Читать книгу Die weiße Taube von Schloß Royal - Barbara Cartland - Страница 2

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Die Tür öffnete sich, und ein junges Mädchen eilte in das kleine Schlafzimmer.

»Nina, du mußt mir helfen.« Als Christine Lydford sah, daß Nina weinte, sagte sie betroffen: »Was ist denn passiert? Was hat dich denn so aus der Fassung gebracht? Du weinst doch sonst nie.«

Sie lief durch das Zimmer und umarmte ihre Freundin, die auf dem Bett saß und ihr Gesicht in den Händen verbarg.

»Sag mir, was los ist! Ich habe dich noch nie so gesehen.«

Christines Stimme klang besorgt. In ihren sanften Augen spiegelte sich Mitgefühl wider. Mit ihrem dunklen, lockigen Haar und der weißen Haut war sie sehr hübsch, aber keine Schönheit. Doch hatte sie eine schelmische Art, die viele Leute entzückte, die ihr begegneten. Sie hatte zwei Grübchen in den Mundwinkeln. Zweifellos war sie das beliebteste junge Mädchen in Mrs. Fontwells Internat für junge Damen.

Nina machte einen Versuch, ihre Tränen zu unterdrücken, nahm dann aber die Hände vom Gesicht und sagte traurig: »Mein Vater ist tot.«

»Oh Nina, das tut mir so leid für dich«, rief Christine. »Aber wie ist er gestorben und wo?«

»Ich habe von meinem Onkel Osbert einen Brief erhalten«, erwiderte Nina, »in dem er mir mitteilt, daß Papa am sogenannten Dreitagefieber erkrankte. Da es in diesem Teil Ägyptens keinen tüchtigen Arzt gab, starb er, bevor mein Onkel bei ihm eintraf.«

»Das tut mir so leid.«

Christine konnte ermessen, was für ein Schlag das für ihre Freundin war, die ein Jahr zuvor bereits die Mutter verloren hatte.

Nina hatte ihr erzählt, daß ihr Vater ohne ihre Mutter so unglücklich und einsam gewesen sei, daß er nach Afrika reiste, um wilde Tiere zu beobachten, insbesondere Vögel, denn die Ornithologie war seine Lieblingsbeschäftigung.

Aus diesem Grund war Nina in einem Mädchenpensionat untergebracht worden. Jemand hatte Sir Ian Shaldon gesagt, Mrs. Fontwells Internat sei das beste. Daraufhin schickte er sie nach Ascot, wo das Internat lag, damit sie dort seine Rückkehr abwarten konnte.

Anfangs fühlte sich Nina einsam und fürchtete sich vor den Mitschülerinnen. Mit Vater und Mutter hatte sie in dem abgelegenen Huntingdonshire ein ruhiges Leben geführt und war niemals längere Zeit mit Gleichaltrigen zusammen gewesen. Deshalb war sie dankbar, daß Christine so liebenswürdig zu ihr war. Bald wurden sie gute Freundinnen.

Christine war fast ein Jahr jünger als Nina. Aber auf diesen Gedanken wäre niemand gekommen, denn Nina war den Kinderschuhen noch kaum entwachsen. Und Christine besaß, weil sie einen sehr reichen Vater hatte und ihr darüber hinaus von der Großmutter ein eigenes Erbe zugefallen war, eine Selbstsicherheit, an der es Nina mangelte. Christine war der beherrschende Teil, während sich Nina nach ihr richtete. Sie bekamen den Spitznamen »Die Unzertrennlichen«, und Christine beschützte ihre Freundin vor zahlreichen Schikanen.

Mrs. Fontwells Internat unterschied sich deutlich von anderen Schulen. Sie nahm nur Schülerinnen adliger Herkunft auf. Das Schulgeld war außerordentlich hoch, aber sie bot den jungen Damen ein luxuriöses Leben. Die Schülerinnen, die es sich leisten konnten, durften ihre Zofen mitbringen, eigene Pferde in den dafür vorgesehenen Ställen halten und so viele Extrastunden nehmen, daß ihre Rechnungen von Vierteljahr zu Vierteljahr anwuchsen. Trotzdem gab es eine Warteliste. Mrs. Fontwells ungewöhnliche Erziehungsmethoden zahlten sich aus.

Nina sei nur gnadenhalber aufgenommen worden, sagte Christine manchmal scherzend, denn sie habe nur einen Baron zum Vater. Ihr Schlafzimmer gehörte zu den kleinsten der Schule. Es war unübersehbar, daß die Summe, die Mrs. Fontwell von Nina bekam, an letzter Stelle stand. Im Gegensatz dazu hatte Christine ein großes Schlafzimmer mit zwei Fenstern, die auf den Garten hinausgingen, mit anschließendem Wohnzimmer. Und ihre Zofe verlieh ihr ein elegantes Äußeres, so daß sie die meiste Zeit besser auf eine Gartengesellschaft im Buckingham Palace gepaßt hätte als in ein Klassenzimmer.

Mrs. Fontwell achtete darauf, daß auch die Unterrichtsräume ihren eigenen Charakter hatten. Manche sahen aus wie Wohnzimmer, wo die Schülerinnen auf Sesseln im Kreis saßen und Literaturunterricht hatten. Wandtafeln, die dem Ganzen ein schulisches Gepräge gegeben hätten, fehlten.

Einer der wichtigsten Räume der Schule war der Ballsaal, wo die jungen Mädchen zweimal in der Woche bei erfahrenen Lehrern Tanzunterricht bekamen. Er gehörte ebenso wie Fechten, Schwimmen, Musik und Malerei zu den zusätzlichen Fächern.

Als Nina jetzt mit ihren leuchtendblauen Augen zu Christine aufschaute, sagte sie kummervoll: »Nicht nur, daß Papa tot ist, macht mich unglücklich. Es kommt noch etwas hinzu.«

»Was?« fragte Christine.

