Читать книгу Das ferne Schloss - Barbara Cartland - Страница 2

I. Kapitel ~ 1883

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»Du weißt ganz genau, daß dein Vater nicht mehr Geld hinterlassen hat?« fragte Lady Katherine Kennington scharf.

»Ich fürchte ... das ist alles ... ausgenommen natürlich das Haus.«

Lady Katherine blickte verächtlich ringsum.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß dies viel bringen wird, selbst wenn du jemanden finden solltest, der bereit wäre, es zu kaufen.«

Sie hielt inne, betrachtete das Gesicht ihrer Nichte und setzte noch geringschätziger hinzu: »Ich habe nie verstanden, warum dein Vater — und ich nehme an, mit Billigung deiner Mutter - in einem solchen Loch zu leben wünschte.«

»Sie sind sehr ... glücklich hier gewesen«, antwortete Nolita Walford.

Sie sprach mit einem weichen, melodischen, ziemlich verängstigten Stimmchen, ganz im Gegensatz zu dem entschiedenen, selbstsicheren Ton ihrer Tante.

Nolita gelang es mit ihrem demütigen Verhalten nicht, Lady Katherines ziemlich aggressives Verhalten zu beschwichtigen. Denn ihre Tante sah sich zu ihrem Ärger einem Problem gegenüber, das ihr beträchtliche Unbequemlichkeiten bereiten würde.

Sie ging durch das kleine, aber gemütliche Wohnzimmer mit seinem abgetretenen Teppich und den verblaßten Vorhängen zum Fenster und blickte auf den Garten hinaus, der ein Meer von Blumen und überraschenderweise sorgsam gepflegt war.

»Hast du schon über deine Zukunft nachgedacht, Nolita?« verlangte sie zu wissen.

»Ich habe mich gefragt, Tante Katherine ... ob ich nicht... hier bleiben könnte.«

»Allein und ohne Anstandsdame?« erregte sich Lady Katherine. »Dem kann ich doch unmöglich zustimmen!«

»Johnson, seine Frau und ich würden mit den hundert Pfund im Jahr auskommen ... die mir übrigbleiben ..., wenn alle Rechnungen bezahlt sind.«

»Mein liebes Kind, du magst dumm sein, aber so dumm nun doch wieder nicht, daß du glaubst, als meine Nichte und natürlich als Nichte deines Onkels Robert könntest du in deinem Alter hier allein leben.«

»Wie alt müßte ich ... denn sein, Tante Katherine ... um das zu dürfen?«

»Sehr viel älter, als du jetzt bist!« fuhr Lady Katherine sie an. »Und bis dahin - wer weiß? - hast du vielleicht einen Mann gefunden.«

Lady Katherine sagte es auf eine Art, die ganz deutlich machte, daß sie es für unwahrscheinlich hielt, und Nolita fragte sich selbst kläglich, wer wohl eine Frau ohne gesellschaftlichen Einfluß haben wolle, die nichts als ein paar hochadlige Verwandte besaß und durch hundert Pfund im Jahr vor dem Verhungern geschützt war.

Schon bevor ihre Tante zur Beerdigung eintraf, hatte sie gewußt, daß man sie wie eine »arme Verwandte« behandeln würde. Oft genug hatte ihre Mutter lachend gesagt, daß sie das für ihre Familie sei.

»Deine Großeltern und natürlich meine Schwestern und mein Bruder waren entsetzt«, erzählte sie ihrer Tochter, »daß ich einen so armen und unbedeutenden Mann wie deinen Vater heiraten wollte. Aber, mein Schatz, ich hatte mich auf den ersten Blick in ihn verliebt!«

»Wahrscheinlich, weil Papa in seiner Regimentsuniform so schneidig aussah«, hatte Nolita einmal gesagt.

»Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte«, erwiderte ihre Mutter leise. »Natürlich konnte er sich als Soldat keine Frau leisten. Deshalb verließ er die Grenadier-Garde, und er hat immer geschworen, das nie bereut zu haben.«

»Und ich bin überzeugt, daß es stimmt, Mama. Aber ihr hättet nicht so arm zu sein brauchen, wenn dein Vater freundlicher gewesen wäre. Schließlich war er als Earl of Lowestoft doch ein sehr reicher Mann.«

Ihre Mutter lachte.

»In englischen Adelsfamilien geht das Geld immer an den ältesten Sohn, und das war mein Bruder Robert. Von den Mädchen erwartet man, daß sie sich einen reichen Mann suchen.«

Doch Geld hatte nie eine Rolle gespielt, dachte Nolita jetzt. Das Haus war stets voll Sonnenschein und Lachen gewesen, und sie konnte sich keine zwei glücklicheren Menschen vorstellen als ihren Vater und ihre Mutter.

Ihr einziger Trost war, daß sie gemeinsam den Tod gefunden hatten. An einem dunklen Abend war das erst halb gezähmte Pferd, das ihr Vater lenkte, auf einem Bahnübergang in einen Zug gelaufen, als sie von einer Dinnergesellschaft nach Hause fuhren.

Für Nolita war es, als habe ihre ganze Welt ein Ende gefunden. Schon als sie sich pflichtschuldig hingesetzt und dem Bruder und den Schwestern ihrer Mutter geschrieben hatte, wann die Beerdigung stattfinden sollte, hatte sie gewußt, daß es Schwierigkeiten geben werde.

Lady Katherine war dann als einzige persönlich gekommen, aber der Earl of Lowestoft, ihr Bruder, hatte einen Kranz geschickt, und Lady Anne Brora, ihre Schwester, ebenfalls. Beide schrieben, sie seien verhindert, an der Beerdigung teilzunehmen, und Nolita konnte nicht umhin zu wünschen, sie hätte von ihrer Tante Katherine die gleiche Nachricht erhalten.

Aber sie war gekommen, und sie war immer noch hier, obwohl die anderen Trauergäste längst gegangen waren. Nolita konnte sich denken, daß sie ihr etwas Unangenehmes zu sagen hatte.

Was habe ich mit einer so eleganten Frau, die in einer mir fremden Welt lebt, gemeinsam, fragte Nolita sich.

