Читать книгу Die Bestie von Norwich - Mystikroman - Barbara Emerson - Страница 3
ОглавлениеDer Regen peitschte Kathy McGregor trotz ihrer Kapuze ins Gesicht, als sie aus dem Wagen stieg und in das Pub lief. Von außen erschien es nicht sehr einladend, der Wind ließ die maroden Fensterläden klappern.
Das alte Schild über der Tür quietschte an einer rostigen Kette, die Farben des gemalten Lamms waren verblasst durch Wind und Wetter. „The Singing Lamb“ – Das singende Lamm –, Edward hatte es ihr wärmstens empfohlen. „Kathy, ich sag dir, da kriegst du eine Shepherd’s Pie, wie du sie noch nie gegessen hast.“
Na schön, Edward, dachte sie, hoffentlich hast du recht, ich hab ordentlichen Hunger.
Sie zog an der Tür, die knarrend nach außen schwang und fast von einer Windbö aus ihrer Hand gerissen wurde. Wärme, Licht und reges Stimmengewirr empfingen sie. Der Geruch nach Essen vermischte sich mit dem harzigen Duft eines Kaminfeuers.
Sie schüttelte sich, zog die Kapuze vom Kopf und ging zur Theke.
„Ein bisschen windig heute“, sagte ein älterer Mann neben ihr.
Kathy lächelte höflich, aber sie erwiderte nichts. Als der Wirt sich ihr zuwandte, fragte sie nach Eliza. Er nickte und rief etwas über die Schulter in die Küche. Kurz darauf kam eine kleine, alte Frau heraus und sah sich um.
„Sie wollen was von mir?“, fragte sie und musterte Kathy mit zusammengekniffenen Augen.
„Ja. Mir wurde gesagt, wenn ich ein Zimmer suche, soll ich mich an Sie wenden. Es gäbe keine bessere Adresse.“
„Wer sagt denn so was?“
„Edward Cunningham vom Glasgow Sunday Observer“, erklärte Kathy lächelnd.
„So, und Sie sind?“, fragte Eliza und verzog noch immer keine Miene.
„Kathy McGregor, ebenfalls vom Sunday Observer.“
„Aha. Dann kommen Sie mal mit.“
Die Alte legte das Handtuch zur Seite, kam hinter der Theke hervor und führte sie über ein Nebenzimmer zur Treppe in den ersten Stock. Mehrere Türen trugen Nummern, bei der 17 blieb Eliza stehen. „Hier können Sie wohnen. Pro Nacht fünfzehn Pfund, mit Essen natürlich mehr. Das Bad ist auf dem Flur, aber Sie müssen es nicht teilen. Im Moment sind außer Ihnen keine Gäste hier. Wo ist Ihr Gepäck?“
Kathy zog ihre Autoschlüssel aus der Jackentasche. „Das ist noch im Auto, ich hole es gleich rein. Sagen Sie, Eliza, würden Sie mir eine Ihrer wunderbaren Shepherd’s Pies zaubern? Edward hat unaufhörlich in den höchsten Tönen davon geschwärmt.“
Ein Lächeln huschte kurz über das Gesicht der Alten, als sie sich umdrehte. „Werde ich tun. Zahlen Sie an der Theke und warten Sie unten im Pub, wird ’ne Weile dauern.“
Kathy begleitete Eliza wieder nach unten, folgte Elizas Hinweis und lief nach draußen zu dem Leihwagen. Sie hatte das Gefühl, als hätte der Wind in den letzten paar Minuten an Stärke zugenommen. Er zerrte an dem Pub-Schild, ließ es knarzen und quietschen, als Kathy darunter durchlief. Ihre Haare, die unter der Kapuze hervorschauten, wurden durcheinandergewirbelt, und der Regen sprühte ihr unangenehm ins Gesicht.
Sie hatte noch genügend Zeit, ihre Koffer in das gemütlich eingerichtete Zimmer zu tragen und die Regenjacke auszuziehen, bevor das Essen serviert wurde. Ein schmales Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein geräumiger Kleiderschrank, ein Telefon und sogar ein kleiner Fernseher waren in dem Zimmer, in dem sie die nächsten zwei, vielleicht auch drei Nächte verbringen würde. Kathy warf einen Blick aus dem Fenster, die gespenstische Moorlandschaft unter dem dicken Regenvorhang ließ sie frösteln. Die Wolken schienen fast bis zum Boden zu reichen, Nebelschwaden zogen geisterhaften Wesen gleich über das Moor.
Als Edward ihr Devon als Reiseziel vorgeschlagen hatte, sah sie gleich die ungezähmte Wildnis vor Augen und entsann sich der Geschichten über die Geisterhunde des Moores. Je länger sie zum Fenster hinaussah, desto mehr beschlich sie eine Stimmung düsterer Trostlosigkeit. Gänsehaut überzog sie von Kopf bis Fuß, und sie schüttelte sich jäh.
Sie wandte sich ab, ging hinab in die Schankstube und erfreute sich an dem fröhlichen Geplauder der Gäste und der Wärme des Kaminfeuers. Ganz langsam fiel das dunkle Gefühl wieder von ihr ab und machte wohliger Behaglichkeit Platz.
