Читать книгу Rosen Der Liebe - Barbara Cartland - Страница 2
1 ~ 1814
ОглавлениеAls die offene Kutsche in eine belebte Straße einbog, war von ferne Musik zu hören.
Odella Wayne, die in Fahrtrichtung saß, beugte sich vor und versuchte zu ergründen, woher die Musik kam.
Als sie sah, daß weiter oben die Menschen hastig die Mitte der Straße freimachten, stieß sie leise einen Freudenschrei aus.
»Ein Umzug von Zirkusleuten!«
Emily, das Dienstmädchen, das ihr gegenübersaß, rief: »Wie aufregend, Miss Odella!«
Der Kutscher, ein älterer Mann, der dem Pfarrer schon seit vielen Jahren diente, lenkte die Pferde an den Straßenrand.
»Wir müssen warten, bis sie vorbeigezogen sind, Miss Odella«, sagte er über die Schulter.
»Das ist mir recht, Thompson«, erwiderte Odella. »So können wir alles viel besser sehen. Komm, setz dich neben mich, Emily«, sagte Odella freundlich. »Von hier aus kannst du den Umzug besser überblicken.«
»Oh, vielen Dank, Miss Odella!« rief Emily. »Schon seit meiner frühesten Kindheit bin ich vom Zirkus begeistert!«
Odella lächelte verständnisvoll, denn sie wußte, daß dies nicht allzu lange zurückliegen konnte.
Nachdem sie heute beschlossen hatte, nach Portsmouth zum Einkaufen zu fahren, ließ sie die Kutsche anspannen, die ihr Vater gewöhnlich benützte. Doch zur Zeit war er verreist.
Sie fragte Mrs. Barnet, die Haushälterin, ob sie in die Stadt mitkommen wollte, worauf die ältere Frau nur kurz erwiderte: »Lieber nicht, Miss Odella. Ich habe noch so viel zu tun, denn nur wenn der Herr verreist ist, kann ich sein Zimmer säubern. Sie wissen ja, wie er sich aufführt, wenn ich seine Bücher anfasse.«
Odella lächelte.
»Sie haben recht, wenn Sie die Gelegenheit ausnützen«, stimmte Odella zu. »Papa regt sich immer sehr auf, wenn wir seine Bücher anrühren, besonders diejenigen, die er für seine Arbeit braucht.«
Der Pfarrer schrieb gerade ein Geschichtswerk über seine Gemeinde, das Dorf Nettleway.
Da er dazu viele Nachschlagewerke benötigte, türmten sich die Bücher auf allen Tischen im Arbeitszimmer und auch auf dem Fußboden.
Odella konnte Mrs. Barnets Wunsch gut verstehen, das Zimmer zu reinigen und in Ordnung zu bringen, während er außer Haus war.
»Ich möchte in Portsmouth ein paar Dinge einkaufen«, sagte Odella. »Ich nehme Emily mit, denn Papa wäre es sicher nicht recht, wenn ich allein fahren würde.«
»Wahrhaftig nicht!« rief Mrs. Barnet, als hätte Odella etwas Unschickliches gesagt. »Ihre Mutter, Gott hab' sie selig, hätte Sie nie und nimmer allein in die Stadt fahren lassen!«
Das stimmte, dachte Odella, denn im Augenblick unterschied sich die Stadt sehr von dem alten Portsmouth vor dem Krieg.
Das Blatt gegen Napoleon schien sich gewendet zu haben, und Wellington schickte jeden Tag ermutigende Berichte über seinen Vormarsch.
Die Menschen zeigten sich hoffnungsvoller als im vergangenen Jahr.
Seit dem letzten Frühjahr und Sommer waren die Straßen nach Portsmouth und Plymouth voller Truppen gewesen.
Man sah häufig die rasselnde Gardekavallerie mit ihren prächtigen Uniformen und den herrlichen Pferden.
Reservebataillone zogen vorbei, die zur Verstärkung der Soldaten vorgesehen waren, die durch den lang anhaltenden Krieg in Spanien schon zu Veteranen geworden waren.
