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Des Ehebruchs verdächtigt Anna Boleyn
ОглавлениеAm Morgen des 19. Mai 1536 schritt Anna Boleyn in der Begleitung von vier Damen vom Towergebäude zur Hinrichtungsstätte auf dem Towerrasen. Unter einem Hermelinmantel trug sie ein loses Gewand aus dunkelgrauem pelzverbrämten Damast sowie einen karmesinroten Unterrock. Eine Kappe aus weißem Leinen bedeckte ihr Haar unter der Haube. Auf das in beschränkter Zahl zugelassene Publikum machte die zweite Gemahlin von König Heinrich VIII. von England einen gefassten und würdevollen Eindruck. Sie sah laut einem Augenzeugen »so frohgemut aus, als ginge sie gar nicht in den Tod« 1. Für diese Hinrichtung hatte der Monarch eigens für vierundzwanzig Pfund einen Henker aus der Region Calais kommen lassen, der einen hervorragenden Ruf für Enthauptungen mit dem Schwert genoss. Offensichtlich lag Heinrich VIII. immerhin daran, dass seine von ihm auf das Schafott geschickte Ehefrau nicht unnötig leiden musste.
Bevor sich Anna Boleyn zur Hinrichtung niederkniete, durfte sie noch eine kurze Abschiedsrede halten: »Ihr Herren, ich unterwerfe mich hier demütig dem Gesetz, da das Gesetz mich verurteilt hat, und was meine Verbrechen angeht, beschuldige ich keinen Menschen. Gott kennt sie; ich empfehle sie Gott und flehe Ihn an, Erbarmen mit meiner Seele zu haben.« Danach rief sie noch Gott an, er solle den König schützen, »den besten, edelsten und mildesten Fürsten, den es gibt« 2. Derartige Loyalitätsbekundungen ausgerechnet für den Mann, der sie wegen angeblichen Ehebruchs und Hochverrats zum Tode verurteilen ließ, muten heutzutage höchst sonderbar an, doch kam derartiges Verhalten im 16. Jahrhundert nicht selten vor, da der Herrscher als »Quelle der Ehre« betrachtet wurde. Nach diesen erschütternden Worten kniete sich Anna Boleyn nieder, ließ sich die Augen verbinden und wurde mit einem Streich geköpft.
Anna Boleyn, die zweite der insgesamt sechs Ehefrauen von König Heinrich VIII. von England, ist in die Geschichte nicht nur als die Mutter der englischen Königin Elisabeth I., einer der machtvollsten Herrscherinnen Europas, eingegangen, sondern spielt auch für die Trennung der Anglikanischen Kirche von Rom eine bedeutende Rolle. Ihr Geburtsdatum ist allerdings ebenso wenig bekannt wie ihr Geburtsort. Entweder wurde sie um 1501 oder 1507 wohl in Blickling Hall in Norfolk geboren. Ihr Vater Sir Thomas Boleyn, der als Diplomat Karriere machte, entstammte einer reichen Kaufmannsfamilie, die in den Adel aufgestiegen war. Ihre Mutter Elisabeth Howard gehörte der englischen Hocharistokratie an. Sir Thomas Boleyn sorgte dafür, dass seine begabte und vielversprechende Tochter Anna eine ausgezeichnete Erziehung am Hof der Statthalterin der Niederlande, Margarete von Österreich, erhielt. Danach kam sie als Hofdame an den französischen Königshof, wo sich bereits ihre ältere Schwester Maria aufhielt. Anna konnte hier ihre Kenntnisse in französischer Konversation, Dichtkunst und Musik sowie in höfischem Benehmen vervollkommnen. Sie spielte mehrere Instrumente und galt als hervorragende Tänzerin. In dieser Zeit wurde auch ihre Vorliebe für französische Mode geweckt. Sie war aber keine oberflächliche junge Frau, sondern interessierte sich auch für religiöse Literatur.
