wissen sie schon, was sie nehmen?“ Er schaut Lena an. „Für mich eine große Tonno.“ Merle wählt eine Pizza Calzone.

Nachdem die Bestellung aufgegeben ist, beginnt Carola ungefragt zu erzählen. „Dennis ist total durch den Wind, weil sie ihn verdächtigen.“ „Sie sprachen mit ihm?“ „Nein. Er textete. Er wusste, dass ich eine Arbeit schreibe. Mein Smartphone war aus. Ich las es, als ich auf dem Weg zum Palazzo war.“

Sie hält einen Moment inne, sammelt sich, bevor sie nahezu flüsternd sagt: „Das Thilo tot ist, kann ich noch gar nicht glauben!“ „Sie mochten ihn?“ „Gott bewahre! Nein! Ich konnte ihn nicht ausstehen!“, braust sie auf und schiebt schnell hinterher: „Das er tot ist, finde ich selbstverständlich trotzdem blöd.“

„Seit wann waren sie mit Thilo bekannt?“ „Ich lernte ihn im Gymnasium kennen. Da war ich 11 Jahre alt. Von Jahrgangsstufe 5 bis 8 besuchten wir die gleiche Klasse. Ich ging nach dem ersten Halbjahr der 8 ab zur Realschule. Habe Mittlere Reife gemacht, danach eine Ausbildung zur Bürokauffrau begonnen.“

„Wie war Thilo? Wie charakterisieren sie ihn?“ „Aufdringlich. Penetrant. Widerlich.“, sprudelt sie hervor. „Das fällt ihnen als Erstes ein?“ „Ja. Und noch erheblich mehr.“ „Was wäre das?“ „Meiner Meinung nach, hatte der sie nicht alle!“ Carola zeigt die Vogelgeste. „Irgendetwas in seinem Hirn funktionierte nicht, wie bei anderen Menschen. Ich weiß, man soll nicht schlecht über Tote reden, aber Thilo war speziell! Auf eine ungesunde Art! Er benahm sich schon als Kind wie ein Stalker!“

„Inwiefern? Erläutern sie uns das bitte.“ „Es begann in der 5. Klasse. Kurz nachdem wir uns kennenlernten. Er saß am Nebentisch. Schmachtete mich an. Schenkte mir Kleinigkeiten. Einen Bleistift. Einen Apfel. Eine Schlumpffigur. Kaugummi. So was. Anfangs fand ich es schön und ihn nett. Ich fühlte mich geschmeichelt und hofiert. Sowas kannte ich noch nicht. Es war das erste Mal, das ein Junge sich für mich interessierte.“ „Erwiderten sie seine Gefühle?“ „Ich schwärmte für ihn und schenkte ihm ein Foto von mir. Ab da drehte er durch.“

„Wie sah das aus?“ „Er wurde extrem aufdringlich und verfolgte mich. Suchte ständig meine Nähe. Morgens stand er an der Bushaltestelle, lauerte darauf, dass ich ankam. Er wollte meinen Ranzen tragen. Begleitete mich zum Klassenzimmer. War ich auf dem Mädchenklo, wartete er vor der Tür. Wenn ich sagte, er soll es lassen, nervte er mit dummen Aktionen.“

„Was zum Beispiel?“ „Er schlich sich auf dem Schulhof hinterrücks an, hob meinen Rock hoch, brüllte die Farbe meiner Unterhose.“ „Oh, wie ätzend!“, rutscht es Merle raus. „Manchmal rannte er mich absichtlich um. Oder er umarmte mich von hinten. Dann drückte er zu, bis mir die Luft wegblieb.“

„Sie müssen Angst empfunden haben Carola. Half ihnen niemand? Lehrer oder Schüler?“, möchte Lena wissen. „Mitschüler fürchteten sich vor ihm. Manche deckten ihn.“ „Seine Freunde unterstützten ihn?“ „Richtige Freunde waren es nicht. Eher Kinder, die sich aus Angst oder Berechnung mit Thilo anfreundeten. Damit er sie in Ruhe ließ. Ausgenommen Rollo. Der ist genauso ein Stinkstiefel. Er ist Thilos bester Kumpel.“

„Moment bitte Frau Siemers.“, unterbricht Lena. Sie zückt ihr Notizbuch, um einen Eintrag nachzulesen. „Sprechen sie von Herrn Roolfs?“ „Genau der! Wieso steht der in ihrem Buch?“ „Im Rahmen der Ermittlung nannte uns Frau Andersen seinen Namen.“ „Ach so.“

„Rollo und Thilo also? Wie machten sie ihnen das Leben schwer?“ „Rollo hielt mich fest, damit Thilo mich durchkitzeln konnte. Eigentlich wollte der mich nur befummeln. Ich war für mein Alter ziemlich entwickelt. Die Kitzelei war Vorwand. Das Schlimmste war, er leckte mir durchs Gesicht, am Hals, sogar in den Ohren. Es war absolut ekelhaft.“

„Das glaube ich gern. Es wundert, dass kein Lehrer etwas dagegen unternahm.“ „Rollo und Thilo stellten sich geschickt an, es fiel nicht auf. Sie zogen mich hinter eine Säule oder Wand, ließen es wie ein Kinderspiel aussehen.“ „Sie beschwerten sich nicht bei Lehrern?“ „Dazu fehlte mir der Mut. Thilo schüchterte mich ein. Er sagte, wenn ich ihn verpetze, passiere etwas ganz Schlimmes. Ich hatte riesige Angst.“ „Womit drohte er konkret?“ „Das meine Eltern sterben und ich ins Waisenhaus käme. Unser Haus würde abbrennen. Solche Dinge. Darum traute ich mich nicht, es zu erzählen.“ „Ich vermute, sie litten, weil sie sich allein gelassen fühlten?“ „Ja, es ist, wie sie sagen Frau Schösteen. Irgendwann bekamen Lehrer es endlich mit und bestraften Thilo und Rollo.“ „Hörten die Belästigungen auf?“ „Sie kamen nicht mehr in der Häufigkeit vor. Aufgehört hat es nie.“

