Читать книгу Mit dem letzten Zug - B. Horst Feuer - Страница 8
DAMALS
ОглавлениеDer Zusammenbruch des Großherzogtums und das Ende Badens waren mit der Flucht des Regenten nach Badenweiler und seiner kurz danach erfolgten Abdankung besiegelt. Im August war noch das 100-jährige Jubiläum der Badischen Verfassung gefeiert worden. Ja, so schnell kann es gehen!
Die Grundlage seiner beruflichen Existenz war ihm entzogen, was macht ein Regierungsdirektor ohne Regierung, ohne staatliche Verwaltung?
Das Schicksal bzw. sein Alter aber wollten es, dass er just in dieser Zeit des Umbruchs fast das Ende seiner Dienstzeit erreicht hatte und mit der Auflösung Badens, im November 1918, dann vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde. „Man muss auch mal Glück haben“, meinte seine Frau. Er sah das nicht so, ihm war nicht wohl.
So also saß Heribert Finkner in seiner Karlsruher Wohnung und erlebte das bittere Ende des grauenvollen Ersten Weltkrieges. Er hatte keine Gelegenheiten mehr hinauszukommen und fühlte sich ständig unter Aufsicht.
Zwar versuchte er sich mit Dingen zu beschäftigen, die er sich für den Ruhestand aufgehoben oder vor sich hergeschoben hatte, aber das befriedigte ihn nicht. Was hatte er nicht alles vorgehabt, was wollte er noch alles tun.
Jetzt, da er die Zeit hatte, drängte es ihn, Unerledigtes anzugehen und sich Liegengebliebenem zuzuwenden. Er hatte das Gefühl, sich beschäftigen zu müssen, nur um nicht ins Grübeln zu kommen, nicht unruhig zu werden. Er kam zur Überzeugung, sein weiteres Leben nur genießen, ja ertragen zu können, wenn er alles in Ordnung gebracht und zu seiner Zufriedenheit erledigt hätte.
Obwohl er ahnte, dass er diese Aufgabe nie würde ganz vollenden können, musste er sie in Angriff nehmen, er konnte nicht anders. Seine Beamtenseele brauchte dieses Vorgehen, dieses Prinzip. Wann immer er sich in den letzten Wochen nach seiner Pensionierung zum Arbeiten, Lesen oder einfach zum Müßiggang niedergelassen hatte, dauerte es nicht lange bis ihm jenes Ereignis, diese Geschichte, der Lustmord, der Mädchenmord in den Sinn kam – es ließ ihm keine Ruhe.
Immer öfter – und er hätte es zugeben müssen, schon seit längerem – beschäftigte ihn die Sache, die er vor vielen Jahren erlebt hatte. Es reizte ihn, ja, es drängte ihn, sich darum zu kümmern. Auch weil er wieder rauskommen wollte.
Finkner war mürrisch und unzufrieden, und er ärgerte sich über sich, über sein Leben – ach, über fast alles und jedes. Er hatte wenig von all dem erreicht, was er gewollt hatte, und vieles, was er erreichte, hatte er so nicht gewollt.
In letzter Zeit wuchs der Unmut über seine Situation und ihm wurde immer bewusster, dass manches wohl auch mit damals zusammenhing, auch wenn er sich noch so sehr dagegen wehrte und es nicht wahrhaben wollte, auch selbst schuld zu sein.
Aus der Sicht seines Umfelds konnte man bei oberflächlicher Betrachtung ja immerhin meinen, dass alles glatt, als ob so geplant verlaufen war: geordnet, gerade und ohne Abweichungen, verlässlich und voraussehbar: Karriere, Familie, Ansehen, alles bestens.
Ja, so sahen es die anderen, aber er, er wusste, so glatt war das nicht gegangen. Er hatte anderes vorgehabt, er hatte anders leben wollen, hatte Pläne.