*
Edward Cunningham saß an seinem Schreibtisch in der Redaktion und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Kathy sollte bereits in Devon angekommen sein, sie war schon früh mit dem Wagen aufgebrochen. Er war bereits einige Male in der Grafschaft gewesen, eigentlich war es ein Zufall, dass dieser Landsitz des Schriftstellers Mark Westley ganz in der Nähe des kleinen Ortes Belstone lag, den Edward bereits von seinen eigenen Reisen her kannte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, wenn er an die gute Küche des Pubs dachte, in dem er stets übernachtet hatte.
Edward riss sich nur widerwillig von dem Blick nach draußen los und widmete sich seiner Reportage, aber schon nach wenigen Minuten wanderten seine Gedanken wieder davon weg.
Er dachte verträumt an Kathy. Sie war für ihn eine besondere Person. Schon seit sie in dieser Redaktion arbeitete, fühlte er sich zu ihr hingezogen. Bislang hatte er es jedoch noch nicht geschafft, es ihr gegenüber offen zuzugeben. Er spürte aber deutlich, dass sie für ihn ebenfalls etwas empfand. Auch wenn sie es immer überspielte, doch er wusste es genau.
Aber seit dem Mittag, seit sie zu dieser Reise nach Devon aufgebrochen war, war er besorgt um sie. Eine leise Ahnung machte sich in ihm breit und flüsterte ihm Gefahr für sie zu.
Unsinn. Energisch wischte Edward den Gedanken beiseite und tippte weiter an der Reportage, blieb eisern daran, bis der Bericht fertig war. Während er ihn zu seinem Vorgesetzten brachte, breitete sich wieder dieser Gedanke in ihm aus. Kathy war immerhin alleine unterwegs, es war eine weite Strecke und was könnte nicht alles passieren? Edwards unerschöpfliche Fantasie gaukelte ihm schreckliche Bilder vor, die er rasch verscheuchte.
Es half kaum etwas, einige der Vorstellungen setzten sich hartnäckig fest und verfolgten ihn sogar noch auf dem Nachhauseweg. Doch er musste sich gedulden. Kathy würde sich erst am nächsten Morgen melden, gleich um acht Uhr.
*
Die Shepherd’s Pie war köstlich, Edward hatte ihr nicht zu viel versprochen. Das Lammhackfleisch verlieh dem Gericht die würzige Note, und zusammen mit dem gebackenen Kartoffelpüree obenauf ergab es einen unvergleichlichen Geschmack.
Edward. Bei dem Gedanken an ihn kribbelte es in Kathys Bauch, sie sah sein warmes Lächeln und die ewig strubbeligen Haare vor sich. Sie dachte erneut an seine Begeisterung, als er ihr das Angebot für diese Reportage gemacht hatte.
„Kathy“, hatte er gesagt, „du kennst doch den Schriftsteller Mark Westley, ja? Dieser Kerl lebt zurückgezogen auf einem alten Landsitz in der Grafschaft Devon, am Rande des Dartmoor National Parks.“
„Devon!“, hatte Kathy entsetzt ausgerufen. „Du weißt, wie weit das ist?“
„Ja, ich war schon mehrmals dort, als ich noch für die London Times gearbeitet habe“, hatte Edward geantwortet, Kathy eine Hand auf den Arm gelegt und sie eindringlich angesehen. „Bitte, es wäre eine Sensation für unsere Zeitung, wenn wir dieses Interview drucken könnten.“
„Gib mir einen Tag Zeit, um darüber nachzudenken“, hatte Kathy gemurmelt, und nun saß sie hier. In einem verregneten Landstrich im südwestlichen England, nahe der Stadt Okehampton in einem kleinen Örtchen namens Belstone. Bei Dartmoor musste sie stets an Sherlock Holmes und den Hund von Baskerville denken, der in diesem Hochmoor sein Unwesen getrieben hatte, zumindest in den Büchern von Sir Arthur Conan Doyle.
Ihre Gedanken wanderten zu dem Schriftsteller Mark Westley. Nur selten gewährte er ein Interview. Kathy war enorm aufgeregt, dass sie es führen durfte. Edward hatte ihr diesen Job überlassen, weil er selbst dafür keine Zeit hatte. Und zudem würde der Schriftsteller bestimmt lieber von einer Frau interviewt werden als von einem Mann, so lauteten Edwards Worte.
Kathy vermutete aber noch etwas anderes, nämlich, dass Edward ihr die Gelegenheit geben wollte, mit einem erstklassigen Interview vor dem Chef des Glasgow Sunday Observer zu glänzen und somit endlich in die Riege der Top-Reporter aufzusteigen, die nur die Sahnehäubchen an Interviews und Reportagen durchführten.
Mark Westleys außergewöhnliche Interviewzusage würde sich in Kathys Akte gut machen. Der Schriftsteller hatte in den letzten Jahren mehrere Bestseller geschrieben. Seine Bücher verkauften sich bereits, noch ehe sie fertig geschrieben waren. Sein Name stand für Spannung und für hochkarätige Thriller.
Sie warf einen Blick in ihre Notizen und schob den leeren Teller von sich. „Stratton Hall“, las sie. Das war ein klangvoller Name. Bestimmt bewohnte Mark Westley ein altes Herrenhaus oder ein großes Landhaus mit stattlichem Anwesen, das konnte sie sich gut vorstellen. Kathy war gespannt, ob die Realität ihre Erwartung erfüllen würde.
Eliza kam an den Tisch, räumte den Teller und die leere Terrine ab. Kathy ergriff die Gelegenheit.