„Wie näherte er sich ihnen nach dem Schulwechsel?“ „Bei zufälligen Begegnungen in der Öffentlichkeit. Auf dem Weihnachtsmarkt. Beim Osterfeuer. Auf dem Sportplatz. Am Strand. In einem Geschäft. Bei solchen Gelegenheiten machte er sich an mich ran. Wollte mich einladen. Zu Kaffee und Kuchen. Zum Schwimmen, tanzen, segeln und so. Ich lehnte alles ab. Ich sagte zigmal, er soll mich in Ruhe lassen, ich wolle nichts von ihm. Das ging zu einem Ohr rein, zum anderen wieder raus.“ „Warum zeigten sie ihn nicht an?“ „Ich traute mich nicht.“ „Weswegen?“ „Kennen sie die Familie van der Leuwen? Reiche Leute mit Anwälten sind das. Die hätten mich doch fertig gemacht!“

„Wie lang sind sie mit Dennis zusammen?“ „Vier Jahre und sieben Monate.“ „Wie alt waren sie, wo sie mit ihm zusammenkamen?“ „Ich war fast 15.“ „Wie reagierte Thilo darauf, dass sie liiert sind?“ „Ich weiß, das er schlecht über mich redete. Er setzte Gerüchte in die Welt.“ „Was genau?“ „Er behauptete, ich ginge anschaffen und Dennis sei Zuhälter. Mein Freund beendete das Gerede.“ Merle, die bisher vornehmlich die Rolle der stillen Zuhörerin einnahm, meldet sich mit einer Frage zu Wort: „Wie gelang ihm das?“ „Er stellte Thilo vor seinen Kumpels zur Rede. Er muss ziemlichen Eindruck auf sie gemacht haben. Seitdem war Ruhe.“

„Bei Herrn Jakobs beachtlicher Physis wundert es nicht, dass van der Leuwen unterlegen war.“, vermutet Merle. „Mein Freund ist 1,99 m und betreibt seit Ewigkeiten Kraftsport. Außerdem ist er nicht auf den Kopf gefallen. Der wusste, wie man Thilo Grenzen setzt!“ „Sie sagen das mit Stolz, Frau Siemers,“ bemerkt Lena, „das verstehe ich.“ „Heute habe ich das Selbstvertrauen, das früher fehlte. Ich bin dank Dennis Hilfe aus der Schildkrötendeckung gekommen.“

„Das ist schön für sie. Dennoch gerät der heroische Einsatz zu ihrer Ehrenrettung im Augenblick eher zu seinem Nachteil.“ „Wieso denn?“ Carola schaut erschrocken. Eine Sekunde später fällt der Groschen. Sie flüstert: „Weil er ihr Hauptverdächtiger ist? Aber das ist vier Jahre her. Sie glauben doch nicht ernsthaft, er ...?“ „Was wir glauben, ist zweitrangig.“, erklärt Merle. „Für uns zählen Fakten. Wie die Tatsache, dass zwischen Jakobs und van der Leuwen ein Zwist bestand. Dem gehen wir im Verlauf der Ermittlungen nach. Das ist unsere Aufgabe. Dabei lassen wir Umstände nicht außer acht, die Dennis entlasten, seien sie dessen versichert.“

Lena fragt: „Frau Siemers, sie sagen, dass sie Ruhe vor Thilo hatten, nachdem ihr Freund ihn zur Rede stellte. Ab wann belästigte er sie erneut mit Anzüglichkeiten?“ „Wo ich im BOOTSHAUS zu kellnern anfing, kamen wieder obszöne Bemerkungen. Gleich am ersten Arbeitstag ging das los. Vergangenen Samstag war es dann einfach zu viel.“

„Es kam demnach regelmäßig vor?“ „Das er mich blöd anmachte, meinen sie?“ „Ja.“ „Wie gesagt. Seit ich dort zur Aushilfe kellnere. Vor knapp zwei Jahren habe ich bei Lola zum ersten mal ausgeholfen. Manchmal machte Thilo einen Spruch am Abend, ein anderes Mal mehr. Es kam vor, dass er nichts sagte, darum ist es schwierig, es in Zahlen zu fassen, Frau Oberkommissarin.“

„Wie äußerte er sich? Wie führte er sich auf? Wie muss ich mir seine Belästigungen vorstellen?“ „Häufig machte Thilo dumme Bemerkungen. Hin und wieder betatschte er mich.“ „Wo berührte er sie? Wie ging das vonstatten?“ „Wenn ich beim Stammtisch bediente und in Reichweite stand, gab er mir schonmal einen Klaps auf den Hintern.“ „Was noch?“ „Er griff an meine Beine, streichelte über die Oberschenkel.“ „Wie reagierten sie?“ „Ich drehte mich weg oder schlug auf seine Hand.“ „Sie sagten nichts dazu?“ „Doch. Sicher. Ich sagte, er soll es lassen.“

„Wie regierte er auf Ablehnung?“ „Meistens laberte er irgendwelchen Mist.“ „Was zum Beispiel? Erklären sie es. Wie müssen wir uns das vorstellen?“ „Kam ich an den Stammtisch, um Bestellungen aufzunehmen, sagte er: Da kommt die schärfste Saftschubse von Norden. Wenn seine Freunde darüber lachten, war er zufrieden.“ „Das klingt wie ein harmloser Scherz, Frau Siemers. Belästigung sieht anders aus. Ein Chauvinist sähe in dem Spruch sogar ein verstecktes Kompliment. Leider ist das so, möchte ich hinzufügen.“, erklärt Merle. „Vor Gericht würde diese Bemerkung wenig Eindruck machen. Es hilft uns nicht weiter.“, ergänzt Lena. „Geben sie uns handfeste Beispiele. Wie beleidigte er sie aufs Heftigste? Sprechen sie es aus.“, motiviert Merle sie.