Abteilungen rotwangiger Milizsoldaten in neuen Uniformen und mit grob gewebten Fahnen marschierten mit Trommeln und Pfeifen durch die Straßen, und kleine Jungen rannten ihnen aufgeregt hinterher.
Die Frauen liefen an Türen und Fenster, um sie vorbeiziehen zu sehen.
Die älteren unter ihnen beklagten, daß »die jungen Lämmer jetzt zur Schlachtbank« geführt würden.
Und die alten Männer, die verwundet nach England zurückgekehrt waren, murrten, daß diese jungen Soldaten nicht wüßten, »was ihnen noch bevorstand«.
Odella und ihr Vater hatten oft darüber gesprochen, was die Soldaten in der Biskaya erwartete.
Sie fragte sich öfter, was die jungen Soldaten wohl denken und fühlten würden, wenn sie zum ersten Mal die nackten, gelbbraunen Küsten Portugals erblickten.
Die Soldaten, die von dort zurückkamen, berichteten dem Pfarrer ausführlich über ihre Erlebnisse, denn sie waren der Meinung, er sei der einzige Mensch im Dorf, der sie wirklich verstand.
Sie schilderten ihm nur allzu lebhaft den Schmutz und Gestank von Lissabon.
Sie sprachen darüber, was sie empfunden hatten, als sie von der Kaserne in Belem ausrückten und über den langen Bergpfad zur Grenze zwischen Portugal und Spanien marschierten.
Über einige ihrer Geschichten hätte Odella am liebsten weinen mögen, aber andere waren wiederum auch recht lustig gewesen.
Der Sohn des Doktors, Tim Howland, war nur leicht verwundet nach Hause zurückgekehrt.
Er erzählte dem Pfarrer in äußerst farbigen Worten, was er und seine Kameraden erlebt hatten.
Wie sie von Wanzen zerstochen, mit wunden Füßen und ganz verdreckt nach langen Märschen schließlich bei den abgerissenen, aber munteren Altgedienten angekommen waren, die nun ab sofort ihre Kameraden sein sollten.
»Hier begann unsere Lehrzeit«, sagte Tim.
Der Pfarrer runzelte die Stirn, und Tim fuhr fort: »Major O'Hara vom Schützenkorps führte uns an eine Stelle, von der aus wir den Feind in der darunterliegenden Ebene sehen konnte.
,Dort unten sind die Franzosen!' bellte er mit seiner Kasernenhofstimme. ,Ihr müßt diese Burschen töten und dürft es nicht zulassen, daß sie euch töten! Ihr müßt lernen, das gleiche zu tun wie diese alten Hasen und in Deckung zu gehen, wenn es irgend möglich ist! Denkt daran, Rekruten, ihr seid hierhergekommen um zu töten, und nicht, um getötet zu werden! Merkt euch das! Wenn ihr die Franzosen nicht tötet, töten sie euch!'«
»Das waren allerdings sehr harte Worte«, bemerkte der Pfarrer.
»Das dachten wir auch«, erwiderte Tim. »Aber der Major hatte recht, das sollten wir sehr bald feststellen.«
Nachdem Odella solche Geschichten gehört hatte, betete sie für alle Soldaten, die durch die Straßen zogen.
Solange sie noch hinter den Trommeln und Pfeifen hermarschierten, genossen sie offensichtlich die Hochrufe der Menge.
Und es gefiel ihnen, wenn die jungen Mädchen ihnen eine Blume in die Hand drückten oder sie auf die Wange küßten.
Doch Odella fragte sich, wie viele von ihnen wohl zurückkehren und wie viele in namenlosen Gräbern bestattet werden würden.
Wellington befehligte seit Beginn der großen Offensive im Mai 1813 mehr als fünfzigtausend britische Soldaten und fast dreißigtausend Portugiesen.
Nun, im folgenden Februar, hatte Wellington jenseits der Pyrenäen Fuß gefaßt, und die Menschen in Spanien waren seine Freunde geworden.
Als Odella so in ihren Gedanken versunken war, rief Emily: »Oh, Miss, schauen Sie nur!«
Die Musik wurde lauter, und es waren nicht die Pfeifen und Trommeln, die Odella in letzter Zeit so oft gehört hatte.
