Читать книгу Das Mormonenmädchen Erster Band - Balduin Mollhausen, Balduin Möllhausen - Страница 2
Erster Band
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Der Sandsturm
ОглавлениеWo in dem ungeheuern »Becken,« begränzt durch die starren, nackten Joche des Wahsatch-Gebirges und der unabsehbaren Züge der theilweise in ewigem Schnee prangenden Sierra Nevada, dürrer, vegetationsloser Sand auf umfangreichen Strecken die Oberfläche des Bodens bildet, da ist es für den Menschen nicht rathsam, anders, als in größeren Gesellschaften die schrecklichen Wüsten jagend oder forschend zu durchkreuzen. Selbst den vereinigten Kräften treu zusammenhaltender Gefährten gelingt es oft kaum, dem drohenden Untergange zu entrinnen, der den Wanderer jener Regionen in den verschiedenartigsten und gräßlichsten Gestalten beständig angrinst. Bald sind es der Wassermangel und das Verschmachten und Dahinsterben der dem Reisenden unersetzlichen Lastthiere, bald die durch Heißhunger zur Tollwuth gereizten wilden Bestien, bald die, in ihren Neigungen sich kaum noch von den Thieren des Waldes unterscheidenden Eingeborenen, oder der von dem Sturmwind in dichten Wolken emporgewirbelte erstickende Flugsand, lauter Schrecknisse, die auch den kühnsten Geist zu beugen, den wildesten Muth zu brechen vermögen. —
Wenn nun die Reise ganzer Karavanen durch die unwirthlichen Theile des »großen Beckens« mit einem steten Kampf um das nackte Leben verglichen werden darf, um wie viel mehr ist der einzelne Wanderer, der dorthin verschlagen wurde, dem Verderben ausgesetzt! Und dennoch – —
Ungefähr drei Tagereisen weit westlich von der südlichen Spitze des »Großen Salzsees,« also vielleicht doppelt so weit von der Mormonenstadt, scheiden die Pah-o-tom- oder Cederberge, eine von Südwesten nach Nordosten laufende Felsenkette, das »Quell-« oder »einsame Felsen-Thal« von der unabsehbaren, sich gegen Westen ausdehnenden sandigen Einöde. Eine alte, wenig befahrene Emigrantenstraße führt durch einen Paß dieses Gebirges und verliert sich schon nach kurzer Zeit in halb zugewehten Spuren von Wagenrädern und Packthierpfaden, die sich wieder in verschiedene Richtungen von einander trennen und, je weiter nach der Wüste hinein, um so schwächer und undeutlicher werden, bis sie endlich ganz in dem losen Sande verschwinden. Es geht daraus hervor, daß vielfach nach einem geeigneten Wege durch die wasserarme muldenförmige Sandsteppe geforscht wurde, daß die Bemühungen sich größtentheils als fruchtlos erwiesen, und daß man endlich zu der Ansicht gelangte, schwere und langsam reisende Trains lieber auf einem Umwege auf der Nordseite des Salzsees herumziehen zu lassen, als deren Existenz in einer näheren, aber gefährlicheren Richtung auf das Spiel zu setzen. —
Es war in den Frühstunden eines klaren, sonnigen Herbsttages, als eine einsame Wanderin aus der letzten Biegung des eben bezeichneten Passes trat und den Punkt erreichte, von welchem aus sie die erste Aussicht auf die gefürchtete Wüste gewann.
Der trostlose, vielleicht kaum geahnte Anblick mußte überaus niederdrückend auf sie einwirken, denn in dem Grade, in welchem das traurige Panorama sich immer weiter und weiter vor ihr ausdehnte, wurde der rüstige Schritt, in welchem sie sich genähert hatte; langsamer und unsicherer. Als aber endlich die schreckenerregende Landschaft in ihrer todtenähnlichen Stille und Regungslosigkeit vor ihr lag, ihre zagenden Blicke ungehindert auf der Linie des Horizonts herumirrten und auf weiter nichts trafen, als auf Wüstensand und auf ferne, duftig schimmernde Felsgruppen, die wie verloren aus der gelben Ebene emportauchten, da schien ein unüberwindliches Grauen sich ihrer zu bemächtigen und die Kraft ihrer Füße zu lähmen.
Sie stand still, und indem sie nach der nordwestlichen Richtung über Meilen und Meilen hinwegschaute, füllten ihre Augen sich mit Thränen. Die Aufgabe, welche sie sich gestellt hatte, erweckte jetzt offenbar Furcht und Entsetzen in ihr, denn zagend und schüchtern blickte sie rückwärts in den Paß hinein, von woher sie eben erst gekommen war.