»Papa hatte Schulden, als er starb. Ich muß mir eine Beschäftigung suchen.«

Christine blickte sie überrascht an.

»Willst du damit sagen, daß du arbeiten mußt?«

Nina nickte. Die Tränen kamen ihr von Neuem, und schluchzend sagte sie: »Mrs. Fontwell hat mir einen Vorschlag gemacht, was ich tun könnte. Er scheint mir unannehmbar. Aber vermutlich werde ich ihn annehmen müssen. «

»Was sollst du denn tun?« erkundigte sich Christine.

Sie konnte, was sie da eben gehört hatte, kaum glauben. Es war ihr unbegreiflich, daß eine von ihnen gezwungen sein könnte, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten, und nicht reich war.

Da Nina nicht in der Lage war, etwas zu erwidern, legte Christine die Arme um sie und sagte: »Ich bin überzeugt, daß es nicht so schlimm ist, wie du denkst. Erzähl mir doch einmal ganz genau, was sich zugetragen hat!«

Nina wischte sich die Tränen ab und sagte: »Mein Onkel Osbert, Oberst seines Regiments, behauptet, daß unser Haus jetzt ihm gehört, weil Papa tot ist und keinen Sohn hinterlassen hat. Er will es versiegeln lassen. Er ist unverheiratet und bei seinem Regiment. Und ich könne nicht allein in dem Haus leben, wie er ganz richtig in seinem Brief schreibt.«

»In meinen Ohren klingt das ziemlich anmaßend, wenn nicht gar brutal«, bemerkte Christine.

»Er erklärte dann, er wolle Papas Schulden begleichen. Er könne mir aber nicht mehr als fünfzig Pfund jährlich zahlen, bis ich verheiratet sei, und das nur, wenn ich von niemand anderem etwas bekäme.«

Christine stieß einen unartikulierten Laut aus, der ihren Abscheu ausdrückte, unterbrach Nina aber nicht, die mit leiser, ziemlich ängstlicher Stimme fortfuhr: »Hierauf teilte er mir mit, daß ich mir eine Arbeit suchen müsse. In seinem Brief an Mrs. Fontwell meinte er, daß ich vielleicht Mitschülerinnen unterrichten könnte.«

»Und was hat der Drachen dazu gesagt?« fragte Christine.

»Er sagte, ich könnte bleiben und die jüngeren Mädchen im Malen und in Musik unterrichten sowie deren Zimmer sauber halten.«

Christine erstarrte.

»Soll das etwa heißen, daß du dann ihr Dienstmädchen wärst?«

»Darauf läuft es wohl hinaus«, erwiderte Nina, »denn Mrs. Fontwell sagte, daß sie Miss Smith vorübergehend entläßt. Wenn ich die Räume in Ordnung hielte, würde der Lohn für ein Dienstmädchen eingespart.«

»Etwas so Widerwärtiges habe ich noch nie gehört«, rief Christine wütend. »Das könntest du nicht ertragen, Nina. Wir wissen alle, wie sie Miss Smith behandelt.«

Die beiden Mädchen dachten an die junge Lehrerin, die fortwährend Schwierigkeiten mit Mrs. Fontwell hatte und wie ein ängstliches Kaninchen vor ihr zitterte. Alles, was Miss Smith tat, war falsch. Sie wurde nur abgekanzelt und gescholten, bis sie schließlich allen Schülerinnen leid tat. Aber auch sie hatten Angst vor Mrs. Fontwell, die sie »den Drachen« nannten, und niemand war tapfer genug, Miss Smith beizustehen.

Christine dachte, daß Nina, wenn sie an Miss Smiths Stelle träte, ebenfalls zu einer armseligen Kreatur werden würde, furchtsam und zitternd.

»Darauf darfst du dich auf keinen Fall einlassen«, sagte sie bestimmt. »Und du mußt es dem Drachen sagen, bevor er die arme Miss Smith auf die Straße setzt.«

»Das ist ein weiteres Problem, das mich aus der Fassung bringt«, sagte Nina mit schwacher Stimme. »Vor kurzem habe ich Miss Smith gefragt, warum sie die Schule nicht verläßt. Sie sagte, sie sei Waise und habe niemand, zu dem sie gehen könne. Sie ist überzeugt, daß ihr Mrs. Fontwell kein Zeugnis ausstellen wird, wenn sie versucht, eine andere Stelle zu bekommen.«

»Diese Frau ist eine Tyrannin«, meinte Christine. »Aber auch wenn die arme Smith mit ihr auskommen muß, wirst du nicht unter solchen Bedingungen bleiben.«

»Was bleibt mir anderes übrig?« fragte Nina niedergeschlagen.

»Du begleitest mich.«

Nina blickte verwundert zu Christine auf, und diese erklärte: »Deswegen bin ich hier. Ich verlasse die Schule.«

»Jetzt? Sofort?« fragte Nina verwundert. »Aber das Schuljahr hat ja gerade erst angefangen.«

»Ja, ich weiß. Aber was tätest du, wenn du einen beunruhigenden Brief wie ich erhalten hättest?« erwiderte Christine.

»Oh, ich habe bloß von mir gesprochen. Erzähle, was dich bedrückt!« bat Nina.

»Es bedrückt mich eigentlich nicht«, antwortete Christine, »ich wollte dich bitten, mir zu helfen. Ich stehe vor einem Problem, deines ist allerdings viel ernster. Ich beabsichtige, es an deiner Stelle zu lösen.«

Über Ninas Gesicht ging ein leichtes Lächeln.