Sie beugte sich aus der Kutsche und blickte die Straße hinauf.
Jetzt kam eine bunte Zirkusparade direkt die Straße herab und auf sie zu.
Sie wurde von einem Mann angeführt, der einen roten Rock und einen schwarzen Zylinder trug. Diesen lüftete er immer wieder vor den Frauen, die ihm zuwinkten.
Er ritt auf einem stattlichen schwarzen Pferd.
Dahinter kamen vier weitere Pferde, auf denen hübsche junge Mädchen saßen. Sie trugen Ballettröckchen, die ihre wohlgeformten Beine zur Geltung brachten, und waren mit glitzernden Kronen, wippenden Federn und funkelnden, wenn auch falschen Juwelen geschmückt.
Emily war so aufgeregt, daß sie von ihrem Platz neben Odella aufsprang.
Sie kniete sich jetzt auf den gegenüberliegenden Sitz.
Von dort aus konnte sie die Straße besser überblicken, ohne ihrer Herrin die Sicht zu versperren.
Die Zirkusleute kamen näher.
Nun sah Odella, daß die Musikkapelle auf einem Wagen saß, der von zwei Schimmeln gezogen wurde.
Der Mann auf dem Kutschbock trug das Fell und den Kopf eines Tigers.
Musikinstrumente wie Becken wurden geschlagen, und sie machten den größtmöglichen Lärm, und zum Entzücken der Menge dröhnte die große Pauke.
Die Musiker trugen Fantasiekostüme.
Diesem Wagen folgten Clowns, die mit den Zuschauern Possen rissen und vor den Kindern mit Luftballons an langen Stöcken wedelten.
Sie zogen die Ballons jedoch rasch weg, wenn die Jungen nach ihnen griffen.
Es war unmöglich, nicht über die Clowns mit ihren weißen Gesichtern, den übertrieben roten Lippen und den komischen weiten Hosen zu lachen.
Mit jeder Bewegung, die sie machten und mit jedem Wort, das sie sagten, lösten sie bei den Zuschauern schallendes Gelächter aus.
Auf einem weiteren Wagen saß eine spektakuläre Gestalt, die nicht wie die anderen scharlachrot, sondern in glitzerndes Silber gekleidet war.
Sie saß auf einer Art Thron, und ihr schimmerndes Gewand fing die Sonnenstrahlen ein. Es bedeckte ihren ganzen Körper und auch ihren Kopf.
Vor dem Gesicht trug sie einen orientalischen Schleier.
Man konnte nur ihre Augen sehen.
In der einen Hand hielt sie eine große Kristallkugel und in der anderen ein Kartenspiel.
»Das wird die Wahrsagerin sein, Miss Odella«, rief Emily aufgeregt. »Ich habe schon viel von ihr gehört!«
Odella fand, daß die Person tatsächlich danach aussah.
In diesem Augenblick gebot der Mann mit dem schwarzen Zylinder und dem roten Rock der Gruppe Halt.
Er brachte sein Pferd zum Stehen, und die beiden Wagen hinter ihm hielten an.
»Meine Damen und Herren!« rief er mit einer Stimme, die zwischen den Häusern widerhallte und die Menschenmenge zum Schweigen brachte. »Freunde von Portsmouth! Heute nachmittag um drei Uhr findet im Zirkus auf dem Lincoln Field die erste Vorstellung statt und die zweite um sechs Uhr! Kommt und besucht uns! Kommt und seht euch unsere reizenden Ballerinas zu Pferd an, erlebt, wie unsere Clowns euch zum Lachen bringen, und befragt Madame Zosina, die wahrsagen wird, welche großartigen Überraschungen euch in der Zukunft erwarten.«.
Er legte eine Pause ein und rief dann mit enthusiastischer Stimme: »Da wir allen tapferen Männern, die gegen Napoleon kämpfen werden, Glück wünschen, wird Madame Zosina jedem Soldaten für die Hälfte des Preises, den alle anderen bezahlen müssen, die Zukunft vorhersagen!«
Dafür erntete er lauten Beifall.
Madame Zosina neigte huldvoll den Kopf, zuerst nach der einen und dann nach der anderen Straßenseite.
