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2.1 Fachliche Grundlagen: Mündliche Sprachproduktion und -rezeption in Unterricht und Alltag
ОглавлениеEine Besonderheit des Kompetenzbereichs Sprechen und Zuhören ist, dass gesprochene Sprache1 Lerngegenstand und -medium zugleich ist. Jedoch unterscheidet sich ein Unterrichtsgespräch in vielerlei Hinsicht von einem Alltagsgespräch: Die Zahl der (potentiellen) SprecherInnen ist höher und es bestehen hierarchische Unterschiede zwischen SuS und Lehrperson (Hochstadt et al. 2015). Die Charakteristika von Unterrichtskommunikation wurden bereits umfangreich erforscht (u.a. Ehlich/Rehbein 1979, Becker-Mrotzek/Vogt 2009, Grundler/Vogt 2013, Heller/Morek 2015). Die Herausforderung, als Lehrkraft nicht immer als Gesprächsleiter, Gesprächsteilnehmer mit einem hohen Redeanteil oder Aufgabensteller aufzutreten, ist groß. Ebenso relevant ist jedoch, sich eben dieser immer wieder praktizierten Handlungsmuster von Unterrichtskommunikation als Lehrkraft bewusst zu sein und dann mit Blick auf die Sprachförderung von SuS mit DaZ die Rolle des Sprachvorbilds ernst zu nehmen (Jeuk 2013: 119). Es gibt bislang wenig Forschung zur Unterrichtskommunikation mit dem Fokus auf die sprachliche Heterogenität der Klasse. Aus diesem Grund greifen wir in diesem Kapitel auch auf Methoden der Sprachheilpädagogik und Fremdsprachdidaktik zurück, sofern diese uns einsetzbar für den Regelunterricht in mehrsprachigen Klassen erscheinen. Bei der Darstellung der fachlichen Grundlagen setzen wir zwei Schwerpunkte: 1. Besonderheiten der deutschen Sprache (mit Fokus auf die gesprochene Sprache) und 2. Bildungssprache. Der Zweitspracherwerb ist in der Förderung des Sprechens und verstehenden Zuhörens eine zentrale Orientierungsgröße und wird im folgenden Abschnitt in Auszügen beschrieben.
Um im Unterricht den SuS ein sprachliches Vorbild zu sein, ihre sprachlichen Fähigkeiten zu fördern, dem Erwerbsstand angemessene Aufgaben zu formulieren und Leistungen zu bewerten, gilt es, mindestens die Sprache, in der der Unterricht stattfindet, genauestens zu kennen. Daher möchten wir ausgewählte Besonderheiten des Deutschen hier kurz darstellen.
Phonologie
Während es sich beim stimmlosen [t] und dem stimmhaften [d] um verschiedene Phoneme handelt (z.B. <tanken> und <danken>), liegen bei [x] (wie in lachen) und [ç] (wie in sicher) Allophone desselben Phonems /χ/ vor, die je nach lautlicher Umgebung eingesetzt werden. Damit handelt es sich um ein seltenes Spezifikum, das für Fremdsprachenlerner und vermutlich auch für SuS mit Deutsch als später L2 eine Erwerbshürde darstellen kann. Während nach den vorderen Vokalen ein am vorderen Gaumen gebildetes [ç] produziert wird (sicher, echt, Bücher …), folgt auf die zentralen bzw. hinteren Vokale der am hinteren Gaumen gebildete Frikativ [x] (acht, kochen, Buch …). Gerade die Artikulation des [x] als Reibelaut, der durch eine Engstelle am Velum (hinterer Gaumen) produziert wird, stellt Truckenbrodt (2014: 46) als schwierig heraus. Die Beispiele zeigen, dass innerhalb eines Wortstamms das Phonem, in Abhängigkeit vom vorangehenden Vokal, unterschiedlich artikuliert wird (z.B. Buch vs. Bücher); diese Opposition kann auch zu Schwierigkeiten im Lesen führen (s. Kap. 3).
Das Deutsche verfügt über ein sehr umfangreiches Vokalinventar. In der Standardsprache des Arabischen treten dagegen nur die Vokale [a], [ɪ], [ʊ] sowie deren langen Versionen [ɑ:], [i:], [u:] auf (Zeldes/Kanbar 2014). SuS mit Arabisch als L1 erwerben demnach völlig neue Phoneme im Zweitspracherwerb, verfügen jedoch nicht mehr über die sprachenübergreifende Fähigkeit zur intuitiven Lautdifferenzierung, mit der Säuglinge ausgestattet sind (Kauschke 2012). (Weiterführend s. Hirschfeld/Reinke 2016.)
