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Kamose

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Zum ersten Mal war ich in einer Stadt.

Ich war überwältigt von Mempi, das von Horizont zu Horizont zu reichen schien. Manch vornehme Residenz mit ihren ummauerten Gärten mit blühenden Oleanderbüschen und Granatapfelbäumen war größer als Dedes Gemüsefeld, ja sogar größer als unser Dorf. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Häuser mit zwei und drei Stockwerken. Stundenlang liefen wir die gepflasterten Straßen entlang, lauschten auf das Geräusch der vielen Menschen in dieser Stadt, das wie das Raunen eines Baches inmitten des grünen Fruchtlandes klang, sogen gierig den Duft von Lotusblüten, Zitronen, frischem Gerstenbrot und gebratener Gans ein und staunten über die vielen Brunnen mit kühlem, fließendem Wasser, die Gärten mit Sykomoren, blühenden Oleanderbüschen und Granatapfelbäumen und die weiß verputzten Mauern der Villen.

Mempi war eine Stadt voller Wunder! Und doch: In jenem Jahr war Mempi nur die Alte Hauptstadt von Kemet, denn der König residierte in der Residenz von Pihuni, der Neuen Hauptstadt.

Ein verführerischer Duft von geröstetem Lotussamen stieg mir in die Nase. Ich hatte Hunger – unsere Vorräte waren von der langen Reise den Fluss hinab aufgebraucht –, und so führte mich mein Vater zum Markt in der Nähe des Hafens.

Feldbauern und Obsthändler hatten ihre Früchte auf bunten Tüchern ausgebreitet: Melonen, Granatäpfel, Guaven und Nüsse, aber auch Bohnen, Erbsen, Zwiebeln und Spinat. Ein paar Schritte weiter wurden geschlachtete Enten, Pelikane und ausgenommene Wachteln verkauft.

Ich zog meinen Vater hinter mir her zum Stand eines Fischverkäufers: »Sieh mal, Dede: Hier werden sogar die Fische einbalsamiert!«, rief ich vergnügt.

Mein Vater lachte und kaufte mir den Tonfisch. Für den Kupfer-Deben, den der Händler auf die Waage legte, erhielt er einen Fisch und drei kleinere Barren.

Der Tonfisch war eine Hülle aus getrocknetem, hartem Flussschlamm, in der ein gesalzener Fisch steckte. Ich zerbrach das obere Ende und erschrak, als mir ein Fisch entgegenblickte.

Mein Vater zog den Kopf mitsamt den Gräten heraus.

Der Fisch schmeckte herrlich – noch nie zuvor hatte ich so etwas gegessen. Ich aß ihn auf und beachtete gar nicht, dass mein Vater sich kein Stück davon nahm.

Der Duft von frischem Gerstenbrot lockte uns zu den Bäckern. Sie buken ihre Brote in flachen Tonschalen hinter gemauerten Lehmziegeltischen in der Asche ihrer Feuer. Wie ich später erfahren sollte, nannte man Kemet in den Fremdländern das Land der Brotesser.

Vor jedem der Lehmziegelstände blieb ich stehen und betrachtete die Formen der Laibe: Manche waren als Ankh-Zeichen gebacken, als Zeichen des ewigen Lebens. Andere hatten die Form von Fischen, Nilpferden oder Vögeln. Am nächsten Backstand gab es heißes, frisches Fladenbrot mit Ziegenquark und frischen Kräutern. Mein Vater kaufte für jeden von uns einen Fladen, den wir noch heiß verspeisten. Wie köstlich es schmeckte!

Auf der anderen Seite des Marktes sahen wir Händler, die duftige Leinenkleider und große weiße Tücher für Lendenschurze verkauften. Noch nie hatte ich so zarten, durchscheinenden Stoff gesehen, weißer als die Wolken am Sommerhimmel.

Der Händler sprach uns an: »Ihr wollt doch zur Krönung des Netjer, des Göttlichen, sicherlich nicht diese Fetzen tragen …« Er deutete auf unsere durch die lange Reise nicht mehr weiße Kleidung.