»Du bist so gut zu mir. Aber ich will dir keinesfalls zur Last fallen.«

»Das würdest du nie«, erwiderte Christine. »Doch laß mich zuerst einmal erzählen, warum ich die Schule verlasse. «

Nina trocknete mit einem Taschentuch ihre Tränen. Dann setzten sich die beiden Mädchen einander gegenüber.

Christine holte hörbar Luft, als wäre das, was sie zu sagen hätte, von größter Bedeutung.

Dann begann sie: »Ich habe von meiner Stiefmutter einen Brief gekommen, in dem sie schreibt, daß Papa zum Gouverneur von Madras ernannt worden ist. Sie muß sofort abreisen, um ihm in Indien zur Seite zu stehen.«

»Ich freue mich sehr für deinen Vater«, rief Nina. »Das ist bestimmt eine sehr bedeutende Stellung. Du mußt stolz auf ihn sein.«

»Ich hätte mich mehr gefreut, wenn er mich vor einem Jahr mit nach Indien genommen hätte, wie ich es ihm vorgeschlagen habe. Jetzt ist es zu spät. Ich habe meine eigenen Pläne«, erwiderte Christine.

Nina blickte überrascht drein.

Ihre Freundin lachte leise.

»In Indien zu leben wäre nicht so amüsant gewesen, wie es klingt. Meine Stiefmutter wird schon noch dahinterkommen.«

Nina wußte, wie sehr Christine ihre Stiefmutter haßte. Sie war überzeugt, daß sie, seit sie Lord Lydford geheiratet hatte, ihn daran hinderte, zu seinem einzigen Kind liebevoll zu sein.

Christine lächelte.

»Ich weiß, du hast es nicht gern, wenn ich mich über meine Stiefmutter beschwere. Da sie nach Indien geht, hat sie Vorbereitungen getroffen, daß ich die Schule verlassen kann.«

»Verlassen?« sagte Nina enttäuscht.

Sie fürchtete, daß sie in der Zukunft einsam sein und ein völlig inhaltsloses Leben führen würde, denn zum Verlust des Vaters schien nun auch noch der der einzigen guten Freundin zu kommen.

»Ich soll mit dem Marquis von Ventnor zusammenleben, gut behütet natürlich«, fuhr Christine fort.

»Ist er ein Verwandter von dir?« fragte Nina.

Christine lachte verächtlich.

»Nicht nach dem Gesetz. Nein, er ist der neueste Liebhaber meiner Stiefmutter.«

Im ersten Augenblick dachte Nina, sie habe Christine falsch verstanden.

Sie sagte: »Ich begreife kein Wort.«

»Das überrascht mich nicht. Mir ginge es genauso, wenn ich nicht erkannt hätte, was sich zwischen meiner Stiefmutter und dem Marquis abgespielt hat. Und außerdem hat Hannah herausgefunden, was sie mit mir vorhaben.«

Hannah war, wie Nina wußte, Christines Zofe. Sie war schon bei ihr, als sie noch in den Windeln lag, und verhielt sich auch heute noch eher wie ein Kindermädchen als wie eine Zofe. Hannah betete Christine an, und ihr ganzes Leben drehte sich um sie.

»Warum sollte der Marquis mit dir zusammenleben wollen?« fragte Nina.

»Meine Stiefmutter erklärt das damit, daß es schwierig werde, für die Ferien einen geeigneten Aufenthaltsort zu finden, wenn sie so weit weg ist. Sie fühle sich viel wohler, wenn ich mit jemand unter einem Dach sei, dem sie vertraue.« Christines Stimme klang sarkastisch, als sie fortfuhr: »Ich hätte dann einen Freund, der darauf achtet, daß ich keine falschen Leute kennenlerne, sondern mich auf eine Weise unterhalte, die den Vorstellungen meines Vaters entspricht. Jeder wird denken, das sei ein ausgezeichneter Plan, weil der Marquis eine Anzahl wunderschöner Schlösser besitzt und ältere Verwandte hat, die mich mit dem größten Vergnügen beaufsichtigen würden, bis meine Stiefmutter und Papa nach England zurückgekehrt wären. Das ist aber nicht der wahre Grund all dieser Überlegungen«, erwiderte Christine. »Meine Stiefmutter hat die Absicht, mich mit dem Marquis zu verheiraten.«

»Du hast doch gesagt, er sei ihr Liebhaber.«

»Das ist er. Seit Weihnachten hat sie ein leidenschaftliches Liebesverhältnis mit ihm.«

»Unglaublich«, sagte Nina schockiert.

Da sie mit Vater und Mutter immer sehr zurückgezogen gelebt hatte, hatte sie keine Ahnung von dem unmoralischen Benehmen vieler Damen und Herren der Gesellschaft gehabt. Erst durch Christine erfuhr sie davon. Allerdings war sie überzeugt, daß ihre Freundin übertrieb, wie sie es oft tat. Wie war es möglich, daß Damen, die sich in höfischen Kreisen bewegten, ihren Männern untreu waren und so mancher Herr nichts dabei fand, mit der Frau seines Freundes ein Liebesverhältnis einzugehen? Wenn Christine Nina solche skandalösen Geschichten erzählte, klangen sie so verrückt, daß Nina glaubte, es handle sich um Erfindungen ihrer blühenden Phantasie. Jetzt sagte Nina mit leiser, aber energischer Stimme: »Liebste, ich bin überzeugt, daß du dich irrst. Wenn dich der Marquis heiraten will, kann er unmöglich ein Liebesverhältnis mit deiner Stiefmutter haben. Außerdem bist du zu jung zum Heiraten.«

»In zwei Monaten werde ich siebzehn«, erwiderte Christine, »und dann will ich heiraten.«

»Den Marquis?«

»Nein, jemand ganz anderen! Ich habe dir noch nicht von ihm erzählt.«

Ninas Augen weiteten sich.