Daß Lady Katherine die neueste und teuerste Mode trug, daß sie eine anerkannte Schönheit war, daß die Modeblätter regelmäßig ihr Bild brachten und sie als eine der bezauberndsten Stützen der Londoner Gesellschaft bezeichneten, verstärkte ihre furchteinflößende Wirkung nur noch.

Wenn sie durch das Wohnzimmer ging, nahm Nolita einen exotischen Duft wahr, und das Rascheln der seidenen Röcke gab Lady Katherine eine Aura von Extravaganz und großer Welt. Nolita hatte so etwas noch nie erlebt.

Die durchs Fenster fallenden Sonnenstrahlen glitzerten auf den Diamanten, die ihre Perlenohrringe umgaben, und auf den Ringen, die sie an ihren schlanken weißen Fingern trug.

Sie ist sehr schön, dachte Nolita, aber sie jagt mir Angst ein. Ich verstehe, warum Mama von zu Hause weggelaufen ist und nur mit Papa glücklich sein konnte.

»Ich habe über deine schwierige Situation nachgedacht«, sagte Lady Katherine, »und tatsächlich ist mir eine Lösung eingefallen, schon bevor ich hierherkam.«

»Und was ... ist das?« fragte Nolita.

Sie vermutete, daß man ihr in dieser Sache kein Mitspracherecht zugestehen werde.

»Zuerst möchte ich klarstellen, daß weder ich noch deine Tante Anne in der Lage sind, dich auf Bälle zu begleiten oder in die Gesellschaft einzuführen.«

Nolita sagte nichts dazu, und Lady Katherine fuhr fort.

»Zunächst einmal wäre es lächerlich, würde ich mit einem jungen Mädchen im Schlepptau herumziehen, und ich versichere dir, mit fünfunddreißig habe ich nicht die Absicht, bei Bällen zusammen mit den älteren Damen auf der Estrade zu sitzen.«

Sie war neununddreißig, wie sie beide wußten, aber Nolita hatte nicht die geringste Lust, sie darauf hinzuweisen.

»Deine Tante Anne wird wieder im Ausland leben, denn ihr Mann ist zum Botschafter in Paris ernannt worden, und das ist ganz gewiß kein Ort für ein so junges Mädchen, wie du es bist.«

»Wäre es nicht... vielleicht möglich«, fiel Nolita ein, bevor ihre Tante weitersprechen konnte, »daß ich ... eine ehrbare Person finde, die hier mit mir lebt? Es muß doch eine ... nicht mehr berufstätige Gouvernante ... oder eine in beschränkten Verhältnissen lebende Dame geben, die ... sich freuen würde, ein Dach über dem Kopf zu haben.«

»Du wirst kaum eine finden«, behauptete Lady Katherine, »aber ein Posten als Gouvernante ist etwas Ähnliches wie das, was ich für dich im Sinn habe.«

»Ich soll... Gouvernante werden?« fragte Nolita.

»Nicht genau das. Ich habe eine Freundin, die verwitwete Marquise of Sarle, die mich erst vorige Woche in einem Brief fragte, ob ich nicht eine Gesellschafterin für ihre Enkelin wüßte.«

»Eine ... Gesellschafterin?« murmelte Nolita.

»Hör auf, so albern zu wiederholen, was ich gesagt habe«, rügte Lady Katherine. »Ich versuche dir zu erklären, daß es sich um eine einmalige Gelegenheit handelt. In meinen Augen ist es eine ideal für dich geeignete Stellung, wenn du nur Verstand genug besitzt, sie zu halten.«

Wieder zeigte ihr Ton, daß sie das für unwahrscheinlich hielt.

»Die einzige Schwierigkeit ist, daß du zu jung wirkst. Niemand würde glauben, daß du schon achtzehn bist.«

»Ich werde doch ... auch älter«, wagte Nolita einzuwerfen.

»Ich bezweifele, ob du noch wächst, obwohl du dies dumme Babygesicht wohl verlieren wirst.«

Nolita schwieg.

Einen der Gründe, warum ihre Tante so unfreundlich mit ihr sprach, konnte sie sich denken. Das Aussehen ihrer Nichte mußte Lady Katherine, als sie zur Beerdigung eintraf, überrascht haben.

Nolita sah ihrer Mutter ähnlich, und deshalb wußte sie, daß sie zumindest hübsch aussah, wenn nicht sogar, wie ihr Vater immer behauptet hatte, schön. Da mochte ihre Tante andeuten, was sie wollte.

»Es ist ein Privileg«, hatte er noch in der Woche vor seinem Tod erklärt, »sich mit zwei der liebreizendsten Frauen, die sich in ganz England finden lassen, zu Tisch setzen zu dürfen.«

»Du schmeichelst uns, Liebster«, hatte ihre Mutter erwidert, »aber mir gefällt es, deshalb fahre nur fort, so hübsche Dinge zu sagen.«

»Ich habe in dem Augenblick, als ich dich zum ersten Mal sah, mein Herz an dich verloren«, sagte Captain Walford zu seiner Frau. »Seitdem bist du mit jedem Tag, den du älter geworden bist, schöner geworden, und ich denke, bei Nolita wird es ebenso sein.«

»Dazu ist noch viel Zeit«, lächelte ihre Mutter, »aber ich freue mich, eine so schöne Tochter zu haben. Ich bin sehr, sehr stolz auf sie!«

Der Ausdruck in den Augen ihrer Tante hatte Nolita gleich bei der Begrüßung verraten, daß das Aussehen ihrer Nichte sie gar nicht freute.

Tante Katherine war immer noch schön, aber anders als ihre Mutter hatte sie verräterische Altersfältchen um Augen und Mund. Vielleicht lag es daran, dachte Nolita.

»Nichtsdestotrotz«, erklärte Lady Katherine, »ist es für dich die Chance deines Lebens, zu der Enkelin der Marquise zu kommen. Denn sie gehört nicht nur zu der Sarle-Familie, von der du, wie ich annehme, selbst in diesem verlassenen Nest gehört hast, sie ist auch noch eine reiche Erbin.«

»Wie alt ist sie?« erkundigte Nolita sich.

»Ich glaube, sie wird bald zwölf. Ihre Großmutter sagte zu mir: ,Sie braucht eine gebildetere und kultiviertere Person um sich als die Gouvernanten, die man kaum als Damen bezeichnen kann.'«

»Aber Tante Katherine, ich bin doch ... ziemlich alt als Gesellschafterin eines Kindes von zwölf«, meinte Nolita zögernd.