Sie mochte ihrer Heimath in der Mormonenstadt gedenken, die sie vor wenigen Tagen erst verlassen hatte, denn bange Zweifel bewegten gar seltsam ihre bleichen, abgehärmten Züge, während ein bitterer Seelenschmerz ihre Brust krampfhaft hob und senkte.
Doch nur wenige Minuten dauerte dieser Kampf; wie ein drohendes Gespenst schien es in ihrer Erinnerung aufzutauchen, und indem ein Schauder ihre schlanke Gestalt erschütterte, wendete sie sich hastig der Richtung zu, in welcher ihr Ziel lag.
»Ich werde es nicht ausführen können,« flüsterten ihre noch jugendfrischen Lippen, und in dem leisen Ton ihrer Stimme offenbarte sich eine ganze Welt voll Zweifel und Schmerz. »Meine Kräfte reichen nicht aus – und dennoch müssen sie ausreichen!« fuhr sie lauter fort, und ihre Worte zitterten vor inniger, wehmüthiger Bewegung, als die Bürde, welche sie in einer Decke gehüllt vor sich trug, Leben verrieth. »O, sie müssen ausreichen, für mein armes Kind – und sie werden es, denn die Mutterliebe ist stark. Und wäre die Wüste noch zehnmal so breit, ich würde meinen Engel sicher hinübertragen. Wer aber würde es wohl wagen, ihm Leid zuzufügen? Weder die Wölfe, noch die grausamen Indianer. O, die Indianer, auch sie haben Kinder, und wenn sie meinen süßen Knaben sehen, so werden ihre Herzen sich beim Anblick der lieblichen Erscheinung erweichen; sie werden ihn beschützen und ihn mir tragen helfen, mein liebes, liebes einziges Kind!«
Indem die junge Frau so sprach, hatte sie die Bürde, welche von einer andern, auf ihrem Rücken hängenden im Gleichgewicht gehalten wurde, behutsam vor sich auf die Erde gelegt. Dann bei derselben niederknieend, öffnete sie die leichte Hülle vollständig, worauf sie ihre Blicke mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Liebe und Seligkeit an den großen blauen Augen eines etwa ein Jahr alten Knaben haften ließ, der neugierig und zufrieden zu ihr emporschaute.
Es war ein rührendes, Wehmuth erzeugendes Bild, die junge Mutter, die nur noch Blicke und Gedanken für ihr Kind hatte und in ihrer Sorge um dasselbe die ganze übrige Welt, selbst ihren tiefen, unheilbaren Kummer vergaß. Ihr feines, regelmäßig schönes Antlitz war wohl abgehärmt, und ein eigenthümlicher Zug um den Mund verlieh demselben das Gepräge lange erduldeter Leiden; allein indem sie mit Stolz ihren Liebling betrachtete, hatten ihre etwas eingefallenen Wangen sich vor innerer Aufregung wieder hoch geröthet, und selbst als glückliches, harmlos tändelndes junges Mädchen konnte sie kaum anziehender und bezaubernder gewesen sein, als jetzt, da Mutterwürde ihre ganze Erscheinung verschönte und veredelte.
Ihre starken gelbblonden Haare waren nachlässig in einen Knoten am Hinterkopf zusammengeschürzt; einzelne Strähnen aber hatten sich während der Wanderung aus dem Knoten losgestohlen und hingen, indem sie sich über das Kind hinneigte, als lange seidenweiche Locken zu demselben nieder, welches dann lallend und schäkernd nach den beweglichen Ringen haschte. Die großen hellblauen Augen, beschattet von blonden Brauen und Wimpern, hatten einen schwermüthigen Ausdruck, jedoch mehr in Folge der gegenwärtigen trostlosen Lage, als weil ihnen derselbe vielleicht ungeboren gewesen wäre, und nur so lange, wie sie auf dem vollen Antlitz des kleinen Knaben ruhten, strahlten sie im innigsten Entzücken, um gleich darauf wieder um so trauriger in die Ferne zu spähen.
In ihrer übrigen Erscheinung, in den schmalen Händen und Füßen, wie in der ganzen Haltung verrieth die junge Frau, daß sie den höheren Ständen entstamme. Ihre Gestalt war groß und kräftig gebaut, und dabei trug sie dieselbe mit einer gewissen Anmuth, die auf eine sehr sorgfältige Erziehung deutete und weder durch Beschwerden und Entbehrungen, noch durch Erschöpfung hatte gänzlich verwischt werden können.
In ihrer Bekleidung war, wenn man die große Entfernung von der verfeinerten Civilisation berücksichtigte, Wohlhabenheit unverkennbar, denn Alles bestand aus so kostbaren Stoffen, wie sie in der Salzsee-Stadt wohl nur unter bedeutenden Geldopfern zu erschwingen gewesen; dagegen hatte der Staub die Farben des Zeuges schon sehr entstellt und die letzte Probe von Schwärze von den starken, festbesohlten Schuhen mit fortgenommen.