»Christine, ist das dein Ernst?«

»Ich wollte dir schon davon berichten«, antwortete Christine, »aber Harry bestand darauf, daß es unser Geheimnis blieb. Ich habe ihm geschworen, niemand ein Wort darüber zu sagen.«

»Dann solltest du mir vielleicht nichts verraten.«

»Ich muß aber«, entgegnete Christine. »Harry wird das einsehen.« Sie sah, daß Nina aufmerksam zuhörte, und fuhr fort: »Der Marquis steht in dem Ruf, der flotteste und unmoralischste Mann von ganz London zu sein. Er hat Dutzende von Affären mit schönen Frauen gehabt. Seit Jahren höre ich, daß die Leute über ihn schwatzen.«

»Sagen sie wirklich solche Dinge in deiner Gegenwart?« erkundigte sich Nina.

Christine lächelte.

»Natürlich nicht. Sie behandeln mich wie ein Kind.«

»Woher weißt du das dann?«

»Weil, liebste Nina, die Dienstboten immer Klatsch und Tratsch untereinander austauschen, als ob die Kinder taub seien. Und Diener wissen alles... Wichtiger ist allerdings, daß ich, wenn ich zu Hause bin, meine eigenen Methoden habe, um herauszufinden, was los ist.« Christine lächelte und fügte hinzu: »Ich weiß, du wirst damit nicht einverstanden sein, und deswegen habe ich es dir nicht früher gesagt, aber es gibt in unserem Schloß, das sehr alt ist, eine ganze Anzahl Räume, von denen aus man hören kann, was im Nachbarzimmer geschieht.«

»Du meinst, du hast gehorcht?« fragte Nina.

»Generationen von Lydfords müssen das vor mir getan haben«, erwiderte Christine zu ihrer Verteidigung. »Wenn Mama noch am Leben wäre, hätte ich es nicht getan. Aber wenn es um meine Stiefmutter geht, ist das etwas anderes.«

Als sie von ihrer Stiefmutter sprach, wurde ihre Stimme wieder schärfer.

Nina sagte: »Erzähl weiter, Christine.«

»Meine Stiefmutter ist in den Marquis verliebt, seit Papa nach Indien gereist ist. In der Regel hat sie Gesellschaften, wo sie ihn hätte treffen können, gemieden, ebenso welche auf Vent Royal, seinem Schloß in Hertfordshire. Aber wenn er bei uns war, gab es keinen Zweifel an ihren wechselseitigen Gefühlen.« Christine schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leidenschaftlich: »Es macht mich krank zu wissen, daß sie sich in den Räumen küssen, die meiner Mutter gehört haben, während Papa weit weg ist.«

Anscheinend nahm sich Christine das alles sehr zu Herzen. Deshalb ergriff Nina ihre Hand und sagte: »Es tut mir leid, daß es dir so nahe geht, Liebste.«

Christine gab darauf keine Antwort, sondern fuhr fort: »Manches von dem, was sie gesagt haben, konnte ich nicht verstehen. Ein- oder zweimal fiel mein Name, aber nur beiläufig. Offenbar war es nichts Wichtiges.«

»Ich denke, du sollst den Marquis heiraten«, warf Nina ein.

»Das weiß ich von Hannah. Heute morgen, als der Brief meiner Stiefmutter ankam, hat sie mir von dem Komplott berichtet. Mit Hannah spreche ich über alles, wie du weißt.«

Nina nickte.

»Ich habe ihr erzählt, daß meine Stiefmutter möchte, daß ich bei dem Marquis wohne, und daß sie schon die entsprechenden Vorbereitungen getroffen hat. Daraufhin rief sie: ,Was mir Miss Parsons in den vergangenen Ferien gesagt hat, ist also wahr, und ich dachte, sie erlaube sich einen Scherz mit mir.'«

»Weiß sie noch mehr über diesen Plan?« fragte Nina.

»Ja. Ich soll bei dem Marquis wohnen und ihn später, wenn ich älter geworden bin, heiraten.«

»Was für ein Interesse sollte deine Stiefmutter daran haben, daß du ihn heiratest?«

»Überlege einmal, was sie sich dabei gedacht haben könnte!« erwiderte Christine. »Für den Fall, daß er eine junge, nachgiebige, arglose Frau sucht, wer eignet sich dann besser als ein sechzehnjähriges Mädchen, das keine Ahnung vom Leben hat? Hannah hat mir erzählt, daß Miss Parsons, die Zofe meiner Stiefmutter, ihr davon berichtet habe, daß der Marquis zu seinen engen Freunden immer wieder sagt, er werde nie eine Frau heiraten, die so untreu ist wie eine von den Damen, mit denen er befreundet ist.«

»Glaubst du, er ist dagegen?« fragte Nina.

»Nur, wenn es um seine eigene Frau geht«, antwortete Christine höhnisch. »Bei den Frauen anderer Männer hat er nichts dagegen einzuwenden, wenn sie sich mit ihm kompromittieren wollen.«

Nina war verwirrt.

»Ich kann immer noch nicht ganz begreifen, warum dich der Marquis heiraten soll.«

»Meine Stiefmutter hat alles arrangiert. Sie glaubt, daß sie ihn auch weiterhin so oft sehen kann, wie sie will, wenn er mit mir verheiratet ist. Sie wären dann in der Lage, ihr Verhältnis nach der Rückkehr meiner Stiefmutter aus Indien fortzusetzen. Sie will den Marquis nicht verlieren.«

»Das ist ungeheuerlich«, rief Nina.