Morphologie
Das Deutsche ist eine sehr wortbildungsfreudige Sprache – ein Beispiel dafür sind die häufig auftretenden Komposita. Auch im Englischen sind zusammengesetzte Nomen wie springbreak möglich, während im Polnischen kaum Komposita gebildet werden. Ihre Länge im Deutschen ist teils beachtlich, so sind drei Wurzeln wie in Fahrradanhänger normal und mehr als drei Wurzeln zwar selten, aber durchaus möglich (z.B. Sprachstandserhebungsverfahren), und prinzipiell lässt sich das nahezu unendlich fortsetzen, wie die berühmte Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänsmütze zeigt. Bei der häufigsten Variante, den Determinativkomposita, gilt, dass das erste Element das zweite spezifiziert: So unterscheiden wir z.B. Fuß- und Handball. Wann ein Fugenelement eingefügt wird (und wenn ja, welches), ist lexikalisch zu erwerben. Das häufigste Fugenelement ist das [s], z.B. in Freundschaftsbändchen. Unklar ist, wieso das Hühnerei kein Huhnei ist, ist es doch von einem Huhn gelegt (Truckenbrodt 2014: 53).
Abb. 2: Deklination der attributiven Adjektive mit definitem Artikel, aus: Granzow-Emden 2014: 267
Die Konjugation der Verben ist im Deutschen kein leichtes Unterfangen, vergleicht man die Suffixe im Präsens (ich geh-e, du geh-st, er/sie/es geh-t etc.) z.B. mit dem Englischen, in dem die Regel he, she, it das <s> muss mit für die einzige Abweichung vom Infinitiv bereits ausreicht. Wesentlich komplexer als die Konjugation ist jedoch die Deklination im Deutschen, die wohl den Begriff ‚Stolperstein‘ verdient.
Im Unterschied zu vielen anderen Sprachen wird auch das Adjektiv an den Kasus des attribuierten Nomens angepasst (Abb. 2). Dabei ist zu beachten, dass sich dessen Flexion auch an der Umgebung orientiert: Während bei definiten Artikeln eine ‚schwache‘ Endung (-e bzw. -en) verwendet wird (Abb. 2), erfolgt bei indefiniten Artikeln eine deutlichere Markierung (z.B. ein dicker Hund).2 Hinzu kommt die Besonderheit, dass das Deutsche die drei Genera Maskulinum, Femininum und Neutrum mit je einem anderen Artikel kennzeichnet, während eine Reihe von Sprachen im Unterschied zum Deutschen keine Artikel verwenden (z.B. Russisch, Türkisch), für jedes Genus denselben Artikel (z.B. Englisch) oder nur über zwei verschiedene Artikel verfügen (z.B. Französisch, Spanisch) (Tab. 2).
Eine eindeutige Markierung der Kasus liegt nur im Maskulinum vor, während andererseits ein und dieselbe Form (z.B. der) völlig unterschiedliche Aufgaben übernimmt (z.B. der Katze Dativ/Genitiv Singular, setzt das Wissen voraus, dass Katze feminin ist) (s. auch Kap. 6).
Eine weitere Besonderheit des Deutschen sind trennbare Verben: So entsteht durch den vorangestellten Baustein ein aus laden ein neues Verb: einladen. Betonte vorangestellte Morpheme (Verbpartikeln) wie ein, an oder auf werden im V2- oder V1-Satz im Präsens abgetrennt und stehen im rechten Verbfeld (Konrad wischt die Tafel ab). Die Bedeutung von Verben mit und ohne Präverb unterscheidet sich in der Regel: Während abwischen und wischen je nach Kontext synonym verwendet werden können, ist das bei legen, ablegen und anlegen nicht möglich. Zudem unterscheiden sich bei diesen Verben nicht nur die Bedeutung(en), sondern auch die Zahl und Art der obligatorischen Ergänzungen. Hingegen werden unbetonte Präfixe wie be- in belegen und ver- in verkaufen im Unterschied zu betonten Verbpartikeln nicht abgetrennt (Er belegt das Brötchen) (Granzow-Emden 2014: 64).
Syntax
Kaum eine Sprache konstruiert ihre Sätze so wie das Deutsche. Die meisten Sprachen lassen sich einem der beiden Satzbaupläne SVO (Subjekt-Verb-Objekt, z.B. Englisch) oder SOV (Subjekt-Objekt-Verb, z.B. Türkisch) einordnen. Zwar ist die SOV-Struktur im Deutschen die Basisstruktur, dies wird jedoch in der hochfrequenten V2-Anordnung verschleiert.3 Im deutschen Hauptsatz ist nicht festgelegt, ob das Subjekt, das Objekt oder eine der weiteren Konstituenten vor dem Verb steht. Lediglich die Position des Verbs an zweiter Stelle (Verbzweitstellung) ist obligatorisch (LinguS 5 ‚Der einfache Satz‘; Duden 2016). Der Verbletztsatz in der letzen Zeile von Abb. 3 kann als Nebensatz fungieren, ist aber z.B. als Antwort auf die Frage „Meinst Du, Martina kommt?“ – „Wenn …“ auch als eigenständige Konstruktion denkbar.