»Um drei Uhr!« rief der Mann. »Und verspätet euch nicht!«
Die Musikkapelle begann wieder zu spielen, und im Nu waren die Zirkusleute weitergezogen. Die Leute auf den Gehwegen und an den Fenstern winkten ihnen nach.
Eine Schar kleiner Jungen rannte neben den Pferden und Wagen her.
Als die Zirkusleute aus dem Blickfeld verschwunden waren, sagte Emily sehnsüchtig: »Das war wirklich großartig, Miss Odella. Ich würde mir so gern die Zukunft vorhersagen lassen!«
Sie sah Odella flehentlich an.
Odella mochte das Mädchen. Emily war erst siebzehn Jahre alt, nur ein Jahr jünger als sie selbst.
»Wenn wir unsere Einkäufe rasch erledigen, können wir vielleicht danach den Zirkus besuchen«, sagte sie.
Emily faltete die Hände.
»Oh, Miss Odella, meinen Sie wirklich? Ich würde mich mein ganzes Leben lang daran erinnern!«
»Ich hoffe für dich, du wirst noch sehr viel Schöneres erleben, woran du dich erinnern möchtest«, erwiderte Odella. »Aber wir haben es heute nicht eilig, nach Hause zu kommen, da mein Vater verreist ist. Wir gehen in den Zirkus. Aber zuerst müssen wir unsere Besorgungen erledigen.«
Die Kutsche war weitergefahren und Thompson bog bereits in die Einkaufsstraße ein.
Odella hatte eine Liste zusammengestellt, auf der alles stand, was Betsy, die Köchin, und Mrs. Barnet im Haushalt brauchten.
Betsy war seit vielen Jahren im Pfarrhaus tätig, und sie beschwerte sich ständig darüber, daß es in den Dorfläden nicht die Waren gab, die sie dringend in der Küche benötigte.
Es war eine alte Klage, und Odella hatte sie schon hundertmal gehört.
Deshalb hatte sie alles aufgeschrieben, was Betsy haben wollte.
Obwohl die Besorgungen einige Zeit in Anspruch nahmen, hatten sie alles Notwendige eingekauft, ehe es Viertel vor drei war.
Odella war beim Einkaufen aufgefallen, daß Emily immer wieder verstohlen auf die Uhr sah, während sie nach diesem oder jenem fragte.
Emily hatte die Befürchtung, sie würden im Zirkus keine Plätze mehr bekommen, wenn sie sich zu sehr verspäteten.
Odella aber war der Meinung, daß die Nachmittagsvorstellung kaum ausverkauft sein würde.
Am Abend dagegen, wenn die Geschäfte geschlossen waren und die Menschen ihre Arbeit verrichtet hatten, würden sie gewiß zum Lincoln Field strömen, wo das Zirkuszelt aufgebaut worden war.
Dann wäre jeder Platz besetzt.
Als Odella schließlich Thompson sagte, wohin er sie fahren sollte, sprang Emily vor Freude in die Luft.
»Nun, was möchtest du am liebsten tun, Emily?« fragte Odella. »Sollen wir zuerst in das große Zelt gehen und die Clowns, die Pferde und vermutlich auch Affen sehen, oder willst du lieber Madame Zosina besuchen?«
Emily dachte darüber nach, und da ihr die Wahl schwerfiel, dauerte dies einige Zeit.
»Ich würde gern zuerst zu Madame Zosina gehen, Miss Odella«, erwiderte sie schließlich. »So früh am Nachmittag warten dort bestimmt nicht viele Leute, und später ist sie vielleicht nicht mehr da, wenn wir zu ihr kommen.«
Odella lachte und dachte, daß dieser Gedanke Emilys ganz vernünftig war.
»Also gut, gehen wir zuerst zu Madame Zosina«, sagte sie.
Als sie auf dem Lincoln Field ankamen, sahen sie Madame Zosinas Zelt sofort.
Es stand zwar abseits von den anderen Zelten, doch es hob sich dadurch hervor, daß es rot und mit ihrem Namen in goldenen Lettern geschmückt war.