Die Ausrüstung der einsamen Wanderin bestand aus einem Bündel Kleidungsstücke, einer wollenen Decke, einem Säckchen mit einer Mischung von braunem Zucker und feingeriebenem Mais- und Weizenmehl, dem bekannten, sehr nahrhaften Pinole, und einem mäßig großen Lederschlauch mit Wasser. Wenn zu diesem aber noch der kräftige Knabe hinzugefügt wurde, so bildete das Ganze eine Last, die auf die Dauer auch für den stärksten Mann zu viel hätte werden müssen, zumal auf einem Boden, auf welchem die Füße bei jedem Schritt tief in das lose Erdreich einsanken, oder auch streckenweise gegen scharfes Gestein und dornenreiches Gestrüpp zu kämpfen hatten.
Doch was jeden andern ruhig überlegenden Menschen mit Besorgniß und Grauen erfüllt hätte, das beschäftigte nur zeitweise den Geist der jungen Mutter, und wenn das Bewußtsein ihrer hülflosen Lage wirklich zuweilen ihren letzten Muth zu brechen drohte, dann brauchte sie nur rückwärts zu schauen, um ihren wankenden Entschluß wieder zu befestigen und die sich ihr entgegenstellenden Hindernisse vor ihrer wild erregten Phantasie verschwinden zu machen. Hatte sie doch auf ihrer Flucht von der Mormonenstadt absichtlich, um einer Verfolgung zu entgehen, und die ihr Nachsetzenden zu täuschen, die eigentliche Emigrantenstraße verlassen und den längst nicht mehr benutzten Weg durch die Wüste eingeschlagen. Was waren ihr drei, vier Wochen der Einsamkeit in der schrecklichen Wildniß, die sie nur dem Namen nach kannte? Sie wußte, welche Richtung sie beizubehalten hatte, um weiter oberhalb wieder in die Emigrantenstraße zu gelangen, die zur Zeit noch von Auswanderern belebt sein mußte, und das war ihr genug. Fort, weit fort vom Salzsee drängte es sie; fort von dem Lande, wo sie ein Paradies zu finden erwartete, und wo sie schmählich hintergangen worden war; fort, gleichviel, ob mit Gefahr ihres Lebens, wenn nur ihr Kind, ihr lieblicher Engel, gerettet wurde. —
»Ja, ich trage Dich durch diese Wüste,« wiederholte sie fest und muthig, indem sie die niederhängenden Locken aus dem Gesicht des kleinen Knaben tanzen ließ, daß dieser jubelnd und kreischend mit beiden Händchen um sich schlug. »Du bist nicht schwer – doch, Du bist sehr schwer und wohlgenährt, aber nicht zu schwer für Deine Mutter, und auf der Emigrantenstraße werden wir barmherzige Menschen finden, die sich unserer annehmen und uns nach Kalifornien bringen. Dort aber will ich arbeiten und sparen, bis ich die Mittel zusammen habe, die Rückreise nach der lieben süßen Heimath jenseit des Oceans antreten zu können. – O Heimath! Wäre ich ihm doch nie gefolgt! Er war gut, er war edel, bis die neue Lehre ihn verdarb. Armes, armes Kind, was wirst Du dereinst sagen, wenn Du erfährst, wie Dein Vater an mir, Deiner bedauernswerthen Mutter, gehandelt? Im Vertrauen auf seine Liebe und durchdrungen von den scheinbar geläuterten christlichen Lehren gab ich meine glückliche Heimath auf, um ihm zu folgen. Ahnungslos und mit treuer Hingebung begleitete ich ihn auf der weiten Wanderung nach dem so verlockend geschilderten Ziel, um hier zum Bewußtsein einer schrecklichen Lage zu gelangen!«
Hier schwieg die junge Frau, und bittere, heiße Thränen rollten über ihre bleichen Wangen auf den lächelnden Knaben hinab. Die Worte, die sie anfangs, als ob er sie verstanden hätte, an ihren Liebling richtete, waren allmälig in ein Selbstgespräch übergegangen, oder vielmehr in laute Betrachtungen, die sie leiser und leiser vor sich hinmurmelte.
Nach einer kurzen Pause fuhr sie, wie aus einem Traume erwachend, heftig empor; ihre Wangen rötheten sich schnell wieder, und in seltsamem Feuer leuchteten ihre sonst so milden Augen.