Als Anna Boleyn 1521 nach England zurückkehrte, wo sie ihr Vater vorteilhaft zu verehelichen gedachte, war sie bestens auf das höfische Leben vorbereitet. Wie bereits ihre Schwester Maria wurde sie zur Hofdame von Heinrichs Gemahlin Katharina von Aragón ernannt. Ihr Debüt bei Hof fiel glanzvoll aus. Anna Boleyn war zwar keine große Schönheit, scheint aber über eine starke erotische Anziehungskraft auf Männer verfügt zu haben. Sie beeindruckte vor allem durch ihren Witz, ihre Bildung und Schlagfertigkeit, wodurch sie sich sehr von den meist eher still und unterwürfig auftretenden Damen ihrer Zeit unterschied.
Zunächst interessierte sich Heinrich VIII. mehr für ihre leichtfertigere Schwester Maria, mit der ihn eine zweijährige Affäre verband. Seit dem Karneval 1526 wandte der König seine Aufmerksamkeit jedoch der anmutigen Anna Boleyn zu. Aus den Jahren 1527 und 1528 sind siebzehn eigenhändig verfasste Liebesbriefe Heinrichs in französischer und englischer Sprache an sie erhalten geblieben, obwohl er sonst das Schreiben von Briefen hasste. Von ihrer Hand sind keine derartigen Dokumente überliefert. Anna Boleyn reagierte anfangs zurückhaltend auf die Avancen des Königs. Heinrich versprach ihr daraufhin, sich um keine anderen Frauen mehr zu bemühen, wenn sie ihn erhöre: »Doch wenn Ihr geruht, den Platz einer wahren, treuen Geliebten und Freundin einzunehmen und Euch mit Leib und Seele dem zu schenken, der Euer treuer Diener war und sein will (sofern Ihr es mir nicht streng verbietet), dann verspreche ich Euch, daß Euch nicht nur diese Bezeichnung zusteht, sondern ich Euch als meine einzige Geliebte nehme, alle anderen, die um Euch sind, aus meinen Gedanken und meiner Zuneigung verbanne und nur Euch dienen werde« 3. Die Reserviertheit der jungen Hofdame gegenüber ihrem königlichen Verehrer hing nicht nur damit zusammen, dass sie keine flatterhafte Frau war, sondern findet sicherlich auch seinen Grund in den Schicksalen abgelegter oder verstoßener Mätressen von Fürstlichkeiten, die ihr warnend vor Augen standen. Anna Boleyn lehnte deshalb selbstbewusst den Status einer Geliebten für sich ab und bestand auf einer gültigen Ehe. Außerdem war sie als stolze Frau nicht bereit, sich mit einem Platz hinter der Königin zufriedenzugeben und ihre zukünftigen Kinder mit Heinrich von der Thronfolge ausgeschlossen zu sehen. Dadurch dass sie sich dem König verweigerte, steigerte sie nur noch Heinrichs Liebeswerben, der es sonst nicht gewohnt war, dass seine Wünsche nicht umgehend erfüllt wurden.