»Gerade deshalb wirst du Autorität über sie haben«, antwortete Lady Katherine. »Ich denke mir, daß sie Lehrer haben wird. Deine Pflicht wird es sein, sie zu leiten und zu beeinflussen.«

Nolita mußte zweifelnd dreingeblickt haben, denn Lady Katherine fuhr ärgerlich auf.

»Oh, benutze deinen Verstand! Ich weiß genau, was die Marquise wünscht. Offenbar ist es ein schwieriges Kind, und Millicent Sarle ist die letzte, die ihre Zeit mit einer schwierigen Enkelin verschwenden möchte.«

»Ist ihre Mutter tot?« fragte Nolita.

»Sie ist schon vor Jahren gestorben und hinterließ diesem lästigen Mädchen ein ungeheures Vermögen, das von Jahr zu Jahr weiter anwächst. Ich habe oft zu der Marquise gesagt, es ist ein Jammer, daß kein Sohn da ist, der den Titel erben könnte.«

»Ihr Vater lebt noch?«

»Natürlich! Himmel! Liest du niemals Zeitung? Ihr habt euch wohl keine leisten können.«

Nolita schoß das Blut ins Gesicht.

Sie konnte ihrer Tante nicht gut sagen, daß weder ihr Vater noch ihre Mutter auch nur im geringsten an den Hofnachrichten oder den Schilderungen der Bälle und Gesellschaften, die in London stattfanden, interessiert gewesen seien.

Wenn die Zeitung kam, hatte sich ihr Vater für gewöhnlich dem Sportteil zugewandt, und sie alle hatten sich in die Berichte über die Pferderennen vertieft.

Jeder Penny, den sie sparen konnten, war auf den Kauf von Pferden verwendet worden, die ihr Vater trainiert und mit Gewinn wieder verkauft hatte.

Das war der einzige Weg gewesen, ihr kleines Einkommen aufzubessern.

Manchmal, wenn ihr Vater Erfolg gehabt hatte, waren sie sich reich vorgekommen. Er hatte Geschenke und neue Kleider für seine Frau und seine Tochter gekauft, es hatte besondere Leckerbissen und ganz gelegentlich auch eine Flasche Champagner gegeben.

Ein solches Leben hätte ihre Tante bestimmt entsetzt, und doch hatten sie so viel Spaß gehabt.

Plötzlich fiel Nolita ein, wo sie von dem Marquis of Sarle gehört hatte und warum, als ihre Tante seinen Namen nannte, er ihr bekannt vorgekommen war.

Natürlich besaß er Rennpferde, und ihr Vater hatte ihn vor einem Jahr auf einem in der Nähe gelegenen Rennplatz erwähnt.

»Das ist der Favorit«, hatte er gesagt und auf ein prachtvolles Tier gezeigt. »Er gehört dem Marquis of Sarle, aber ich glaube nicht, daß er siegen wird.«

»Warum nicht, Papa?«

»Ich setze eher auf den Außenseiter, und wenn er als Erster durchs Ziel geht, wird uns das viel Geld einbringen.«

»Bitte, Liebster«, hatte Nolitas Mutter gesagt, »riskiere nicht zu viel. Du weißt, wie knapp wir zur Zeit dran sind.«

Ihr Vater war jedoch seiner »Ahnung«, wie er es nannte, gefolgt, und der Außenseiter hatte gesiegt. Bis zu diesem Augenblick hatte Nolita nie mehr an den Favoriten gedacht, der Dritter geworden war.

»Du brauchst nichts anderes zu tun«, erklärte ihre Tante, »als dich bei dem Kind beliebt zu machen und es bei guter Laune zu halten, und wer weiß, was sie für dich in Zukunft tun kann.«

Neid schwang in ihrer Stimme mit, als sie fortfuhr.

»Neulich sagte irgendwer, der Besitz ihres Großvaters, den sie zusätzlich zu dem ihrer Mutter erben wird, gehöre zu den größten Vermögen Amerikas.«

»War ihre Mutter Amerikanerin?« fragte Nolita.

»Das erzähle ich dir doch die ganze Zeit!« gab Lady Katherine zurück. »Sie heiratete sehr jung, und natürlich war sie wie alle Amerikanerinnen entzückt, wenn es ihnen gelingt, sich in die britische Aristokratie einzukaufen.«

»Ich dachte, der Marquis sei reich.«

»Das ist er auch, aber wer hat je genug Geld?« meinte Lady Katherine ungeduldig. »Jedenfalls hat der Marquis von ihren Dollars profitiert, und ebenso sein Gut in Buckinghamshire, wo du leben wirst.«

Nolita holte Atem.

»Bitte ... Tante Katherine ... ich möchte dich nicht erzürnen, aber ... viel lieber ginge ich nicht... dorthin.«

»Warum nicht?«

»Ich habe nie viel mit Kindern zu tun gehabt, und wenn ich Gouvernante oder Kindermädchen werden soll, würde ich kleine Kinder von zwei oder drei Jahren vorziehen.«

»Ich hätte mir denken können, daß du dich als ebenso überspannt und töricht erweisen würdest wie deine Mutter, als sie auf diese alberne Art durchbrannte!« schimpfte Lady Katherine. »Will es nicht in deinen Kopf hinein, daß ich dich als meine Nichte nicht in eine untergeordnete Stellung schicken kann?«

Sie schien nicht besonders stolz auf die Verwandtschaft zu sein.

»Es handelt sich hier nicht um einen Posten als Gouvernante oder Kindermädchen. Du wirst lediglich mit dem Kind zusammen sein, weil du mit einer distinguierten Familie verwandt bist. Es ist eine wunderbare Gelegenheit, wenn du sie nur auszunützen verstehst - und sie mag niemals wiederkehren.«

Nolita wollte sagen, daß sie nicht den Wunsch habe, irgendetwas oder irgendjemand auszunützen, doch bevor sie sprechen konnte, fuhr Lady Katherine fort.

