Читать книгу Sinfonie der Lust | Erotischer Roman - Ayana Hunter - Страница 9

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Marc hatte sich das kleine Gartenhaus seines Grundstücks am Griebnitzsee für die Sommermonate hergerichtet. Wenn das Wetter schön war, blieb er wochenlang hier draußen und nahm den weiteren Anfahrtsweg in sein Büro gerne in Kauf. Dafür wurde er mit einem atemberaubenden Blick über das Wasser und dieser idyllischen Abgeschiedenheit im Grünen entschädigt, die ihm so guttat und ihn vom täglichen Arbeitsstress abspannen ließ. Er hatte auch sein Keyboard aufgebaut und übte darauf die Songs für sein Repertoire. Einmal in der Woche zog er sich seinen weißen Smoking an, band sich eine schwarze Fliege um und setzte sich an den Flügel in der Bar des »Al Gusto«, eines Sternerestaurants an der Tauentzienstraße. Die paar Euro, die er sich dabei verdiente, spendete er der Musikschule, denn Geld war nicht der Grund für sein Engagement. Daran mangelte es ihm nicht, er wollte vielmehr seine Musik mit anderen Menschen teilen, den Applaus genießen und nicht nur für sich selbst im stillen Kämmerlein spielen.

Die kleine Küchenzeile nutzte er, um sich, wenn er Lust darauf hatte, eine kleine Mahlzeit zu bereiten. Er liebte deftige Hausmannsgerichte. Heute hatte er sich Leber knusprig gebraten, mit Zwiebelringen und Kartoffelpüree. Ben hatte zwar für heute Abend seinen Besuch angekündigt, aber er wollte erst in einer Stunde kommen und bis dahin wäre er schon verhungert. Sein Freund hatte ihn noch nie hier draußen besucht, denn sie kannten sich seit dem letzten Herbst und er war erst in dieser Woche wieder hier eingezogen. Ben hatte ihm versprochen, das neue Notebook mitzubringen, damit er auch hier draußen online gehen konnte. In dieser Beziehung vertraute er voll und ganz auf Bens Know-how, denn er hatte von diesen Sachen keine große Ahnung. Er glaubte zwar nicht, dass er das Ding sehr oft benutzen würde, aber sein Kumpel hatte gesagt, es müsste sein. Heutzutage wäre man abgeschrieben, wenn man nicht jederzeit die Möglichkeit hatte, ins Internet zu gehen. Ben hatte ihn so lange bequatscht, bis er klein beigegeben hatte, und sein Freund hatte sich sofort angeboten, das beste Teil zu besorgen, das am Markt zu finden war.

Ben erschien viel zu früh. Er klopfte zwei Mal an die Holztür und steckte den Kopf hindurch, über der Schulter trug er eine Tasche, die offenbar das neue Gerät enthielt. »Hey, Alter. Hier riecht es ja lecker!«

»Komm rein«, nickte er ihm zu und machte eine einladende Geste. »Schau dich ruhig um!«

»Ich muss schon sagen, du lebst hier wie die Made im Speck.«

Marc wies mit der Gabel auf den freien Stuhl ihm gegenüber. »Setz dich, mach’s dir bequem, oder …«, er hatte in den Augen seines Kumpels das unstillbare Verlangen nach Leber mit Zwiebeln entdeckt. »Da oben im Schrank sind Teller und im Schubfach ist Besteck. Nimm dir, was du brauchst, ich gebe dir was ab. Ist sowieso viel zu viel für mich.«

Als wäre er hier zu Hause, holte sein verfrühter Gast sich das Geschirr, setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm sich ungefragt das größere Stück von seinem Teller. »Danke, sehr nett von dir. Ich hab’ aber auch einen Kohldampf.« Marc musste schmunzeln. Diese Unverfrorenheit hatte ihm von Anfang an imponiert. Er gab seinem Kumpel dann auch noch die größere Hälfte von seiner Püree-Portion ab und sie genossen das Essen im stillen Einvernehmen.

»Und, was sagst du zu meiner kleinen Sommerresidenz?«

»Na, ist ja ganz schnucklig«, bemerkte Ben kauend. »So ein richtig romantisches Liebesnest. Das ist die reinste Verschwendung bei dir.«

Marc verdrehte genervt die Augen. Wann würde sein Freund endlich damit aufhören, ihn wegen seines eingeschlafenen Sexuallebens aufzuziehen? Er versuchte deshalb schnell, das Thema zu wechseln: »Nun zeig mal her, was du da Schönes aufgetrieben hast.«

»Das Beste zurzeit auf dem Markt.« Ben betete die technischen Parameter runter, die ihn beeindrucken sollten. »Damit kannst du auch locker deine hungrigen CAD-Programme abfackeln oder dir Pornovideos in feinstem HD reinziehen.«

»Hauptsache, ich komme ins Internet«, antwortete Marc, statt auf dessen Bemerkung einzugehen.

»Und wollen wir den gleich ausprobieren?«, dabei hielt sein Freund den Karton mit dem Notebook in die Höhe, den er aus der Umhängetasche zog.

Er antwortete nicht gleich, sondern forderte Ben mit einem Kopfschwenk Richtung Küchenzeile auf: »Mach dich erst mal nützlich und hol uns beiden ein Bier aus der Küche. Ach und bei der Gelegenheit kannst du gleich das Geschirr in die Spüle stellen.«

Nachdem das erledigt war und sie sich mit den Flaschen zugeprostet hatten, hielt Ben nun nichts mehr davon ab, das Gerät auszupacken. Er hatte den Computer zu Hause schon fix und fertig eingerichtet, sodass er sofort einsatzbereit war. Er zeigte ihm alles, was er wissen musste und noch eine ganze Menge mehr. Viele dieser Details hatten Marc gar nicht interessiert, aber er wollte seinem Freund die Freude machen, so zu tun, als sei er ein aufmerksamer Zuhörer. Zwischendurch unterbrach er ihn ab und an mit einem »Prost«, wenn wieder ein Bier geleert und ein neues geöffnet worden war.