Der verliebte König entschloss sich im Mai 1527 zu einer zweiten Heirat und damit für die Möglichkeit, endlich einen legitimen Sohn als Erben zu erhalten. Seit längerer Zeit hatte sich Heinrich VIII. bereits mit der ungelösten Frage der Thronfolge und des Fortbestands seiner erst seit 1485 regierenden Dynastie des Hauses Tudor beschäftigt, da er aus seiner Ehe mit Katharina von Aragón nur eine überlebende Tochter besaß. Als Grundlage für eine Annullierung seiner beinahe zwanzig Jahre währenden Ehe führte er an, dass laut Kap. 20, 21 des 3. Buchs Mose die Heirat mit der Witwe des eigenen Bruders eine Sünde sei und mit Kinderlosigkeit gestraft würde. Katharina von Aragón war vor ihrer Ehe mit Heinrich kurze Zeit mit dessen älterem, aber früh verstorbenen Bruder Arthur verheiratet gewesen. Papst Clemens VII., dem der Fall des Königs vorgebracht wurde, befand sich jedoch in einer Zwickmühle. Abgesehen von den juristischen Schwierigkeiten sah sich der Papst auch dem Druck Kaiser Karls V., dem Neffen von Königin Katharina, ausgesetzt, von dem er abhängig war. Der Papst entschied sich daher für eine Hinhaltetaktik in dieser Frage. Das von zwei päpstlichen Legaten in England geleitete Tribunal zur Annullierung der königlichen Ehe lehnte Königin Katharina als nicht zuständig ab, sondern forderte ihr Fall solle vom Papst in Rom verhandelt werden. Sie pochte auf die Rechtmäßigkeit ihrer Ehe mit Heinrich, da sie noch Jungfrau gewesen wäre, als sie diesen heiratete. Ab 1529 beschäftigten sich verschiedene europäische Universitäten mit der Annullierungsfrage der königlichen Ehe, kamen aber zu keinem einheitlichen Ergebnis. Dass Heinrich VIII. wegen Anna Boleyn auf jeden Fall eine Trennung von Katharina wünschte, war dem kaiserlichen Gesandten Eustace Chapuys nur zu klar: »Des Königs Leidenschaft für die Dame, im Verein mit seinem Starrsinn, war dergestalt, daß keine Möglichkeit blieb, ihn durch Sanftmut oder schöne Worte an sein Pflichtgefühl zu erinnern« 4.
Hatte Heinrich VIII. anfangs den Schein noch aufrecht erhalten, ging er bald dazu über, Anna Boleyn bei Hofe als seine Ehefrau zu behandeln, obwohl er immer noch mit Katharina von Aragón verheiratet war. Er küsste Anna in aller Öffentlichkeit und beschenkte sie reich. Während er ihren Vater zum Grafen von Wiltshire erhob, machte er sie selbst zum Marquis von Pembroke mit dem Recht diesen Titel zu vererben. Außerdem räumte er ihr den Vortritt vor seinen Schwestern ein. Königin Katharina, die auf der Rechtmäßigkeit ihrer Ehe mit Heinrich beharrte, wurde vom Hof verbannt und lebte seit Juli 1531 mit ihrem Hofstaat in ländlicher Abgeschiedenheit. Als sich Heinrich VIII. mit dem französischen König Franz I. im Oktober 1532 in Calais traf, trat Anna Boleyn an seiner Seite als erste Dame seines Hofes auf. Für diesen Anlass hatte ihr die verbannte Königin auf Befehl Heinrichs die königlichen Juwelen übergeben müssen, die Anna Boleyn bei offiziellen Empfängen und auf Festen trug. Wahrscheinlich gab sie kurz nach ihrer Rückkehr nach England Heinrichs Werben endlich nach. Als sie daher im Januar 1533 dem König mitteilte, dass sie schwanger sei, musste der König nun rasch handeln, um eine legitime Geburt seines Kindes sicherzustellen. Am 25. Januar 1533 heiratete er Anna Boleyn heimlich. Da Papst Clemens VII. aber nicht bereit war, Heinrichs Ehe mit der spanischen Prinzessin zu annullieren, wandte sich der König von der römisch-katholischen Kirche ab und gründete die Anglikanische Landeskirche, um so die Heirat mit Anna Boleyn zu ermöglichen. Im März 1533 erließ das englische Parlament ein Gesetz, das es verbot, in Zukunft in kirchenrechtlichen Fragen an den Papst zu appellieren und unterstellte gleichzeitig die geistliche Gerichtsbarkeit der königlichen. Nachdem am 23. Mai Heinrichs erste Ehe mit Katharina von Aragón vom Erzbischof von Canterbury für nichtig erklärt und die Heirat mit Anna