»Zweifellos«, stimmte Christine zu. »Und deshalb werde ich Harry heiraten. Er liebt mich wirklich, und zwar schon seit drei Jahren.«

»Harry?« wiederholte Nina. »Wer ist das denn?«

»Der zweitälteste Sohn des Grafen von Hawkstone«, antwortete Christine. »Er hat mir gesagt, daß er sich im ersten Augenblick, als er mich sah, in mich verliebt habe, obwohl ich erst vierzehn war. Natürlich wußte er, daß ich noch zu jung für die Ehe war und daß er auf mich werde warten müssen. «

»Hat er dir gleich zu Anfang eine Liebeserklärung gemacht?« fragte Nina.

Christines Augen leuchteten.

»Nein, das nicht. Aber ich war sicher, daß er mich attraktiv fand. Und als wir uns öfter trafen, um auszureiten, verliebte ich mich mehr und mehr in ihn.«

»Aber warst du nicht noch ein bißchen zu jung?«

Christine lächelte.

»Manchmal denke ich, daß ich noch nie so jung gewesen bin wie du, Nina, jedenfalls nicht so ahnungslos und unschuldig.«

»Auf mich hast du immer sehr erfahren und schon ganz erwachsen gewirkt«, stimmte Nina zu. »Aber ich dachte, das liege an meiner mangelnden Menschenkenntnis und an fehlenden Vergleichsmöglichkeiten.«

»Ich wurde erwachsen, als ich mich in Harry verliebte«, sagte Christine. »Natürlich mußten wir unsere Gefühle verbergen, weil Mama sonst nicht erlaubt hätte, daß er uns besucht.« Sie lächelte zärtlich und fuhr fort: »Obgleich er wenig Worte darüber verlor, spürte ich von Anfang an, wie sehr er um mein Wohl besorgt ist. Ich wüßte nicht, wie ich das erklären sollte. Aber dadurch unterscheidet er sich von anderen Männern.«

Nina wußte, daß es in Christines Leben von ihrem zwölften Jahr an Männer gegeben hatte, die sie attraktiv fanden und zu küssen versuchten. Auch Liebesbriefe hatten sie ihr geschrieben. Aber im Internat hielt Christine es für besser, die Briefe zu zerreißen, damit Mrs. Fontwell sie nicht fand.

Noch nie hatte Nina ihre Freundin in so ernstem Ton sprechen hören.

Gerührt sagte sie: »Und von all dem hast du mir noch nie etwas erzählt.«

»Weil ich es versprochen hatte«, erwiderte Christine. »In der ersten Zeit hatte, ich Angst, daß wir entdeckt würden. Als Mama tot war, erlaubte mir meine Stiefmutter nicht einmal, Harry zu sehen, wenn er zu uns zu Besuch kam. Wir trafen uns heimlich im Park. Eines Tages sagte er, daß er mich heiraten wolle.« Mit einem leidenschaftlichen Unterton in der Stimme fuhr sie fort: »Von da an wußte ich, wie sehr ich ihn liebe und daß ich einen anderen nicht so lieben kann.«

»Aber du bist noch so jung«, wandte Nina ein.

»Schon viele Mädchen haben mit siebzehn geheiratet. Harry sagt, wir müssen noch bis zu meinem Geburtstag warten, und dann will er Papa fragen.«

»Glaubst du, daß dein Vater zustimmt?«

Nach kurzem Zögern meinte Christine: »Harrys Vater ist zwar ein Graf, aber Harry nur der zweitgeborene Sohn. Ich fürchte, da ich so reich bin, werden Papa und erst recht meine Stiefmutter sagen, ich solle mir etwas Besseres suchen.« Ihre Stimme hatte einen spöttischen Klang. »Aus diesem Grund brenne ich durch.«

»Durchbrennen?« rief Nina.

»Harry und ich reisen nach Rom, wo Papas jüngerer Bruder lebt«, erklärte Christine. »Er ist mit einer Italienerin verheiratet, die von der Familie nicht akzeptiert wird. Deshalb bin ich sicher, daß er in Papas Abwesenheit als Vormund für mich tätig wird und mir und Harry die Heiratserlaubnis verschafft.«

»Das klingt wirklich sehr romantisch«, sagte Nina. »Bist du aber auch überzeugt, daß du das Richtige tust?«

»Vollkommen«, erwiderte Christine. »Ich liebe Harry, und er liebt mich. Und wir sind bereit zu warten, bis ich siebzehn bin. Ich weiß aber auch, daß mich Papa und meine Stiefmutter mit dem Marquis verheiraten würden, wenn er um mich anhielte. Und das scheint er vorzuhaben.«

»Tatsächlich?«

»Ja«, bestätigte Christine. »Wie Hannah mir erzählt hat, war er schon immer auf der Suche nach einer jungen, unschuldigen, unberührten Frau, die sich nicht in sein liederliches Treiben mit anderen Frauen einmischt. Meine Stiefmutter hat ihm diese schwierige Aufgabe abgenommen und präsentiert mich wie ein Kaninchen, das aus dem Zylinder hervorgezaubert wird.« Ängstlich fuhr sie fort: »Wenn ich erst einmal in Vent Royal bin, sitze ich in der Falle. Das weißt du so gut wie ich. Deshalb habe ich heute früh als erstes ein Telegramm an Harry gesandt, und er ist auch gleich gekommen. Wir haben uns nach dem Mittagessen in dem Gebüsch an der Pforte getroffen.«

»Wie konnte Harry das tun?« rief Nina.