»Spar dir die Widerworte, Nolita. Deine Mutter und dein Vater sind beide tot. Dein Onkel Robert ist jetzt dein offizieller Vormund, und du hast zu tun, was er sagt. Er hat die Sache mir übergeben, und du wirst mir gehorchen.«

Sie nahm ihre schwarzen Handschuhe von einer Sessellehne, wo sie sie beim Betreten des Zimmers abgelegt hatte, und streifte sie über.

»Ich fahre jetzt nach London zurück, und obwohl es eine außerordentliche Unbequemlichkeit für mich darstellt, werde ich dir wohl für übermorgen einen meiner Wagen schicken müssen. Das läßt dir Zeit, alles zu ordnen und an Kleidern einzupacken, was du besitzt.«

Sie musterte ihre Nichte von oben bis unten.

»Wenn das dein bestes Kleid ist, bleibt mir nichts übrig, als dir etwas Anständiges zum Anziehen zu besorgen, bevor du nach Sarle-Park gehst.«

Sie schloß den letzten der Perlenknöpfe an ihren Wildlederhandschuhen.

»Für eine Nacht wirst du bei mir in London bleiben. Ich werde die Marquise bitten, dich am nächsten Tag abholen zu lassen. Ich habe ihr bereits von dir erzählt, und ich rechne damit, heute abend, wenn ich nach Hause komme, einen Brief von ihr vorzufinden, in dem sie mir ihre Zufriedenheit ausdrückt.«

Lady Katherine knöpfte den zweiten Handschuh zu.

Dann fragte sie scharf: »Ist das soweit klar?«

»Ja... Tante Katherine.«

»Mit diesem Haus kannst du tun, was du willst. Ich persönlich würde es einstürzen lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es irgendetwas enthält, das es wert ist, aufgehoben zu werden.«

Lady Katherine hatte weiter nichts mehr zu sagen. Sie ging zur Tür und wartete, bis Nolita herbeieilte und sie für sie öffnete.

Sie trat auf den kleinen Flur, blickte mit Abscheu um sich und begab sich, als könne sie nicht schnell genug wegkommen, zu ihrem bequemen Reisewagen, der, bespannt mit zwei edlen Pferden, draußen wartete. Einen Augenblick hielt sie noch inne.

»Auf Wiedersehen, Nolita. Tu genau, was ich dir gesagt habe, und sei fertig, wenn der Wagen am Donnerstag kommt. Du darfst die Pferde nicht warten lassen.«

»Nein, Tante Katherine.«

Der Diener, der einen Hut mit Kokarde trug, hielt ihr den Schlag auf.

Lady Katherine stieg ein, er schob ihr ein Seidenkissen hinter den Rücken und legte eine Decke über ihre Knie.

Der Schlag wurde geschlossen, der Diener sprang auf den Bock, der Kutscher berührte die Pferde mit seiner langen Peitsche, und fort waren sie.

Lady Katherine beugte sich nicht vor, um ihrer Nichte zuzuwinken. Nolita hatte auch nicht damit gerechnet.

Sie stand nur da und sah dem Wagen nach, bis er hinter den Büschen und Bäumen, die die gewundene Zufahrt säumten, außer Sicht geriet.

Sie ging nicht ins Haus zurück, sondern lief zum Stall, einem langen, niedrigen Gebäude, das überraschenderweise in besserem Zustand war als das reparaturbedürftige Wohnhaus.

Der gepflasterte Hof war frei von Unkraut und mit Wasser besprengt, und die Mauern waren etwas unfachmännisch gelb gestrichen.

Nolita rannte auf die Stalltür zu, und schon hörte sie das Wiehern eines Pferdes und das Stampfen von Hufen.

In einer Sekunde hatte sie die Stalltür geöffnet und war eingetreten. Das Pferd rieb die Nase an ihrer Schulter, und sie schlang die Arme um seinen Hals.

»Oh ... Eros .. .Eros!« Ihre Stimme brach. »Ich muß ... weg. Was soll ich nur ... ohne dich ... anfangen?«

Tränen liefen ihr übers Gesicht.

Schritte erklangen hinter ihr, aber sie drehte sich nicht um. Sie wußte, es war nur der alte Johnson, der für ihres Vaters Pferde gesorgt hatte und immer wie einer von der Familie gewesen war.

Er kam heran und stellte sich neben sie.

»Was hat Ihre Ladyschaft zu Ihnen gesagt, Miss?«

»Was meinen Sie wohl?« antwortete Nolita niedergeschlagen. »Ich muß ... weg von hier.«

»Das habe ich befürchtet, Miss.«

»Ja, ich weiß. Sie hatte schon alles arrangiert, bevor sie herkam. Oh Johnson ... was soll ich nur tun?«

»Sie können nicht viel tun, Miss Nolita, weil Sie noch keine einundzwanzig sind.«

»Noch drei Jahre«, flüsterte Nolita. »Drei Jahre ... ohne ... Eros.«

»Vielleicht wird es nicht so schlimm, wie Sie denken«, beruhigte Johnson sie, »wenn ich an Ihrer Stelle nach ihm sehen darf.«

Wie ein Ruck ging es durch Nolita. Sie hob ihr tränennasses Gesicht, das sie an Eros’ Hals geschmiegt hatte.

»Würden Sie ... würden Sie das tun? Würden Sie ... das wirklich tun?«

»Natürlich, Miss, wenn Sie es möchten. Das ist nur eine Geldfrage.«

»Könnten Sie und Mrs. Johnson mit hundert Pfund im Jahr auskommen, wenn Sie hierblieben?«

Johnson überlegte. Er war kein impulsiver Mann und dachte seiner Veranlagung nach langsam.

»Hundert Pfund im Jahr wären zwei Pfund die Woche, Miss Nolita. Ich würde Gemüse im Garten ziehen, und dann hätten wir die Hühner und die Kaninchen. Jawohl, Miss. Wir könnten davon leben, und Eros bekäme im Winter seinen Hafer.«

Nolita stieß einen leisen Freudenschrei aus.

»Oh Johnson, ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen! Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, Eros verkaufen zu müssen. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich ihn weggeben müßte!«

»Aber Miss Nolita, so dürfen Sie nicht reden. Sie sind jung. Sie haben Ihr Leben noch vor sich, und Sie sind hübsch! Wie ich erst heute morgen zu meiner Frau sagte - früher oder später wird ein Gentleman des Weges kommen, merken Sie sich meine Worte!«

»Ich will keinen Gentleman«, antwortete Nolita. »Ich will nichts weiter als Eros - und mit ihm und Ihnen hier bleiben.«

»Ich vermute, da hat Ihre Ladyschaft ein Wörtchen mitzureden«, bemerkte Johnson.