„Eliza, können Sie mir sagen, wie ich nach Stratton Hall komme?“
Die Alte zuckte zusammen, das Besteck fiel vom Teller herunter und klirrte laut auf dem Steinboden. Ihre Augen zogen sich zu engen Schlitzen zusammen, und sie starrte Kathy missbilligend an. „Was wollen Sie denn dort?“
„Ein Interview mit Mark Westley führen. Der Glasgow-Sund ...“
„Miss, passen Sie auf sich auf! Wir hören nichts Gutes von dort“, zischte Eliza und ging mit dem Geschirr weg.
„Bitte … warten Sie doch!“, rief Kathy ihr nach, aber Eliza verschwand in der Küche und kam nicht wieder zurück. Fast schien es Kathy, als hätte die alte Frau sich bekreuzigt, aber sie wischte den Gedanken wieder weg, das war albern. Was sollte an Stratton Hall schon dran sein, dass jemand sich allein bei der Erwähnung des Namens bekreuzigte? Eine heisere Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Ist nicht gut, wenn Sie dort hinfahren, junge Frau“, sagte ein alter Mann, der am Nebentisch saß und in ein halbvolles Glas Ale starrte. Bartstoppeln standen in seinem faltigen Gesicht, und die grauen Haare standen ihm wirr vom Kopf ab, als hätte der Sturmwind sie ordentlich zerzaust. Er sprach bereits so unsicher, als wäre dies nicht sein erstes Glas. „Schaurige Geschichten erzählt man sich über Stratton Hall.“ Er sah sie nicht an, seine Stimme war leise.
Kathy lief es eiskalt über den Rücken, und sie fragte sich einen kurzen Moment, ob er sich einen Scherz mit ihr erlaubte. Immerhin war sie fremd an diesem Ort, die Einheimischen könnten ihr ja alles Mögliche erzählen.
Der Alte nickte nachdenklich und murmelte vor sich hin. „Hab gehört, dass da …“
„Jim, nun ist es aber gut“, erklang Elizas aufgebrachte Stimme, die alte Frau erschien plötzlich wieder am Tisch. „Erzähl diese Sachen hier nicht, außerdem hast du wieder mal zu viel getrunken.“
Kathy wollte protestieren, aber Eliza wandte sich ihr zu, zuckte die Schultern. „Er ist ein alter Trinker und er brabbelt ständig dieses wirre Zeug. Stratton Hall finden Sie, wenn Sie der Straße nach Süden folgen, es ist nicht zu verfehlen, an der Abzweigung zu dem Haus steht ein altes Hinweisschild. Das Gelände ist vollkommen eingezäunt und sieht am Tor aus wie ein Gefängnis.“
„Danke, Eliza, Sie haben mir sehr geholfen“, sagte Kathy und erhob sich, sammelte ihre Notizen zusammen und nickte der alten Frau noch einmal zu. „Ich werde morgen nach dem Frühstück losfahren.“
Eliza nickte kurz zurück, dann schlurfte sie hinter die Theke.
Nachdenklich ging Kathy in ihr Zimmer. Bevor sie sich zu Bett begab, suchte sie das kleine Badezimmer am Ende des Flurs auf. Sie zog die Bluse aus und blickte in den Spiegel. Die dunkle Ahnung von vorhin kroch erneut ihren Rücken hinauf und ließ sie schaudern. In ihrem Kopf wirbelte alles durcheinander. Was war nur los? Warum benahm Eliza sich so merkwürdig, und was hatte der alte Mann ihr sagen wollen? Ob es wichtig für sie war? Vielleicht hätte sie ihm doch die Gelegenheit geben sollen, seine Geschichte zu Ende zu erzählen.
Kurz entschlossen schlüpfte sie wieder in die Bluse und lief hinunter in den Schankraum. Aber der alte Mann war nicht mehr da.
*
Kathy schlief unruhig in der Nacht. Sie erwachte mehrmals und hatte das beängstigende Gefühl, beobachtet zu werden. Das hatte sie meistens, wenn sie an einem fremden Ort übernachtete. Doch dieses Mal war es irgendwie anders. Dieses düstere Moor, die erschrockene alte Frau, die geheimnisvollen Worte des alten Mannes, sie raubten ihr den Schlaf und bedrückten sie.
Schließlich stand sie seufzend auf und stellte sich ans Fenster. Kathy öffnete es, fast widerwillig glitt der Rahmen in der Führung nach oben. Die Nachtluft strömte herein. Kathy atmete tief durch und genoss die erfrischende Kühle. In der Ferne leuchteten ein paar Straßenlampen, aber sonst war es dunkel. Nichts, nicht mal ein Baum, hob sich gegen den schwarzen Nachthimmel ab. Der Regen hatte aufgehört, aber noch immer wehte ein starker Wind und brachte ab und zu einen morastigen Geruch nach vermodernden Blättern und fauligem Holz mit sich. Es erinnerte Kathy mit einem Mal an Tod und Verwesung. Das Moor lässt grüßen, dachte sie.
Eine lange Weile stand sie dort, spürte die frische Luft auf ihrer Haut und bekam davon eine Gänsehaut. Doch es war angenehm, dadurch wurden die Gedanken vertrieben, die sie seit der Aussage des alten Trinkers verfolgten. „Schaurige Sachen“, hatte er gesagt. Und Kathy sah noch immer deutlich Elizas misstrauischen Blick vor sich, als sie nach dem alten Landsitz gefragt hatte.
Was hatte es mit Stratton Hall auf sich?