Doch er ließ sich in die Pflicht nehmen, machte sich selbst zum Gefangenen. Er ließ sich gängeln und fühlte sich fremdbestimmt, benutzt, bedrängt. Seine Wünsche und Vorstellungen waren und blieben weggesperrt und mittlerweile schien dies alles ohne jede Aussicht auf Veränderung, was ihn besonders deprimierte.
Ach, wie bewunderte er doch Menschen, die aus der Reihe tanzten und ihr eigenes Leben lebten. Solche, die in der Lage waren, auszubrechen, sich ihren Neigungen hinzugeben, ihre eigenen Interessen wichtig zu nehmen, und er bemerkte wohl, und es belastete ihn schon lange, dass er sich nach einem anderen Leben sehnte und ihn geheime Wünsche und Träume beschäftigten und quälten.
Gerade auch seine Frau und seine Ehe gehörten zu den Lasten, die er zu tragen gezwungen war. Er fühlte sich ewig bevormundet, unfrei, ja, wie geknechtet. Der übermächtige Vater hatte die Braut aus gutem Hause damals ausgewählt. Die ständig kränkelnde Mutter ihn bedrängt: „Kind, ich könnte viel ruhiger sterben, wenn ich dich versorgt wüsste.“
Er hatte sich gebeugt und litt unter der „Herrschaft“ seiner Gattin und ihn demütigten, wie er sich irgendwann eingestehen musste, die Tuscheleien und Anzüglichkeiten von Verwandten und Freunden. Warum hatte er es nie geschafft, auszubrechen, sich aufzulehnen?
Er war ja als Ministerialbeamter in der großherzoglichen Verwaltung in Karlsruhe tätig und in dieser Aufgabe auch des Öfteren dienstlich im Ländle unterwegs. Zuständig für Gewerbe und Industrie ging es immer wieder um Gründungen oder Erweiterungen von Fabriken, um Genehmigungen und vieles andere mehr. Oft vereinbarte er daher Ortstermine, um durch Augenscheinnahme und persönliche Gespräche mit den Betroffenen sich ein Bild von den tatsächlichen Gegebenheiten zu machen. Und das war auch gut so, denn Papier ist ja bekanntlich geduldig und kann sich nicht wehren.
Zudem gefielen ihm diese Termine ganz außerordentlich, er freute sich, das stickige, langweilige Präsidium verlassen zu können, im Land herumzukommen und Menschen zu treffen, frei zu sein. Draußen war er eine gewichtige Persönlichkeit, er wurde zuvorkommend behandelt und hofiert und das gefiel ihm, hier blühte er auf – es war halt ganz anders als daheim. Hier fand er Anerkennung und Bestätigung, ja, diese Dienstreisen taten ihm gut, sie waren wie willkommene Fluchten aus seinem eintönig empfundenen Dasein und aus der Regentschaft seiner Frau.
Seit sie auch öfter krank war, steigerten sich ihre Schikanen, und er spürte in manchen Augenblicken, wie Wut und Zorn schon Spuren von Hass enthielten und ihn auch ängstigten.
Mit den Weibern konnte er, wenn er allein und weg von Karlsruhe unterwegs war, ganz anders umgehen, und er spielte bisweilen ein gefährliches Spiel. Wenn das die Gattin gewusst hätte!
Ja, er erschreckte bisweilen vor sich selbst, war sich wie fremd ob seines Leichtsinns und trotzdem waren die hinterher mit schlechtem Gewissen erzwungenen Vorsätze bis zur nächsten Reise und Versuchung meist wieder abgemildert und verdrängt.
Auch gönnte er sich bei diesen Anlässen den reichlichen Genuss guten badischen Weines, den er sich in heimischer Umgebung, im Dunstkreis seiner Gattin, auch nicht erlauben durfte, sie war ja eine absolute Gegnerin des Alkohols und er musste gehorchen, obwohl er natürlich heimlich jede Gelegenheit nutzte.