„Thilo sonderte ordinäre Kommentare ab.“, druckst Carola herum. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie greift zu einem Papiertaschentuch. „Wir sehen, wie sehr das Thema sie belastet, Frau Siemers. Dennoch müssen wir darum bitten, sich zu erinnern, welche Worte Thilo wählte.“, erklärt Lena sanft. Carola nickt. Flüsternd berichtet sie: „Einmal behauptete er, man höre, wenn ich zum Tisch käme. Das Geräusch meiner wippenden Titten würde mich verraten.“ „Das sagte er? Wörtlich?“ „Ja. Wort für Wort. Und Schlimmeres! Doofe Sprüche, die er in Witze verpackte.“

„Welcher Art waren diese?“, erkundigt sich Merle. „Machte er sexistische Anspielungen?“ „Ja richtig fiese!“ „Erinnern sie sich an den Wortlaut?“ „Nicht an jeden. Aber einiges blieb im Gedächtnis.“ „Haben sie ein Beispiel für uns?“, möchte Lena wissen.

Carola beugt sich vor. Mit gedämpfter Stimme erzählt sie: „Er machte sich einmal über meine Schamlippen lustig. Zur Clique sagte er, als Kind hatte Carola Schamlippchen. Jetzt hat sie Schamläppchen. Und mit vierzig bekommt sie Schamlappen! Diese Worte begleitete er mit Handbewegungen und Geräuschen. Bei seinen Leuten kam das natürlich super an. Die lachten sich kaputt und ich war die Doofe!“

„Gerieten sie in Wut?“ Sie zögert mit einer Antwort. „Klar, ich war sauer. Denke ich darüber nach, war ich mehr beschämt. Und beleidigt!“

„Haben sie ein weiteres Beispiel dieser sogenannten Scherze?“ „Eine Sache war letztes Jahr im Sommer. Ich trug einen kurzen Rock. Wo ich Getränke zum Tisch brachte und die Gläser verteilte, fragt Thilo: Was passiert, wenn ich Carolas Kitzler festhalte, während sie zur Theke zurückgeht? Die Antwort gab er gleich selbst. Lasse ich los, gibt´s folgendes Geräusch. Er steckte einen Finger in den Mund, machte ein Ploppgeräusch und rief Tschüüüühüüüssss.“ „Auweia. Das ist deftig. Wie reagierten die Personen am Tisch?“ „Sie lachten.“ „Verstehe. Darunter befanden sich Frauen, richtig?“ „Ja, einige.“ „Entrüsteten die sich nicht?“ „Nein.“

„Carola, sie waren sein erklärtes Ziel für Spott. Thilo amüsierte sich auf ihre Kosten und stand bei seinen Gefährten gut da. Bekam ihr Freund das mit?“ „Nicht immer. Ich erzählte es ihm nicht unbedingt.“ „Warum nicht?“

Carola schweigt. Beißt auf die Lippen. Alles, was sie im Zusammenhang mit Dennis aussagt, wird gegen ihn verwendet, denkt sie.

„Ich wiederhole meine Frage.“, bohrt Lena. „Weshalb verschwiegen sie ihrem Verlobten die Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt waren?“ „Weil ich nicht wollte, dass es Stunk gibt.“ „Was befürchteten sie?“

Carola sieht sich in die Ecke gedrängt. Wie das Kaninchen vor der Schlange windet sie sich vor der Antwort, bis sie wispert: „Das Dennis eine Dummheit macht.“

Auf dem Rückweg zum Revier fragt Lena: „Welchen Eindruck macht Frau Siemers auf dich?“ „Insgesamt einen Guten. Eine Sache verstehe ich allerdings nicht.“ „Die da wäre?“ „Über Jahre hinweg belästigt, erniedrigt, beleidigt der Kerl sie. Er behandelt sie aufs Ekligste und sie sucht sich keine Hilfe. Warum?“

„Die Erfahrung lehrt, solches kommt häufig vor. Denk an Häusliche Gewalt. Wie viele Frauen ertragen über Jahre ein Martyrium! Bis es eskaliert. Und dann kommen wir und kehren den Mist zusammen!“

Wir haben einen Mordfall!

Gerichtsmediziner Dr. Albert Meyer sitzt neben Ronny Mittlers Bett und lässt sich ein Butterbrot schmecken. Es ist später Nachmittag. Die Salamistulle war eigentlich zum Verzehr in der Frühstückspause gedacht. Er kam nicht dazu, sie zu essen. Kauend erklärt er: „Der Verstorbene stand unter Einfluss von Betäubungsmitteln. Abgefüllt bis Oberkante Unterlippe! Der war weder ansprechbar, geschweige denn in der Lage, sich aufzuhängen.“

Hauptkommissar Mittler klatscht in die Hände. „Wusst´ ich´s doch! Es war kein Suizid!“ „Dein Orakel - Magnet sah es voraus! Verlässlich wie eh und je“, kommentiert Meyer.

„Was kannst du mir zum Seil des Erhängten sagen, Albert?“ „Moment.“, antwortet der Rechtsmediziner. Er schiebt das letzte Stück Brot in den Mund und kaut in aller Ruhe. Nachdem es heruntergeschluckt ist, greift er nach seiner Tasche. Daraus entnimmt er eine Thermoskanne, die anhand ihrer Form an einen Leuchtturm erinnert. Er schraubt den Deckelbecher ab, gießt ein und trinkt.