Boleyn rückwirkend bestätigt worden war, fand am 1. Juni 1533 Anna Boleyns feierliche Krönung zur englischen Königin statt. Die Londoner brachten der neuen, sichtbar schwangeren Königin jedoch nur wenig Begeisterung entgegen, da Katharina von Aragón in der Bevölkerung beliebt war. Für Anna Boleyn sollte die Krönung trotzdem den glanzvollen Höhepunkt ihres Lebens bilden. Mit der Scheidung Heinrichs VIII. von seiner ersten Ehefrau und seiner zweiten Heirat begann die englische Reformation. Der Vatikan reagierte auf die Ereignisse mit dem Kirchenbann. Daraufhin erklärte sich der König Ende 1534 zum Oberhaupt der englischen Kirche, das alleine über religiöse Fragen zu entscheiden befugt war. Auf die Suprematsakte folgte die Sukzessionsakte, die Heinrichs Tochter Maria aus erster Ehe für illegitim erklärte und von der Thronfolge ausschloss und im Gegenzug die Kinder aus der zweiten Ehe als rechtmäßige Erben postulierte. Hinzu kam noch die Hochverratsakte, die jede Äußerung, die die Stellung des Königs als Oberhaupt der Kirche und das Thronfolgegesetz in Zweifel zog, mit der Todesstrafe bzw. lebenslänglicher Gefängnisstrafe bedrohte. England spaltete sich damit endgültig von der römisch-katholischen Kirche ab. Anna Boleyn, die zum Luthertum hinneigte, begrüßte diese Entwicklung.
Ein erster Schatten fiel bereits auf die Ehe Anna Boleyns mit Heinrich VIII., als sie am 7. September 1533 in Greenwich nicht den heiß ersehnten Sohn zur Welt brachte, sondern von einer Tochter, der späteren Königin Elisabeth I., entbunden wurde. Der enttäuschte König, der für den erwarteten Sohn die Namen Heinrich oder Eduard vorgesehen hatte, blieb demonstrativ der Taufe fern. Ein für die Tauffeierlichkeiten geplantes Turnier wurde von ihm abgesagt. Trotzdem musste Heinrichs Tochter Maria den Titel einer Fürstin von Wales an ihre kleine Halbschwester Elisabeth abgeben, da diese nun als Thronerbin galt. Später unternommene Annäherungsversuche von Anna Boleyn an die zutiefst verbitterte ältere Tochter ihres Ehemanns schmetterte diese mit dem Hinweis ab, dass sie »keine andere Königin« 5 außer ihr Mutter kenne. Durch ihr oft herrisches Wesen und ihren zuweilen sarkastischen Humor gewann sich die neue Königin nicht eben viele Freunde bei Hof. Für die brutale Unterdrückung der klerikalen Opposition durch Heinrich VIII. wurde Anna Boleyn von der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin Katharina blieb sie unpopulär.
Trotz der Enttäuschung über die Geburt von Elisabeth führte Anna Boleyn zunächst noch eine harmonische Ehe mit dem König. Als im Juli 1534 eine erneute Schwangerschaft der Königin mit einer Totgeburt endete, begann jedoch Heinrichs Liebe zu ihr langsam abzukühlen, da sie seine Hoffnungen wieder enttäuscht hatte. Offenbar ließ auch ihre sexuelle Anziehungskraft auf ihren Mann nach. Ihre Launenhaftigkeit erregte zunehmend sein Missfallen. Hatte er ihre scharfe Zunge und ihren Witz früher als aufregend empfunden, schätzte es der König jetzt immer weniger, wenn er von seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit in Dispute verwickelt wurde. Im Unterschied zu Heinrichs erster Gattin tolerierte Anna Boleyn auch nicht seine Seitensprünge, sondern überschüttete ihn stattdessen mit Vorwürfen. Nachdem Katharina von Aragón am 7. Januar 1536 an Krebs gestorben war, verschlechterte sich die Lage für Königin Anna dramatisch. Solange die erste Ehefrau noch am Leben war, konnte sich der König nicht gut innerhalb nur weniger Jahre wieder von der zweiten Gattin trennen. Heinrich VIII. befürchtete wohl auch, dass die Ehe mit Katharina automatisch wieder gültig würde, wenn er seine zweite Ehe für ungültig erklären würde. Als Anna Boleyn am Tag von Katharinas Beisetzung, am 29. Januar 1536, eine zweite Fehlgeburt erlitt, war ihr Schicksal so gut wie besiegelt. Dass sie dies ahnte, beweist ihr Nervenzusammenbruch nach dieser zweiten Totgeburt.