So war er auch schon zuvor zweimal in Zell gewesen. In diesem idyllischen alten Städtchen im Schwarzwald, bekannt als die ehemals kleinste Reichsstadt und durch die beiden Zeller Keramikfabriken. Das heißt, damals waren es noch zwei, später wurden sie vereinigt. Die beiden Firmen waren auch der Anlass seiner Besuche gewesen. Fabrikgründungen, Erweiterungen, Wasserleitungen, Stromerzeugung und andere Vorhaben waren in dieser Zeit an der Tagesordnung und die Behörden hatten viel zu tun.
Das Städtchen liegt etwas abseits der Kinzigtalstraße von Gengenbach nach Haslach und abseits der Schwarzwaldeisenbahn. Gerade als er Zell einen Besuch abstattete, war kaum ein halbes Jahr vorher die Harmersbachtalbahn eingeweiht worden. Diese Nebenbahn verband den Bahnhof Biberach an der Schwarzwaldbahn mit Zell und Oberharmersbach am Ende des etwa zehn Kilometer langen Tales. So war es ihm also möglich, die gesamte Reise mit dem Zug zu bewerkstelligen.
Eine zweite, zugegebenermaßen ganz private Aufgabe hatte ihm seine Gattin noch mitgegeben, klar, wie immer. Ihre jüngste Tochter, die Agathe, war im Begriff, ihren Oberinspektor zu heiraten, und sie beabsichtigten, ihr zur Hochzeit ein Porzellanservice zu schenken. Nun, die Zeller Manufaktur von Georg Schmider hatte damals einen ausgezeichneten Ruf und die Dekore, entworfen von Elisabeth Schmidt-Pecht, gehörten zu den beliebtesten ihrer Zeit, seine Gattin war davon sehr angetan. So hatte sie ihm aufgetragen, sich bei Schmider die ausgestellten Teile anzusehen und, wenn möglich, Muster oder doch wenigstens einen Katalog mitzubringen.
Es war ein heller, sonniger Morgen, als er also mit dienstlichen und privaten Aufgaben versehen los fuhr. Schon früh, kurz nach sieben Uhr, bestieg er den Zug nach Offenburg, wo er gegen halb zehn Uhr ankam.
Mit jeder Minute, die er sich von Karlsruhe entfernte, fühlte er sich wohler und freier und die Welt kam ihm so heiter und schön vor, so dass er in wohliger Vorfreude in sich versank:
„Herrlich, ich muss die beiden Tage genießen.“ Er nahm es sich fest vor.
Im Zug suchte er wie üblich ein Abteil mit möglichst angenehmer weiblicher Besetzung, um seine Freiheit sogleich erproben zu können. Tatsächlich fand er ein Coupé mit zwei Frauen, die einen attraktiven Eindruck machten. Nach höflicher Begrüßung begann er ohne Umschweife eine Unterhaltung und bald wusste er, dass Mutter und Tochter aus Mannheim und auf der Fahrt nach Freiburg waren. Während die Mama wohl gerade vierzig Jahre alt sein mochte, schätzte er das Mädchen auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Es beteiligte sich kaum an der Unterhaltung und gab sich sehr zurückhaltend und schüchtern. Sie gefiel Finkner, er schielte immer wieder nach ihr, und er registrierte angenehme Gefühle.
In Baden- Oos stiegen weitere Personen ein, und er war beinahe etwas ungehalten wegen der Störung und ebenso, als er in Offenburg den Zug verlassen und sich verabschieden musste.
Nach knapp halbstündiger Fahrt kinzigaufwärts erreichte er dann Biberach, und nach langer Wartezeit – er hätte wohl in der gleichen Zeit die Zeller Untere Keramikfabrik zu Fuß erreichen können – dampfte er auf nagelneuer Strecke dem ehemaligen Reichsstädtchen entgegen.