In der Ferne bellte ein Hund, irgendwo fuhr ein Auto. Es war sehr ruhig in dieser Gegend. Das war sie von Glasgow nicht gewohnt. Dort lebte sie mitten in der Stadt, in einer kleinen Wohnung. Die Nähe zur Straße bot eine stetige Lärmquelle, ohnehin kehrte in einer Großstadt nie Ruhe ein. Kathy hatte sich manchmal nach einer stillen Nacht gesehnt, doch diese Stille, die hier herrschte, war ihr jetzt schon unheimlich.
Der Hund bellte noch immer, fröstelnd vor Kälte schloss Kathy das Fenster wieder. Sie zog die dicken Vorhänge vor und ließ das Licht an, als sie sich erneut ins Bett legte.
An Schlaf war immer noch nicht zu denken, stattdessen nahm sie eines von Mark Westleys Büchern zur Hand und versank in der Lektüre. Er konnte gut schreiben, brillant formulieren und mit wenigen, treffenden Worten Spannung aufbauen. Sie war gespannt, wie er wohl als Mensch war, wenn er als Schriftsteller so erhaben, so distanziert wirkte. Westley hatte erst vor acht oder neun Jahren begonnen, seine Bücher zu veröffentlichen. Aus einem seiner früheren Interviews hatte sie entnehmen können, dass er sich vorher nie Gedanken darüber gemacht hatte, mit einem seiner Manuskripte an die Öffentlichkeit zu gehen. Der Mann war jetzt Mitte fünfzig, Kathy rechnete zurück. Wenn er bereits seit über zwanzig Jahren schrieb, wie viele Bestseller hätte er dann schon veröffentlichen können? Er hatte ein wirkliches Händchen für das Schreiben.
Edward hatte ihr letzte Woche dieses Buch geschenkt, das gerade erst vor Kurzem erschienen war.
Seufzend legte sie den Thriller zur Seite und wunderte sich, warum ihre Gedanken immer wieder zu Edward wanderten. Er war stets sehr bemüht um sie, aber Kathy tat meist, als würde sie es nicht bemerken. Dabei genoss sie die Aufmerksamkeit sehr, die er ihr entgegenbrachte, indem er ihr manchmal die Autotür aufhielt oder einen Kaffee an den Schreibtisch brachte. Sie machte sich einen Spaß daraus, den jungen Mann an der Nase herumzuführen. Sie mochte ihn sehr und wusste genau, dass er für sie alles tun würde, aber sie wollte es ihm nicht zu leicht machen. Trotz der Tatsache, dass sie ansonsten nicht so altmodisch dachte, bevorzugte sie in Sachen Liebe die alte, romantische Art. Nicht diese – so wie sie es immer nannte – neumodische Liebe, die aus kurzen Gesprächen am Telefon zu bestehen schien und in der Blumengrüße nicht mehr persönlich übermittelt wurden. Nein, ein Mann sollte sie umwerben, ihr selbst die Blumen schenken, sie ausführen, sie erobern und galant verführen. Edward hatte es bislang nur einmal geschafft, ihr Blumen zu schenken. Letzte Woche hatte sie dann noch dieses Buch von ihm bekommen. Sie musste lächeln, als sie daran zurückdachte, wie nervös der schlaksige junge Mann gewesen war, vor Aufregung hatte er sich wieder und wieder mit der Hand durch die dunklen Haare gestrichen und sie so noch mehr zerzaust. Aber das alles genügte ihr nicht. Der Bursche würde sich noch mehr einfallen lassen müssen, dachte sie sich.
*
Das Frühstück, das Eliza ihr auf das Zimmer brachte, war üppig und versprach einen guten Start in den Tag. Auf dem Teller befanden sich zwei Scheiben Bacon, Rührei, gebackene Bohnen, Bratkartoffeln, ein kleines Würstchen sowie Tomaten und Champignons, dazu gab es Toast und Fruchtsaft.
Kathys dunkle Gedanken hatten sich mit den ersten Sonnenstrahlen verflüchtigt, eine ausgiebige Dusche brachte ihre fröhliche Stimmung zurück. Es sah aus, als wären die letzten Regenwolken abgezogen, der Himmel zeigte sich blassblau, und der Wind war nicht mehr so stark. Kathy warf einen Blick aus dem Fenster zu der Moorlandschaft, die am Vorabend und in der Nacht so düster war. Im Licht der Morgensonne zeigte es sich in sattem Grün und wirkte freundlich.
Punkt acht rief sie Edward an, der vermutlich schon gewartet hatte, denn der Klingelton erklang kaum, da hörte sie seine muntere Stimme.
„Guten Morgen, guten Morgen. Na, wie geht es meiner Star-Reporterin?“
„Edward Cunningham, ein wenig Ernst würde dir bestimmt weiterhelfen, den begehrten Platz in der Nachrichtenredaktion zu erhalten“, zog sie ihn auf, wohl wissend, dass dies ein wunder Punkt war. Seit Jahren sehnte Edward sich nach diesem Posten, doch immer wurde er vertröstet.