»Ich, seine vor Gott und den Menschen rechtmäßig angetraute Gattin, ich, die ich an weiter nichts dachte, als ihm das Leben zu versüßen, ich mußte es dulden, daß er, heidnischen Gebräuchen huldigend, noch eine zweite Frau durch die Banden der Kirche an sich fesselte!« rief sie glühend vor Scham und Zorn aus, indem sie ihre Hände über dem Kinde krampfhaft in einander ballte. »Getäuscht, betrogen, schändlich betrogen, wie so viele meines Geschlechts, die in blindem Vertrauen ihren Gatten hieher nachfolgten! Betrogen und verhöhnt, und mir bleibt nur die Schande, oder der Tod in der Wüste!«
»Wasser!« stammelte der Knabe, und reckte der verzweifelnden Mutter die Aermchen entgegen.
»Nein, nein, nicht der Tod,« begütigte die junge Frau, über ihre eigenen Worte erschreckt zusammenfahrend; »nein, lieber alle Schande, allen Hohn der Welt ertragen. Hast ja sonst Niemand mehr als Deine Mutter, Deine Mutter, die über Dich wachen und für Dich sorgen wird,« fügte sie liebreich hinzu, indem sie den Schlauch entkorkte und von dem klaren Quellwasser in eine blecherne Tasse laufen ließ.
»Trinke, mein süßes Kind,« sagte sie dann, den Knaben aufrichtend und die Tasse an seinen Mund haltend, »trinke nach Herzenslust, auch ich will ein Schlückchen nehmen, damit ich nicht entkräftet werde.«
Der Knabe trank mit vollen Zügen; die junge Frau dagegen betrachtete unterdessen mit einem Seitenblick den noch vollen Schlauch. Sie hatte ihn erst in der Frühe an einer Gebirgsquelle gefüllt, und mochte darüber nachsinnen, wo und wann sie die nächste Gelegenheit finden würde, sich mit einem neuen Wasservorrath zu versehen.
»Wenn der Inhalt nicht ausreichte,« flüsterte sie unbewußt, und ein leises Beben ergriff sie; »aber er muß ausreichen, wenn ich enthaltsam bin und mir nur den Gaumen netze. Das Wild wird mir schon rechtzeitig eine andere Quelle zeigen. Drei Tagereisen von hier soll ein Bach am Rande der Wüste dahinrieseln; gebrauchte ich auch vier, fünf Tage, so würde mein Knabe noch keine Noth leiden —«
In diesem Augenblick gab das Kind zu verstehen, daß es sich zur Genüge gelabt habe. Es waren noch einige Tropfen in der Tasse zurückgeblieben. Die Mutter netzte mit denselben, wie sie eben gesagt hatte, ihren Gaumen, und dann ihre geringen, aber unschätzbaren Habseligkeiten wieder vorsichtig zusammenpackend, traf sie Anstalt, ihre Wanderung fortzusetzen. Als sie aber ihren Knaben von der Erde aufheben wollte, da weigerte sich dieser, ihr Folge zu leisten. Ein leiser Wind war von Südwesten her aufgesprungen und trieb spielend lange Streifen leichter loser Sandtheilchen über den trügerischen Erdboden dahin. Die beweglichen Sandtheilchen aber hatten des Kindes Aufmerksamkeit erregt, und wie jüngst die Locken der Mutter, so suchte es jetzt diese sich anzueignen.
»Komm, mein Kind,« sagte die Mutter zärtlich, und ihr gramerfülltes Antlitz erhellte sich zu einem flüchtigen Lächeln, »komm, die Frühstunden eignen sich am besten zur mühevollen Wanderung; nachher, wenn wir erst eine größere Strecke zurückgelegt haben, dann wollen wir rasten und mit dem Sande spielen.«
»Spielen, spielen!« rief das Kind, sich eigenwillig auf die Seite werfend.
Die Mutter lächelte wieder, hob den Kleinen trotz seines heftigen Sträubens empor, befestigte ihn so vor sich in die Decke, daß er um sich zu schauen vermochte, und nachdem sie sodann ihren breitrandigen Strohhut etwas seitwärts gezogen, um dem Kinde Schutz gegen die hellen Strahlen der Sonne zu gewähren, ergriff sie ihren langen Wanderstab, und ohne Seufzer oder Klage, aber stets noch plaudernd mit dem Kinde, schritt sie gerade in die Wüste hinein. —
Die Sonne war um diese Zeit vollständig hinter der östlichen nackten Bergreihe hervorgetreten, und indem sie ein blendendes falbes Licht über die Ebene und die dünenartigen Sandanhäufungen nahe der Felsenkette verbreitete, erwärmte sie schnell die nahe dem Erdboden lagernden Luftschichten, daß diese, sich langsam mit den oberen kühleren vermischend, sichtbar in wellenförmiger Bewegung flimmerten und bebten. Der Wind strich leise dahin, und immer weiter dehnten sich die tanzenden Flugsandstreifen aus, auch in größerer Entfernung leicht erkennbar an der helleren Farbe.