»Warte, ich muss dir gleich mal was vorspielen.« Ben startete eine Software für Musikwiedergabe. Ein ohrenbetäubender Lärm erschallte aus den eingebauten Lautsprechern. »Ist das nicht geil? In dem Gerät ist ein super Soundsystem verarbeitet«, überschrie er das Geräusch, das Marc körperliche Schmerzen bereitete. Er verzog gequält das Gesicht: »Ja, schön laut ist es, aber was ist das nur für ein unglaublicher Krach?«

»Psychokill, kennst du das etwa nicht?«

»Nein, mach mal lieber was Humanes an.«

»Banause, und so was behauptet, Ahnung von Musik zu haben«, empörte er sich, regelte die Lautstärke herunter und startete einen Musik-Mix mit radiokompatiblen Monsterhits.

»Ich hab’ das in so einem Musikforum entdeckt«, fügte Ben hinzu.

»Musikforum? Mit Musik hatte das aber nicht viel zu tun.«

»Hey, das ist gerade total angesagt. Aber ich kann dich beruhigen, Metal ist da nur eine Nische. Die Leute tauschen sich über alles Mögliche aus. Jazz und Klassik auch, da gibt’s Musikrichtungen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Ich glaub’, das wäre auch etwas für dich.«

»Na ja, vielleicht schau’ ich mir das bei Gelegenheit mal an.«

»Nein, nein, nicht irgendwann, wir machen sofort Nägel mit Köpfen. Sonst wird das sowieso nichts. Also legen wir dir gleich ein Profil an.«

Marc seufzte. Wenn sein Freund sich so etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht davon abzuhalten.

»Wie wollen wir dich nennen?«, fragte er und hatte bereits ein Registrierungsformular geöffnet.

»Weiß ich doch nicht, wie wär’s mit Marc?«

»Quatsch, du brauchst ’nen anständigen Nick. Ich nenne mich zum Beispiel ›Hammer‹. Da steh’n die Ladys drauf, ich habe sogar auch schon ein persönliches Groupie. Die ist ganz scharf auf mich.«

Marc unterdrückte ein Lachen und grinste ungläubig. Das sah ihm ähnlich. Unter mangelndem Selbstbewusstsein hatte sein Kumpel wohl noch nie zu leiden gehabt. Aus den Lautsprechern ertönte jetzt ein alter Megahit von den Hooters.

»Hey, ich hab’s«, Ben schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Du kennst doch den Song, der da läuft. Wenn ich meinem Englisch nur ein bisschen vertrauen kann, geht’s doch da um so einen Typen wie dich, der seiner alten Schnalle hinterherhängt und nicht von ihr loskommt.«

»Nein, ich denke, das ist nur eine Metapher für seine Drogensucht«, belehrte er seinen Freund.

»Drogensucht? Ha, das passt wie die Faust aufs Auge. Du bist doch immer noch süchtig nach dieser Juliette. Das ist doch deine Droge, von der du nicht loskommst.« In völlig falscher Tonlage grölte er mit: »… her kiss is her poison, forever inside you, wherever you go …«

Marc musste sich eingestehen, dass dieser Text, wenn man ihn wörtlich nahm, tatsächlich zu seiner Situation mit Juliette passte. Ihr Gift war in ihm und er wusste nicht, woher er ein heilendes Antiserum bekommen konnte.

»Also gut, von mir aus, JohnnyB«, mit einem bittersüßen Schmunzeln nickte er seinem Freund zu.

»Na, geht doch.« Wenig später war Marc mit dem Benutzernamen »JohnnyB« in dem Forum registriert.

»So und jetzt zeigst du mir mal dein Groupie«, er wollte jetzt die vollmundige Behauptung auf die Probe stellen.

»Kein Problem, sofort«, Ben loggte den Benutzer »JohnnyB« aus und meldete den User mit dem Spitznamen »Hammer« an. Dann steuerte er einen Forumsbereich an, in dem sich die Benutzer private Nachrichten schreiben konnten.

»Na, siehst du, mein Täubchen hat sofort geantwortet«, grinste er und öffnete eine Nachricht, die er von einer Benutzerin mit dem Namen »Clara« erhalten hatte. Marc schaute ihm über die Schulter und las den Text mit, der auf dem Bildschirm erschienen war.

Plötzlich musste er losprusten, fast hätte er das Bier auf das teure Gerät gespuckt.

»Deine ›Eroberung‹ scheint ja wirklich hingerissen zu sein. Sie will die Forumsleitung einschalten, wenn du ihr noch mal so etwas schreibst.« Er hielt sich vor Lachen den Bauch. »Sie sagt, sie sei glücklich verheiratet und brauche keine Internetbekanntschaften, die ihr anzügliche Angebote machen …«

»Ich sag’s dir, die ist eindeutig untervögelt«, seinem Freund schien die Antwort nicht im Geringsten peinlich zu sein.

»Immerhin, sie hat sogar etwas Mitleid mit dir. Sie rät dir, wenn du deine Gedanken mal in eine andere Richtung lenken würdest, könntest du bestimmt auch mal eine nette Frau finden, die zu dir passt.« Marc war sichtlich amüsiert. »Sag mal, du alter Hengst, was hast du ihr bloß geschrieben?«

»Och, nichts Besonderes, ich hab’ ihr eigentlich nur ein paar Komplimente gemacht …«, noch immer schien er völlig ungerührt zu sein und öffnete für Marc bereitwillig die Nachricht, die er »Clara« zuvor gesendet hatte.

»Alter Schwede, da ziehst du aber vom Leder. Ich wusste gar nicht, dass du so fantasievoll sein kannst. Du willst ihr die Flötentöne beibringen, bis ihr Hören und Sehen vergeht, du willst mit Pauken und Trompeten ihre Lust zum Vibrieren bringen, bis sie nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist?«

»Ja, ich bin ein Künstler, wusstest du das nicht?«

»Doch, mit Sicherheit. Besonders die Formulierung, du seist der Hammer, der aus ihr die Geilheit herausrammeln würde, bis sie ›Halleluja‹ kreischt, zeugt von deinem zartfühlenden Frauenverständnis.«

»Na, sie weiß nur nicht, was ihr fehlt«, bemerkte er trocken. »Aber vielleicht hast du ja mehr Glück bei ihr.«

»Mit Sicherheit werde ich unbekannten Damen keine anzüglichen Nachrichten schreiben«, Marc war immer noch verblüfft über die Unverfrorenheit, mit der dieser Typ einer Wildfremden so eindeutige Botschaften geschrieben hatte. Das hätte er sich doch selbst zusammenreimen können, dass das nie funktionieren würde.