„Wird das heute noch was, mit der Antwort?“, drängt Ronny Mittler. „Abwarten und Tee trinken! Dann Sachen machen!“, antwortet Albert Meyer seelenruhig. In sich ruhend, genießt der Pathologe seinen geliebten Ostfriesentee. Sanft lächelnd stellt er den Becher neben die Thermoskanne auf Mittlers Nachttischschrank. Es amüsiert Meyer, den Freund in der Warteschleife hängen zu lassen. Der trommelt derweil erwartungsvoll mit den Händen auf der Bettdecke. Aus der Aktentasche zieht der Rechtsmediziner einen Schnellhefter, platziert diesen auf den Schoß. Bedächtig klappt er ihn auf, liest stumm die ersten Zeilen. Schließlich hebt er den Kopf. Prüfend schaut er den Hauptkommissar an. Dessen volle Aufmerksamkeit ist ihm sicher.

„Vorneweg gesagt, es fand sich keine verwertbare DNA-Spur. Weder an der Leiche noch am Seil. Es handelt sich um ein 8 Millimeter starkes Polypropylenseil in der Farbe Blau mit schwarzem Kennfaden. Seine Länge beträgt 20 Meter. Es ist 16-fach geflochten. Die Bruchlast liegt bei 700 Kilogramm. Ein schlichtes Universalseil, lieber Ronny. Bekommst du in jedem gut sortierten Baumarkt. Es ist für den Einsatz im Freien geeignet. Beispielsweise im Garten, beim Camping und so weiter. Zum Spannen und Befestigen von Planen verwendet man es gerne. Aus persönlicher Erfahrung möchte ich anmerken, dass derlei Seil für diverse Belange ausgesprochen hilfreich ist. Ich sichere damit zum Beispiel Strauchschnitt auf meinem Anhänger, wenn ich zur Deponie fahre.“

„Nimmt man das Seil auch zum Segeln?“, fragt der Kriminalhauptkommissar. „Nein Ronny. Das nicht! Dazu benutzt man Segelboote!“

Auf einen Augenblick der Stille folgt schallendes Lachen! „Wer doof fragt, bekommt die passende Antwort!“, kichert Mittler und wischt Lachtränen aus dem Gesicht. „Jetzt im Ernst. Setzt man es beim Segelsport ein?“ „Davon ist auszugehen, behaupte ich, ohne es explizit zu wissen.“

Es klopft. „Herein!“, ruft Mittler. Lena Schösteen und Merle Jörgisdottir treten ein. „Moin!“, grüßen sie. „Moin!“, schallt es zweistimmig zurück. Lena setzt sich auf die Bettkante neben ihren Vorgesetzten. Merle zieht es auf die Fensterbank.

„Was gibt es Neues?“, erkundigt sich die Oberkommissarin. „Wir haben einen Mordfall!“, erklärt Gerichtsmediziner Meyer. Mittler nickt bestätigend. „Sieh an. Da hatte Chefchen wieder den richtigen Riecher!“, staunt Lena und denkt amüsiert an Merles Beispiel vom heiligen Spekulatius. „Vielleicht war Ronny in einem früheren Leben Spürhund?“, witzelt Merle. „Nö, eher Trüffelschwein!“, antwortet Meyer strohtrocken, womit er die Anwesenden zum Lachen bringt. Darauf folgend fasst der Pathologe für die Kommissarinnen seine Ergebnisse zusammen.

Lena Schösteen kommentiert das Gehörte: „Passt alles zu Ronnys Vermutungen. Er meinte doch, dass niemand ein derartiges Seil mit ins Krankenhaus bringt, um sich damit das Leben zu nehmen. Das sehe ich genauso. Dahinter stünde eine geplante Handlung. Die erkenne ich aufgrund der bisherigen Erkenntnisse nicht. Das Seil brachte jemand in der Absicht mit, einen Suizid vorzutäuschen. Hinzu kommt das Indiz mit dem verlorenen Hausschuh. Es deutet an, dass der Verstorbene nicht auf eigenen Füßen sein Zimmer verließ. Du bestätigst, dass er unter Betäubungsmitteleinfluss stand. Ich gehe davon aus, der Täter sedierte Thilo van der Leuwen, holte ihn aus dem Bett und hing ihn im Treppenhaus auf. Der Vorgang einen Bewusstlosen zu bewegen, ist beschwerlich. Man muss den Ohnmächtigen transportieren. Das ist anstrengend. Stellt euch vor, wie man ihn über das Treppengeländer hebt. Einen leblosen Körper von diesem Gewicht! Dennis Jakobs hätte die Kraft, es zu bewerkstelligen. Momentan ist er Hauptverdächtiger. Was nicht ins Bild passt, ist die Frage, wie verabreichte er Thilo Betäubungsmittel? Zugegeben, Dennis hat ein Motiv und kein wasserdichtes Alibi. Dennoch halte ich ihn für unschuldig! Er ist, wie das Opfer, Segelsportler und hätte sicher einen Seemannsknoten gemacht, um das Seil am Geländer zu befestigen. Das entlastet ihn. Außerdem überzeugt mich, was er über Zukunftspläne mit Carola erzählt. Ich glaube nicht an ihn als Täter. Wir müssen an anderer Stelle suchen.“

„Hörst du, wie analytisch Lena zusammenfasst und zweifelt, Albert?“, fragt Ronny Mittler seinen Freund. „Das hat sie bei mir gelernt!“ „Du alter Angeber!“, schimpft der Pathologe. „Mit Angabe hat es nichts zu tun! Man muss Gespür für den Täter entwickeln, um ihn zu überführen. Sie fällt nicht auf offensichtliche Fakten rein. Sie hinterfragt. Das ist, was ich den Kolleginnen vorlebe. Umso mehr erfreut bin ich, wenn solche Ergebnisse dabei herauskommen. Die Frage, die sich stellt, lautet: Was fängst du damit an, meine Liebe?“ Erwartungsvoll schaut Mittler die Kriminaloberkommissarin an.

„Ich knöpfe mir Schwester Friederike vor. Sie hatte Nachtdienst, entdeckte den Toten und meldete dir den Vorfall. Ich frage, warum bekam sie nicht mit, dass eine oder mehrere Personen Thilos Zimmer betraten? Er wurde betäubt. Man transportierte ihn. Hing ihn im Treppenhaus auf. All das ist ihr entgangen. Wieso? Das muss sie mir glaubhaft erklären.“, erläutert Lena.