Außer der wandernden Mutter mit ihrem Kinde war im weitesten Umkreise kein lebendes Wesen zu entdecken. Kein Laut, kein Ton, ob nun drohend oder jammernd, deutete darauf hin, daß die Natur auch in diesem traurigen Erdenwinkel vereinzelte ihrer Geschöpfe untergebracht habe. Es war, als habe ein Fluch auf der ganzen Landschaft geruht, ein Fluch, der jedes organische Leben schon im Keime erstickte, und nur das kümmerliche Gedeihen der den Menschen und Thieren feindlichen Dornengewächse gestattete.
Doch blind für alles dieses verfolgte die Wanderin ihren Weg. Sie hatte den nebelähnlichen Gipfel eines am nordwestlichen Horizont auftauchenden Berges zu ihrem Ziel gewählt, und unbekümmert um die tödtliche Einsamkeit, lenkte sie ihre Schritte auf denselben hin. Die zunehmende Wärme und die schwere Last trieben den Schweiß in Perlen von ihrer Stirn, allein sie achtete nicht darauf. Sie fühlte sich noch stark, so stark, als ob ihre Kräfte nie zu erschöpfen gewesen wären. Ihr Kind war eingeschlafen; vorsichtig vermied sie jede Bewegung, die dasselbe hätte wecken können, und mit innerer Zufriedenheit bemerkte sie, daß der Sand immer lustiger und höher vor dem wachsenden Winde dahinstäubte. Sie hoffte, ihren erwachenden Kleinen mit dem sonderbaren Schauspiele zu erfreuen; gewährte es ihr doch selbst einige Unterhaltung, zu beobachten, wie die weißen Streifen sich bald verlängerten, bald verkürzten, oder sich auch zu großen regsamen Flächen vereinigten und dann wieder schnell in kleine Felder auseinanderrissen.
Plötzlich fuhr sie, indem sie zur Seite schaute, erschreckt zusammen. Ihre Blicke waren auf einen klaren See gefallen, der seine zitternden Fluthen mit reißender Schnelligkeit bis auf etwa hundert Schritte an sie heranwälzte und sich dann zu beiden Seiten von ihr ausdehnte. Sie faßte sich indessen schnell wieder, und die Hand auf ihre Brust legend, wie um das heftige Pochen des Herzens zu beruhigen, blickte sie, ohne die Eile ihrer Schritte zu mäßigen, eine Zeit lang mit besorgnißvoller Theilnahme auf den trügerischen Wasserspiegel.
»O, wenn es doch Wasser wäre,« sagte sie mit einem tiefen Seufzer, »süßes, klares Wasser; ich brauchte dann nicht zu sparen. Aber es ist Täuschung, für den Durstigen bittere, martervolle Täuschung,« fuhr sie fort, als sie bemerkte, daß der See mit seiner leicht gekräuselten Oberfläche gleichen Schritt mit ihr hielt und, wenn sie sich ihm zu nähern trachtete, neckisch vor ihr zurückwich.
»Und dort die Inseln mit den schattigen Baumgruppen,« nahm sie nach einer längeren Pause ihr Selbstgespräch wieder aus, »wie würde mein Knabe sanft schlummern unter dem schattigen Laubdach, oder spielen am Rande des seichten Gewässers! Aber es ist Täuschung; dort verschwindet eine Insel, die Bäume schrumpfen zu Artemisia-Büschen zusammen, hier steigt eine andere Insel aus den Fluthen empor – aber ich will nicht mehr daraus hinblicken, es stimmt mich trübe.«
So sprechend, senkte sie die Augen vor sich auf die Erde, in welche ihre Füße stellenweise bis an die Knöchel einsanken.
Der Wind hatte sich erst wenig verstärkt, doch fiel es ihr auf, daß die Schicht des treibenden Flugsandes bedeutend höher geworden war, und die weißen Streifen nicht mehr, wie kurz vorher, auseinanderrissen, sondern, so weit die Luftspiegelung nicht den Erdboden mit einem bläulichen Schleier verhüllte, eine einzige bewegliche Decke bildeten.
Da fuhr ein heftigerer Windstoß über die Ebene, und indem die junge Frau ihre heiße Stirn demselben darbot, gewahrte sie, daß eine dichte Staubwolke den Spiegel des Sees trübte und zerriß.
»Ich werde meinem Knaben das schöne Schauspiel nicht mehr zeigen können, wenn der Wind noch zunimmt,« sagte sie, mit einer Anwandlung von Bedauern den zerstörten See betrachtend.