»Wann wird der König den Thron besteigen?«, fragte mein Vater.

»Seneferu wird morgen im Tempel des Ptah gekrönt. Denn morgen ist Neumond.« Er deutete zum Himmel empor: Der Mondgott Chons war nur noch eine schmale Sichel über dem Horizont. »Und seit dem Aufbruch seines Vaters Huni in den Schönen Westen sind siebzig Tage vergangen ...«

Mein Vater zog mich weiter zu den Zuckerbäckern, die aus Mehl, Milch und Honig süße Kuchen herstellten. Als ich von dem Gebäck probieren wollte, nahm er meine Hand. »Es ist genug jetzt! Wir müssen sparsam sein, denn wir haben nicht viel Kupfer.«

Ich kannte den Wert des Metalls noch nicht, das er bei sich trug, aber er gab mir zu verstehen, dass durch die Schiffsreise von unserem Dorf bei der Stadt Tis nach Mempi mehr als die Hälfte unserer Ersparnisse aufgebraucht worden seien. Und wenn wir nicht in einigen Tagen hungern wollten, müssten wir uns auf das Notwendige beschränken. Er war traurig, dass er mir meinen Wunsch abschlagen musste.

Aber wenn bereits über die Hälfte des Kupfers ausgegeben war, dann blieb nicht mehr genug, um mit dem Schiff nach Hause zurückzufahren!

Schweigend gingen wir über den Markt und betrachteten die Verkaufsstände der Handwerker. Kinderspielzeug wurde angeboten, kleine Puppen mit beweglichen Köpfen, geschnitzte Tiere, Bauklötze aus getrocknetem Schlamm, mit denen kleine Bauwerke errichtet werden konnten, Kreisel aus Holz und Bälle aus genähtem Leder. Fasziniert blieb ich an jedem Stand stehen und besah mir alles genau: Dinge, die ich nie besessen hatte und niemals besitzen würde.

Wir waren arm! Diese Erkenntnis schmerzte: Ich würde mir all diese schönen Dinge niemals leisten können. In unserem Dorf war mein Vater ein angesehener Bewohner. Er besaß ein Gemüsefeld mit Zwiebeln, Bohnen und Spinat. Doch hier, in der Stadt, hatte ich das Gefühl, nichts wert zu sein.

»Was bedeutet es, arm zu sein?«, fragte ich ihn.

»Es bedeutet nichts.«

Die Mehrdeutigkeit seiner Worte entging mir nicht.

»Heute beginnt eine neue Zeitrechnung!«, erklärte mir mein Vater am nächsten Morgen. »Wir schreiben nun nicht mehr das Jahr vierundzwanzig nach Hunis Thronbesteigung, sondern das erste Regierungsjahr Seneferus.«

Der Ptah-Tempel war leicht zu finden: Wir wurden dorthin geschoben. Tausende Menschen drängten zur Krönung des neuen Königs.

Vor dem großen Pylon des Tempels ließen wir uns im Staub der Straße nieder und aßen unsere Morgenmahlzeit: Brot, Käse und Zwiebeln.

Auf der Fassade des Tempels sah ich das Relief eines Mannes in einem bis zum Hals reichenden Wickelgewand, die Arme über der Brust gekreuzt, in den Händen ein langes Zepter, auf dem Kopf eine eng anliegende blaue Kappe. Ihm gegenüber stand ein Mann mit Löwenschurz und blauer Krone, Opferschalen in den Händen. Ich fragte meinen Vater, wer dort dargestellt war.

»Der Gott Ptah, der in diesem Tempel wohnt, und Netjer.«

»Welcher Netjer?«, fragte ich.

»Im Tempel steht jeder Lebendige Gott Ptah gegenüber und opfert ihm.«

Unruhe wehte über den Platz. Bewaffnete marschierten in zwei Reihen bis zum Tempeltor und bildeten eine Gasse. Sie trugen Rüstungen aus Metall über ihren Lendenschurzen und Helme mit Straußenfederbüschen. Bewaffnet waren sie mit kurzen Schwertern, Speeren und Schilden aus bemaltem Leder.