„Ha, ha, ich lache später“, brummte er unwillig, und sie spürte, dass es ihn tatsächlich getroffen hatte. „Nun sag schon, wann fährst du los? Bist du gut vorbereitet? Hast du das Buch gelesen?“
Kathy musste lachen. „Also, ich habe gelernt, dass man seine Fragen nacheinander stellen und dem Interviewpartner genügend Zeit für Antworten lassen sollte. Aber gut, ich beantworte sie der Reihe nach. Ich fahre gleich los, ich bin gut vorbereitet und ich habe das Buch fast durchgelesen.“
„Fast? Kathy, der Mann wird wissen wollen, ob du den Schluss kennst. Deswegen ist schon einmal ein Reporter bei ihm abgeblitzt.“
Kathy schluckte. Daran hatte sie nicht gedacht. „Du meine Güte, das wusste ich nicht. Edward, du kennst es. Verrate mir bitte den Schluss.“
Sie verstand nicht, was er leise vor sich hinmurmelte, doch dann hörte sie ihn wieder laut und deutlich. „Also gut, schreib mit oder merk es dir. Es wird wichtig sein, glaub mir.“
Kathy machte sich Notizen und steckte den Zettel in die Manteltasche. Das würde sie bis später behalten können, aber wer weiß, ein Zettel konnte nie schaden. Wer hätte auch gedacht, dass dieser Schriftsteller gezielte Fragen über seine Bücher stellen würde. Immerhin wurde er interviewt, und nicht umgekehrt.
*
Sie verabschiedete sich von Edward, fuhr pfeifend los und folgte der Straße nach Süden. Rasch ließ sie die kleine Ortschaft Belstone hinter sich. Sie hatte bereits am Abend zuvor gedacht, dass sie noch einen freien Tag anhängen könnte, um die wilden Hochmoorflächen oder die Stätten aus stein- und bronzezeitlichen Epochen zu erkunden. Im Zuge ihrer Recherchen für dieses Interview hatte sie erfahren, dass das Dartmoor Anfang der Fünfziger Jahre zum Nationalpark ernannt worden war, vormals war es königliches Jagdgebiet gewesen.
Ganz in den Anblick der vorbeiziehenden Landschaft vertieft, hätte sie fast das kleine Holzschild mit der verwitterten Inschrift „Stratton Hall“ übersehen. Rasch trat Kathy auf die Bremse, bog ab und gelangte schon gleich zu einem hohen Metallzaun, der in der Tat an ein Gefängnis erinnerte. Vor einem schmiedeeisernen Tor, in dessen dunklen Gitterstäben die großen Buchstaben S und H prangten, musste sie anhalten. Kathy drückte den Klingelknopf und lauschte.
„Ja?“, krächzte eine undefinierbare Stimme durch das Gerät.
„Guten Tag, mein Name ist Kathy McGregor, ich komme vom Glasgow Sunday Observer und möchte …“
„Kommen Sie herein, Sie sind spät dran!“ Die blechern wirkende Mitteilung klang vorwurfsvoll, und Kathy runzelte die Stirn. Das Interview war für 9.30 Uhr angesetzt, sie war noch zehn Minuten zu früh.
Das Tor schwang auf, und Kathy fuhr weiter, folgte der Auffahrt bis zum Anwesen. Nach einer Kurve sah sie das Haus und pfiff unwillkürlich durch die Zähne.
Stratton Hall erhob sich eindrucksvoll vor ihr. Das Herrenhaus aus dunklem Stein erweckte mit seinen Zinnen und Türmen den Eindruck einer Burg. Zahlreiche Fenster, die sich zum Teil hinter Gitterstäben befanden, glitzerten im frühen Morgenlicht wie listige Augen. Efeu rankte sich an den Steinwänden empor, kleine Türme flankierten den Eingang wie zwei steinerne Wachposten.
Steinerne Löwen saßen links und rechts neben den Treppenstufen, die zur Eingangstür führten, sie blickten starr und irgendwie überheblich.
Dieses graue und kalte Gebäude strahlte eine nicht greifbare Bedrohung aus. Kathy zog verängstigt die Schultern nach oben. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob dies alles eine gute Idee gewesen war. Selbst die knorrigen, alten Bäume, die das Anwesen säumten, wirkten bedrohlich. Vielleicht sollte sie einfach auf der Stelle wieder umdrehen?
Aber nein, Kathy, das ist Unsinn. Nun stell dich nicht so an und erfülle deinen Job, sagte sie im Stillen zu sich selbst. Du musst nur ein Interview führen und eine gute Reportage darüber schreiben.
Sie parkte den Wagen neben dem Aufgang zum Haus und nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz.
Ein Geruch nach Moder und nassen Blättern kroch ihr in die Nase, als sie ausstieg und zur Tür ging. Weiche Knie und ein flaues Gefühl im Magen zeugten von ihrer unbegründeten Angst. Ein Schwarm Krähen ließ sich lautstark krächzend auf den Bäumen nieder, ihre heiseren Schreie fuhren Kathy in die Glieder und verstärkten ihr ungutes Gefühl.
An dem dunklen Holz der Eingangstür glänzten goldene Drachenköpfe, die wohl mit dem Ring in ihrem Maul als Türklopfer dienen mochten. Noch bevor Kathy dazu kam, einen davon zu benutzen, wurde ihr geöffnet, und eine Frau in schwarzer Kleidung starrte sie feindselig an.
„Kommen Sie herein, der Herr wartet bereits auf Sie“, sagte sie in strengem Ton, ihre Stimme war schrill und unangenehm.