»Trinken!« rief das Kind mit noch geschlossenen Augen, im nächsten Augenblick hob es aber den Kopf empor, und mit dringenderem Ausdruck wiederholte es seinen Wunsch nach Wasser.
Die Mutter stand still und warf einen Blick rückwärts. Ueber der zurückgelegten Bahn lagerte ein dichter Schleier des treibenden Sandes; das Gebirge und der Paß waren aber noch sichtbar, und leicht berechnete sie, daß sie schon gegen sechs englische Meilen gewandert sei.
»Es ist freilich noch früh, aber trinken sollst Du, mein Kind,« sagte sie zärtlich, indem sie sich ihrer Bürde entledigte. »Ja, trinken und auch etwas essen, damit mein Engel keine Noth leidet.«
Mit diesen Worten öffnete sie das Säckchen mit dem Pinole, und nachdem sie von dem feinen, versüßten Mehl in die Tasse gethan, fügte sie so viel Wasser hinzu, bis dadurch eine Art von Suppe entstand.
Bei dieser Arbeit wurde sie daran gemahnt, daß ein Sturm in der Wüste doch wohl weniger harmlos sei, wie sie bis dahin geglaubt hatte, denn nur mit der größten Mühe vermochte sie den zudringlichen Sand, der geschickt jede kleine Oeffnung zu finden wußte, von dem Pinole und dem Wasser fern zu halten. Ernste Befürchtungen stiegen aber immer noch nicht in ihr auf, selbst auch dann noch nicht, als sie nach Befriedigung der Wünsche des Kindes die Wanderung wieder antrat und der wirbelnde Sand ihr schon bis über die Kniee reichte.
Der trügerische See war um diese Zeit wieder vollständig verschwunden; die junge Frau konnte daher die Aufmerksamkeit ihres Kindes nicht mehr auf den scheinbar Wellen schlagenden Wasserspiegel hinlenken, dafür aber gewährte der treibende Sand, der immer höher und höher stieg, ihm eine doppelte Unterhaltung, und mehrfach mußte die Mutter sich niederbeugen, um ihn nach den flüchtigen Sandtheilchen haschen zu lassen, die unhörbar und hastig der ihnen vom Winde angedeuteten Bahn nacheilten.
»Wenn die Masse nur nicht zu hoch steigt,« dachte die jetzt schon ermüdende Wanderin mit einem tiefen Seufzer, der in seltsamem Widerspruch stand zu dem Kreischen und Jubeln des entzückten Knaben. —
Doch der Sand und der zum Sturm anwachsende Wind nahmen keine Rücksicht auf das brechende Mutterherz oder auf das Engelsantlitz des kleinen Knaben. Heftiger wühlten die kreisenden Luftströmungen in dem losen Erdreich, höher und dichter jagten sich die falben Staubwollen. Schien es anfangs, als wate die Mutter mit dem Kinde in einem gelben See, so hätte man sie jetzt, aus der Ferne gesehen, für einen kühnen Schwimmer halten mögen, der, Kopf und Schultern über den Fluthen, mit aller Kraft gegen eine verderbliche Strömung ankämpfe. —
Die Besorgnisse der jungen Frau hatten sich schon längst in die ernstesten Befürchtungen verwandelt. Als sie aber die den Gaumen ausdörrenden Staub- und Sandtheilchen nicht mehr von dem Kinde fernzuhalten vermochte, und dieses einmal über das andere Mal winselnd und jammernd nach Wasser rief, da bemächtigte sich ihrer das furchtbarste Entsetzen. Sie wollte zurückeilen in den Schutz der Gebirgsschluchten und dort in der Nähe der Quelle eine Aenderung des Wetters abwarten; doch zu weit befand sie sich schon von dem Paß entfernt, und der Rest des Tages und ein Theil der Nacht wären darüber hingegangen, ehʼ sie, bei der nunmehr schon eingetretenen Erschöpfung, den ersehnten Schutz erreicht hätte. Sie fühlte, sie hatte sich zu viel zugetraut; auch sie besaß nur die Kräfte einer Sterblichen, und von einem Sandsturm, wie er jetzt ihr und ihres Kindes Leben bedrohte, hatte sie ja nie eine Ahnung gehabt.
Verzweifelnd blickte sie zu den fernen Gebirgszügen hinüber. Nur die höchsten Gipfel unterschied sie noch von ihrem niedrigen Standpunkte aus. Alles Uebrige war eine pfeilschnell dahinstreichende, erstickende Masse und blendender, unveränderlicher Sonnenschein, und immer lauter und schärfer pfiff der Wind.