Die Spannung in der Menge stieg.

Dann öffneten sich die riesigen Bronzetore des Tempels und gaben den Blick in den großen Sonnenhof frei. Die Tempelpriester hatten die glühenden Kohlen in den großen Bronzebecken im Tempelhof geschürt. Weihrauchschwaden raubten mir den Atem.

»Die Priester des Ptah bringen einen geschlachteten Stier als Brandopfer«, erklärte mein Vater, als ich von fern Musik hören konnte.

Pauken, Sistren und Flöten! Der König nahte!

Die Menschen warfen sich in den Staub, als die Sänfte des Lebendigen Gottes an ihnen vorbei zum Tempel getragen wurde. Niemand wagte es, den Blick zu heben, um den König ins Gesicht zu sehen. Bevor mein Vater mich auf die Knie zog und ich widerstrebend meinen Kopf senkte, sah ich, wie hundert Tempeldiener mit prächtigen Ritualgewändern bekleidet feierlich durch die wartende Menge schritten. Die Sänfte des Königs, ein Sitz aus kostbarem Zedernholz, wurde von acht schwarzen Kuschiten getragen. Der Lebendige Gott saß unbeweglich wie eine Götterstatue, den Blick nach vorn gerichtet. Die Menschen, die vor ihm im Staub knieten, schien er gar nicht zu bemerken.

Er war einundzwanzig Jahre alt. Seine Augen waren mit Lidstrichen aus blauem Lapispulver geschminkt. Er trug ein durchscheinendes Gewand über einem prächtigen Lendenschurz, vergoldete Ledersandalen, aber noch keine Krone. Wie schön er war!

Einen Blick erhaschte ich auf die junge Frau im nächsten Tragsessel. Sie war die neue Königin! Mein Vater hatte mir erzählt, dass Hotepheres die Trägerin der Königswürde war und dass Seneferu, als er seine Schwester heiratete, den Titel des Gottkönigs erst erwarb.

Mein Vater zog mich zu sich herunter, als die königlichen Sänften an uns vorübergetragen wurden. Wie alle anderen küsste ich den Boden, über den der König getragen wurde. Verstohlen sah ich wieder auf.

Das Gefolge des Lebendigen Gottes war prächtig gekleidet. Die Prinzen trugen Lendenschurze aus kostbarem Leinen, goldene Ketten um die nackten Schultern und Sandalen, die Prinzessinnen Kleider aus durchscheinendem Stoff, der ihre Körper kaum verhüllte, und Ketten und Ohrringe aus Gold. Bei uns im Dorf trugen wir weder Perücken noch Sandalen, und unsere Lendentücher waren auch nicht aus plissiertem Leinen.

»Das ist der Wesir Nefermaat, ein Bruder des neuen Königs«, flüsterte ein Mann neben mir.

Prinz Nefermaat war ein hoch gewachsener Mann, dessen golddurchwirktes Wesirsgewand von den Schultern bis zu den Knien reichte und am Hals durch zwei breite Bänder befestigt war.

»Und dort kommt Prinz Amenemhet mit seiner Schwestergemahlin Iset!«

Prinz Amenemhet hatte dieselbe majestätische Statur wie seine Brüder Nefermaat und der göttliche Seneferu. Er trug die Abzeichen eines Generals.

»Er sieht nicht glücklich aus!«

»Das ist er auch nicht. Eigentlich hätte er heute gekrönt werden sollen! Erst kurz vor seinem Tod hat Huni Prinz Seneferu zu seinem Nachfolger bestimmt.«

»Und dort kommt die Zweite Gemahlin des Königs! Sie wird dem Lebendigen Gott schon bald sein erstes Kind schenken.«

Die Gottesgemahlin stützte sich auf den Arm eines Mannes. Sie war hochschwanger, und das Gehen fiel ihr schwer.