Er mochte die Gegend. Voraus sah er, da er auf der Innenseite des sich leicht in die Kurve neigenden Waggons saß, die in weitem Bogen ins Tal führenden Geleise. Eng am steil aufragenden Berg lag zur Linken die alte Entersbacher Papierfabrik und rechts, gegen Osten, der Gröbernhof, ein ehemaliges Rittergut, das mitsamt seinem mittelalterlichen Turm ganz von einer Mauer umschlossen war. Da die Fahrstrecke nach Zell wohl keine drei Kilometer betrug, kam fast gleichzeitig auch schon der Storchenturm, das Wahrzeichen der Stadt ins Blickfeld des Reisenden.
Am neuen Bahnhof wurde er von Georg Schmider persönlich abgeholt und vorbei an dem ebenfalls neuen großen Postgebäude ins Städtle kutschiert, wo sie im „Adler“ ein Mittagessen einnahmen. Sie waren guter Stimmung, der Fabrikant glänzte in der Gastgeberrolle und mit reichlich Wein wurde auf die kommenden Verhandlungen angestoßen.
Hernach fuhren sie beim ehemaligen Unteren Tor hinaus und hinunter zur Unteren Fabrik. Es war heiß geworden und die Sonne blendete grell und brannte fast hochsommerlich vom Himmel.
Den Nachmittag verbrachte er mit erfreulich glatt verlaufenden dienstlichen Verrichtungen in der Fabrik und auch die freundliche Mitgabe einiger Muster für die Auswahl zur Hochzeit ihrer Tochter konnte er bewerkstelligen. Er ließ sich dann noch zu seiner Unterkunft kutschieren, wohl wissend, dass sich die entsprechende Ankunft dort positiv auf seine Reputation auswirken würde.
Der Dienstreiseplan sah vor, dass er in Zell im Gasthaus „Sonne“ übernachten und am nächsten Morgen weiter nach Hornberg reisen sollte, wo bei der Firma Duravit ebenfalls Gespräche über Anträge zu führen waren. Die Termine waren postalisch und teilweise auch fernmündlich festgelegt und besprochen worden.
Das alte Gasthaus lag direkt vor der Stadt, unweit des vor Jahren abgerissenen ehemaligen Untertors und am Weg Richtung Biberach und Unter- und Oberentersbach. Er hatte gegen fünf Uhr seine Kammer bezogen. Sie befand sich im Obergeschoss gleich rechts neben dem Treppenaufgang und die beiden kleinen Fenster eröffneten einen Blick hinüber zum mächtigen Untertorgebäude und etwas schräg gegenüber zum Gasthaus „Zum Raben.“ Über die knarzenden Bodendielen erreichte er den herrlich bemalten Bauernschrank, dessen üppige Farbenpracht im Laufe wohl vieler Jahre jedoch an Glanz verloren hatte und besonders um das Schloss herum ganz abgeschabt war. Er beschloss, sein Köfferchen erst gar nicht auszupacken, und legte es aufgeklappt auf das zwischen den Fenstern sich befindliche Tischchen. Nach einer kurzen Liegeprobe im hochbeinigen und mit mächtiger Decke aufgetürmten Bett, die zu seiner Zufriedenheit ausfiel, fand er sich dann schon früh in der Gaststube zum Abendessen ein.
Finkner genoss nun das Mahl mit bestem Appetit und zürpfelte reichlich einen guten Roten dazu. Er war bald in bester, ja geradezu euphorischer Stimmung, und der laue, warme Maienabend lockte ihn wieder hinaus ins Freie, er war aufgewühlt und unruhig und spürbar angeheitert. Er hatte vorher überlegt, ob er den Weg hinauf zur Wallfahrtskirche „Maria zu den Ketten“ gehen sollte, sich aber dann doch für einen Spaziergang außerhalb der Stadt, Richtung Alter Wald entschlossen, weil er den ganzen Tag über keine Bewegung gehabt hatte, wie er sich einredete, und weil Luft und Stimmung ihn nun geradezu aufforderten – er musste hinaus, es drängte und zog ihn. Ach, wie schön konnte das Leben sein.
Kurz vor acht Uhr kam er zurück.