Das Kind, nachdem es noch eine Weile gejammert und vergeblich gesucht hatte, durch Reiben mit den Händen den ätzenden Staub aus den Augen zu entfernen, hatte diese zuletzt gar nicht mehr zu öffnen gewagt, und war vor Schmerz und Erschöpfung wieder eingeschlummert. Die Mutter dagegen bot dem Unwetter noch immer Trotz, als die Sandschicht schon weit über ihren Kopf hinausragte. Der Berggipfel, nach welchem sie die Richtung ihrer Reise bestimmte, war ihr längst nicht mehr sichtbar; eben so waren die übrigen Gebirgszüge ihrem Gesichtskreise entschwunden. Nur der Wind und die Sonne blieben ihre Wegweiser, der Wind, der ihr mit schwereren und schärferen Steinchen die Haut peitschte, und die Sonne mit blutrother, durch den Sandnebel verfinsterter Scheibe.
Mechanisch setzte sie einen Fuß vor den andern, und matt hingen die Lider über die brennenden Augen. Ein grimmer Schmerz durchwühlte ihre Brust, ein Schmerz, zu herbe, zu tief, als daß er sich in Thränen seinen Weg hätte bahnen können. Was die junge Frau schon erduldet und gelitten, das kam jetzt nicht mehr in Betracht; sie hegte nur noch einen einzigen Gedanken, und der betraf ihr Kind und die mögliche Rettung desselben. Nur flüchtig gedachte sie der Heimath, die sie erst vor wenigen Tagen heimlich verlassen; sie gedachte derselben ohne Reue über ihr Thun, aber ein Schauder ergriff sie, als das Bild ihres Gatten ihr vor die Seele trat, das Bild Desjenigen, der sie so schändlich hintergangen hatte.
»Fortgetrieben hast Du mich in den Tod,« sagte sie verzweiflungsvoll vor sich hin, und trotz des wehenden Sandes suchte sie die Augen weit genug zu öffnen, um zwischen den Falten der Decke hindurch einen Blick auf ihr fieberhaft schlummerndes Kind zu erhaschen. »Fort in den Tod, mich und Dein Kind, wenn ein guter Gott sich nicht unserer erbarmt!« – sie wollte weiter sprechen, aber ein heftiger Windstoß erstickte ihre Stimme, und kaum noch fähig, sich aufrecht zu erhalten, schloß sie die Augen. —
»Ich kann nicht weiter,« flüsterte sie nach einigen Minuten, und indem sie zu der dunkelbraun-rothen Scheibe der Sonne emporschaute, entdeckte sie, daß sie von ihrer alten Richtung abgewichen war. »Nein, ich kann nicht mehr! O, hätte ich nur einige Stunden länger bei der Quelle verweilt, ich würde die drohende Gefahr kennen gelernt und sie vermieden haben. Armes, armes Kind, Deine eigene Mutter hat Dich in den Tod getragen, wenn nicht —«
Hier stockte ihre Stimme wieder, und mit einem unbestimmten Gefühl von Furcht und Hoffnung sank sie auf die Kniee. Sie glaubte den Ton menschlicher Stimmen vernommen zu haben, und aufmerksam lauschte sie in die Ferne.
Längere Zeit hindurch traf nur das Brausen und Pfeifen des Windes ihr Ohr; dann aber unterschied sie ganz deutlich, und zwar in nicht allzu großer Entfernung, das dumpfe Getöse, mit welchem eine Anzahl Pferde den Boden mit ihren Hufen stampften, und das Schnauben, mit welchem sie Staub und Sand aus ihren Nüstern zu entfernen trachteten.
»O wenn es Rettung wäre!« stöhnte die gequälte Mutter leise, und weiter neigte sie sich über ihren Knaben hin, um ihm Schutz gegen den Andrang des Wetters zu gewähren.
»Bei Gott! ich sage Euch, es ist vergebliche Mühe, wir mögen eben so gut umkehren und Zuflucht im Gebirge suchen,« übertönte eine rauhe Stimme das Schnauben und Pferdegetrappel.
Die junge Frau hätte aufjauchzen mögen, als sie die Nähe weißer Menschen erkannte, aber Entsetzen lähmte ihr im nächsten Augenblick wieder die Zunge, sobald sie die Stimme ihres Gatten vernahm, die Stimme desjenigen, den sie auf der ganzen Welt am meisten fürchtete.
»Sie kann nicht weit sein!« rief derselbe mit vor Ingrimm bebender Stimme aus; »sie hat an der Quelle übernachtet, und Ihr Alle habt ihre Spuren noch im Ausgange des Passes gesehen. Wären wir nur eine halbe Stunde früher inʼs Freie gelangt, so hätten wir wenigstens noch ihren Kopf aus der Ferne entdecken müssen; denn noch ist es keine zwei Stunden her, seit der Sand Manneshöhe erreichte.«
Die junge Frau, mehr einem Instinct, als einer ruhigen Ueberlegung folgend, schmiegte sich noch fester an den Boden. Sie berechnete aus dem Geräusch, daß die Reiter an ihr vorüberziehen würden, und hoffte daher unentdeckt zu bleiben.