Hinter der Familie des Königs schritten die Hohepriester der verschiedenen Tempel der Beiden Länder, der Hohepriester des Sonnengottes Re aus Iunu, die Hohepriesterinnen der Hathor aus Yunet und der Bastet aus Pibastet im Sumpfgebiet des Unteren Landes, die Hohepriester des Osiris und der Isis aus Abodu und viele andere. Den Priestern folgten die zweiundvierzig Gaufürsten der Beiden Länder, die Minister der neuen Regierung und die Generäle der vier großen königlichen Regimenter Amun, Re, Ptah und Seth.

Dann schlossen sich die Tempeltore hinter dem König und seinem Gefolge.

Es wurde ruhig auf dem Platz: Die Menge wartete.

Aus dem Tempel drang kein Laut nach draußen. Der König brachte im Sonnenhof die vorgeschriebenen Speise- und Trankopfer für Ptah dar, und der süße Duft des Weihrauchs mischte sich mit dem Geruch von verbrennendem Fett, das von dem geschlachteten Opferstier in das Feuer tropfte.

Fliegende Händler schritten durch die Reihen der Wartenden, die ihren Platz während der stundenlangen Krönungszeremonien nicht aufgeben wollten, und verkauften Datteln, Nüsse und heißes Fladenbrot mit Ziegenkäse.

»Was geschieht jetzt im Tempel?«, fragte ich nach einer Weile.

»Der Lebendige Gott nimmt die Throne Beider Reiche in Besitz. Erst besteigt er den Thron des Unteren Landes und erhält die rote Mehus-Krone aufgesetzt, dann setzt er sich auf den Thron des Oberen Landes und erhält die weiße Schemas-Krone als Zeichen seiner Macht.«

»Wer setzt ihm die beiden Kronen auf?«, wollte ich wissen.

»Der Hohepriester des Ptah.«

Dann öffneten sich die Tore, und die Prozession verließ den Tempel, zuerst die Bewaffneten, dann die Gottesdiener und schließlich die Sänfte des Königs.

Seneferu trug nun die Sechemti-Doppelkrone, die aus der roten Krone des Unteren und der weißen Krone des Oberen Landes bestand. In den über der Brust gekreuzten Händen hielt er Zepter und Geißel.

Der Wesir Nefermaat schritt vor der königlichen Sänfte her und rief mit lauter Stimme, damit es die ganze Welt vernehme: »Ich verkünde die Inthronisation des Herrn der Weltordnung, Seneferu Nebmaat, des Großen Gottes, Sohn des Re, Licht der Welt, Eroberer der Fremdländer, Herrscher des Oberen und Unteren Landes. Möge er tausend Jahre regieren!« Und dann: »Huldigt dem Lebendigen Gott! Gelobt sei sein geheiligter Horus-Name in Beiden Ländern!«

Die Menschen sprangen auf und jubelten dem neuen König zu. Möge er tausend Jahre regieren!

Und ich konnte nichts mehr sehen!

»Warum hat der König so viele Namen?«, fragte ich meinen Vater.

»Die Namen des Herrschers sind so etwas wie sein Regierungsprogramm und zeigen dem Volk, was er sich vorgenommen hat. Der Name Nebmaat bedeutet, dass Seneferu die Welt durch die Maat vollkommen machen will. Als Gottkönig, Hohepriester und Stellvertreter des Gottes Horus auf Erden, wird er für Ordnung, Gerechtigkeit und die Vervollkommnung der Welt sorgen. Er wird die Fremdländer unterwerfen: die Libyer im Westen, die Kuschiten im Süden und die Sumerer im Osten.«

Ich drängte nach vorn, um etwas sehen zu können.

»Komm zurück! Das darfst du nicht!«, rief mein Vater entsetzt und wollte mich festhalten, aber ich riss mich los, kroch zwischen den Beinen der Leibwachen durch, die die Ehrengasse für den Netjer bildeten, und stand mitten auf dem Weg, auf dem sich die Prozession näherte.

Die Menschen warfen sich zu Boden, als die Sänfte des Göttlichen sich näherte. Fasziniert sah ich den König an und vergaß, mich vor ihm niederzuwerfen, um den Staub unter seinen Füßen zu küssen.