„Prüft zeitnah die Aufnahmen der Überwachungskameras. Wer weiß, was sie offenbaren?“, erinnert Mittler.

„Was ist mit Thilos Clique?“, meldet sich Merle von der Fensterbank. „Ja? Was ist mit denen?“, erkundigt sich der Hauptkommissar. „Sollten wir sie nicht ebenfalls befragen?“ „Ja, das könnt ihr, obwohl ich das Gefühl nicht loswerde, dass diese Leute nichts zur Lösung des Falls beitragen!“

Lena schlägt vor: „Wir bestellen die Personen zur Anhörung. Kümmerst du dich darum, Merle? Es sollen sich Kollegen zu ihrer Befragung bereithalten. Wir brauchen Unterstützung im Revier.“ „Gerne.“

„Prima. Dann schaue ich die DVD an. Sonst noch was?“

„Wer befragt die Patienten der Station, ob sie in der betreffenden Nacht etwas hörten oder sahen? Vielleicht bekam jemand was mit? Merle, übernimmst du das?“, fragt Mittler. „Geht klar. Ich lege gleich damit los, während Lena die kranke Schwester befragt.“, albert sie.

Friederike.

In der Mitte der Privatstation treffen zwei Gänge aufeinander. Einer führt zu den Aufzügen, der andere zum Treppenhaus. An dieser Schnittstelle befindet sich das Dienstzimmer, aus dessen Fenster man beide Flure überblickt. Lena sieht Oberschwester Kill und Schwester Friederike darin sitzen. Sie sind in ein Gespräch vertieft und bemerken nicht, wie sie zur Eingangstür geht. Daran klebt ein Schild:

PRIVATSTATION

Professor Dr. H. HARR

ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL!

Besucher am Fenster rechts um die Ecke melden.

Oberkommissarin Schösteen ignoriert die Aufforderung, klopft an und tritt ohne „Herein“ abzuwarten ein. Die Frauen drehen sich zu ihr um. Oberschwester Kill zeigt genervtes Augenrollen. Wie von der Tarantel gestochen springt sie auf, faucht feindselig: „Kein Zutritt! Melden sie sich am Fenster!“

Lena grüßt betont liebenswürdig: „Moin Frau Kill. Entschuldigen sie bitte die Störung! Ich bin Oberkommissarin Schösteen. Kriminalpolizei.“ Sie hält der Stationsleiterin den Dienstausweis vor die Nase.

„Ja und? Was für andere gilt, ist auch gut genug für sie. Melden sie sich am Fenster!“ Perle weist mit ausgestrecktem Zeigefinger darauf. „Frau Kill. Sie verstehen sicher, es muss nicht die ganze Station mitbekommen, was ich besprechen möchte.“

Oberschwester Ulrike zeigt sich dickfellig. Wild entschlossen, ihr Revier zu verteidigen, steht sie breitbeinig vor Lena. Verankert in einem Fundament aus Birkenstocksandalen ragen ihre speckigen Beine wie griechische Marmorsäulen aus dem Schwesternkittel. Es erweckt den Anschein, ihre Füße bilden in diesem Augenblick im Linoleumbelag des Fußbodens Wurzeln, um festen Stand zu garantieren. Mit verschränkten Armen verweigert Perle sich der Obrigkeit. Wie ein Türsteher vor dem Nachtclub schreit ihre ganze Erscheinung: „Du kommst hier nicht rein!“

„Ich möchte Schwester Friederike sprechen.“ „Das geht nicht!“ „Wie bitte?“ „Kommt nicht in Frage!“, keift Ulrike in einer Lautstärke, die selbst einem Patienten mit Knalltrauma zu laut wäre. „Weshalb nicht?“, erkundigt sich Lena liebenswürdig. „Die hat gleich Dienstbeginn.“ „Es dauert nicht lang.“ „Nein hab ich gesagt!“

Lenas Geduldsfaden spannt sich allmählich. Ihre Satzmelodie erhält eine aggressivere Färbung. „Nochmal zum Mitschreiben! Ich möchte ihre Kollegin sprechen!“ „Wir sind bei der Übergabe.“ „Ich warte.“ „Das können sie sich abschminken! Gehen sie.“ „Ich bin im Zuge einer Mordermittlung hier!“, erklärt Lena. „Mord?“ Perle lacht hysterisch. „Soll das ein Witz sein?“ „Zum Scherzen bin ich nicht aufgelegt, Frau Kill. Leider ist es die bittere Wahrheit!“ „Das wird ja immer doller!“ „Mord. So ein Quatsch! Das wüsste ich aber!“ Penetranzia stellt sich stur.

„Schwester Kill, ich fürchte, sie missverstehen die Situation.“ „Und sie verstehen nicht, dass wir Dienst am Menschen leisten und keine Zeit zum Polizeispielen haben! Also gehen sie endlich!“ Wiederholt zeigt sie gebieterisch zur Zimmertür. „Es reicht, Frau Kill! Sie behindern mich bei der Amtsausübung. Wollen sie ernste Schwierigkeiten? Die bereite ich ihnen schneller, wie sie ihren Namen aussprechen.“

Könnten Blicke töten! Lena läge längst auf dem Fußboden. Die kleinen Äugelein der Oberschwester gleichen glühenden Kohlen. Der Ausdruck im mittlerweile hochroten Mondgesicht spricht Bände. Hausdrache Kill ist kurz davor Feuer zu spucken. Vor Wut schäumend drängt sie sich an Oberkommissarin Schösteen vorbei. Sie räumt das Feld. Bevor die Tür ins Schloss knallt, zischt sie: „Du weißt, was du zu tun hast, Friederike!“