»Na ja, dann plauderst du halt mit ihr über Schopeng oder wie der Klimperheini heißt. Von mir aus kannst du sie haben. Die ist mir eh zu prüde«, er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»So, ich muss dann mal. Es ist spät geworden«, bemerkte Ben mit einem Blick auf die Uhr. »Gehen wir mal wieder Billard spielen?«

»Weiß ich noch nicht. Demnächst sieht es echt schlecht aus. Ich muss noch den Garten in Schuss bringen.«

»Egal, komm, hab’ dich nicht so. Du musst hier wirklich mal raus. Es geht doch nur darum, dass du öfter unter Leute kommst.«

»Ich habe genug soziale Kontakte, das kannst du mir glauben. Aber ich überleg’ es mir. Hab’ ja noch eine Rechnung mit dir offen.«

»Mach das. Also dann, adios alter Bursche!«, Ben beugte sich für eine Umarmung zu seinem Freund herunter und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ja, bis demnächst.« Er wandte sich in Richtung Schiebetür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um und grinste ihn an: »Wie lange lebst du eigentlich jetzt schon vom Handbetrieb?« Auf Marcs Gesicht erschien ein Fragezeichen.

»Spinner!«, meinte er nur, aber sein Freund war schon durch die Ausgangstür in der Dunkelheit verschwunden.

***

Es war wieder ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Aber so langsam schien etwas Ruhe einzukehren. Die Unterlagen, Modelle und Kalkulationen für die Ausschreibung waren so gut wie fertig und der Abgabetermin würde gehalten werden können. Beim Projekt Erlebnishotel hatte er nach langen Verhandlungen bei der Baufirma erreicht, dass man den unfähigen Bauleiter austauschte und seitdem ging es da auch gut voran, ohne dass sich die beteiligten Firmen gegenseitig die Schuld für auftauchende Hindernisse und die damit verbundenen Verzögerungen in die Schuhe schoben. Und zu guter Letzt hatte sich auch die Geschichte mit dem Atelier zu seiner vollen Zufriedenheit geregelt.

Als er gestern Abend im »Al Gusto« seine Vorstellung gegeben hatte, war plötzlich Dorothee Melzer an dem kleinen Beistelltisch neben dem Piano erschienen, hatte sich auf einen mitgebrachten Stuhl platziert und ihn verträumt angesehen wie einst Ingrid Bergman den Barpianisten in »Casablanca«. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass sie ihn bitten würde, noch einmal »As Time Goes By« zu spielen. Stattdessen überraschte sie ihn mit dem Satz:

»Gut, Marc, ich will mal nicht so sein und dir deinen Übergriff von neulich nicht zu sehr übel nehmen.«

Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Beinahe hatte er sich vor Schreck verspielt. Aber offenbar versuchte sie aus der Situation herauszukommen, indem sie den Spieß umdrehte. Doch er dachte nicht daran, sich den schwarzen Peter zuschieben zu lassen:

»Frau Melzer, wovon reden Sie? Es gab lediglich einen Besichtigungstermin, bei dem ich Ihnen versicherte, dass der Bauplan Ihren Wünschen voll gerecht werde. Es wäre besser für uns beide, wenn wir uns in dieser Art an dieses Treffen zurückerinnern würden.« Marc hatte es vorgezogen, in einen geschäftsmäßigen Ton zu wechseln, aber ihr auch die Möglichkeit zu geben, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen. Sie hatte dann einen Schmollmund gezogen, ihre Handtasche genommen, sich neben ihn gestellt. Dann hatte sie sich zu ihm herabgebeugt, sodass sich ihre Wangen berührten und ihm ins Ohr gehaucht:

»Ach, komm schon, Marc, du hast es doch genossen, du Hengst. Wenn dein blödes Telefon nicht geklingelt hätte, dann hättest du mich dort oben garantiert sexuell belästigt und nach Strich und Faden durchgevögelt.« Ihre Stimme verriet ihm, wie enttäuscht sie immer noch über die entgangene »Belästigung« war.

»Dorothee, wir sollten das wirklich auf sich beruhen lassen und wieder einen professionellen Umgang miteinander pflegen.«

»Sehr, sehr schade«, sie bemühte sich offenbar, gleichgültig zu klingen. »Falls du es dir anders überlegst«, sie wandte sich zum Gehen. »Ich habe ein Separee gebucht. Vielleicht besuchst du mich mal in deiner Spielpause.« Dann war sie mit schnellen, entschlossenen Schritten davongetrippelt.

Es war ihm an diesem Abend dann aber gelungen, seinen kleinen Freund in der Hose, der drauf und dran war, eine Dummheit zu begehen, in die Schranken zu weisen und dieser Einladung nicht zu folgen. Offenbar war das die richtige Entscheidung gewesen, denn am heutigen Nachmittag kamen trotzdem alle Unterlagen von der Kundin unterschrieben und bewilligt im Büro an. Der Bau konnte endlich beginnen.

Als Marc an diesem Abend in seine Sommerbehausung am See kam, setzte er sich sofort an sein Keyboard. Obwohl sich beruflich alles geordnet hatte, spukte in seinem Hinterkopf immer noch die missglückte Verbindungsaufnahme durch Juliette herum. Er hatte noch zwei-, dreimal versucht, zurückzurufen, aber erfolglos. Was wollte sie wieder von ihm? Würde es eine neue Runde in ihrer eigenartigen Beziehung geben? Er wollte diesen lästigen Gedanken vertreiben und begann zu spielen.

Die Klaviermusik war schon immer seine große Liebe gewesen. Er hatte sich vor ein paar Jahren ein teures Keyboard für sein Sommerdomizil gekauft, auf dem er fast ausschließlich die Piano-Funktion nutzte. Immer wenn er das Verlangen hatte, seinen Kopf freizubekommen, setzte er sich an das Instrument und spielte eine Sonate, einen Blues oder einen Ragtime. Manchmal improvisierte er auch einfach und hin und wieder entstand daraus sogar eine neue Nummer für das »Al Gusto«. Doch darum ging es ihm in diesen Momenten gar nicht vordergründig.