»Ich habe ihr gegenüber nicht einmal erwähnt, daß Eros existiert«, gestand Nolita. »Denn sonst hätte sie bestimmt gesagt, er gehöre nicht mir, sondern Papa und müsse ebenso verkauft werden wie die anderen Pferde.«

»Die Pferde werden mir fehlen, Miss Nolita. Sie haben mir manchmal viel Mühe und Arbeit gemacht, aber sie werden mir fehlen.«

»Eros bleibt Ihnen, und er ist wichtiger und edler als alle anderen Pferde zusammen!«

»Das stimmt wohl, und ich hätte mir denken können, als der Captain ihn zu Ihrem Geburtstag mitbrachte, daß er sich als das beste Pferd im ganzen Stall erweisen würde.«

»Das ist er gewiß. Bitte, Johnson, satteln Sie ihn für mich, während ich mich umziehe.«

»Sie wollen ausreiten, Miss?«

»Danach habe ich mich schon den ganzen Tag gesehnt«, seufzte Nolita. »Ich fürchtete, die Leute würden vor dem Begräbnis daran Anstoß nehmen, aber Papa hätte es verstanden.«

»Ja, das hätte er!« pflichtete Johnson ihr bei. »Der Captain hat immer gesagt: ,Es ist nichts so schlimm oder so gut, daß es nicht besser wird, wenn man beim Reiten darüber nachdenkt.'«

Nolita traten die Tränen in die Augen, und doch lachte sie leise auf.

»Ich höre Papa das sagen, Johnson, und ich möchte jetzt reiten und nachdenken. Es werden glückliche Gedanken sein, weil Sie mein Problem gelöst haben. Ich hatte solche Angst, Sie würden hundert Pfund im Jahr für nicht ausreichend halten.«

»Ich komme schon zurecht«, erklärte Johnson ruhig.

Er holte Nolitas Damensattel herbei, und sie lief vom Stall zum Haus.

Zehn Minuten später ritt sie über die rauhen, unfruchtbaren Felder hinter den Gebäuden. Die Schwermut, die den ganzen Tag lang wie eine dichte, dunkle Wolke über ihr gehangen hatte, verflog.

Es war nicht nur das Leid um den Tod ihrer Eltern, die sie heiß geliebt hatte, sondern auch das Wissen, daß sie Eros verlassen mußte. Er hatte in ihrem Leben eine solche Bedeutung gehabt, daß es ihr fast unmöglich war, sich eine Zukunft ohne ihn vorzustellen.

Ihr Vater hatte gemeint, daß sie Gesellschaft brauche, und hatte ihr vor fünf Jahren an ihrem dreizehnten Geburtstag Eros gekauft.

Damals waren sie in einer ziemlich angespannten finanziellen Lage gewesen, denn die von Captain Walford trainierten Pferde hatten weniger Geld eingebracht, als er erwartet hatte.

Dazu kam, daß die Rennpferde, auf die er setzte - seine Frau mochte ihn noch so sehr bitten, er solle vorsichtiger sein - direkt vorm Ziel überholt wurden oder beim Sprung über einen Zaun stürzten, den sie mit Leichtigkeit hätten nehmen müssen.

Dann hatte er auf dem Pferdemarkt ein Fohlen gesehen und instinktiv erkannt, daß hier ein edles Tier für wenige Pfund angeboten wurde. Captain Walford hatte das Fohlen mit nach Hause genommen und es Nolita geschenkt, und von diesem Augenblick an war es ihr höchstes Glück und ihr größtes Entzücken gewesen.

Sie hatte Eros nicht nur darauf trainiert, daß er kam, wenn sie ihn rief, sondern ihm auch phantastische Kunststücke beigebracht.

Er konnte sich auf den Hinterbeinen aufrichten und nach der Walzermelodie tanzen, die Nolita summte; er nickte mit dem Kopf, wenn sie ihm befahl, »ja« zu sagen, und er schüttelte ihn, wenn es »nein« heißen sollte.

Jedes Jahr lehrte sie ihn neue Dinge, bis ihr Vater lachend meinte: »Er ist menschlicher als die meisten menschlichen Wesen, und bestimmt intelligenter!«

Der Gedanke daran, daß sie Eros vielleicht verlieren würde, daß sie ihn würde verkaufen müssen, hatte seit dem Tode ihrer Eltern wie ein Dolch in Nolitas Herzen gesteckt.

Sie hatte gewußt, wie wenig Geld sie besaßen, und halb und halb hatte sie sich schon darauf gefaßt gemacht, daß nach Bezahlen aller Verpflichtungen nichts übrigbleiben würde.

Glücklicherweise war der kleine Betrag, den ihr Großvater ihrer Mutter überschrieben hatte, im Wert gestiegen und brachte fast fünfzig Pfund im Jahr ein, und ihr Vater hatte das gleiche Einkommen von einem Treuhandvermögen, dessen Kapital er nicht hatte angreifen können.

Jetzt gehörte beides ihr, und wenn es auch wenig genug war, rettete es sie doch davor, sich von Eros trennen zu müssen.

Als sie an diesem Abend in dem kleinen Schlafzimmer, das sie seit ihrer Kinderzeit bewohnte, zu Bett ging, dankte sie Gott, daß sie Eros behalten durfte, und dann betete sie darum, daß sie nicht lange in Sarle-Park bleiben müsse.

»Wenn sie dort nicht mit mir zufrieden sind«, sagte sie zu sich selbst, »werden sie bald auf meine Dienste verzichten wollen. Vielleicht wird Tante Katherine dann so wütend, daß sie mir erlaubt, zu Hause zu bleiben.«

Ihr war jedoch klar, daß sie sich darauf nicht fest verlassen durfte.

Obwohl Lady Katherine nicht die geringste Lust hatte, ihre verwaiste Nichte bei sich aufzunehmen, war sie sich doch sehr bewußt, was sie der Ehre ihrer Familie schuldig war.