Er machte sich auf dem Zimmer schnell frisch, zog sich um, und ging dann wieder hinunter in die Gaststube. „Typisch Schwarzwald“, dachte er, als er sich dort umblickte, ganz anders, als er es aus Karlsruhe kannte. Der ganz in dunklem Holz gestaltete Raum, das dunkle Mobiliar und das wenige Hell, das durch die kleinen, durch viele Sprossen noch weiter geminderte Licht übrig blieb, vermittelten dem Gast nun plötzlich ein etwas bedrückendes, düsteres Gefühl. „Komisch“, kam es ihm in den Sinn, „ich bin in der Sonne und alles ist so duster.“ Da kam schon der Wirt und fragte nach dem Begehr. Der war eine propere Erscheinung, er trug ein weißes Hemd und eine blaue Halbschürze und machte einen freundlichen und souveränen Eindruck. So stellte sich Finkner einen Patron vor. Er orderte einen Schoppen Wein, und während er gerade überlegte, sich zu den Einheimischen an den Stammtisch zu setzen, wie es seine Gewohnheit war und wo er sich gerne als der „hohe Herr aus Karlsruhe“ hofieren lassen würde, stürzte plötzlich ein junger Kerl in die Stube und fragte nach einem Mädchen. Ob jemand die Vroni Bucher aus dem Oberentersbach gesehen habe, wollte er wissen, und als keiner nichts wusste, stürmte er davon. Einem stillen Moment der Überraschung folgte lebhaftes Gemurmel, und Finkner erhob sich nun und ging hinüber und fragte, ob er sich ihrer Gesellschaft anschließen dürfte. Das Gemurmel erstarb, und einer der Gäste meinte: “Bitte schön, setzt Euch!“
Der Stammtisch vor der Theke bot Platz für sicher zehn Personen, doch saßen auf jeder Längsseite auf den dortigen Bänken je drei Männer. Die Herren besprachen lautstark das gerade Erlebte, und Finkner versuchte die Männer einzuordnen. Es belustigte ihn immer wieder, sich mit, wie er meinte, einfältigen oder gar dummen Menschen zu unterhalten, sie auszuhorchen und oft auch auf den Arm zu nehmen.
Einer war sicher ein Zeller Geschäftsmann, während er die anderen als Vorarbeiter oder Maler aus der nahen Keramikfabrik vermutete, auch wegen ihrer Kleidung.
Weiter kam er nicht, denn kaum dass er saß wurde wiederum die Tür aufgerissen, und mehrere Personen traten herein. Sie waren wohl alle den Anwesenden bekannt, und eine heftige Unterhaltung kam in Gang. Er erfuhr unschwer, dass ein zwölfjähriges Kommunionkind auf dem Nachhauseweg vom Städtle nach Oberentersbach verschwunden war und die Familie nach ihm suchte. Fast hätten sich die Stammtischler aufgemacht, um sich an der Suche zu beteiligen, doch der Wirt beschwichtigte sie, es müsse ja nichts Schlimmes passiert sein.