Wie einst Königin Katharina zog sich auch Anna Boleyn Heinrichs Ungnade durch ihr Unvermögen zu, ihm die gewünschten männlichen Thronerben zu schenken. Heinrich VIII., der sich Ende 1535 in Annas Hofdame Jane Seymour verliebt hatte, war im Frühjahr 1536 nicht länger an einer Fortsetzung seiner zweiten Ehe interessiert. Eine erneute Eheannullierung kam jedoch nicht in Frage, da dies Heinrichs Ruf gefährdet hätte. Um sich seiner ungeliebten Ehefrau aber endgültig entledigen zu können, musste diese deshalb mittels eines Todesurteils »legal« aus dem Weg geräumt werden. Anna Boleyns Gegnern am Hof war diese Entwicklung nicht entgangen. Sie bestärkten Heinrich daher in seinen Absichten. Die genauen Gründe für diese vom Hof ausgehende Intrige gegen Anna Boleyn lassen sich nicht mehr feststellen. Bei dem Komplott spielten politische, religiöse und private Gründe eine Rolle. Vermutlich haben die ehrgeizigen Brüder von Jane Seymour zusammen mit dem Lordkanzler Thomas Cromwell die Aktion gegen die Königin geplant und gezielt Gerüchte und Verdächtigungen gegen Anna Boleyn gestreut. Zu dieser mächtigen Clique gehörten auch Oberstallmeister Nicholas Carewe, der Marquis von Exeter sowie Lord Henry Montague. Für Cromwell, der sozusagen die Führung des Komplotts übernahm, stand Königin Anna vor allem der außenpolitischen Wiederannäherung an Kaiser Karl V. im Weg.
König Heinrich VIII. fing an, seine Gemahlin zu beschuldigen, ihn durch Hexenkünste in die Ehe mit ihr getrieben zu haben. Der König steigerte sich regelrecht, wozu er offensichtlich gerne neigte, in pathologisches Selbstmitleid hinein. Seit April 1536 ließ Heinrich daher Informationen gegen Anna Boleyn sammeln, die eine Hochverratsklage unterstützen würden. Er installierte dafür eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Annas Onkel Thomas Howard, dem Herzog von Norfolk. Am 1. Mai 1536 traten Anna Boleyn und Heinrich VIII. bei dem Besuch eines Turniers in Greenwich zum letzten Mal gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Der König verließ die Veranstaltung allerdings vorzeitig. Anna Boleyn sollte ihn nie wiedersehen. Einen Tag später wurde sie in Greenwich verhaftet, mit den gegen sie erhobenen Anklagepunkten konfrontiert und danach in den Tower nach London gebracht. Die völlig verängstigte Königin verbrachte die nächsten Tage in einem Zustand nahe dem Wahnsinn, der zwischen verschiedenen hysterischen Gefühlsaufwallungen schwankte. Am 6. Mai schrieb sie einen flehentlichen Brief an Heinrich VIII., wohlwissend dass ihr weiteres Schicksal völlig von der Gnade oder Ungnade ihres Ehemannes abhing: »Kein Fürst hat je eine treuere Gattin in aller Pflicht und aller wahrhaften Zuneigung gehabt, als Ihr in Anne Boleyn gefunden habt. (...) Lasst mich verhören, guter König, aber gebt mir ein gerechtes Gerichtsverfahren, und lasst nicht meine geschworenen Feinde als meine Ankläger und Richter über mich zu Gericht sitzen. Ja, gebt mir ein öffentliches Gerichtsverfahren, denn meine Wahrheit wird keine öffentliche Schande zu fürchten haben. Dann werdet Ihr entweder