Vor dem Zelt standen zwei große Palmen in Kübeln.
Odella kaufte die Eintrittskarten und ging mit Emily ins Zelt.
Im Innern des Zeltes standen auf beiden Seiten je eine Reihe Stühle für diejenigen, die darauf warteten, ins ,Heiligtum' von Madame Zosina eingelassen zu werden.
Madame Zosina saß hinter einem glitzernden Vorhang verborgen, der ihrem Gewand sehr ähnelte, das sie beim Umzug durch die Stadt getragen hatte.
Odella durchschaute es sofort, daß die ganze Aufmachung nur dazu angetan war, die Fantasie und die Erwartungen derjenigen anzuregen, die die Wahrsagerin aufsuchten.
Zwei Matrosen warteten bereits darauf, daß Madame Zosina ihnen die Zukunft vorhersagen werde.
Kurz nachdem Odella und Emily sich hingesetzt hatten, kam ein Matrose hinter dem glitzernden Vorhang hervor.
Er blieb bei den Wartenden stehen.
Als der eine junge Mann aufsprang, um seinen Platz hinter dem Vorhang einzunehmen, sagte er zu ihm: »Sie ist fabelhaft! Wirklich toll! Und du kannst stolz darauf sein, daß du mich kennst!«
Der junge Mann verschwand hinter dem glitzernden Vorhang.
Sein Freund, der zurückblieb, lachte.
»Wenn sie dir gesagt hat, daß du in Kürze Admiral wirst, solltest du kein Wort davon glauben!«
»Du wirst dich noch wundern!« erwiderte der Matrose, und er trat daraufhin beschwingt in den Sonnenschein hinaus.
Der Matrose, mit dem er sich unterhalten hatte, setzte sich auf den Stuhl neben dem Vorhang.
Damit sich niemand vordrängeln konnte, rückte Odella einen Platz weiter.
Kurz darauf kamen drei Mädchen ins Zelt und nahmen auf der anderen Seite Platz.
»Wir müssen warten«, flüsterte eines der Mädchen.
»Aber es wird sich lohnen, dafür, daß wir die Zukunft vorhergesagt bekommen«, antwortete eine andere. »Ich wüßte zu gern, ob Bert es ernst meint oder nicht. Er redet viel, aber er sagt nicht das, was ich gern hören möchte.«
Odella lächelte im Stillen.
Sie dachte, daß es nicht besonders schwer war, den Mädchen in ihrem Dorf die Zukunft vorherzusagen. Sie selbst hatte das recht oft getan.
Schon als Kind hatte sie eine intuitive Begabung und manche Dinge über Menschen gewußt, ohne daß man ihr vorher irgendetwas über sie erzählt hatte.
Sie trat in dem Basar, den ihr Vater jeden Sommer für die Kirche organisierte, als ,Wahrsagerin' auf, und auch kurz vor Weihnachten, wenn sie für das Fest Geld sammeln wollten.
Die Dorfbewohner schätzten ihre Vorhersagen und glaubten ihr jedes Wort.
Ihre Mutter hatte sie jedoch immer gewarnt und beschworen, vorsichtig zu sein und in niemandem falsche Hoffnungen zu wecken.
»Ich weiß, mein Liebling, daß du manchmal Dinge vorausahnst, die andere Menschen nicht sehen. Das ist eine Gottesgabe. Aber du darfst sie niemals mißbrauchen. Du darfst nichts versprechen, was nicht in Erfüllung gehen kann. Denn Menschen, die nicht erhalten, was sie für sich erhoffen, können sehr unglücklich werden.«
Odella hatte ihre Mutter verstanden.
Deshalb war sie in ihren Vorhersagen immer sehr vorsichtig gewesen.
Wenn sie nicht absolut überzeugt davon war, daß das, was sie sagte, tatsächlich auch eintreten würde, weckte sie in niemandem Hoffnungen.
Hoffnungen zu wecken, das war im Laufe der Kriegswirren auch immer schwieriger geworden.
Denn fast jede Familie im Dorf hatte zumindest einen Angehörigen, der nach Spanien in den Krieg eingezogen worden war.