Es sei noch nicht so spät und ein guter Ausgang mit verständlichen Begründungen noch möglich, und doch schien es den Tischgenossen dann angeraten, den oder die Täter einer noch gar nicht feststehenden Tat zu finden. Ihrer Meinung nach waren es auf jeden Fall Auswärtige, entweder die Italiener vom „Hirschen“, Landstreicher oder sonst Durchreisende, das stand für sie fest, da waren sie sich einig. Es sei immer wieder das Gleiche mit dem Gesindel, man sollte die gar nicht ins Städtle lassen und gleich davonjagen. Die machten nur Scherereien, und man sei sich so langsam des Lebens nicht mehr sicher. Finkner duckte sich fast innerlich weg und machte sich schon Gedanken über ein vielleicht nötiges Alibi. Was es denn mit den Italienern vom „Hirschen“ auf sich habe, fragte er vorsichtig und um die Gedanken wieder auf die Ausländer zu bringen und erfuhr, dass nach einem verheerenden Großbrand in der Oberstadt im Jahr zuvor beim Wiederaufbau des Hotels „Zum Hirschen“ italienische Arbeiter und Maurer tätig seien. Da erkundigte sich der Erste nach seiner Herkunft und Verrichtung hier in Zell. Er befürchtete schon, sich vor allen rechtfertigen zu müssen; bevor es aber dazu kam, mischte sich sogleich der Wirt ein, der sich für seinen Gast wohl verantwortlich fühlte, und verbat sich jede Verdächtigung eines großherzoglichen Regierungsbeamten aus Karlsruhe. Seine Erklärung, dass der Beamte auf Dienstreise sei, und die Erwähnung der Keramik und des Namens Georg Schmider reichten dann, dass die Gesellschaft, es waren tatsächlich fünf Keramiker dabei, das Thema wechselte und die Einführung einer Betriebskrankenkasse, die Arbeitsbedingungen, die Einrichtung englischer Wasserklosetts und anderes mehr ins Gespräch kamen. Lebhaft und laut diskutierten die Männer über die Fabrik und das Problem der Holz- versorgung, und manch Schoppen fand den Weg in die Kehlen. Das vermisste Mädchen war vergessen, und erst als der Karlsruher zu später Stunde und ordentlich vom Wein berührt zu Bette ging, kam ihm dort wieder das Kind in den Sinn und er war nicht wenig beunruhigt.
Es war ihm stickig und schwül, und weil er nicht schlafen konnte, verließ er still und ungesehen das Haus, um draußen Zerstreuung zu suchen. Bei der Heimkehr lief er dann der Hausmagd über den Weg, und auch den Rest der Nacht fand er keinen erholsamen Schlaf.
Unruhig wälzte er sich im Bett, und als er dann endlich eingeschlafen war, ängstigte ihn ein Traum: Sein alter Pfarrer hatte ihn wieder einmal in der Mangel. Es war kurz vor seiner Erstkommunion. Im Unterricht ging es um die Beichte und um Tod und Teufel, Verdammnis, Hölle und Fegefeuer und er hatte furchtbare Ängste, die der Pfaffe schürte und die ihn ganz beherrschten.
„Man muss alles beichten, sonst kommt man in die Hölle, und dort ist Heulen und Zähneknirschen und das für immer und ewig!“, so hieß es. Gebot für Gebot wurde besprochen und speziell die Sache mit dem Geschlechtlichen kam ihm besonders wichtig und schlimm vor. Und das war das Problem: Zwei, drei Jahre zuvor – er hatte von all den Geboten gar nichts gewusst – hatte er eine Zeit lang mit der Rosi aus der Nachbarschaft öfter gespielt. Sie waren zusammen eingeschult worden und verbrachten im ersten Sommer manchen Nachmittag miteinander. Sie waren viel draußen, waren am Bach und auf den Feldern zur Turnhalle, und eines Tages, es war heiß und nach dem Baden hatten sie fast nichts an, erkundeten sie in einem Kornfeld gegenseitig ihre geschlechtlich unterschiedlichen Körperregionen. Mit einem Strohhalm erforschte er ihre Scham und fand alles neu, interessant und kribbelig.
Es passierte auch nie mehr und alles war gut. Bis, ja bis die Sache mit der Beichte über ihn kam. Immer und immer wieder hackte der Pfarrer auf dem Thema herum und bläute ihnen ein, wie schlimm solche Sachen seien und dass man alles, aber auch wirklich alles, und sei es noch solange her, unbedingt beichten müsse. So war ihm das Erlebte überhaupt erst wieder ins Gedächtnis gekommen. Sein nun erwecktes Gewissen marterte ihn, ließ ihm kaum Luft zum Atmen und doch beschloss er, nie und nimmer etwas von damals preiszugeben.