Nolita erinnerte sich, daß ihre Mutter oft darüber gelacht hatte, welche Sorgen es ihren Verwandten bereitete, »was die Leute sagen werden«.

»Hauptsächlich aus Sorge darum, was die Leute sagen würden, waren sie so böse, als ich mit Papa durchbrannte«, hatte sie Nolita erzählt. »Natürlich - wäre er reich und bedeutend gewesen, hätten sie es für eine sehr gute Sache gehalten. Aber er war arm und mußte sein Regiment verlassen, und so waren sie selbstverständlich gegen meine Heirat.«

»Warum machten sie sich denn Sorgen?« hatte Nolita mit weit aufgerissenen Augen gefragt, »und um welche Leute?«

»Um die Leute, die sie bewunderten, ihre Freunde und ein ganzer Kreis von Bekannten«, erklärte ihre Mutter. »Wenn du erst älter geworden bist, Nolita, wirst du feststellen, daß die Gesellschaft sich selbst mit einer großen Menge ungeschriebener Regeln und Gesetze eingezäunt hat. Manche davon sind völlig unsinnig, aber es gibt sie nun einmal.«

»Was für Regeln?«

Ihre Mutter hatte ihren Vater angesehen, der augenzwinkernd erklärt hatte: »An erster Stelle steht natürlich das Elfte Gebot.«

»Und was ist das?« forschte Nolita.

»Laß dich nicht erwischen!«

»Also wirklich, Harry! Du darfst so etwas nicht vor dem Kind sagen!« hatte ihre Mutter ausgerufen.

»Wenn sie es nicht von mir lernt, wird sie es selbst herausfinden«, hatte ihr Vater trocken gesagt. »Sünden gelten in der Gesellschaft als Bagatellen, solange sie unter den Teppich gekehrt werden, Nolita. Schlimm ist es nur, wenn darüber gesprochen wird, und am allerschlimmsten, wenn etwas darüber in den Zeitungen erscheint!«

Nolita war damals noch zu jung gewesen, und erst später, als sie älter wurde, verstand sie, was ihr Vater gesagt hatte.

Nicht von ihren Eltern, sondern von deren Freunden erfuhr sie, daß in der Gesellschaft verheiratete Leute Liebesaffären hatten und sich niemand darüber Gedanken machte, solange sie sich diskret verhielten.

Die Affären des Prinzen von Wales waren eine unerschöpfliche Quelle des Klatsches. Nolita hatte ihn einmal bei einem Pferderennen gesehen, zu dem ihr Vater sie mitgenommen hatte, und sie hatte ihn sehr schick und attraktiv, wenn auch nicht besonders hübsch gefunden.

Er war von einer Anzahl außerordentlich schöner Frauen umringt gewesen, und auf dem Heimweg hatte Nolita unschuldig gefragt, ob Prinzessin Alexandra anwesend gewesen sei. Ohne nachzudenken, hatte ihr Vater geantwortet.

»Nicht, wenn er mit der verführerischen Lady Brook zusammen ist.«

»Warum?« hatte Nolita wissen wollen.

Sie hatte keine Antwort erhalten, und erst etwa ein Jahr später begriff sie etwas mehr. Bis dahin hatten alle davon gesprochen, wie wahnsinnig verliebt der Prinz sei. Und da weder die Prinzessin noch Lord Brook Einwände gegen diese Verbindung zu haben schienen - was ging es da andere Leute an?

Nolita kam das damals ganz verkehrt vor. Ihr Vater und ihre Mutter lebten völlig anders. Sie waren so glücklich! Allein schon der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, wenn sie den Vater vom Rennen heimkommen hörte, und der tiefe Klang seiner Stimme, wenn er sie begrüßte, bewiesen Nolita, daß es für keinen von beiden jemals einen anderen geben konnte.

So soll eine Ehe auch sein, dachte Nolita dann im stillen.

Sie konnte verstehen, warum ihre Mutter die beiden Schwestern nicht darum beneidete, daß sie ein Leben in der eleganten Welt führten und ihre Bilder regelmäßig in den Zeitschriften erschienen.

»Du bist so schön, Mama«, hatte Nolita einmal gesagt. »Ich wünschte, du hättest teure Kleider und schönen Schmuck und wärest die Belle auf einem großen Ball.«

»Ich möchte lieber hier mit deinem Vater zusammen sein als im Buckingham-Palast tanzen«, hatte ihre Mutter erwidert.

Ihr Ton hatte Nolita verraten, daß es die Wahrheit war.

Jetzt sollte sie in eine Welt eintreten, die ihre Mutter für lieblos angesehen hatte.

Auch wenn sie ihnen nicht vorgestellt werden würde, so würde sie doch oft unter einem Dach mit dem Prinzen von Wales, Lady Brook und all diesen Leuten weilen, die ihre Tante Katherine für so wichtig hielt.

Das wird mir so zuwider sein, dachte Nolita. Und selbst wenn ich im Schulzimmer bin, werde ich von ihnen hören und werde wissen, warum Mama keinen Teil an dieser Sorte von Leben haben wollte.

Verzweifelt sagte sie sich, daß es nichts gab, was sie dagegen tun konnte.

Vernünftig, wie sie war, erkannte sie, daß ihre Tante die Wahrheit gesprochen hatte, als sie ihr mitteilte, ihr Onkel sei jetzt ihr Vormund und sie müsse ihm gehorchen.

Vielleicht wäre es schlimmer, wenn ich bei einem von ihnen leben müßte, überlegte sie.

Sie wußte, ihre Tante Katherine mochte sie nicht leiden und würde an allem, was sie tat, etwas auszusetzen finden.

Sie konnte nur hoffen, daß sie nicht den Unwillen der Marquise erregen würde. Und daß es ihr möglich sein würde, sich »raushalten« zu können, wie die Dienstboten zu sagen pflegten.

Ihr grauste davor, in das leichtfertige Leben hineingezogen zu werden, das ihre Tante Katherine führte.

Nolita hatte gelesen und gehört, welche endlose Folge von Bällen, Empfängen und Soireen Lady Katherine besuchte, wie entschlossen sie und ihre Altersgenossinnen den Kampf um einen Platz in dem »magischen Kreis« um den Prinzen von Wales führten und wie sie sich gleichzeitig bemühten, nicht das Mißfallen Königin Viktorias zu erregen.