„Darf ich mich setzten?“, fragt Lena. Schwester Friederike rollt wortlos einen Bürostuhl zu ihr. Die Oberkommissarin zieht ein MP3-Aufnahmegerät aus der Jackentasche. „Ich stelle ihnen Fragen, Schwester Friederike. Sind sie einverstanden, dass ich das Gespräch aufnehme?“ „Muss das sein?“, wispert sie im Flüsterton. „Ich lade sie gerne aufs Revier vor, wo wir die Unterredung protokollieren. Was ist ihnen lieber?“ „Besser hier.“, haucht sie. „Gut. Beginnen wir.“

Lena schaltet das Aufnahmegerät an und leitet die Befragung mit einer scheinbar banalen Feststellung ein. Sie zeigt zum Fenster: „Ein hervorragender Ausblick. Beide Flure sehen sie ungehindert ein!“ „Ja.“

Nickend bestätigt Friederike das Gesagte und schaut hinaus. In diesem Moment tritt Merle aus einem Zimmer im Gang zu den Aufzügen. Sie winkt Lena zu. Daraufhin klopft sie an die gegenüberliegende Zimmertür, um nach kurzem Warten einzutreten.

„Was macht ihre Kollegin da?“, erkundigt sich Friederike. „Sie besucht Patienten. Stellt ihnen Fragen.“ „Darf sie das? Ich meine ..., wer hat das erlaubt?“ „Polizeiarbeit. Das geht in Ordnung. Machen sie sich darum keinen Kopf.“ Friederike wirkt verunsichert.

„Erklären sie, wieso sie trotz dieser exzellenten Aussicht nicht mitbekamen, wie Thilo van der Leuwen sein Zimmer verließ, um im Treppenhaus Suizid zu begehen?“ „Ich, ... ich, ... ich habe null Ahnung!“ „Das wundert mich! Wo sie doch im Nachtdienst die Verantwortung tragen.“ „Ich gucke ja nicht ständig aus dem Fenster.“, reagiert sie aufgewühlt und sucht eine Erklärung. „Womöglich war ich auf der Toilette? Oder in der Teeküche? Vielleicht bei einem Patienten im Zimmer?“ Sie schaut unter sich.

„Das protokollieren sie? Es lässt sich nachprüfen?“ „Was? Ob ich auf dem Klo war? Nein, das schreibe ich nicht auf.“ „Sie halten aber schriftlich fest, wann und warum sie, bei welchem Kranken im Zimmer waren?“ „Bei einem gesundheitlichen Vorfall notiere ich es in der Patientenakte. Wünscht jemand zum Beispiel ein Getränk, verzeichne ich es nicht.“ Die Krankenschwester spricht sanft. Sie knetet ihre Hände. Es fällt ihr schwer, der Kommissarin ins Gesicht zu sehen.

„Sind sie im Nachtdienst alleine auf der Station?“ „Ja. Bis auf den diensthabenden Arzt.“ „Wo hält er sich auf? Hier im Dienstzimmer?“ „Nein. Im Arztzimmer.“ Sie zeigt die Richtung. „Vorne bei den Aufzügen. Der erste Raum links. Da steht ein Bett. Geweckt wird der Doktor nur bei Notfällen.“

„Wer hatte Nachtdienst, wo Thilo van der Leuwen zu Tode kam?“ „Dr. Lütkehuus. Hanne. Sie hatte Rufbereitschaft.“ „Wo sie den Toten entdeckten, riefen sie die Ärztin?“ „Nein. Ich ging zu Herrn Mittler.“ „Warum?“ „Der ist doch Polizist.“ Nervlich angespannt nestelt sie an ihrem Namenschild.

„In erster Linie ist Herr Mittler Patient und wurde erst Stunden zuvor am Blinddarm operiert.“ „Darüber dachte ich nicht nach. Der Schock, wissen sie? Außerdem war es der kürzere Weg.“ „Wie meinen sie das?“ „Sein Zimmer ist nahe zur Treppe. Das Arztzimmer ist ganz am entgegengesetzten Ende bei den Aufzügen. Das sagte ich doch schon.“

„Wieso hielten sie sich überhaupt beim Treppenhaus auf Friederike?“ „Ich war am Süßwarenautomaten. Um eine Tüte Gummibärchen zu holen. Da sah ich durch die Glastür das Seil am Geländer. Ich wunderte mich und hab nachgesehen. Da fand ich den Toten.“

Lena wechselt abrupt das Thema. Diese Gesprächstaktik, schaute sie bei Mittler ab. Mit scheinbar wirr gestellten Fragen erreicht er bei Befragungen beachtliche Erfolge.

„Ich sehe, sie lagern hier Rollstühle.“ Lena zeigt zur offen stehenden Tür eines Nebenraums. „Ja und andere Sachen.“, antwortet Friederike. „Sie gingen Gummibärchen kaufen, sagen sie?“ „Ja stimmt.“ „Da fiel ihnen das Seil auf?“ „Genau.“ „Sie wunderten sich darüber, schauten nach und sahen den Erhängten?“ „So war es.“ „Anschließend holten sie Herrn Mittler?“ „Richtig!“ „Vorher waren sie nicht mehr hier im Dienstzimmer?“ „Hä? Wann?“ „Nachdem sie den Toten fanden?“ „Nein.“ „Sind sie sicher?“ „Aber natürlich!“ „Woher hatten sie dann den Rollstuhl, mit dem sie Herrn Mittler abholten?“

Friederike schluckt. Schaut unter sich. Ist still. Lena wartet einen Moment, ob eine Reaktion kommt. Da dies nicht der Fall ist, fragt sie nach.