»Es ist nichts weiter dabei. Ich habe das schon früher gemacht. Wie du weißt, hält der Drachen um zwei Uhr seinen Mittagsschlaf und erwartet von uns dasselbe. Ich schlüpfte also durch die Seitentür und hielt mich im Schatten der Bäume. Als ich bei dem Gebüsch ankam, wartete Harry hinter der Pforte.« Plötzlich strahlte Christine über das ganze Gesicht und sagte: »Er liebt mich! Er liebt mich so sehr, daß er mich nicht wieder verlieren will. Deshalb werden wir nach Rom aufbrechen, sobald ich in London bin.«

»Und wann wird das sein?«

»Morgen.« Christine klatschte vor Freude in die Hände. »Harry ist ja so klug. Er hat sofort die Gefahr erkannt, in der ich schwebe, wenn Papas Kutsche am Donnerstag hier eintrifft, um mich abzuholen, wie meine Stiefmutter in ihrem Brief ankündigt. Es wäre ungewiß, ob ich von London mit Harry fliehen könnte, da zu Hause wahrscheinlich schon die Kutsche des Marquis auf mich wartet.«

»Was willst du dagegen unternehmen?« fragte Nina.

»Harry hat im Namen von Papas Sekretär ein Telegramm an meine Stiefmutter geschickt, in dem er ihr mitteilt, daß mich Papas Kutsche schon morgen abholen werde. Aber die Kutsche, die hier ankommen wird, ist natürlich nicht die von Papa, sondern eine von Harry gemietete. Und ich fahre auch nicht zu unserem Palais am Grosvenor Square, sondern zum Familiensitz der Hawkstones. Harrys Vater ist gerade nicht in London. Von dort aus geht die Reise nach Rom.«

»Für meine Begriffe ist das alles ziemlich kompliziert«, erwiderte Nina. »Bist du auch sicher, daß man dich nicht festhält.«

»Das wäre für Harry und mich eine Katastrophe,« erwiderte Christine. »Übrigens könnte es sein, daß mir Mrs. Fontwell für die Fahrt eine Gesellschafterin aufnötigt. Deshalb wollte ich dich bitten, mich zu begleiten.«

»Aber natürlich will ich alles tun...«, begann Nina und verstummte, als Christine plötzlich aufschrie.

»Nina, ich habe eine Idee, eine brillante Idee!« sagte sie. »Aber warte einen Augenblick, ich muß noch darüber nachdenken.« In dem Bemühen, sich zu konzentrieren, legte sie die Hände an die Schläfen und sagte langsam: »Du fährst mit mir nach London, aber wir werden dem Drachen erzählen, daß ich dich als Gesellschaftsdame angestellt hätte,«

Ninas Augen wurden groß, aber sie äußerte sich nicht, und Christine fuhr fort: »Ich verspreche dir, ganz gleich, was geschieht, daß du unter gar keinen Umständen hier bleibst.« Sie schloß die Augen, um besser nachdenken zu können, und sagte dann: »Statt hierher zurückzukehren, wenn ich mit Harry abgereist bin, wirst du nach Vent Royal fahren und bei dem Marquis wohnen, bis ich verheiratet bin.«

»Was sagst du da?« fragte Nina.

»Versteh mich«, erwiderte Christine. »Ich würde mich sehr viel sicherer fühlen, und du hättest ein Dach über dem Kopf, bis ich dich von dort wegholen kann.«

»Soll ich etwa behaupten, ich sei du?«

»Das ist ganz einfach«, erwiderte Christine. »Er hat mich nie gesehen.«

»Nie gesehen?«

»Nein. Meine Stiefmutter hat dafür gesorgt. Sie ließ keine andere Frau in seine Nähe. Und wenn der Marquis zu einem Dinner kam, an dem Papa teilnahm, waren alle weiblichen Gäste alt oder häßlich. Und jetzt schickt sie mich zu ihm, weil ich das kleinere Übel bin. Sonst fände er vielleicht bald eine andere, die sie von ihrem Platz verdrängen würde - eine Frau, die schön, attraktiv und bezaubernd ist, wie es anscheinend alle seine Freundinnen waren. Es könnte aber auch sein, daß er eine naive, unschuldige Frau heiratete, auf die meine Stiefmutter keinen Einfluß hätte.«

»Ich verstehe dich«, erwiderte Nina. »Aber ehrlich gesagt, ich könnte nie deinen Platz einnehmen, da er sofort wüßte, daß ich nicht du bin.«

»Wieso denn?« widersprach Christine. »Er hat mich doch nie gesehen. Wenn er kam, wurde ich ins Schulzimmer geschickt. Aber ich habe ihn durch Gucklöcher beobachtet. Sein Benehmen war widerlich.« Wütend fuhr sie fort: »Wie ich dir schon erzählt habe, hat mir meine Stiefmutter, damit ich ihr in den Ferien nicht ins Gehege kam, eine Aufsichtsperson in Gestalt einer uralten, pensionierten Gouvernante zugeteilt. Sie war harmlos und langweilig.«

Sie seufzte.

»Wenn ich nicht manchmal bei meinen Basen in Devonshire oder bei Mamas Verwandten in Edinburgh zu Besuch gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich eines Tages wahnsinnig geworden.«

»Hattet ihr viel Spaß?«

»Und ob. Gott sei Dank erfuhr meine Stiefmutter nichts davon, sonst hätte sie mir bestimmt verboten, wieder hinzufahren«, erwiderte Christine. »Sie kann mich ebenso wenig leiden wie ich sie. Und sie verübelt es mir, daß mich Papa so gern hat.«

Nina sagte nichts. Wieder einmal dachte sie, daß Christine übertrieb, wenn es darum ging, wie sehr sie unter ihrer Stiefmutter zu leiden habe. Andererseits war sie schockiert über das, was ihr Christine außerdem erzählt hatte. Wie konnte sich eine Frau vom Rang einer Lady Lydford so benehmen? Auch der Marquis schien ein äußerst unangenehmer Mensch zu sein, den sie gar nicht erst kennenlernen wollte.

Christine spürte offenbar, daß Nina Bedenken hatte.

Sie bat: »Liebste, liebste Nina, bitte hilf mir! Wenn du es nicht tust, wird man mich sehr wahrscheinlich daran hindern, Harry zu heiraten. Du weißt ja so gut wie ich, was auf der langen Reise nach Rom alles schiefgehen kann.«

»Wie kannst du nur mit ihm allein reisen?« fragte Nina.