Sie fand das alles schrecklich und gleichzeitig sinnlos, obwohl es eine so außerordentliche Bedeutung für diejenigen hatte, die daran teilnahmen.

Nolita wußte sehr genau, was ihre Tante mit der »Gelegenheit« meinte, die ihr das Kind, dessen Gesellschafterin sie werden sollte, verschaffen könnte.

Da die Enkelin der Marquise von Sarle sehr reich war, stand ihr ein Sonderplatz in dem »magischen Kreis« zu, denn, wie Lady Katherine so richtig gesagt hatte, »niemand hatte genug Geld«.

»Ich will ihr Geld nicht!« rebellierte Nolita plötzlich laut in der Dunkelheit. »Ich will Eros! Ich will hier in meinem eigenen Heim bleiben.«

Aber da sie wußte, daß das unmöglich war, weinte sie verzweifelt in ihr Kissen.

Ohne zu weinen sagte sie zwei Tage später Johnson Auf Wiedersehen und stieg in den Reisewagen, den ihre Tante ihr aus London geschickt hatte.

Es war längst kein so eleganter Wagen wie der, den Ihre Ladyschaft selbst benutzt hatte, und die Pferde waren zwar gut, aber nichts Besonderes.

Auf dem Bock saß nur ein Kutscher, kein Diener. Das ließ Platz für Nolitas Schrankkoffer. Ein paar andere Gepäckstücke, die sie mitnehmen wollte, wurden innen verstaut.

Früher am Morgen hatte sie von Eros tränenreichen Abschied genommen, aber jetzt, als sie Johnson und seiner Frau die Hand schüttelte, war es Mrs. Johnson, die weinte.

»Geben Sie nur gut auf sich acht, Schätzchen - ich meine, Miss Nolita«, schluchzte Mrs. Johnson, »und machen Sie sich um uns keine Sorgen. Wir werden das Haus ebenso gut in Ordnung halten wie zur Zeit Ihrer lieben Mutter - Gott habe sie selig -, und Sie werden zu uns zurückkommen, fast noch bevor Sie abgereist sind.«

Johnson nahm nur Nolitas Hände in seine beiden Hände. Er fand keine Worte.

Nach einem letzten Blick in Richtung Stall stieg Nolita in den Wagen.

Die Kutsche rollte an. Nolita winkte zu den Johnsons zurück und warf einen letzten Blick auf das Giebelhaus, das ihr ganzes Leben lang ihre Heimat gewesen war. So mußten die Aristokraten während der Französischen Revolution empfunden haben, wenn sie auf Schinderkarren weggebracht wurden!

Das Haus in London war genauso, wie sie es sich vorgestellt hatte: hoch, eindrucksvoll und ziemlich düster. Es stand eine offensichtlich unnötig hohe Zahl von Dienern in der Kennington-Livree herum, dazu ein Butler, der wie ein Erzbischof aussah und auch so redete. Er meldete Nolita mit Stentorstimme an.

Ihre Tante saß im Salon auf einem Sofa und sprach mit einem jungen Mann, den ein Monokel zierte. Mit gereiztem Gesichtsausdruck blickte sie auf.

»Du kommst aber früh!« schnappte sie, als halte sie es für eine persönliche Beleidigung. Nolita trat vor und knickste.

»Geh nach oben und packe aus. Ich komme später zu dir.«

Nolita knickste von Neuem und folgte dem Butler, der vor der Tür gewartet hatte.

Erst als sie die Tür schloß, hörte sie den Herrn mit dem Monokel sagen: »Beim Zeus, ist das ein hübsches kleines Ding! Wer ist sie?«

Diese Bemerkung, so dachte Nolita, mochte schuld an der schlechten Laune ihrer Tante sein, die eine halbe Stunde später nach oben in Nolitas Schlafzimmer kam.

»Ich hätte angenommen«, sagte sie kalt, »daß du Verstand genug haben würdest, Hut und Mantel abzulegen, bevor du den Dienstboten erlaubtest, dich im Salon anzumelden, wo ich mit einem Besucher saß.«

»Es tut mir leid, Tante Katherine«, entschuldigte Nolita sich, »aber ich wußte nicht, was von mir erwartet wurde.«

»Nun, jetzt weißt du es.«

Lady Katherine sah in einem Gewand aus hellblauer Seide, das farblich zu ihren Augen paßte, sehr attraktiv aus, nur war es etwas zu jugendlich für sie.

Sie musterte Nolita von oben bis unten.

»Für deine äußere Erscheinung werde ich wohl etwas tun müssen. Im Augenblick siehst du aus wie ein arbeitsloses Hausmädchen.«

»Oder ... eine ... arme Verwandte«, entfuhr es Nolita, bevor sie es hinunterschlucken konnte.

»Genau das bist du auch, und vergiß nicht, dankbar zu sein«, gab Lady Katherine zurück. »Ich habe mir sehr viel Mühe gemacht, ein Unterkommen für dich zu finden, und zu meiner Freude habe ich bereits einen begeisterten Brief von der Marquise erhalten. Wie ich es voraussah, möchte sie dich so bald wie möglich in Sarle-Park sehen.«

»Was ist der Grund für diese Eile?« fragte Nolita neugierig.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete Lady Katherine, »aber zweifellos wird dir jemand diese Frage beantworten, sobald du dort bist.«

Ihr Blick hing immer noch an Nolitas Kleid.

»Ich habe nicht die Absicht, Geld auszugeben, um dir neue Kleider zu kaufen, und ich sage dir klipp und klar, daß ich keine Trauer um deine Mutter tragen oder auch nur gegenüber meinen Freundinnen zugeben werde, daß sie gestorben ist.«

Nolita riß vor Staunen die Augen auf, und Lady Katherine fuhr fort: »Wäre ich in Trauer, könnte ich an den vielen Veranstaltungen dieser Saison nicht teilnehmen, und ich denke nicht daran, darauf zu verzichten. Du wirst deshalb nirgendwo erwähnen, daß deine Mutter vor kurzem gestorben ist - vor allem bei der Marquise nicht.«

»Was wird sie dann denken, warum ich... eine Stellung suche?« fragte Nolita.