Und obwohl Odella niemals darüber sprach, hatte sie manchmal den Tod mehrerer junger Männer vorhergesehen.
Oft lange, bevor deren Verwandte benachrichtigt wurden, hatte sie schon gewußt, daß sie im Dienst für ihr Land gefallen waren.
Zweimal dagegen hatte sie ganz sicher gespürt, daß der Mann heimkehren würde, den seine Familie schon verloren gegeben hatte.
Und ihre Ahnungen hatten sich bestätigt: der eine kam verwundet und der andere blind nach Hause.
Jetzt dachte Odella sich, daß es interessant sei zu hören, wie Madame Zosina mit ihren Kunden umging.
Sie wollte herausfinden, ob sie eine echte Wahrsagerin war oder diese Rolle nur spielte.
Immer wenn ein Zirkus nach Portsmouth oder Gosport kam, befand sich unter den Künstlern gewöhnlich auch eine Wahrsagerin.
Aber nach allem, was Odella über sie gehört hatte, war sie überzeugt davon, daß die meisten Schwindlerinnen waren. Sie nützten die menschliche Schwäche aus, die Zukunft im Voraus kennen zu wollen.
Der junge Mann blieb ziemlich lange bei Madame Zosina hinter dem Vorhang.
Als er wiederhervorkam, strahlte er.
»Viel Glück, Joe«, sagte er zu seinem Freund. »Ich warte draußen auf dich!«
Während er lächelnd das Zelt verließ, ging Joe durch den glitzernden Vorhang zu Madame Zosina.
Odella rückte einen Platz weiter.
Jetzt konnte sie schwach, aber noch deutlich genug hören, was hinter dem Vorhang gesprochen wurde.
»Guten Tag, Seemann«, begrüßte ihn eine sanfte Stimme.
»Tag, Ma'am«, antwortete Joe. »Meine Freunde haben mir erzählt, wie großartig Sie sind. Nun möchte ich hören, wie meine Zukunft aussieht.«
»Ich erwarte, daß Sie ins Ausland reisen werden«, sagte Madame Zosina sehr sanft. »Sie wollen wissen, was Sie dort erleben, wenn Sie angekommen sind?«
»Genau«, stimmte Joe zu.
Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen.
Odella vermutete, daß Madame Zosina in ihre Kristallkugel blickte, während Joe wartete.
»Ich sehe Sie mit einem großen Schiff reisen, und ich glaube, Sie fahren nach Frankreich.«
Joe mußte das mit einem Kopfnicken bestätigt haben, denn Madame Zosina fuhr fort: »Sie müssen einer hübschen jungen Dame Lebewohl sagen.«
»Das stimmt«, bestätigte Joe. »Wird sie mir treu sein, solange ich weg bin?«
»Ganz gewiß«, antwortete Madame Zosina. »Ich glaube, Sie sind sehr unglücklich, weil Sie sie verlassen müssen.«
Joe murmelte etwas, das Odella nicht verstand, und Madame Zosina fuhr fort: »Sie haben nicht mehr viel Zeit, um ihr zu sagen, wie sehr Sie sie lieben. Sie brechen früher als erwartet auf.«
Wieder herrschte Schweigen, ehe sie sagte: »Nun lassen Sie mich sehen - Sie stechen in drei Tagen in See, oder sind es vier?«
»Drei«, antwortete Joe eifrig.
»Dann müssen Sie ihr noch heute Abend sagen, wie sehr Sie sie lieben und dies jeden Tag, bis Sie in See stechen. Und nun lassen Sie mich wieder in meine Kristallkugel blicken, Ihr Schiff ist sehr groß -, wenn ich seinen Namen erkennen kann, gebe ich Ihnen einen Talisman, der Sie überall beschützen wird, wohin Sie auch fahren.«
»Vielen Dank, Ma'am«, sagte Joe. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Es sieht wirklich sehr, sehr gut für Sie aus«, sagte Madame Zosina. »Aber zuerst muß ich den Namen Ihres Schiffes wissen.«
Wieder herrschte Schweigen, bis Joe erklärte: »Man hat uns eingeschärft, daß wir niemandem seinen Namen verraten dürfen.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Madame Zosina. »Aber ich sehe ihn deutlich in meiner Kristallkugel. Lassen Sie mich ihn entziffern.«
Odella vermutete, daß sie wieder in ihre Kristallkugel blickte.