»Das ist ganz in Ordnung, denn Hannah begleitet mich«, erklärte Christine. »Wie du weißt, ist sie die Verkörperung von Schicklichkeit und Moral.«

Nina mußte lachen. Es war tatsächlich so.

Hannah war eine strenge Presbyterianerin, die mit den scharfen Augen eines Habichts über Christine wachte. Solange sie die Aufsicht hatte, würde nichts passieren, was auch nur im Geringsten tadelnswert war.

»Ich gebe zu, daß Hannah eine gute Anstandsdame ist«, sagte Nina schließlich.

»Zu tüchtig, wenn du mich fragst«, erwiderte Christine. »Aber sie hat Harry gern.«

»Wie alt ist er?«

»Genau siebenundzwanzig, zehn Jahre älter als ich. Er eignet sich also vorzüglich dazu, auf mich aufzupassen, wenn ich erst einmal seine Frau bin.« Christine stieß einen reizenden Seufzer aus. »O Nina, ich liebe ihn so sehr, und ich bin so glücklich, so über alle Maßen glücklich. Ich dachte, dieses Jahr würde nie vorübergehen. Ich habe mich so nach ihm gesehnt. Doch nun werden wir, wenn mein Onkel einverstanden ist, bald verheiratet sein. Vielleicht müssen wir uns auch in einem Schlupfwinkel verbergen, bis ich siebzehn bin.« Sie ergriff Ninas Hände, während sie sprach. »Darin liegt die Gefahr, wie du siehst. Sag mir also bitte, bitte, daß du mir helfen willst, Nina! Ich kann mich nicht von ihm trennen, mein ganzes Lebensglück hängt von ihm ab.«

»Es tut mir leid. Ich muß dich enttäuschen.«

»Du willst es nicht tun? Dabei eignest du dich für diese Rolle besser als ich.«

»Für welche Rolle?«

»Für die eines unschuldigen Mädchens, das noch nicht ganz siebzehn ist.«

»Aber ich bin ein Jahr älter als du.«

»Na gut, aber so siehst du bestimmt nicht aus.« Christine lachte kurz auf und fügte dann hinzu: »Eines weiß ich gewiß, außer dem Drachen würde dich niemand als Lehrerin anstellen, und sie würde dich ausnützen.«

Nina seufzte.

»Das habe ich mir auch schon gesagt.«

»Also, wenn du mich fragst«, meinte Christine, »siehst du wie etwa vierzehn aus. Ich bin sicher, daß dies dem niederträchtigen Marquis gefallen wird.«

»Aber er würde mir nicht glauben. Vielleicht hat er schon einmal ein Foto oder ein Gemälde von dir gesehen.«

Christine lachte.

»Die einzigen Fotos, die je von mir gemacht worden sind, entstanden zu Hause. Ich sehe darauf aus, als ob ich aus der Waschküche käme, weil sie unscharf sind. Und gemalt worden bin ich noch nie.«

»Aber meine Kleider sind nicht so elegant wie deine«, sagte Nina mit schwacher Stimme.

»Das ist ein wirklicher Grund«, gab Christine zu. »Deine Kleider sind sehr hübsch, aber ein Mann, der sich in der weiblichen Garderobe so gut auskennt wie der Marquis, würde merken, daß sie nicht teuer sind.« Sie schwieg kurz und rief dann: »Ich habe eine Idee. Erinnerst du dich an die Kleider, die mir zu klein geworden sind und die auch viel zu jung wirkten, wie ich jedenfalls dachte?«

»Ich glaube, ich erinnere mich.«

»Nun, letztes Jahr habe ich mir in den Sommer- und in den Weihnachtsferien eine vollständig neue Garderobe gekauft«, berichtete Christine. »Hannah hat alle meine alten Sachen in einen Koffer getan. Wir hätten sie zu Ostern mit nach Hause genommen, aber in der Kutsche war kein Platz mehr. So ließ ich sie hier. Soviel ich weiß, sind sie noch auf dem Speicher.«

Ninas Augen leuchteten interessiert auf, denn die reiche Christine trug immer die geschmackvollsten und teuersten Sachen, die den Neid aller Mitschülerinnen erregten.

Als Christines Mutter noch am Leben war, ging sie mit ihr in die besten Geschäfte der Bond Street. Ihre Stiefmutter beschwerte sich später über eine so unnötige Extravaganz. Aber Christine fuhr fort, ihre Kleider in den alten Geschäften in Auftrag zu geben.

Nicht alle Mädchen, die Mrs. Fontwells Pensionat besuchten, kamen aus reichen Familien. Aber es herrschte ein reger Wettbewerb unter ihnen. Ein Teil der Älteren versuchte, mit Christine im Hinblick auf ihre äußere Erscheinung zu konkurrieren. Aber sie hatte eine erstklassige Figur und einen sicheren Geschmack. In ihren Bond-Street-Kleidern blieb sie die unübertroffene Königin der Schule.

Christine stand vom Bett auf.