Bildungssprache – Tor zur Bildung
Neben rein sprachsystematischen wie den oben dargestellten sind auch konzeptionelle Ebenen zu reflektieren: Mit Blick auf die vor- und außerschulischen sprachlichen Erfahrungen, die die SuS mitbringen, erfolgt die entscheidende Veränderung im Lernbereich ‚Sprechen und Zuhören‘ nicht auf der medialen, sondern auf der konzeptionellen Ebene. Die vorschulischen Erfahrungen finden (vorrangig) in Situationen statt, die von konzeptionell mündlichen Äußerungen (Koch/Oesterreicher 1994), häufig auch als Basic Interpersonal Communicative Skills (BICS, Cummins 1979) bezeichnet, geprägt sind. Diese BICS werden von Kindern und Jugendlichen auch in der L2 verhältnismäßig schnell erworben. Aufgabe des Deutschunterrichts sowie des Fachunterrichts ist es, alle SuS ausgehend von ihren sprachlichen Fähigkeiten konzeptionell schriftlich, in ihrer Cognitive Academic Language Proficiency (CALP, ebd.) zu fördern. Dies impliziert die Notwendigkeit, Sprech- und Zuhöraufgaben auch danach zu analysieren, inwieweit sie eine konzeptionell mündliche oder konzeptionell schriftliche Kommunikation von den SuS fordern. Mit der Unterscheidung von konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist keine Abwertung bestimmter Sprachgebrauchsformen verbunden: Konzeptionell mündliche Handlungen sind im gegebenen Kontext grundsätzlich funktional angemessen und es ist wenig hilfreich, pauschal und unabhängig von der Kommunikationssituation konzeptionell schriftliche Mittel einzufordern4. Ziel muss es vielmehr sein, dass die SuS über verschiedene Sprachgebrauchsformen verfügen, die je nach Adressat und Kontext reflektiert eingesetzt werden können. So ist die Verbstellung im folgenden Satz konzeptionell mündlich (inzwischen) akzeptiert, wird jedoch konzeptionell schriftlich (weiterhin) abgelehnt.
L: Warum bist du zu spät? S: Weil: ich hab noch auf Lorenz gewartet.
Lange wurden für die alltägliche Sprachverwendung (nicht nur) bildungsferner Menschen negativ konnotierte Begriffe wie „restringierter Code“ (Bernstein 1971) verwendet. Diese abwertende Haltung ist inzwischen einer Forschungsrichtung gewichen, die mit Wertschätzung Varietäten wie Jugendsprache (u.a. Neuland 2008) und Kiez-Deutsch (u.a. Wiese 2012) untersucht.
Gogolin führt mit Verweis auf die Schriftförmigkeit bestimmter Redemittel den Terminus Bildungssprache (zurückführend auf Habermas 1977) ein (Gogolin 2006: 5). Feilke (2012: 6) greift diesen Begriff auf und verortet ihn als Ausschnitt von Schriftsprache und Teil der Schulsprache. Schulsprache i.e.S. bezeichnet „auf das Lehren bezogene und für den Unterricht zu didaktischen Zwecken gemachte Sprach- und Sprachgebrauchsformen, aber auch Spracherwartungen“ (ebd.: 5). Ein Beispiel ist die spezifische Lesart der Aufforderung „Erörtere …“ im Kontext Schule. Sprachstrukturell gibt es einige Indikatoren, die als in besonderem Maße bildungssprachlich relevant gelten (Riebling 2013). Hierzu zählen beispielsweise das Passiv, unpersönliche Ausdrücke, der Konjunktiv, Konstruktionen mit lassen, Substantivierungen, Komposita und Attribute unterschiedlicher Komplexität (Gogolin/Duarte 2016, Geist et al. 2017b). Lexikalisch ist Bildungssprache von starker Präzision gekennzeichnet. Kann alltagssprachlich vieles kaputt gehen, wird bildungssprachlich erwartet, abhängig vom Nomen spezifische Termini zu verwenden: Papier reißt, Glas/Porzellan zerbricht, ein Luftballon platzt, eine Blume verwelkt, Schnee schmilzt, Metall korrodiert, Dynamit explodiert … Die spezifischen sprachlichen Erfordernisse bestimmter diskursiver Praktiken, beispielsweise beim Erklären und Argumentieren, wurden umfangreich untersucht (s. Beiträge in Grundler/Vogt 2006 und Vogt 2009 u.v.m.). Dass diese Praktiken nicht nur im Kontext Schule stattfinden, sondern auch in der Interaktion in Familien oder zwischen Peers, zeigen Morek (2012 zum Erklären) sowie Heller (2012 zum Argumentieren). In der Darstellung didaktischer Konzeptionen und Methoden (s. Kap. 2.4) greifen wir ihre Vorschläge zur unterrichtlichen Förderung diskursiver Praktiken auf.