Heute spielten seine Finger wie von selbst die Anfangsakkorde einer einfachen, aber sehr zu Herzen gehenden Melodie. »Die Träumerei« von Robert Schumann war genau das Stück Musik, das ihn in diesem Augenblick auf den Boden zurückholte. Schumann hatte dieses Stück damals seiner Frau Clara gewidmet, die selbst eine sehr talentierte Musikerin gewesen war, aber sich ihrem Mann zuliebe mit der Rolle der Ehefrau beschieden hatte. So waren die Zeiten damals, es gab keine Alternative. Clara! Da war doch was. Er hatte Ben versprochen, sich in diesem Forum umzuschauen. Ein bisschen neugierig war er ja doch. Nachdem der Schlussakkord verhallt war, begab er sich zu seinem Schreibtisch und startete seinen neuen Computer.

Marc rief das Diskussions-Board »Opus« mit dem blauen Noten-Hintergrund auf, das ihm Ben am Tag zuvor gezeigt hatte. Er setzte ein Lesezeichen auf die Seite und klickte in das Feld mit der Bezeichnung Username. Seine Finger legten sich auf die Tastatur und tippten das Wort »JohnnyB«. Dann wählte er das Passwort-Feld und gab die achtstellige Zeichenfolge ein.

Zunächst war das Ganze etwas unübersichtlich für ihn, aber schon bald fand er sich zurecht und stöberte durch alle Bereiche und Rubriken, schrieb selbst Kommentare und beteiligte sich an Diskussionen zu allen möglichen Themen. Er war voll in seinem Element, »Opus« könnte für ihn tatsächlich eine interessante Freizeitbeschäftigung werden. Auf diese »Clara« traf er dabei ganz von selbst, ohne gezielt suchen zu müssen. Diese Benutzerin, deren Hauptinteresse der Klaviermusik galt, fiel ihm sofort durch intelligente Beiträge auf, die sprachlich wie inhaltlich sehr gedankenscharf waren und fast immer seinen Nerv trafen.

Ein Thema in der Rubrik »Musik allgemein« stand unter dem provozierenden Titel: »Klassik ist langweilig!« Marc las einige Beiträge und verfolgte ein wenig amüsiert, wie sich Klassik-Gegner und -Befürworter in den Haaren lagen, manchmal ging das für seinen Geschmack ein wenig unter die Gürtellinie. Und mittendrin die Meinung von Clara, die ihre Liebe zu dieser Art von Musik deutlich machte, ohne dass sie diese Arroganz zeigte, die manchen Klassik-Fans anhaftete, weil sie glaubten, sie hörten die wertvollere Musik. Clara wagte es sogar, diese Meinungen zu kritisieren, obwohl sie eigentlich Pro-Klassik postete und dem Initiator des Threads auch gehörig die Meinung geigte. Marc fühlte sich gemüßigt, auch einen Beitrag zu schreiben. Er versuchte die Streitereien auszugleichen und führte ins Feld, dass jede Art von Musik ihre Reize habe und dass es ziemlich überflüssig wäre, auf diese Art aufeinander herumzuhacken.

Dann entdeckte er den Thread über die neue CD der Metal-Band »Psychokill«, in dem der Benutzer »Hammer« schrieb: »Jeder Mann, der Eier hat, wird diese Scheibe lieben.« Ihm fiel wieder der Lärm ein, den Ben gestern angeschleppt hatte. Das ging gar nicht! Aber sofort ermahnte er sich, an seinen eigenen Beitrag von eben zu denken. Jeder soll das hören, was ihm gefällt, es macht keinen Sinn, seinen eigenen Musikgeschmack über den anderer zu stellen. Clara hatte als Reaktion auf Bens Äußerung mit einem frechen Post geantwortet: »Kann ich das auch gut finden, wenn ich eine Frau bin, die Hirn hat?« Darauf die Antwort von Ben: »Frauen und Hirn …?«, dazu ein Smiley, der versucht, sich den Kopf an einer Wand einzuschlagen. Er konnte nicht begreifen, dass Ben offenbar glaubte, mit dieser Masche eine Frau wie Clara zu beeindrucken.

Marc registrierte plötzlich, dass sich das Briefsymbol in der oberen rechten Ecke von blassgelb auf rot umgefärbt hatte. Er klickte darauf und las:

Sie haben 1 neue persönliche Nachricht(en)

Clara: Willkommen JohnnyB!

Das würde Ben gefallen, er war kaum eine Stunde online und schon hatte er eine private Nachricht von dieser geheimnisvollen Fremden, die es seinem Kumpel augenscheinlich so angetan hatte, in seinem Postkasten. Neugierig klickte er auf den Link:

27.05. 20:02

Betr.: Willkommen JohnnyB!

Hallo,

ich begrüße dich bei uns im »Opus«, JohnnyB. Du hast dich mit deiner Äußerung ja gleich sehr »beliebt« gemacht ;-)! Aber du sprichst mir voll aus dem Herzen!

Liebe Grüße und viel Spaß noch bei uns

Clara

Er betätigte den Button »Antworten« und schrieb:

Liebe Clara,

herzlichen Dank für deine nette Begrüßung. Ein Freund hat mir von diesem Forum erzählt, aber der ist auch ziemlich leicht begeisterungsfähig ;). Eigentlich wollte ich nur aus Neugier einmal kurz reinschauen, um mich zu vergewissern, dass ich bisher nichts verpasst habe. Doch nun muss ich feststellen, dass ich mich hier sehr gut aufgehoben fühle. Nicht nur, dass es eine Menge Informationen gibt, die man woanders nur schwer bekommt, nein, es tummeln sich hier auch sehr kompetente Musikliebhaber und nette Menschen. Das trifft übrigens ganz besonders auf dich zu. Deshalb komme ich sehr gern wieder mal vorbei.

Liebe Grüße

JohnnyB

Marc drückte auf den »Absenden«-Knopf, ohne lange darüber nachzudenken, ob sein Kompliment vielleicht nicht gleich zu persönlich war. Ben hatte recht. Diese Benutzerin war etwas ganz Besonderes. Das spürte er bei jeder Zeile, die sie schrieb, bei jedem Gedanken, den sie formulierte. Warum sollte er ihr das nicht mitteilen? Im echten Leben würde er selten schon beim ersten Kontakt so ungezwungen seine Sympathie äußern. Da würde er so etwas als widerliches Geschleime ablehnen. Aber im Internet galten andere Regeln. Wenn es peinlich wurde, konnte man verschwinden oder sich einfach ignorieren. Das ging im realen Leben leider nicht so leicht. Oder zum Glück? Schon war er gedanklich wieder bei Juliette, die dieses Verschwinden auch im realen Leben praktizierte.