Kathy fühlte sich beinahe genötigt, eine Entschuldigung zu murmeln, aber ihr blieben die Worte im Hals stecken. Die Vorhalle von Stratton Hall war beachtlich groß, mehrere Türen und Durchgänge waren zu sehen. Am Ende der Halle brannte ein Feuer im Kamin. Der große Teppich in der Mitte lag offenbar schon lange da, er war recht abgetreten. Doch alles war peinlich sauber gehalten, die Ritterrüstungen, die die Wände säumten, blitzten und blinkten. Ihre Hellebarden und Lanzen wirkten, als wären sie erst gestern hergestellt worden.
Stumm folgte sie der Haushälterin in einen düsteren Salon, Kathy bemerkte sofort einen dezenten Geruch von Möbelpolitur. Schwere, bodenlange Vorhänge hingen vor den Fenstern, durch die verbliebenen Lücken warf die Sonne helle Flecken auf den alten Parkettboden. Ein hohes Bücherregal fesselte sofort Kathys Aufmerksamkeit. So viele alte Bücher hatte sie bisher nur in der Universitätsbibliothek von Oxford gesehen. Sie versank in diesen Anblick und vergaß für einen Moment sogar ihre Nervosität.
„Wunderbar, nicht wahr?“
Kathy zuckte beim Klang der weichen Stimme zusammen und erkannte die Silhouette eines Mannes, der in einem Sessel vor dem Fenster saß. Mit einer beiläufigen Bewegung zog er einen Vorhang zur Seite. Die hereinfallende Morgensonne blendete sie, sodass sie die Hand vor die Augen hob, um etwas zu erkennen.
„Verzeihen Sie, wie unhöflich von mir.“ Der Mann erhob sich mit einer eleganten Bewegung und drückte einen Knopf an der Wand. Mit leisem Surren glitt eine Jalousie herunter.
„Mark Westley. Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte der Mann, dessen markantes Gesicht sie jetzt erkennen konnte. Sandfarbenes Haar fiel ihm locker in die hohe Stirn, seine Nase war leicht gebogen. Augen wie Bernstein leuchteten neugierig in ihr Gesicht, und Kathy verlor sich in diesem Blick.
„Bitte, nehmen Sie doch Platz“, sagte er mit einschmeichelnder Stimme und zeigte auf den zweiten Sessel im Raum. Ein silbernes Tablett mit einer Teekanne und geblümten Tassen wartete auf dem kleinen Tisch, der danebenstand.
„Danke“, stammelte Kathy. Der Anblick dieses Mannes hatte sie vollkommen aus der Fassung gebracht. Sie hatte ihn zuvor bereits auf Fotos gesehen, sein Aussehen war ihr durchaus bekannt gewesen, doch dass er diese umwerfende Wirkung auf sie haben würde, hätte sie niemals gedacht. Dazu diese unglaubliche Stimme, so voller Wärme und Klang, und irgendwie auf eine seltsame Art und Weise vertraut. Kathy fühlte sich ganz benommen. Edward kam ihr kurz in den Sinn, doch sie verscheuchte sein Bild und konzentrierte sich energisch auf ihr Gegenüber.
Mark Westley setzte sich in den Sessel, schenkte ihr eine Tasse Tee ein und lehnte sich zurück.
„Haben Sie den Weg nach Stratton Hall gut gefunden?“, fragte er und sah sie interessiert an.
Kathy nickte. „Ja, es war nicht schwer zu finden.“
Er lächelte, seine Augen schimmerten geheimnisvoll. „Das freut mich sehr. Sind Sie heute früh angereist?“
Kathy war für einen Augenblick irritiert, es wäre eigentlich ihre Sache gewesen, sich auf das Interview erst mit ein paar allgemeinen Fragen einzustimmen. Aber was soll’s, dachte sie, wenn es ihn interessiert, dann werde ich es beantworten.
„Nein, ich bin bereits gestern Abend in Belstone eingetroffen.“
Er nickte und ließ sie nicht aus den Augen. Kathy wand sich unter diesem Blick, den sie zwar nicht unangenehm fand, der sie aber doch verunsicherte.
Sie trank einen Schluck Tee und wandte sich ihrer Tasche zu.
Mark Westley räusperte sich.
„Bitte, Miss Gregor, ich bin bereit für das Interview.“
„Ja, sicher. Warten Sie, ich muss nur noch …“ Kathy zog ihr Diktiergerät hervor, legte es auf den Tisch und nahm den Notizblock zur Hand. Dies war wieder ihr gewohntes Gebiet, aber vorhin war sie aus dem Takt geraten, vielleicht nicht nur durch seine Fragen, sondern durch den prüfenden Blick der goldbraunen Augen.
„Vielen Dank, Mr. Westley, dass Sie mir … uns vom Glasgow Sunday Observer dieses Interview gewähren“, sagte sie und spürte, wie die Befangenheit von ihr abfiel.
Ein leichtes Schmunzeln flog über das Gesicht des Schriftstellers, und er trank einen Schluck Tee. „Gern.“
„Nun, Sie schreiben derzeit an Ihrem neuen Buch. Darüber werden Sie bestimmt noch keine Auskünfte erteilen?“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Warum sollte ich das nicht tun? Es wird ein Thriller, wie meine vorherigen Bücher, aber dieses Mal wird der Leser in die Irre geführt.“
„Wird er das nicht in jedem Ihrer Bücher?“, fragte Kathy und war froh, dass Edward ihr das Ende des aktuellen Buchs beschrieben hatte.
Mark Westley lachte auf. „Wie ich sehe, kennen Sie meine Werke.“
„Oh ja“, sagte sie und hoffte, dass ihre Wangen kein verräterisches Rot zeigten.