»Sie weiß, daß du Waise bist, hält jedoch die Trauerzeit für beendet.«

Nolita wunderte sich. Sie fühlte sich auch verletzt, weniger durch Lady Katherines Wunsch, sie solle über den Tod ihrer Mutter lügen, als durch die Gleichgültigkeit Lady Katherines für ihre Schwester.

»Dem Himmel sei Dank«, erklärte Lady Katherine, »daß eine Menge Kleider von mir herumliegt, für die ich keine Verwendung mehr habe. Ich wollte sie einem Wohltätigkeitsverein geben, aber ich kam nie dazu, und sie sind genau das, was du brauchst.«

Sie läutete nach ihrer Zofe und ließ Kleider aller Art hereinbringen, um sie zu begutachten.

»Das da will ich behalten«, entschied sie, auf ein sehr elegantes Gewand zeigend. »Das grüne nicht. Ich hatte immer das Gefühl, daß ich darin kein Glück hätte.«

Nolita wurde nicht gefragt, was ihr gefiel oder nicht, und bald lagen Stapel von Kleidern auf dem Bett, darunter auch mehrere Kunstgebilde für den Abend, die zu tragen Nolita - davon war sie überzeugt - nie Gelegenheit finden würde.

Sie sah auch, daß sie ihr zu groß waren, besonders in der Taille und um die Büste, aber wenn Lady Katherine das für unwesentlich hielt, stand es ihr nicht zu, es zu erwähnen.

Wieviel Zeit wird es mich kosten, die Kleider zu ändern, dachte Nolita und sah zu, wie der Stapel wuchs.

»Es ist auch noch eine Menge Unterwäsche da, die ich als nicht mehr gut genug für Eure Lordschaft beiseitegelegt habe«, sagte die Zofe.

»Dann gib sie Miss Walford«, antwortete Lady Katherine. »Wir müssen auch noch feststellen, ob ihr meine Schuhe passen.«

Sie paßten, obwohl einige davon so eng waren, daß Nolita hoffte, darin nicht weit laufen zu müssen.

Es gab auch unzählige Handschuhpaare, die entweder zu oft gereinigt worden waren, kleine Flecken, die sich nicht mehr entfernen ließen, hatten oder einen Riß, der geschickt gestopft worden war. Aber Ihre Ladyschaft verlangte Perfektion, und deshalb kamen die Handschuhe für sie nicht mehr in Frage.

Noch so viele andere Dinge wurden hereingeschleppt, daß Nolita die Übersicht verlor. Langsam kam ihr der Gedanke, man werde es in Sarle-Park sehr merkwürdig finden, wenn ein Mädchen, das eine Stellung als Gesellschafterin suchte, mit einem solchen Berg an Gepäck eintraf.

Sie war jedoch überzeugt, daß ihre Tante nicht auf ihre Proteste hören würde, und schließlich, als die Zofe verkündete, daß nichts mehr da sei, sagte Lady Katherine: »Du kannst dich glücklich schätzen. Ich habe dich praktisch mit einer ganzen Aussteuer versorgt.«

»Ich danke dir, Tante Katherine. Ich bin dir wirklich sehr dankbar.«

»Dazu hast du auch allen Grund. Und vergiß nicht, wenn die Marquise etwas bewundert, das du anhast, wirst du ihr sagen, daß es ein Geschenk von mir ist.«

»Ja, natürlich, Tante Katherine.«

Lady Katherine seufzte selbstzufrieden.

»Niemand kann in Zukunft behaupten, ich hätte nicht mein Bestes getan. Und wenn du mich enttäuscht, wie es deine Mutter getan hat, werde ich sehr böse werden.«

»Mama ist dem gefolgt, den sie liebte«, stellte Nolita fest.

»Ich weiß es nur zu genau. Es war äußerst unvernünftig. Jetzt kannst du selbst sehen, was dabei herausgekommen ist. Wäre dein Vater reich gewesen, hätte er es nicht nötig gehabt, mit einem unzulänglich trainierten Pferd zu fahren, und sie beide würden heute noch leben.«

Nolita schloß kurz die Augen. Sie ertrug die Erinnerung nicht. Ihr Vater hatte sich des Pferdes wegen Sorgen gemacht. Er mußte es an diesem Abend, als sie die Gesellschaft besuchten, anspannen, weil kein anderes mehr da war. Die Wagenpferde, die er für gewöhnlich genommen hatte, hatte er in jener Woche gerade verkauft.

»Ich wollte sie eigentlich behalten, bis Rufus fertig trainiert ist«, hatte er zu seiner Frau gesagt, »aber ich kann ein solches Angebot nicht ablehnen. Es kommt von einem Mann, der seit drei Jahren ein guter Kunde ist, und er hat es eilig.«

»Wir werden mit Rufus schon zurechtkommen, Liebster«, hatte ihre Mutter geantwortet.

Sie hatte zugestimmt, das wußte Nolita, weil sie wieder einmal im Ort Schulden hatten. Der Metzger hatte schon höflich angefragt, ob er eine Abschlagszahlung haben könne.

Aber irgendetwas mußte Rufus erschreckt haben. Wild und außer Kontrolle war er die dunkle Straße hinuntergaloppiert und auf der Kreuzung in den ankommenden Zug gerast.

Nolita mußte daran denken, daß sie von den großen Geldsummen, die Lady Katherine für ihre Kleider auszugeben pflegte, ein Jahr lang hätten leben und sich außerdem gute Pferde hätten halten können.

Doch es war sinnlos, Vergleiche zwischen den beiden Schwestern anzustellen.

Ihre Mutter hatte ihren Lebensstil gewählt und es nie bedauert, deshalb sollte auch sie es jetzt nicht bedauern.

Aber sie fürchtete sich vor der Zukunft.

»Du mußt mir helfen, Mama«, flüsterte sie, im Bett liegend, in die Dunkelheit. »Du mußt mir helfen, daß ich keinen Fehler begehe oder etwas tue, was Tante Katherine verärgern könnte.«

Nolita sehnte sich nach dem Gefühl, ihre Mutter neben sich stehen zu haben, die ihr sagte, daß sie sich nicht zu fürchten brauche. Aber sie war allein in dem fremden Schlafzimmer, und Eros war weit weg.

Sie schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Sie erschauerte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst und einem wachsenden Gefühl der Einsamkeit.

Das ferne Schloss

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