Doch als er erneut in sein Postfach schaute, verschwanden diese Gedanken. Er hatte eine neue Nachricht von Clara erhalten. Diese bestand lediglich aus einem Zwinkersmiley. Marc kam es so vor, als würde ihm diese winzige Pixelgrafik verschwörerisch zublinzeln. Sein Herz machte einen Hüpfer, aber er musste sogleich über diesen absurden Gedanken lächeln und wegen seiner überschwänglichen Freude den Kopf schütteln. Wie konnte er sich mit so wenigen Informationen über sie so sehr verleiten lassen. Er klappte den Rechner zu und beschloss, noch mal runter ans Wasser zu gehen, um die wundervolle Abendstimmung der realen Natur zu genießen.

Zwei Stunden später war er wieder zurück und seine Finger juckten, den Rechner doch noch mal einzuschalten. Clara war noch online. Ohne lange darüber nachzudenken, schickte er ihr einen Smiley mit einer kleinen Rose und – um das etwas abzumildern – einem erneuten Zwinkersmiley.

Clara antwortete prompt, sie bedankte sich artig und lenkte das Gespräch auf den »Anti-Klassik-Thread«. Es gingen ein paar weitere Nachrichten hin und her, und als Marc am späten Abend im Bett lag, erfüllte ihn eine eigenartige Freude. Was machte dieses Internet mit ihm? War er dabei, den Bezug zur Realität zu verlieren?

Am darauffolgenden Tag ertappte er sich dabei, dass er im Büro immer wieder mit dem Gedanken spielte, auf seinem Dienstrechner das Forum zu besuchen, um nach Clara zu schauen. Aber er blieb streng zu sich selbst, als Chef musste er Vorbild sein: Privates hatte in der Arbeitszeit zu Hause zu bleiben. Das verlangte er von seinen Mitarbeitern und deshalb musste er an sich selbst dieselben Maßstäbe stellen.

Aber als er am Abend nach Hause kam, führte ihn sein erster Weg wieder an den neuen Computer. Clara war erneut online. Hatte sie vielleicht bereits auf ihn gewartet? Kaum dass er sich eingeloggt hatte, erhielt er eine Nachricht von ihr:

28.05. 19:05

Betr.: Hallo JohnnyB

Da bist du ja endlich ;-)

Clara

Schon wieder machte sich diese irrationale Freude breit. Er musste das Gefühl einfach in den Griff kriegen. Trotzdem schrieb er ihr eine überschwängliche Nachricht:

28.05. 19:25

Betr.: Ein Kompliment

Es ist schon verrückt, ich kenne dich gar nicht, aber wenn ich deine Beiträge lese, fühle ich, dass ich in dir eine verwandte Seele gefunden habe.

Unser Musikgeschmack liegt so ziemlich auf der gleichen Welle. Du liebst klassische Klaviermusik, leichten Jazz und du verschmähst auch nicht gut gemachte Popmusik. Wenn du zu bestimmten Themen etwas schreibst, hat das immer Hand und Fuß und oft ist es sogar so, dass du genau das sagst, was ich denke.

Deine Meinung in dem unmöglichen Anti-Klassik-Thread zum Beispiel oder deine Empfehlungen für vergessene Klavierstücke (denen ich auf jeden Fall nachgehe) oder wie du in dem Metal-Thread diesem »Hammer« Paroli geboten hast … Ich freue mich sehr darauf, mit dir meine Gedanken auszutauschen. Deinen Beitrag in dem Thread »Hatte Robert Schumanns Frau was mit dem jungen Brahms?« fand ich sehr interessant. Ich sehe das wie du, es war sicher nur eine platonische Liebe und in einer anderen Zeit hätte Clara Schumann möglicherweise tatsächlich etwas mit ihm angefangen. Ist meine Vermutung richtig, dass dein Spitzname von ihr stammt? Oder heißt du im wahren Leben auch so? Man merkt aber, du hast eine große Hochachtung vor dieser Frau, die es mit ihrem extravaganten Gatten nicht immer einfach hatte.

So, jetzt werde ich aber noch ein wenig stöbern. Ich freue mich auf deine Antwort.

JohnnyB

Hatte er jetzt vielleicht ein wenig übertrieben? Er vertrieb aber diesen Gedanken schnell wieder und beschloss, sich erst einmal von der Fixierung auf Clara zu lösen. Er schaute sich noch ein wenig in dem Bereich des Forums um, der mit »Ich spiele selbst« überschrieben war. Er antwortete einem Anfänger des Klavierspiels auf simple Fragen zur Spieltechnik. Im wahren Leben hätte er sich nie dazu berufen gefühlt, anderen etwas von seiner Erfahrung mitzuteilen. Als Lehrer war er eigentlich nicht geeignet. Aber hier war das etwas anderes.

Eine neue Nachricht befand sich in seinem Postkasten. Aufgeregt klickte er auf die Antwort:

29.05. 20:42

Betr.: Re: Ein Kompliment

Lieber JohnnyB,

ich habe mich über deine lange Nachricht sehr gefreut und musste bei der Erwähnung des Users »Hammer« richtig schmunzeln. Leider habe ich von dir noch nicht so viel lesen können, aber du scheinst recht zu haben, wir haben offensichtlich wirklich einen ähnlichen Musikgeschmack. Es ist schön, wenn man im Forum auf Gleichgesinnte trifft. Zumal ich momentan kaum jemanden kenne, mit dem ich mich privat über Musik austauschen kann. Du willst wissen, ob mein Name Clara ist? Na, mehr oder weniger schon ;-). Vielleicht löst du das Geheimnis ja irgendwann einmal … Clara Schumann ist mein größtes Vorbild, ich hätte sie gerne persönlich gekannt, und wenn man ihr Leben mit meinem vergleicht, so gibt es wirklich gewisse Parallelen. Aber reden wir nicht davon, das macht mich nur unnötig traurig. Sprechen wir von etwas Unterhaltsameren: »Hammer« ist schon ein wahrer Prachtkerl von Macho. So etwas hatten wir, soweit ich mich zurückerinnern kann, noch nie im Forum. Wenn du wüsstest, was er mir schon für anzügliche Nachrichten geschickt hat … Eigentlich hätte ich ihn einfach der Forumsleitung melden sollen. Andererseits finde ich seine direkte Art, die Dinge anzugehen, sogar auf eine gewisse Weise interessant. Es macht Spaß, sich mit ihm Schlagabtausche zu liefern. Dadurch wird mein eintöniges Leben irgendwie etwas bunter. Aber mal ganz im Ernst, ich glaube, wenn man »Hammer« im wahren Leben begegnet, würde er wohl schnell auf ein ziemlich normales Maß zusammenschrumpfen. Wahrscheinlich ist er ein kleines, verbittertes Männlein, das keine Frau abbekommen hat ;-). So, es klingelt, ich muss arbeiten. Vielleicht bis später?

Höchst erfreute Grüße von

Clara

Marc musste lauthals auflachen, als er Claras Theorie über Ben las. Sollte er sie darüber aufklären, dass er »Hammer« alias Ben ziemlich gut kannte? Und was er für ein Baum von einem Mann war, der sich im Forum genau so präsentierte, wie er wirklich war? Nein, es war wohl besser, wenn sie ihn nicht mit ihm in Verbindung brachte. Außerdem wollte er, dass ihre Aufmerksamkeit künftig ganz allein ihm gehörte. Er wollte für sie im besten Licht erscheinen. Da konnte er sich einen groben Klotz wie Ben nicht leisten.

Er schrieb Clara noch ein weiteres Mal zurück, äußerte sein Unverständnis in Bezug auf »Hammer« und bestärkte sie in ihrer Meinung. Dann leitete er wieder zu musikalischen Themen über. Er hatte in ihrem Profil gelesen, dass sie ebenfalls Klavier spielte, und erkundigte sich nach näheren Einzelheiten. Aber sie hatte angekündigt, dass sie arbeiten müsse. Es war spät am Abend. Was konnte sie da arbeiten? Er rechnete eigentlich nicht mehr mit einer Antwort, aber gerade in dem Moment, als er seinen ersten Ausflug in das Forum »Opus« beenden wollte, färbte sich das E-Mail-Symbol wieder rot.

Freudig erregt öffnete er die neue Nachricht. Sie berichtete von ihrer Tätigkeit als Klavierlehrerin und erzählte ihm offenherzig von ihrer gescheiterten Pianistinnen-Karriere. Offenbar schmerzte sie der Gedanke daran noch immer. Clara fragte ihn dann noch nach der großen Miles-Davis-Tribute-Show, die in Kürze in der Max-Schmeling-Halle stattfinden sollte. Sie wollte von ihm wissen, ob er Genaueres über das Programm wüsste und welche Künstler daran beteiligt sein würden. Was sollte er dazu schreiben? Seit seinem Absturz vom Felsen hatte er sich nicht mehr um die Konzertszene gekümmert. Clara hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Diese Show hatte es schon im vorigen Jahr gegeben. Die Konzertkarten, die er damals für Juliette und sich gekauft hatte, hingen aber immer noch am Kühlschrank. Sie waren verfallen, ohne dass einer von ihnen anwesend gewesen war. Eigentlich hätte das ein toller Abend werden sollen, aber wieder einmal hatte sie ihn kurzfristig versetzt. Er hatte dann auch keine Lust gehabt, allein dort hinzugehen, zumal das eigentlich mehr ihre, als seine Musik war. Nein, auf absehbare Zeit war das Thema für ihn tabu. Er antwortete ihr in knappen Worten, dass er ihr da leider nicht helfen könne.

Es war spät geworden. Er fuhr den Rechner herunter und begab sich in sein Bett. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. War er zu schroff zu ihr gewesen? Vielleicht hatte er Clara durch seine kurz angebundene Antwort verärgert? Die Unterhaltungen mit ihr könnten für ihn eine willkommene Ablenkung sein. Vielleicht konnte er seine hoffnungslose Liebe zu Juliette dadurch vergessen? Marc war neugierig, was für eine Person sich hinter dieser Clara verbarg. Er rätselte immer noch, was sie damit meinte, dass ihr Forumsname mehr oder weniger auch mit ihrem richtigen übereinstimmte. Er war der Lösung aber keinen Schritt näher gekommen. Würde sie noch mehr von sich preisgeben? Oder war diese Chance bereits vertan? Nein, vielleicht konnte er das noch korrigieren. Er schwang sich nochmals auf, begab sich zu seinem Schreibtisch und schaltete das Notebook ein.

***

Lara hatte gerade den Geschirrspüler ausgeräumt und noch eine Maschine Wäsche angestellt, bevor sie entschied, dass es für heute genug war. Als sie die Rollos herunterließ, war es draußen schon stockdunkel. Ein Gefühl der Einsamkeit breitete sich in ihr aus. Im erleuchteten Fenster des Hauses gegenüber erblickte sie die frisch eingezogenen Nachbarn, ein junges Paar, das sich innig umarmte. Sie seufzte tief. Michael hatte sich kurz gemeldet, das Projekt würde optimal anlaufen, berichtete er und es ginge ihm gut. Sie kam kaum dazu, etwas zu fragen, da hatte er schon wieder aufgelegt. Vanessa hatte auch keine Zeit für ein Treffen gehabt, weil sie ein weiteres Mal irgendein Date mit einem Typen hatte. Überhaupt sprach Vanessa in letzter Zeit eigentlich kaum noch über ihre Eroberungen. Früher hatte sie ihre Sexpartner wie Unterwäsche gewechselt und ihr über alles haarklein Bericht erstattet. Ob sie sich vielleicht jetzt doch mal verknallt hatte und es sich nicht eingestehen wollte? Manchmal war ihre Freundin für sie ein einziges Rätsel.