Sie stellte ihre Fragen, die sie vorab zusammen mit Edward erarbeitet hatte. Hier war Kathy in ihrem Element. Mit jedem Wort gewann sie ihre gewohnte Sicherheit zurück. Fragen stellen, kurze Antworten notieren, sich auf den Gesprächspartner einlassen und am Ende eine reißende Reportage schreiben –, das war ihre Welt.
„Mr. Westley, weshalb schreiben Sie?“
„Nun, Miss McGregor, weshalb atmet ein Mensch? Weshalb braucht ein Fisch das Wasser? Das Schreiben ist etwas, das mich vorwärtstreibt, das für mich einfach zum Leben dazugehört. Würden sich meine Bücher nicht verkaufen, so würde ich dennoch schreiben, nur um weiterleben zu können. Meine Texte, meine Manuskripte, sie sind für mich das Wasser, die Luft zum Leben, sind die Elemente, die mich am Leben erhalten und vielleicht auch noch über meinen Tod hinaus weiterleben lassen.“
Kathy nickte, sie war beeindruckt und ging zu ihrer nächsten Frage über.
„Warum sind Sie erst relativ spät dazu übergegangen, Ihre Manuskripte an Verlage zu senden und somit einen Bestseller nach dem anderen zu produzieren?“
Er schmunzelte. „Sehen Sie, ich hätte nie gedacht, dass jemand meine Texte, meine Worte und meine Ideen jemals lesen würde. Die Welten, die Personen und ihre Schicksale, die ich erfinde… Wie hätte ich wissen können, dass die Leser auf so etwas gewartet haben? Es war ein Zufall, dass mein erster Thriller an einen Verlag gelangte, und es war großes Glück, dass er sofort zum Bestseller wurde.“
Kathy notierte sich ein paar Worte und prüfte mit einem kurzen Blick, ob das Diktiergerät noch aufzeichnete.
„Das ist sehr interessant, Mr. Westley. Also Sie schieben es auf das Glück, obwohl es wohl doch vielmehr Ihr Können ist, das Sie so weit nach vorn gebracht hat.“
Bescheiden schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hände. „Oh nein, es war einfach nur so, dass ich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen bin.“
Kathy lächelte, diese sympathische Bescheidenheit imponierte ihr.
Routiniert führte das Interview fort, und der Schriftsteller beantwortete jede ihrer Fragen freundlich, wobei er Kathy keine Sekunde aus den Augen ließ. So wie er da saß, zurückgelehnt in seinen Sessel, die Ellbogen auf den Sessellehnen und die gespreizten Finger an den Fingerspitzen aneinandergelegt, vermittelte er einen ungemein ruhigen Eindruck.
Kathy spürte seine Blicke, fühlte sich davon durchbohrt und kam sich wie die Beute eines Raubtieres vor. Aber sie führte das Interview geschickt zu Ende. Nach fast zwei Stunden waren sie durch. Kathy bat Mark Westley noch um zwei Fotos. Er stimmte zu, und sie fotografierte ihn vor dem Bücherregal mit einem der alten Werke in den Händen. Ein weiteres Foto zeigte ihn mit einer Schreibmaschine an dem Arbeitstisch vor der Fensterfront, die einen atemberaubenden Blick auf die Gartenlandschaft gewährte. Alte Bäume säumten den Rasen, niedrige Buchsbaumhecken formten Wege durch das Grün. In der Nähe eines Teichs stand ein kleiner Pavillon, der eine lauschige Sitzgelegenheit bot. Ein Gärtner arbeitete an Sträuchern und zupfte verdorrte Blüten ab.
„Mögen Sie Gärten?“, fragte Mark Westley.
Kathy nickte. „Ja, sehr.“
Ohne weiter darauf einzugehen, wandte er sich seinem Terminkalender zu. Bereits im Vorfeld hatte der Schriftsteller zur Bedingung gemacht, dass er die endgültige Fassung des Interviews gegenlesen durfte, also machte Kathy mit ihm einen Termin für den nächsten Tag ab.
„Bitte kommen Sie morgen wieder zur Abnahme der Reportage zu mir“, sagte er samtweich. Kathy genoss jedes Wort, das er sprach, sie fand diese Stimme außerordentlich angenehm.
„Morgen Nachmittag?“, fragte sie. „Dann ist das Interview fertig geschrieben.“
„Gern. Kommen Sie zum Tee“, schlug er vor. „Devon Cream Tea, die unvermeidliche Spezialität dieser Gegend. Dazu Scones mit Marmelade. Was halten Sie davon?“
„Das hört sich sehr verlockend an“, lachte Kathy und nahm die Einladung an. Sie gab ihm ihre Visitenkarte und schrieb für den Fall, dass sich der Termin verschieben sollte, noch die Nummer des Telefons in ihrem Zimmer dazu. Schließlich ergriff sie seine Hand, die er ihr zum Abschiedsgruß reichte. Es schien ihr, als hielte er ihre Hand einen Moment länger, als nötig gewesen wäre. Sie ließ ihn gewähren, genoss dieses prickelnde Gefühl seiner Berührung. Die Haushälterin erschien, zerstörte diesen kurzen Moment der Vertrautheit und führte Kathy zur Tür.
Kathy spürte noch immer die Wärme seiner Berührung in der Handfläche kribbeln, während sie zum Pub zurückfuhr. Ihr Herz hüpfte bei dem Gedanken an seine samtweiche Stimme und diese eindringlichen Blicke aus den Augen wie Bernstein. Ob er wohl allen Frauen gegenüber so aufmerksam war? Ihr kam es so vor, als hätte er besonderen Gefallen an ihr gefunden.