meine Unschuld gereinigt, Euren Argwohn und Euer Gewissen zufrieden gestellt, die Bosheit und Verleumdung der Welt zum Schweigen gebracht oder meine Schuld öffentlich erklärt sehen, sodass, was auch immer Gott und Ihr über mich beschließen mögen, Euer Gnaden von einer öffentlichen Kritik befreit sein werden, und wenn meine Schuld dann gesetzlich erwiesen ist, wird es Euer Gnaden sowohl vor Gott wie vor den Menschen freistehen, nicht allein gesetzliche Strafe an mir als einer ungetreuen Gattin zu vollziehen, sondern auch Eurer Neigung, die bereits feststeht, zu folgen, um derentwillen ich da bin, wo ich jetzt bin (...) Meine letzte und einzige Bitte sei, dass ich allein das Gewicht von Euer Gnaden Missfallen zu tragen habe und dass es nicht die unschuldigen Seelen der armen Edelleute treffen möge, die, wie ich höre, ebenfalls in strengem Gewahrsam sind um meinetwillen« 6.
Königin Anna wurde des Ehebruchs in fünf Fällen angeklagt sowie des Inzests mit ihrem Bruder Georg Boleyn, Graf von Rochford. Außerdem warf man ihr die Beteiligung an einer mörderischen Verschwörung gegen den König vor. Letzteres erscheint völlig aus der Luft gegriffen, da ihre Position gänzlich von der Person des Königs abhängig war. Weder ihr Onkel Thomas Howard, der den Vorsitz innehatte, noch Thomas Boleyn, der Vater von Anna und Georg, versuchten den beiden Geschwistern bei diesem Schauprozess zu helfen. Das ganze Gerichtsverfahren war eine reine Farce, da die erhobenen Anschuldigungen nicht wirklich bewiesen werden konnten. So stellte etwa Annas Schwägerin, Gräfin Jane Rochford, die ihr feindlich gesonnen war, die Behauptung auf, dass eine »ungehörige Vertraulichkeit« 7 zwischen den Geschwistern vorgefallen sei. Als die Gräfin 1542 selbst hingerichtet werden sollte, bekannte sie, dass sie damals zu Unrecht ihren Mann beschuldigt hatte. Während der Verhandlung trat Anna Boleyn ruhig und gefasst auf und beteuerte ihre Unschuld. Wie vom König gewünscht wurde sie am 15. Mai vor etwa 2000 Zuschauern zum Tode verurteilt. Auch ihre angeblichen Liebhaber, zu denen außer ihrem Bruder noch der Schatzmeister der königlichen Privatschatulle, Sir Henry Norris, die Kammerherren Sir Francis Weston und William Brereton sowie der Hofmusiker Marc Smeaton gehörten, wurden zum Tode verurteilt. Es mutet makaber an, dass sich Heinrich VIII. persönlich um die Vorbereitung der Hinrichtungen kümmerte. Da ihr die erbetene Gnade nicht gewährt wurde, wurde Anna Boleyn am 19. Mai 1536 hingerichtet. Noch vor der Vollstreckung des Urteils wurde ihre Ehe mit Heinrich VIII. durch den Erzbischof von Canterbury mit der Begründung annulliert, dass der König vorher eine Beziehung mit Annas Schwester unterhalten hatte, wodurch angeblich eine verwandtschaftliche Beziehung entstanden sei. Eine neue Sukzessionsakte erklärte außerdem die gemeinsame Tochter von Anna Boleyn und Heinrich VIII., Prinzessin Elisabeth, für illegitim. Am 30. Mai schloss König Heinrich VIII. seine dritte Ehe mit Jane Seymour, mit der er sich geschmackloser Weise bereits am Tag nach Annas Hinrichtung verlobt hatte.