Nicht einmal das Klavierspiel hatte sie von den trüben Gedanken ablenken können. Gefrustet hatte sie deshalb eine Flasche Wein geöffnet und sich ein weiteres Mal bei »Opus« umgesehen. Das wievielte Mal am heutigen Tag? Das schien im Moment das Einzige zu sein, was ihre Stimmung aufhellen konnte. Aber heute war es eine Enttäuschung gewesen. Ein ums andere Mal hatte sie sich eingeloggt, nur um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Fast hatte sie beim Warten auf das, was dann doch nicht eintrat, völlig die Zeit vergessen, aber dann war noch der lästige Haushalt zu erledigen gewesen. Nachdem sie das Licht in der Küche gelöscht hatte, ging sie ins Bad. Vielleicht sollte sie einfach zu Bett gehen, um dieses leere Gefühl für heute mit einer Portion Schlaf und einem ihrer heißen Träume zu verdrängen. Oder sollte sie doch noch mal für ein paar Minuten ins Forum gehen, um …

»Ja, um was zu tun, Lara?«, fragte sie sich selbst und schaute in den Spiegel. Um nachzusehen, ob dieser JohnnyB vielleicht doch noch zurückgeschrieben hatte? Ihr Herz klopfte etwas schneller und ihre Wangen färbten sich rosa. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hielt sich die Haare über den Kopf und machte einen Kussmund. »Ja, genau so ist es doch, oder Lara? Du findest ihn interessant.« Er hat dich schon zu unvernünftigen Gedanken verleitet, obwohl du ihn erst seit gestern kennst. Kann man das überhaupt als »Kennen« bezeichnen? Und der Traum letzte Nacht, war das vielleicht ein Omen gewesen? Hatte der Typ da nicht geheißen wie er? »Johnny«, flüsterte sie probehalber. Verdammt, er könnte ihr wirklich gefährlich werden. Die Aussage, dass er das Forum in erster Linie wegen ihr wieder besuchen wolle, hatte ihr Selbstbewusstsein gepusht. Wie er wohl aussah? Ob seine Stimme so klang, wie sie es sich ausmalte? Oh je, vermutlich war sie total bescheuert! Oder einfach nur beschwipst. Was redete sie sich da bloß ein? War sie wirklich so hungrig nach Komplimenten und männlichem Zuspruch, dass sie sich von einer unbekannten Person, die bisher für sie lediglich aus ein paar geschriebenen Sätzen bestand, so angezogen fühlte?

Der Rechner war noch an. Sollte sie doch einen weiteren Blick riskieren? Vielleicht war er ja auch weiterhin im Forum unterwegs, sehnsüchtig ausharrend auf der Suche nach ihr? Sie nahm den Laptop mit ins Bett. Er war nicht online. Aber er hatte ihr gestern diese kurze Nachricht hinterlassen. Über seine knappen bedauernden Worte war sie sehr enttäuscht gewesen. Sie hatte sich so auf eine persönlichere Nachricht von ihm gefreut. Sollte sie das jetzt auf sich beruhen lassen? War sie ihm womöglich schon zu nahe getreten? Nein, das konnte sie nicht glauben. Eine Nachricht wollte sie ihm noch zukommen lassen, wenn er darauf nicht antwortete, egal. Es war den Versuch wert. Sie fing an zu tippen:

29.05. 22:56

Betr.: Wo bist du?

Hallo JohnnyB,

ich vermisse dich, schade, dass du nicht da bist. Ich hatte mich eigentlich auf eine lange Antwort gefreut, aber gestern kam nur diese kurze Nachricht. Und heute habe ich dich noch gar nicht entdeckt. Vielleicht hattest du ja keine Zeit, mir ausführlicher zu schreiben. Ich hätte mich sehr gefreut, mehr von dir zu lesen.

Ich fühle mich schrecklich einsam. Die Hoffnung, mit dir ein paar Worte zu wechseln, treibt mich immer wieder ins Forum zurück. Leider vergeblich. Ich weiß, dass wir bislang nur über Musik gesprochen haben, aber irgendwie brauche ich auch mal jemanden, dem ich mein Herz ausschütten kann. Natürlich habe ich auch eine Freundin, mit der ich darüber rede, aber es ist etwas anderes, mit einem Fremden zu reden, der nicht voreingenommen ist. Oh je, ich will dich nicht damit belasten, vermutlich hast du selbst genug Probleme.

Aber egal, also es geht um Folgendes: Mein Mann ist vor ein paar Tagen für knapp zwei Monate geschäftlich verreist, aber statt mich darüber zu ärgern, bin ich irgendwie erleichtert. Nun ja, es läuft gerade nicht so gut zwischen uns. Obwohl ich die Freiheit ohne ihn genießen wollte, fühle ich mich jetzt aber total leer und einsam. Das Verrückte ist jedoch, nicht ihn vermisse ich, sondern … Ich weiß es nicht! Nicht einmal mein Klavier kann mich trösten. Vielleicht sollte ich besser ins Bett gehen, in meinem Kopf dreht sich alles.

Einen lieben Gruß von

Clara

***

Marc hatte den Rechner endlich hochgefahren. Es war spät geworden, ganz überraschend hatte er heute einen von auswärts gekommenen wichtigen Kunden belustigen müssen. Dabei konnte er sich gar nicht auf den Small Talk konzentrieren, er dachte ständig darüber nach, ob Clara ihm wohl geschrieben hatte. Und jetzt war er endlich wieder zu Hause – und tatsächlich: Eine neue Nachricht war in seinem Postkasten. Clara hatte ihm seine unpersönliche E-Mail nicht übel genommen. Stattdessen war sie ihm sogar einen Schritt entgegengekommen. Sie wollte mit ihm über Privates reden. Eine Chance, ihr näherzukommen, die er jetzt nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Er schrieb:

29.05. 23:27

Betr.: Bitte geh noch nicht ins Bett

Liebe Clara,

ich rede dich so an, weil ich das Gefühl habe, dich schon ewig zu kennen. Die Art, wie du deine Gedanken zum Ausdruck bringst, vermittelt mir ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe. Auch wenn wir bisher nicht über persönliche Dinge geredet haben, so spüre ich doch deine eindrucksvolle Persönlichkeit in jedem einzelnen Wort, das du schreibst, und ich merke, dass es höchste Zeit für uns zwei ist, dass wir mehr teilen als nur die von uns beiden gleichermaßen über alles geliebte Musik.