Nach einer Minute sagte Madame Zosina: »Ich sehe ein ,L', oder ist es ein ,I'?«
»Ein ,I'«, antwortete Joe rasch.
»Jetzt sehe ich noch einen anderen Buchstaben, der wie einen ,M' aussieht.«
»Das ist ein ,N'«, korrigierte sie Joe.
»Täusche ich mich, oder heißt der Name des Schiffes Invincible?«
»Sie haben recht!« rief Joe. »Das ist wirklich sehr gut. Großartig!«
»Hier ist Ihr Talisman«, sagte Madame Zosina. »Und am nächsten Mittwoch - oder ist es der Donnerstag? - segeln Sie ab.«
»Ich glaube, wir stechen am Mittwochabend in See, Ma'am«, antwortete Joe.
»Dann will ich am Mittwoch an Sie denken. Und ich werde dafür sorgen, daß Sie gut ankommen.«
»Danke, vielen Dank«, sagte Joe.
»Ich werde auch dafür sorgen, daß Ihr Mädchen an Sie denkt«, fügte Madame Zosina hinzu. »Sie wird Sie nicht vergessen, solange Sie weg sind.«
»Dafür wäre ich Ihnen wirklich sehr dankbar!« rief Joe.
Ein Stuhl wurde gerückt, und dann trat Joe vor den Vorhang.
In diesem Augenblick bemerkte Odella, daß ein Mann in Soldatenuniform neben sie trat.
»Könnten Sie mich bitte vorlassen?« fragte er. »Man hat uns gesagt, wir sollen um vier Uhr in der Kaserne sein, und ich fürchte, ich komme zu spät.«
»Aber natürlich«, sagte Odella freundlich. »Wir haben es gar nicht eilig.«
»Vielen Dank.«
Der Soldat verschwand hinter dem glitzernden Vorhang. Odella hörte, wie Madame Zosina mit ihm in der gleichen Art und Weise wie mit Joe sprach.
Sie entlockte ihm ebenso die Information, daß er am übernächsten Tag in See stechen würde, so wie sie es auch bei Joe getan hatte.
Sie fand auch den Namen des Schiffes heraus und welchem Regiment er angehörte.
Sie ging so geschickt vor, daß Odella kaum glauben mochte, was sie mitanhörte.
Und doch brachte Madame Zosina die Soldaten dazu, ihr alles zu verraten, was sie wissen wollte, ohne daß diese es merkten.
In ihrem Entsetzen darüber, was hier vorging, sagte sich Odella, das könne nicht wahr sein.
Während des ganzen Krieges hatte man über Spione gesprochen, die mit den Schmugglern nach England kamen.
Männer und Frauen waren bestochen worden, damit sie Geheimnisse verrieten, die für Napoleon und seine Generäle nützlich sein konnten.
Ihr Vater hatte oft genug gesagt, daß es gefährlich war, sich mit Fremden zu unterhalten, wie harmlos sie auch erscheinen mochten.
»Da wir in der Nähe von Portsmouth wohnen, müssen wir noch vorsichtiger sein als alle anderen«, hatte er immer wieder gesagt. »Ein einziges unbedachtes Wort könnte dem Feind verraten, wann ein Schiff den Hafen verläßt. Dann greifen sie es an, sobald es auf See ist.«
Bisher war es Odella jedoch nicht in den Sinn gekommen, daß Männer, die geschworen hatten, keine Geheimnisse zu verraten, dazu verleitet werden konnten, Frauen wie Madame Zosina wichtige Informationen zu geben.
Jetzt wurde ihr klar, daß die unbedachten Worte der Soldaten dazu führen könnten, daß Schiffe versenkt werden und viele Menschenleben dadurch verloren gehen könnten.
Nun hörte Odella, wie Madame Zosina dem Soldaten einen Talisman gab und ihm versicherte, daß sie durch ihre magischen Kräfte dafür sorgen würde, daß ihm nichts geschah.