Der Blick des Göttlichen war in die Unendlichkeit gerichtet, sein Gesicht war unbewegt. Nur ein feines Lächeln des Triumphes lag auf seinen Lippen.

Ein Bewaffneter packte mich an der Schulter und drückte mich in den Staub. Aber ich ließ meinen Blick nicht vom Lebendigen Gott.

Da sah er mich an! Sein Blick traf mich wie ein Sonnenstrahl!

Verstohlen winkte ich ihm zu.

Er lächelte.

Doch dann hob er wieder den Blick zum Horizont und war nicht mehr Mensch, sondern König und Gott.

Sein Triumph war unermesslich.

Die Krönungsfeierlichkeiten im Tempel des Ptah und die ausgelassene Feier auf dem großen Platz vor dem alten Königspalast von Mempi schienen der Höhepunkt im Leben aller Menschen zu sein. Doch noch in derselben Nacht gebar die Gottesgemahlin Ahmes sein erstes Kind. Die Prozession in den Tempel des Ptah und die anschließenden Empfänge für die fremdländischen Botschafter und Gaufürsten waren zu viel Aufregung für sie gewesen, und so setzten die Wehen einen Mond zu früh ein. Noch war das Schicksal Seneferu gewogen, und Ahmes schenkte einem gesunden und kräftigen Sohn das Leben.

Das Volk jubelte dem Göttlichen zu, als er den Neugeborenen vom Erscheinungsfenster des Palastes aus zeigte: »Seht her, Völker des Papyrus- und des Lotuslandes. Dies ist mein erstgeborener Sohn, den ich Rahotep nennen will!«

»Wann fahren wir nach Hause?«

Mein Vater sah mich betroffen an. »Wir werden nie mehr zurückkehren, mein kleiner Liebling. Ich bin nach Mempi gekommen, um zu arbeiten. Der Lebendige Gott will das Grabmal seines Vaters des Netjer Huni zu Ende bauen. Huni hinterließ eine unvollendete Pyramide nahe der Residenz von Pihuni. Ich will dort Arbeit finden.«

Er wies auf den Ausrufer, der mit lauter Stimme an der Straßenecke verkündet hatte, dass König Seneferu Arbeiter für das neue Pyramidenbauprojekt in der königlichen Residenz von Pihuni suchte.

Alle für das Bauprojekt notwendigen Hilfsarbeiter wie etwa Steinmetze, Steinschlepper oder Wasserträger sollten aus der arbeitsfähigen Bevölkerung des ganzen Landes Kemet rekrutiert werden. Jeder, der Arbeit suche, sollte sich in einem Arbeitsamt melden. Seneferu verlor keine Zeit, sich ein Grabmal erbauen zu lassen. »Und was ist mit unserem Feld am Ufer des Hapi?«

Mein Vater hatte eine kleine Parzelle am Rand des kultivierten Fruchtlandes westlich des großen Stromes Hapi besessen. Das Land meines Vaters war nicht groß, nur etwa zweihundert königliche Ellen in der Länge und etwa einhundert in der Breite, aber für mich schien es die ganze Welt auszufüllen. Er baute Gemüse an: Linsen, Kichererbsen, Bohnen, Gurken, Zwiebeln, Rüben und Salat. Sein Traum war, Dattelpalmen und Granatäpfelbäume auf seinem Land anzubauen. Immer wieder steckte er die Setzlinge in den Boden, doch niemals schlugen sie Wurzeln.

»Das Feld habe ich verkauft«, gestand er leise.

Jetzt wusste ich, woher die Kupferbarren für die Fahrt nach Mempi stammten!

»Jeder Mensch muss seinem König dienen«, tröstete er mich. »Die Arbeit am Grabmal des Herrschers wird gut entlohnt. Jeder Arbeiter wird am Totenkult des Königs teilhaben. Erinnerst du dich, wie einsam deine Mutter in ihrem Felsnischengrab liegt?« Ich nickte stumm. Meine Mutter Cheti war bei meiner Geburt gestorben.

«Vielleicht werde ich eines Tages im Schatten der Pyramide mein Grab haben!«, sagte mein Vater mit verklärtem Blick.