Du hast mich nach diesem Konzert gefragt und ich hab’ dir nur sehr dürftig geantwortet. Konzertbesuche sind für mich aktuell kein Thema. Das hat aber nichts damit zu tun, dass es mich nicht interessieren würde. Bitte verstehe, dass ich dir die Gründe dafür heute noch nicht ausführlich erklären kann.

Das Gefühl, dass man nach etwas sucht, von dem man nicht weiß, was es eigentlich ist, kenne ich nur zu gut. Vielleicht erzählst du mir noch ein bisschen mehr darüber. Ich fühle mich dadurch auch überhaupt nicht belästigt, im Gegenteil. Nur zu! Ich bin ein guter Zuhörer ;-).

Liebe Grüße, bis gleich?

JohnnyB

29.05. 23:44

Betr.: Re: Bitte geh noch nicht ins Bett

Lieber Johnny,

ich darf dich doch so nennen, oder? JohnnyB ist so unpersönlich, aber wenn ich dir damit zu nah trete, dann sag es bitte. Wenn ich richtig tippe, dann habe ich das Rätsel deines Nicks bereits gelöst. Hooters, richtig? Es ist dieses Lied »Johnny B«, oder? Bedeutet dir der Name oder der Songtext etwas oder ist dir einfach nichts Besseres eingefallen? Wie gesagt, es ist eine Vermutung, vielleicht liege ich ja richtig und du erklärst mir den tieferen Sinn, wenn es denn einen gibt. Soviel dazu, danke für dein Angebot, dir mein Herz ausschütten zu dürfen. Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Aber möglicherweise sollte ich dich nicht mit meinen Problemen behelligen … Allerdings befinde ich mich zurzeit in einer Situation, die mich emotional überfordert und du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Nein, du bist der Einzige, mit dem ich das möchte, denn bei dir fühle ich mich zum ersten Mal seit Langem ernst genommen und verstanden. Ich bin so schrecklich einsam, und damit meine ich nicht nur, dass ich allein bin. So richtig kann ich das nicht erklären. Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, und manchmal frage ich mich, ob das Ganze noch einen Sinn hat. Die Kluft zwischen meinem Mann und mir scheint unüberwindbar. Er zieht sein Ding durch und ich habe das Gefühl, dabei auf der Strecke zu bleiben. Wenn ich etwas älter wäre, dann würde ich sagen, ich befinde mich auf dem direkten Weg in eine Midlife-Crisis oder ich stecke schon mittendrin. Ist so etwas überhaupt altersabhängig? Manchmal denke ich, ich verpasse etwas, in jeglicher Hinsicht. Also in jeglicher … Du weißt schon, was ich damit meine, oder? Und zwar das ganze Leben mit seinen spannenden und aufregenden Facetten. Es ist das Gefühl, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein und nicht ausbrechen zu können … Vermutlich bin ich undankbar, denn er ermöglicht mir ein sorgenfreies Leben und wünscht sich eine Familie mit mir als liebevoller Hausfrau, Kindern, Hund, Garten und allem Drum und Dran. Aber mir reicht das alles nicht, ich fühle mich eingeengt. Ich will mich beruflich weiterentwickeln, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass ich jemanden vernachlässige. Mein Mann ist ja, wie ich bereits schrieb, momentan für mindestens zwei Monate im Zuge eines Auslandseinsatzes unterwegs. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich könnte die Zeit besser verbringen, als nur auf seine Rückkehr zu warten. Was meinst du?

Warte sehnsüchtig auf eine Nachricht von dir.

Deine Clara

Marc starrte ungläubig auf den Bildschirm. Was hatte er getan, dass diese Fremde ihm so vertrauensvoll das Herz ausschüttete? Er horchte in sich hinein. Es schmeichelte ihm, dass er nur durch die Art und Weise, wie er schrieb, für diese Frau ein Vertrauenspartner geworden war. Und wie hatte er diese Andeutungen zu verstehen? War sie auf ein Abenteuer mit ihm, einem Wildfremden, aus? Er schaute in sich hinein. Vor ein paar Tagen, die Sache mit Dorothee Melzer, das war doch eine selten günstige Gelegenheit gewesen, mal wieder zu vögeln. Sie war vielleicht nicht unbedingt sein Traum von einer Frau gewesen, aber zumindest war sie doch anziehend genug, um ein wenig Spaß zu haben. Aber seine Libido war offenbar komplett eingetrocknet, abgesehen von den immer wieder auftauchenden feuchten Träumen, in denen ihm Juliette erschien. Wenn sie ihn reizte und aufgeilte, ohne dass es ihm jemals gelang, zur Erfüllung zu kommen, denn immer wenn er glaubte, sie endlich bei sich zu haben, verschwand sie wie eine Fata Morgana. Marc fragte sich, wie die Person, die hinter dieser Clara steckte, wohl aussehen mochte. Er stellte sich das Bild von Clara Schumann als junge, hübsche, dunkelhaarige Frau vor, so wie sie auf dem einstigen Hundertmarkschein zu sehen gewesen war. Es gelang ihm auch nicht, ein anderes Bild von ihr in seinen Kopf zu bekommen. Vielleicht war sie ja ganz anders? Vielleicht war sie gar nicht hübsch und zart, sondern eher kräftig und burschikos? Vielleicht war das Ganze ja auch eine Falle. Man hörte ja so viel von Internetbetrügereien, in denen leichtgläubigen Opfern die haarsträubendsten Geschichten erzählt wurden, um sich deren Vertrauen zu erschleichen. Möglicherweise war Clara nicht einmal eine Frau, sondern das Pseudonym eines einsamen Mannes, eines Schwulen vielleicht. Er konnte es sich nur schwer vorstellen, denn ihre Beiträge im Forum zeugten von so viel Herz, Witz und Engagement – das wäre für ihn nicht stimmig. Er beschloss dennoch, vorsichtig zu sein. Solange er nicht mehr von sich preisgab, konnte ihm ja nichts passieren. Aber es reizte ihn, dieses Spiel weiterzutreiben. Ja, nicht nur mitzuspielen, er wollte sehen, wie weit sie ihm vertrauen würde. Ein aufregendes Kribbeln bemächtigte sich seiner, als er die nächste Antwort an Clara formulierte.

Sinfonie der Lust | Erotischer Roman

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