„Haben sie dafür eine Erklärung?“ „Wofür?“ „Holten sie den Rollstuhl aus dem Dienstzimmer?“ „Nein. Der stand da.“ „Wo?“ „Bei den Automaten.“ „Warum? Wie kam er dorthin?“ „Keine Ahnung. Manchmal spielen Besucherkinder damit auf dem Gang.“

„Ist ihre Vorgesetzte häufig so gestresst, wie vorhin?“ „Ab und zu.“, wispert die junge Frau, irritiert durch die verwirrend gestellten Fragen. „Warum ist das so?“, möchte Lena wissen. Zögernd erklärt die Krankenschwester: „Sie hasst es, wenn fremde Leute ins Dienstzimmer reinkommen. Das nervt sie.“ Friederike schaut unter sich, wie ein Schulmädchen, das beim Abschreiben ertappt wurde.

„Wie kommen sie mit Oberschwester Kill aus?“ „Gut.“ „Sie sind nicht selbst schonmal von ihr genervt?“ Sie hebt den Kopf, sieht Lena direkt an. „Ich? Nein. Wieso?“ Ihr Gesicht zeigt einen verblüfften Ausdruck. Die Frage erscheint ihr offenbar seltsam.

„Na, kann doch vorkommen? Im Fall, dass ihre Vorgesetzte ihnen mehr auflädt, wie sie schaffen, zum Beispiel?“ „Och nö. Das macht sie nicht.“ Friederike lächelt.

„Ich stelle mir vor, das Patienten hin und wieder nerven. Ist das so?“ „Manchmal schon. Aber die meisten sind nett.“ „Es kommt also vor?“ ... „Ja.“ „Sie zögern mit ihrer Antwort. Wieso?“ „Ich will nicht schlecht über jemanden reden.“ „Das verstehe ich. Gab es in jüngster Vergangenheit Anlass sich zu ärgern?“

Die Krankenschwester schiebt Unterlagen auf dem Tisch von einer zur anderen Seite. Dabei vermeidet sie Augenkontakt. Zweifellos trifft die Frage auf nährreichen Boden. Lena bohrt nach.

„Jemand nervte sie, Friederike?“ „Ja.“, haucht sie bestätigend mit hängendem Kopf. „In jüngster Vergangenheit?“ Einen Moment wartet die Kripobeamtin eine Reaktion ab. Die bleibt aus. „Kürzlich erst?“ Keine Rückmeldung. Lena bringt es auf den Punkt: „War es Thilo van der Leuwen?“

Friederikes Miene hätte die Kriminalistin gerne im Bild festgehalten. Nichts brächte das Wort „Erwischt“ besser zum Ausdruck. Weil sie schweigt, versucht Lena mit Strenge eine Antwort zu erzwingen. „Reden sie. Was passierte zwischen ihnen und dem Patienten van der Leuwen?“

Wie ein in die Enge getriebenes Mäuslein hockt die Krankenschwester auf ihrem Bürostuhl. Sie weiß nicht wohin mit den Händen. Letztendlich versenkt sie diese in den Kitteltaschen und nuschelt: „Er fasste mich an.“

„Nochmal Friederike. Laut und verständlich. Sehen sie mir in die Augen. Was hat er getan?“

Die junge Frau hebt den Kopf, stammelt zögernd: „Er fasste mich an.“ Bemüht hält sie Augenkontakt, flüstert: „Unsittlich.“

„Wie, wann und wo?“ „Hier ...,“, wispert sie und führt eine Hand zur Hüfte, haucht: „... am Popo.“ „Dort berührte er sie?“ „Ja genau.“ „Wann war das?“ „Wenn ich in seinem Zimmer war.“ „Es kam mehr wie einmal vor?“ „Ja.“ „Wie oft?“ „Fast immer, sobald ich zu ihm musste.“ „Um was zu tun?“ „Er hatte Wünsche und klingelte.“

Sie stockt. Lena hilft ihr auf die Sprünge. „Dann gingen sie hin? Um zu fragen, was er möchte?“ „Sicher. Das ist meine Arbeit!“ „Was wollte er zum Beispiel?“ „Er sagte, er sei durstig. Oder behauptete, die Fernbedienung vom TV funktioniere nicht.“ „Verstehe. Wie weiter?“ „Da hab ich es kontrolliert.“ „Okay. Was geschah dann?“ „Wenn ich bei ihm stand, hat er ... über meinen ... Popo ... gestreichelt und komisch geredet.“ „Kapier ich nicht. Was sagte er?“ „Hab ich vergessen!“ „Kommen sie Friederike! Das erinnern sie doch. Raus damit.“

Sie windet sich auf ihrem Stuhl, schaukelt, wispert: „Er sagte, ich sei ein schönes Mädchen.“ „In Ordnung. Was noch?“ „Er wollte wissen, wie mein Französisch sei.“ „Und?“ „Ich antwortete, ich könnte es nicht. Ich hatte nur Englisch. Er lachte und meinte, in der Schwesterntracht fänd er mich unheimlich toll. Ob ich ihm nicht Gesellschaft leiste ... in der Nacht. Dann würde er ....“ Abrupt verstummt sie, starrt zur Wand.

„Weiter Friederike.“ „Ich will nicht.“ „Was wollte er?“ „Es ist aber fies.“ „Mir können sie es ruhig sagen. Was würde er?“ „Mit ... mir ... Doktor spielen.“ Kaum hörbar wispernd, spricht sie dies aus.

„Wiederholen sie das bitte.“ Lena glaubt, nicht richtig zu hören. „Was wollte er?“ „Doktor spielen!“, stammelt die Krankenschwester. Sie verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Lena motiviert sie zum Weitersprechen.