Wie konnten wir denn ahnen, dass er eines Tages in der Pyramide begraben sein würde!

Der Weg nach Pihuni war weit und führte uns tagelang an den überfluteten Feldern vorbei, die wie ein riesiger See in der Sonne funkelten. Das Vorwärtskommen war mühsam, da die Uferstraße am Hapi ebenfalls überschwemmt war. Wir suchten unseren Weg entweder in den knietief unter Wasser stehenden Feldern oder im roten Sand jenseits des Fruchtlandes.

Für die Bauern bestimmte die jährliche Flut den Rhythmus des Lebens. Wenn sich die Frucht bringenden Wasser des Hapi zurückzogen, kamen die Landvermesser, um die Parzellen und Felder neu zu vermessen. Zerstörtes, abgetragenes oder sumpfiges Land wurde durch einen Schreiber in die Grundbuchrolle eingetragen. Anhand der ermittelten Bodenqualität veranschlagten die Beamten den zu erwartenden Ertrag und damit die Höhe der Steuern, um sie später nach der Ernte einzutreiben.

Weiter stromaufwärts und an der Grenze des Fruchtlandes zur Wüste war das Land bereits vermessen und durch Stöcke oder Pfähle im durchweichten Boden markiert. Die Bauern setzten die Bewässerungskanäle instand. Ochsen, Kühe oder Esel trotteten mit gesenkten Köpfen über die feuchten Äcker und zogen, immer wieder einsinkend und stockend, die schweren Pflüge. Kinder liefen hinter den Gespannen her, verscheuchten die aufgeregt umherflatternden Vögel und streuten das Saatgut aus umgehängten Leinenbeuteln in die schwarze, süßlich duftende Erde.

Wir waren einige Tage gewandert, als wir am Horizont, zwischen den Dattelpalmen des Fruchtlandes, ein gewaltiges Bauwerk erkennen konnten: die Pyramide des Königs! Seine Treppe zu den Sternen!

In Sokar, der Totenstadt von Mempi, hatten wir die Stufenpyramide des Djoser besichtigt, das größte Bauwerk der Welt, und mein Vater hatte mir in ehrfürchtigem Ton von Imhotep erzählt, der Bauleiter, Wesir und Arzt des Königs gewesen war. Imhotep hatte mit dieser Pyramide etwas Neues, noch nie Dagewesenes erschaffen: ein unvergängliches Monument aus Stein, ein Symbol der Ewigkeit.

Lange betrachtete ich die Pyramide, die meines und das Leben meines Vaters verändern sollte. Das Grabmal des Seneferu hatte in diesem Jahr erst drei Stufen, an der vierten wurde gebaut.

Die Baustelle war größer als Mempi. Tausende von Menschen arbeiteten hier: der Königliche Bauleiter, Vermessungstechniker, Schreiber und Verwalter, die Lagerpolizei, Steinbrucharbeiter, Steinmetze und Künstler, Schlittenführer, Sandschlepper und Straßenbauer, Lageraufseher und Magazinverwalter, Bäcker und Schmiede, Töpfer, Tischler und Zimmerleute, Wasserträger, Köche und Wäscherinnen, Hafen- und Lagerarbeiter. Das Lager der Arbeiter war eine riesige Stadt aus mit Palmwedeln gedeckten Schlammziegelhütten.

Da mein Vater nicht wusste, wohin er sich wenden sollte, fragte er einen der Wasserträger, die in großen Tonkrügen Wasser vom Fluss herauftrugen, um die Schleppstraßen für die Holzschlitten mit den Steinquadern feucht und damit gleitfähig zu halten.

»Wenn dir noch keine Arbeit zugeteilt ist, solltest du dich an das Schreiberbüro von Aperire wenden. Du findest es dort drüben.« Der Arbeiter deutete hinüber zum Pyramidenfundament.