Odella wollte es herausschreien, daß diese Frau eine Spionin war und eine Gefahr darstellte.
Doch dann sagte sie sich, daß sie sehr vorsichtig und besonnen sein mußte.
Sie war ganz sicher, daß Madame Zosina rasch verschwinden würde, wenn sie mutmaßte, daß jemand ihr mißtraute.
Ja, sie konnte sogar etwas unternehmen, das für denjenigen, der sie beschuldigte eine Spionin zu sein, sehr unangenehm sein konnte.
Als der Soldat hinter dem schweren Vorhang hervortrat, sagte Odella zu Emily, sie solle zuerst zu Madame Zosina hineingehen und sich die Zukunft vorhersagen lassen.
»O nein, Miss Odella, jetzt sind Sie an der Reihe«, sagte Emily.
»Ich habe Kopfschmerzen«, antwortete Odella. »Geh du hinein, ich kann an einem anderen Tag wiederkommen.«
»Das tut mir wirklich sehr leid, Miss Odella«, sagte Emily voller Mitgefühl.
Aber sie stand rasch auf und ging durch den glitzernden Vorhang zu Madame Zosina hinein.
Diesmal verlief das Gespräch völlig anders als zuvor.
Die Wahrsagerin versprach Emily, daß ein großer, stattlicher junger Mann sich noch vor Jahresende in sie verlieben würde.
Aber sie müsse wegen eines anderen Mannes sehr vorsichtig sein. Er könnte sehr unangenehm werden, und sie müsse ihm unbedingt aus dem Wege gehen, sonst würde er Schwierigkeiten machen.
»Du wirst auch eine erfreuliche Nachricht aus Übersee erhalten«, fuhr Madame Zosina fort.
»Sicher von meinem Bruder«, sagte Emily eifrig.
»Ich glaube, du wirst ihn früher wiedersehen als du denkst«, schloß die Wahrsagerin.
»Das sind gute Neuigkeiten, sehr gute Neuigkeiten!« antwortete Emily.
Als sie herauskam, strahlte sie über das ganze Gesicht.
Aber zu ihrer Überraschung schob Odella sie aus dem Zelt in den Sonnenschein.
»Wir müssen sofort nach Hause fahren«, sagte sie drängend.
»Haben Sie so starke Kopfschmerzen, Miss Odella?« erkundigte sich Emily. »Vielleicht hätte Madame Zosina etwas für Sie tun können. Sie besitzt wirklich magische Kräfte!«
»Da bin ich sicher«, antwortete Odella.
Sie gingen über den Platz, dorthin, wo Thompson die Kutsche im Schatten einiger Bäume abgestellt hatte.
Als sie einstiegen, sagte Odella: »Ich muß den Lord Lieutenant sprechen, den Earl of Portsmouth. Wir fahren auf dem Heimweg bei ihm vorbei.«
»Sehr wohl, Miss Odella«, antwortete Thompson. »Aber das ist ein Umweg von ungefähr einer Meile.«
»Das spielt keine Rolle«, meinte Odella. »Seine Lordschaft wird mich gewiß nicht lange aufhalten.«
Thompson lenkte die Kutsche langsam über den unebenen Boden und dann auf die Straße.
Einige Leute gingen gerade auf das große Zelt zu.
»Oh, Miss Odella, wir versäumen die Zirkusvorstellung!« klagte Emily.
»Vielleicht können wir vor dem Wochenende noch einmal herkommen«, sagte Odella. »Es tut mir leid, Emily, aber ich möchte jetzt nicht in einem heißen, stickigen Zelt sitzen.«
»Das verstehe ich schon, Miss, aber ich wollte so gern die Clowns sehen.«
»Vielleicht können wir morgen noch einmal herkommen oder übermorgen«, erwiderte Odella. »Und schließlich warst du schon bei Madame Zosina.«
»Sie ist magisch!« sagte Emily. »Es gibt kein anderes Wort dafür, Miss Odella, wirklich magisch!«
Odella antwortete nicht.
Sie dachte daran, daß Madame Zosinas Magie gefährlich, ja lebensgefährlich war.
Je eher sie etwas gegen diese Frau unternahm, umso besser.