Dieses Lächeln, dieses sympathische Auftreten. Sie verlor sich für einen Moment in kindischen Mädchenträumereien. Aber fast augenblicklich rief sie sich zur Ordnung. Unsinn, schalt sie sich. Du bist kein Schulmädchen, lass die Albernheiten, denk an Edward, er ist der richtige Mann für dich, und das weißt du genau! Doch der Schriftsteller wollte nicht mehr aus ihren Gedanken weichen.
*
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Edward neugierig und lauschte Kathys Stimme.
„Fantastisch! Der Mann ist sehr nett“, antwortete sie fröhlich, und er musste lächeln. Beinahe sah er ihren eifrigen Gesichtsausdruck, den sie jedes Mal hatte, wenn ihr eine Reportage besonders gut gelungen war.
„Das ist gut, das war nämlich nicht unbedingt zu erwarten“, sagte er erleichtert.
„Doch, ist er. Und er hat mich für morgen zum Tee eingeladen“, erzählte sie.
Edward runzelte die Stirn. „Zum Tee?“, wiederholte er verblüfft. „Du solltest ihn interviewen und keine Teegesellschaft mit ihm halten.“
„Mein lieber Edward, du klingst gereizt.“
„Unsinn“, erwiderte er unwirsch, aber konnte sich gegen den Stachel, der sich gerade in seinen Brustkorb bohrte, nicht wehren. „Kathy, dies ist eine große Chance für dich, vergiss das nicht. Hoffentlich hast du das Interview nicht in den Sand gesetzt, weil ...“
„Na hör mal, was unterstellst du mir?“, unterbrach sie ihn und klang entrüstet. „Dass du dich von diesem Kerl hast blenden lassen. Kathy, du bist Reporterin, und …“
„Edward Cunningham, du wirst dich über mein Interview noch wundern!“, rief sie offensichtlich wütend, und dann hörte Edward nur noch das trockene Klicken in der Leitung, wenn jemand aufgelegt hat. Er lauschte noch eine Weile, aber außer einem fernen Rauschen war nichts mehr zu hören. Sie hatte tatsächlich das Gespräch unterbrochen.
Er seufzte, schüttelte traurig den Kopf und atmete tief durch. Kathy würde wie immer eine gute Reportage abliefern, eigentlich hatte er daran keine Zweifel. Doch der Stachel der Eifersucht bohrte sich tiefer und tiefer. Sie war sehr von diesem Schriftsteller angetan, er hörte es aus ihrer Stimme heraus.
Na prima, dachte er mit leisem Bedauern, sie verliebt sich gerade in einen anderen Kerl, und du bist selbst schuld daran.
Immerhin hatte er sie für diese Reise vorgeschlagen.
*
Kathy starrte das Telefon an. Sie fühlte sich ertappt. Hatte Edward etwa am Tonfall ihrer Stimme gehört, dass der Schriftsteller ihr Bauchkribbeln verursachte?
Eine tiefe Furche stand zwischen ihren Augenbrauen, und Kathy kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. Edward hatte einen wunden Punkt getroffen, so, wie sie eben reagiert hatte. Aber – was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?
Noch nie hatte sie eine Arbeit – wie hatte er sich ausgedrückt – in den Sand gesetzt. Sie schwankte zwischen Empörung und Enttäuschung. Warum hatte er sie hierher geschickt, wenn er nun dachte, dass sie sich von Mark Westley blenden ließ?
Sie nahm ihren Notizblock und das Diktiergerät und ging hinunter in die Schankstube. An der Theke bestellte sie sich ein Wasser und setzte sich vor das Pub an einen der Holztische, ein verblasster Sonnenschirm spendete Schatten. Hier wollte sie die Rohfassung des Interviews notieren, bevor sie den Bericht später abtippte.
Die Arbeit lenkte sie eine Weile ab, und bald hatte Kathy ihre Notizen beendet. Den Rest würde sie auf ihrem Zimmer erledigen können.
Sie starrte gedankenverloren auf die andere Straßenseite und überlegte, ob sie vielleicht doch ein wenig zu rüde mit Edward verfahren war. Sie hätte seine Bedenken ganz einfach zerstreuen können. Ganz gewiss hatte sie falsch gehandelt, doch das rechtfertigte nicht ihre Reaktion.
Sie sah erst auf, als sie eine heisere Stimme hörte.
„Junge Dame, nicht so streng gucken.“
Jim, der alte Mann von gestern Abend, stand neben ihrem Tisch und blickte sie aus wässrigen Augen an. „Waren Sie schon an diesem Ort, Sie wissen schon?“, fragte er leise.
Sie nickte. „Ja, heute Früh.“
„Bitte, fahren Sie nicht mehr hin, ist nicht gut für Sie.“
„Jim, was meinen Sie damit?“, fragte Kathy neugierig und war froh über die Ablenkung nach ihrem unerfreulichen Gespräch mit Edward. „Bitte, erzählen Sie mir mehr.“ Sie deutete auf den freien Stuhl. Jim ließ sich nicht zweimal bitten und nahm Platz.
Der Alte sah zu Boden, schwieg eine Weile und sprach schließlich so leise, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen.
„Junge Dame, der Ort ist böse. Richtig böse. Dort verschwinden Frauen spurlos.“