Den Schreibtisch des Priesters Aperire fanden wir vor einem großen Zelt direkt unterhalb der großen Rampe, auf der die großen Steinquader hinauftransportiert wurden. Er saß auf einer Schilfmatte und beobachtete aufmerksam die Arbeiter, die sich die Rampe hinaufquälten. In der Hand hielt Aperire einen gerollten Papyrus, den er wohl eigentlich lesen wollte. Als wir uns näherten, sprang er auf, weil ein Schleppseil gerissen war und ein Holzschlitten auf der steilen Rampe wegzugleiten drohte.

»Passt doch auf! Ihr müsst die Seile straff halten! Sonst rutscht der Block ab und der Schlitten zerbricht. Nein, doch nicht so. Bei Re!« Aperire raffte seinen langen priesterlichen Leinenschurz und stürmte an uns vorbei die Rampe hinauf, bis er beim rutschenden Steinschlitten angekommen war. Er half den zehn Männern, die den Stein die steile Ebene hinaufbefördern sollten, den Schlitten auf den befeuchteten Hölzern neu auszurichten. Dann ließ er die Rundhölzer und Schlittenkufen mit Wasser benetzen, um die Gleitfähigkeit des Schlittens zu verbessern.

Als der Priester zurückkehrte, kniete mein Vater im Wüstensand.

Aperires Kopf war wie bei allen Priestern kahl geschoren. Seinen nackten Oberkörper zierte kein Schmuck.

»Wer bist du?«, fragte er.

Mein Vater drückte seine Nase in den Staub und reichte dem Gottesdiener die Tonscherbe, die er in Mempi erhalten hatte, mit seinem Namen, seiner Herkunft und seiner Qualifikation. Während der Krönungsfeierlichkeiten hatten Beamte des Königs Arbeiter für das Grabmal rekrutiert: Steinmetze, Steinschlepper und Wasserträger.

»Ich bin Kamose«, stellte sich mein Vater vor. »Ich will an der Pyramide arbeiten.«

»Kamose aus … woher?« Aperires Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen, was ihn strenger wirken ließ, als er wirklich war.

»Das ist der Name unseres Dorfes bei Tis.«

»Du bist kein Saisonarbeiter, Kamose? Dauerarbeiter müssen eine berufliche Qualifikation mitbringen. Wir haben hier verschiedene Arbeiten. Du kannst als Koch oder Bäcker arbeiten oder als Tierschlächter.«

»Ich kann nicht kochen. Meiner Tochter schmeckt es nicht.«

»Verstehst du etwas vom Bauen?«

»In unserem Dorf habe ich unsere Hütte aus Schlammziegeln und Palmwedeln gebaut.«

»Ich meinte: Verstehst du etwas von Architektur? Hast du in der Tempelschule studiert?«

»Ich bin nie zur Schule gegangen.«

»Hast du schon als Steinmetz gearbeitet? Oder als Farbkünstler?« Als mein Vater den Kopf schüttelte, sagte er: »Wir benötigen dringend Steinschlepper, die die Holzschlitten die Rampe hinaufziehen.«

Mein Vater nickte wortlos – mit der Demut eines Menschen, der nichts gelernt hat.

Der Sonnenpriester nahm die Tonscherbe und schrieb den Namen Kamose mit einem feinen Pinsel aus gespleißtem Papyrusrohr und schwarzer Tinte in eine Liste: einen Korb für K, eine Eule für M und einen Türriegel für S. Und dann malte er schwungvoll einen gebeugten Arm mit Geißel auf den Papyrus, das Zeichen für »stark sein.«

»Und wer bist du?« Der Priester sah mich an.

»Ich bin Nefrit«, erklärte ich.

Der Gottesdiener des Re sah uns beide skeptisch an. »Dies ist kein Platz für Kinder! Warum hast du sie hergebracht, Kamose?«

»Ich kann sie sonst nirgendwo lassen. Meine Frau ist vor Jahren gestorben.«

Aperire seufzte: »Nefrit, die Schöne, die Vollkommene. Also gut: Nefrit.« Er schrieb meinen Namen auf die Liste: Wasser für N, die Viper für F, den Mund für R, das Brot für T.

Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich meinen Namen auf einem Stück Papyrus lesen konnte. Es war so, als ob ich von nun an existieren würde.