»Ich gehe jetzt zu Hannah und sage ihr, sie soll die Diener anweisen, den Koffer herunterzubringen«, erklärte sie. »Wäre ich nicht so egoistisch gewesen, hätte ich vielleicht schon damals daran gedacht, dir die Kleider zu geben.«

»Ich war mit meinen eigenen Sachen vollkommen zufrieden«, erwiderte Nina. »Vielleicht passen mir deine auch gar nicht.«

»Doch, doch, sie passen«, meinte Christine. »Im letzten Jahr bin ich ein ganzes Stück gewachsen, aber du hast anscheinend noch dieselbe Größe.« Plötzlich legte sie ihre Arme um Nina. »Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Liebste«, sagte sie, »jemand wie Harry. Ich verspreche dir, daß ich, wenn du nach unserer Heirat zu uns kommst, einen charmanten und liebenswerten Ehemann für dich suchen werde.«

»Im Augenblick kommt es nur darauf an, daß du glücklich wirst, Christine, und frei leben kannst. Ich möchte nicht heiraten. Vermutlich bekäme ich Angst, es sei denn, ich wäre sehr verliebt.«

»Wenn du verliebt bist, hast du keine Angst, sondern findest alles wunderbar«, erwiderte Christine. Sie ging zur Tür und sagte: »Pack deine Sachen zusammen! Ich spreche inzwischen mit dem Drachen und informiere ihn, daß ich dich mitnehmen will. Du kannst sicher sein, daß Mrs. Fontwell ihren Entschluß, die unglückliche Smith zu entlassen, rückgängig machen wird. Sie braucht jemand, den sie quälen kann.«

Die Tür schloß sich hinter Christine. Nina fröstelte. Sie war sich bewußt, daß auch sie gequält würde, wenn sie an die Stelle von Miss Smith treten würde. Welche Demütigung zu wissen, daß einen die Mitschülerinnen bedauerten, weil man nicht mehr zu ihnen gehörte, sondern nur noch eine Angestellte war, die herumkommandiert und beschimpft wurde, wie es Mrs. Fontwell gerade gefiel! Alles war besser als das, dachte Nina. Dann bekam sie Angst. Ob sie sich überzeugend als Christine ausgeben konnte? Wie sollte sie es schaffen, bei dem Marquis von Ventnor zu wohnen, ohne gleich zu Beginn entlarvt zu werden? Aber auch wenn er das Täuschungsmanöver nicht bemerkte, war sie in einer unangenehmen Lage. Sie fragte sich, ob ein Mann wirklich so kaltblütig sein konnte, eine Frau zu heiraten, weil sie zu jung und zu dumm war, um sein Benehmen gegenüber anderen Frauen richtig einzuschätzen. Und war Lady Lydford tatsächlich so unmoralisch und intrigant, wie Christine ihr versicherte? Nina wußte, daß Christine oft übertrieb - bei geliebten wie bei ungeliebten Personen. Ihr gegenüber war sie allerdings immer ehrlich gewesen. Sie sah keinen Grund, warum sie die Geschichte erfunden haben sollte.

Nina machte sich auch Sorgen wegen Christines Plan, durchzubrennen und ohne die Erlaubnis ihres Vaters zu heiraten. Aber Lord Lydford war ganz anders als ihr Vater. Bei dem Gedanken, daß sie ihn nie wiedersehen würde, füllten sich Ninas Augen mit Tränen. Als ersten bedeutenden Mann in ihrem Leben hatte sie ihn geradezu vergöttert. Seltsamerweise hatte sie gefühlt, daß sie ihn verlor, als er seine Reise ins Ausland antrat. Von da an weinte sie nachts, bis sie einschlief, denn sie ahnte, daß er nicht zurückkehren werde.

»Papa, Papa«, schluchzte sie, »verlaß mich nicht! Komm zurück!«

Da sie wußte, daß er sie nicht hören konnte, schickte sie inbrünstige Gebete zum Himmel, daß ihn nichts daran hindere, nach Hause zurückzukehren. Aber ihre Gebete waren nicht erhört worden, ihr Vater war gestorben, wie schon die Mutter.

Der einzige nahe Verwandte war nun Onkel Osbert, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Er hatte ihren Vater immer geringschätzig behandelt, weil er nicht zum Militär gegangen war. Aber er wollte niemanden töten. Nina wußte, daß die seltsame Macht, die ihr Vater über Tiere hatte, von seiner Güte kam. Hunde und Pferde folgten ihm. Einmal zähmte er sogar einen Otter. Er wurde zutraulich und kam, wenn er sie rief. Aber sein Spezialgebiet waren die Vögel. Er erklärte Nina deren Gewohnheiten, und sie war begeistert, wenn er ihr Geschichten von Arten erzählte, die fast schon ausgestorben waren und die man nur noch in weitentfernten Gegenden antraf.

Jetzt wünschte sie sich - wie schon tausendmal zuvor -, daß sie ihn begleitet hätte. Vielleicht hätte sie ihn retten können, als er krank war. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, wenn sie daran dachte, wie er litt, während seine einheimischen Diener nicht wußten, wie sie ihm helfen sollten.

»Papa, Papa!« flüsterte sie. »Ach, wenn ich dich doch um Rat fragen könnte!«

Sie versuchte, sich vorzustellen, was er sagen würde, wenn sie ihm von Christines Plan erzählte. Bestimmt wäre er nicht damit einverstanden, daß sie in dieselbe Situation käme wie Miss Smith. Denn Mrs. Fontwell war zu der jungen Lehrerin grausam, und ihr Vater verabscheute Grausamkeit. Er vertrat die Ansicht, einen Menschen in seinen Gefühlen zu verletzen sei genauso schlimm, wie ihm eine körperliche Wunde beizubringen.

Während Nina ihre Tränen abtrocknete, dachte sie, daß ihr Vater, wenn er jetzt neben ihr säße, wahrscheinlich zu ihr sagen würde, sie müsse dieses Problem allein lösen, aber verstandesmäßig und nicht emotional.

Sie dachte eine Weile angestrengt nach, und plötzlich schien es ihr, als sähe sie ihren Vater, wie er wißbegierig an der Küste Afrikas entlangging und alles als ein Abenteuer betrachtete.

»Ein Abenteuer, das ist es. Christines Plan ist für mich ein Abenteuer, das ich bestehen muß«, sagte sich Nina entschlossen.

Die weiße Taube von Schloß Royal

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