„Er holte seinen ... Piephahn ... aus der Schlafanzughose ... und zeigte ... ihn ... mir!“ „Piephahn?“ Lena muss sich zusammenreißen, um nicht über den Ausdruck zu lachen. „Sie meinen den Penis?“ Keine Antwort. „Friederike? ... Holte er sein Geschlechtsteil hervor?“ „Ja genau.“

„Was weiter?“ „Er redete was Fieses.“ „Ich höre.“ „Ich mag es nicht sagen.“ „Friederike, sie sind eine erwachsene Frau und Krankenschwester. Ich denke, sie sind imstande es auszusprechen. Also bitte.“ „Er sagte, damit gebe ich dir eine Peniszillinspritze vom Feinsten und hat blöd gelacht!“ „Wie verhielten sie sich?“ „Ich bin raus aus dem Zimmer.“

„Friederike, kam es zu mehr?“ „Ich verstehe die Frage nicht?“ „Ich möchte wissen, ob es außer verbalen Belästigungen und Berührungen am Po weitere Übergriffe von Seiten des Herrn van der Leuwen gab? Kam es zu sexuellen Handlungen?“ „Nein!“, antwortet die Krankenschwester entrüstet. „Sind sie sicher?“ „Aber ja!!“

Kirschrot glühende Wangen deuten an, dass sich Friederike unbehaglich fühlt. Am Hals zeigen sich Hektikflecken. Sie weiß nicht, wo sie hinsehen soll, bemüht sich, dem Blick der Kriminalbeamtin zu entfliehen. Lenas Fragen zum Thema Sex belasten die Krankenschwester. Ihr Minenspiel pendelt zwischen Ekel, Scham und kindischer Erheiterung wie bei einem 12-jährigen Schulmädchen.

„Wie alt sind sie Friederike?“ „25.“ „Haben sie einen Freund?“ „Ich?“ „Ja. Haben sie?“ „Nein.“

Ihre Antwort gibt sie zögernd. Darin schwingt ein Unterton, den die Oberkommissarin als Entrüstung interpretiert. „Warum nicht?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ „Wann hatten sie ihren letzten Freund?“ Sie blickt auf den Fußboden, malt mit dem rechten Fuß Kreise, flüstert: „Ich hatte noch keinen.“ „Mögen sie Frauen lieber?“ „Was? Nein! Igitt!“ Friederike zieht ein angewidertes Gesicht.

„Mit wem sprachen sie über die Vorfälle?“ „Mit niemandem!“, behauptet sie in bisher nicht erreichter Lautstärke. „Hatten sie nicht das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden?“ „Nein. Hatte ich nicht! Das müssen sie mir glauben!“

„Abschließend möchte ich ihre Personalien aufnehmen Friederike. Wie lautet ihr Familienname?“

„Kill.“ „Sie heißen wie Oberschwester Ulrike?“ „Ja sicher. Sie ist doch meine Mutti!“

Fassen wir zusammen.

Drei Tage später finden sich Lena und Merle zu einer Besprechung in Ronny Mittlers Krankenzimmer ein. „Fassen wir zusammen, was wir bisher ermittelten, damit wir auf dem gleichen Wissensstand sind. Im Anschluss beratschlagen wir weiteres vorgehen. Lena, beginnst du bitte?“, fragt KHK Mittler.

„Ihr kennt alle Inhalte der Verhöre der MP3 Audiodateien, die ich schickte? Habt ihr sie abgehört?“ „Gewiss! Das rettete meinen Tag! Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie öde es im Krankenhaus ist. Ich bin heilfroh, dass ich bald entlassen werde!“ „Schön, dass ich die Stunden verkürzen konnte, Ronny. Ehrlich gesagt bin ich der Ansicht, du solltest dich erholen und nicht in einem Mordfall ermitteln. Doch was nützt alles reden? Wir kennen dich!“, seufzt Lena.

Der Hauptkommissar flehte förmlich, ihn zu beteiligen. Nicht, weil er ihr oder Merle nicht zutraute, den Fall zu lösen. Sein Antrieb war die Eintönigkeit des Krankenhausalltags. Das machte ihm zu schaffen, denn Mangel an Abwechslung kommt in seinem Alltag zu keiner Zeit vor.

Ronny Mittler beschäftigt sich über Stunden mit Hobbys, ohne das es ihn langweilt. Bedauerlicherweise befinden sich diese geliebten Steckenpferde zu Hause und lassen sich nicht ins Krankenzimmer transportieren. Er denkt an die im Hobbykeller aufgebaute Modelleisenbahnlandschaft. Seit der Kindheit erweitert er die Anlage stetig. Träumt von der Carrerabahn, die den Dachboden schmückt. Vergnügte Stunden verbringt er damit, pendelt je nach Lust und Laune zwischen Keller und Speicher. Beim Spiel findet er Erholung. Versinkt in einer Welt, abseits beruflicher Belastungen. Hier schaltet er ab. Mittler bewahrt das Kind im Manne. Hegt und pflegt den Kleinen.

An ein Zusammenleben mit einer Partnerin verschwendet er keinen Gedanken. Hin und wieder führt er seine Nachbarin Karina Redug aus. Ins Kino oder zum Sonntagsspaziergang mit anschließendem Tee und Kuchen. Ab und zu kommt es zu Intimitäten, was erquicklich ist. Sie weiß, wie er tickt. Von Anfang an spielte er mit offenen Karten. Sagte, er strebe weder Ehe noch Zusammenleben an. Karina akzeptiert es ohne Murren. Mit der Rolle der Freundin ist sie zufrieden. Mehr verlangt sie nicht. Sie ist eine wunderbare Person, die ihn nicht ändern oder für sich vereinnahmen will.

Im Krankenbett hat Mittler Zeit zum Nachdenken. Er kommt zu dem Schluss, dass er in der Klinik zwar gesundet, echte Erholung findet er jedoch nicht. Ausspannen sieht anders aus. Zum Beispiel auf der Terrasse sitzend. Mit einem Glas Rotwein in der Hand dem Sonnenuntergang zuprostend.

Im Krankenhaus ist ihm langweilig. Aus diesem Grund empfand er das Eintreffen der MP3 Audiodateien wie eine Wohltat. Der KHK lag entspannt mit geschlossenen Augen im Bett und lauschte den Verhören.

„Das Gespräch zwischen Lena und Friederike beschäftigt mich. Was ist sie für ein Mensch? Eure Meinung zu ihr, möchte ich hören.“, sagt Mittler.

Kriminalhauptkommissar Ronny Mittler

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