Dann kam die erste Beichte. Mit vorbereitetem Zettel begab er sich angstvoll hinter den dusteren Vorhang und leierte wie mit fremder Stimme das Gelernte herunter. Es war unheimlich und er vermied es nach dem Priester hinter dem Holzgitter zu schauen. Auch die ausdrückliche Frage des Pfaffen, ob er auch nichts vergessen habe, bestand er. Froh und erleichtert entkam er dem Halbdunkel, und während er die aufgegebene Buße abbetete, spürte er deutlich die befreiende Wirkung der Beichte, so wie der Pfarrer es immer gesagt hatte.
Zwei Tage später hatten sie wieder Religionsunterricht, und da geschah es. Kaum war das Gebet gesprochen, holte ihn der Pfarrer nach vorne. Er stellte ihn neben das Pult, machte zwei Schritte in die Klasse, drehte sich ruckartig um, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihn und schrie: „Da seht ihr einen Sünder, er hat Schlimmes getan und es nicht gebeichtet, er hat den Herrgott betrogen.
Ich habe euch doch gesagt, was dann passiert, so einem ist nicht zu helfen! Schaut ihn euch an!“
Ihm schoss das Wasser in die Augen, und Scham und Enttäuschung pulsten in seinem Kopf.
„Sie hat uns verraten“, schrie es in ihm, „sie hat mich verraten!“ Er rannte zur Tür und zog an der Klinke, die Tür ging nicht auf, er riss und drückte und trat dagegen.
Schweißgebadet und völlig verstört schreckte er auf, und ihn durchströmten Wut und Unbehagen, und nur langsam konnte er sich wieder beruhigen: „Immer diese alten Geschichten!“
Am frühen Morgen, schon kurz nach sechs Uhr, er war gerade beim Aufstehen, hörte er laute Stimmen von unten, und als ihm das Mädchen wieder einfiel, rief er nach der Magd, die er hantieren hörte. Weinend und schluchzend berichtete sie ihm, dass das Kind tatsächlich soeben oben, kurz vor dem Wald nach Oberentersbach, ermordet aufgefunden worden sei. Vom Täter gebe es keine Spur, aber das konnte doch nur ein Teufel, ein Unmensch gewesen sein, so einen müsste man gleich totschlagen.
Das Ganze nahm ihn wirklich mit, er musste sich zusammennehmen, und er dachte an die Italiener und was mit so einem wohl passiert, wenn der den Leuten in die Hände fällt.
Nach dem Frühstück, das Finkner bedrückt und unruhig zu sich genommen hatte, machte er sich auf den kurzen Weg zum Bahnhof. Es waren viele Leute unterwegs und auf den Gassen, es herrschte eine angespannte und feindselige Stimmung, überall wurden die wüstesten Drohungen gegen den Täter ausgestoßen. Die Polizei hatte wohl die ersten Verhaftungen vorgenommen, und spätestens als er im Zug saß und nach Biberach fuhr, fragte er sich schon, warum er so einfach davon konnte. Er hätte wirklich der Täter sein können; und nur, weil der Wirt ihn den Gästen gegenüber verteidigt hatte, war er außer Verdacht? Also da kamen ihm dann schon ein paar Gedanken, aber dies alles konnte ihm ja nur recht sein. Er fühlte sich nicht wohl, war wie betäubt. Hatte er gestern tatsächlich so viel getrunken oder wurde er krank?
Der ganze Tag war wie vernebelt, er war nicht recht bei der Arbeit, war unruhig und ertappte sich öfter bei Gedanken an das Verbrechen und er war Gott froh, als die Besichtigungen und Besprechungen in Hornberg endlich vorbei waren.
Als er am späten Nachmittag auf der Heimfahrt nach Karlsruhe an Biberach vorbeikam, schaute er noch hinein ins Harmersbachtal und nach Zell und fragte sich, ob sie wohl schon einen Täter gefasst hatten.
Ein, zwei Tage später las er dann daheim in Karlsruhe in den „Badischen Nachrichten“, dass nicht ein Italiener und auch kein Landstreicher, sondern ein Bauernknecht aus der Umgebung der Täter war. Dieser war schon am Vormittag seiner Abfahrt gefasst worden und hatte noch am gleichen Abend die Tat gestanden – na also!