»Eine Frau, welche dem Gatten entflieht, sollte man ruhig laufen lassen, anstatt ihr in einem solchen verfluchten Wetter nachzujagen!« sagte die erste Stimme jetzt wieder mit noch ausgeprägterem Mißmuth.
Die junge Frau schauderte; die Reiter befanden sich ihr gerade gegenüber, kaum fünfzehn Schritte weit von ihr entfernt, und der Wind trug ihr jede einzelne Silbe ihres Gespräches zu.
»Mögen die Gebeine der Abtrünnigen im Sande bleichen, wenn es mir nur gelingt, des Knaben wieder habhaft zu werden,« entgegnete derjenige, den die junge Frau als ihren Gatten erkannt hatte; »ja, ich muß ihn wiederhaben, denn einestheils ist es mein Kind, und anderntheils knüpfen sich zu große Rechte an seine Person. Alles, Alles wäre verloren, geriethe er in unrechte Hände. Wir müssen ihn finden, und wir finden ihn auch, und sollten wir ihn halbtodt unter dem Sande —«
Weiter vernahm die Mutter nichts mehr, die Reiter galoppirten schon wieder außerhalb der Hörweite dahin, und immer schwächer drang zeitweise nur noch das Schnauben und Stampfen der Pferde zu ihr herüber.
»Wer wohl heiligere Rechte an Dich besäße?« sagte sie, in Thränen ausbrechend, indem sie dem erwachenden Kinde mit Küssen den Mund schloß, denn noch immer befürchtete sie, daß ein Ruf oder ein Aufschrei des Knaben die Reiter zurückrufen würde. »O wer besäße wohl heiligere Rechte an ein Kind, als die Mutter desselben?
Aber still, mein Engel, sie sollen Dich nicht haben, um Dich ihren schändlichen Zwecken dienen zu machen. Ich rette Dich, und sollten wirklich meine Gebeine im Sande bleichen. Du mußt, Du wirst gerettet werden, oder es giebt keine Gerechtigkeit mehr im Himmel. Auch trinken sollst Du, so viel Du nur willst, und wenn der Sturm sich gelegt hat, dann kehren wir zur Quelle zurück, um dort beständigeres Wetter abzuwarten; sei darum ruhig, mein Herzenskind, Deine Mutter ist bei Dir.«
Während die von Angst und Sorge erfüllte Mutter in dieser Weise dem jammernden Knaben beruhigend zusprach, suchte sie ihm, da der dicht wirbelnde Sand den Gebrauch der Tasse nicht gestattete, das Wasser gleich aus dem Schlauch einzuflößen. Es gelang ihr dies nur mit vieler Mühe. Nachdem sie endlich seinen Durst gestillt und auch selbst einen bescheidenen Trunk zu sich genommen, legte sie sich so neben ihn hin, daß er nicht von dem Sturm getroffen werden konnte. Mittelst der Decke stellte sie sodann, dieselbe unter ihren Schultern befestigend, eine Art Zeltdach für sie Beide her, und da sie sich überzeugte, daß in dem geschützten Winkelchen der Staub nicht mehr mit erstickender Gewalt in die Luftröhren eindrang, so drückte sie ihr Kind fest an sich, um in dieser Lage das Niedergehen des Windes abzuwarten. Das Kind entschlief bald wieder; auch die Mutter vermochte nicht lange dem Schlaf Widerstand zu leisten; sie war zu erschöpft von der beschwerlichen Wanderung, zu gebrochen durch die andauernde Seelenqual.
Der Sturm, dagegen schien unermüdlich zu sein. Mit wachsender Gewalt wühlte er den lockern Boden auf, um die für seine Kräfte nicht zu schweren Steinchen und Sandtheile zu einem dichten Nebel emporzuwirbeln. Auch über die Mutter und ihr Kind strich er hin; er fand dort eine geeignete Stelle, einen Theil seiner Last abzusetzen, und schleunigst baute er vor und hinter ihnen, wie um sie allmälig zu begraben, kleine Wälle auf.
Hui! wie der Sand über den entstehenden Hügelchen kreiste und kreiste, ehe er sich niederließ, und wie die sinkende Sonne so braunroth und trübe, so ganz ohne Strahlen durch die verdichtete Atmosphäre auf das Werk des Sturmes niederschaute! Aber um die Sandhügelchen herum, unter welchen zwei lebende Wesen immer schwächer athmeten, schlich näher und näher, die gierigen Krallen nach seinen Opfern ausstreckend, der grimme, unbarmherzige Tod. —