»Ihr habt Glück: Unten am Fluss sind noch Hütten frei. Die Masse der ungelernten Arbeiter wird erst in den nächsten Tagen aus dem Unteren Land eintreffen, wo die Flut noch steigt.«

»Wie viele Arbeiter werden denn kommen?«, fragte mein Vater.

»Ich schätze, es werden dieses Jahr zwanzigtausend werden. Bereits jetzt haben wir fünftausend geschulte Steinbrecher und Steinmetze und Transportarbeiter und etwa noch einmal so viele Männer und Frauen, die sich um die Verpflegung der Arbeiter kümmern.«

Unsere Hütte war ein wenig größer als die in unserem Dorf. Während mein Vater ein großes Tuch vor den Eingang der Hütte hängte und unsere Schlafmatten auf dem gestampften Lehmboden ausbreitete, maß ich den Innenraum mit meinen Schritten aus: sechs Ellen breit und acht Ellen lang. Die Wände bestanden wie alle Häuser im Land Kemet aus Schlammziegeln.

»Ich weiß nicht, ob es richtig war, dich hierher zu bringen, Nefrit«, sagte mein Vater leise. »Aber wenn wir das Feld behalten hätten, wären wir verhungert. Im letzten Jahr hatten wir wegen der großen Trockenheit keine gute Ernte, und durch den Verkauf des Feldes konnte ich meine Schulden zurückbezahlen. Das Kupfer ist jetzt beinahe aufgebraucht.

Die Arbeit an der Pyramide wird hart sein. An jedem Tag während der neuntägigen Woche werde ich arbeiten und erst am zehnten Tag frei haben. Drei Wochen pro Mond, drei Jahreszeiten pro Jahr: während der Flut, der Aussaat und der Zeit der Ernte. Die anderen Männer arbeiten nur während des Hochwassers an der Pyramide und verlassen die Baustelle wieder, wenn die Felder neu vermessen sind, wenn das Getreide ausgesät oder das Gemüse gepflanzt wird. Ich werde das ganze Jahr über diese Arbeit verrichten. Aber dein Leben wird noch viel härter, Nefrit. Ich werde gleich nach Sonnenaufgang die Hütte verlassen und erst bei Sonnenuntergang zurückkehren. Dann werde ich müde sein und schlafen. Das bedeutet für dich, dass du den ganzen Tag über allein sein wirst. Ich kann nicht mit dir spielen, und du kannst mich nicht besuchen, denn das ist zu gefährlich.«

Während mein Vater in den Steinbrüchen seine Arbeit aufnahm, streifte ich durch das Lager der Arbeiter. Eine Zahl ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Zwanzigtausend. Wie viel bei allen Göttern waren zwanzigtausend Menschen? Waren das alle Bewohner des Landes Kemet?

Zwanzigtausend Menschen, die alle schlafen, essen und trinken wollten. Ich saß am Fluss und begann die Hütten aus Schlammziegeln und Palmblättern zu zählen. Als ich bis hundert gezählt hatte, begann ich von vorn, immer wieder, und ich hatte noch längst nicht alle Hütten gezählt.

Meine Frage beschäftigte mich so, dass ich den Priester Aperire in seinem Zelt aufsuchte. »Ich will dich etwas fragen! Wie viel sind zwanzigtausend Menschen?«

Aperire legte seinen Pinsel zur Seite. »Wie alt bist du, Nefrit?«

»Ich bin fünf Jahre alt.«

Er winkte mich zu sich, und ich setzte mich in Schreiberhaltung neben ihn.

Mit der Schreibbinse malte er einen senkrechten Strich auf den Papyrus: »Eins.« Dann zog er daneben noch einen Strich: »Zwei.« Dann einen weiteren, und an seiner Stelle sagte ich: »Drei.« Unter zehn gerade Striche malte er einen Bogen wie ein Tor: »Das ist das Zeichen für zehn.« Zwei Bögen: »Zwanzig!« Unter die beiden Bögen zeichnete er eine Schleife: »Das ist das Zeichen für hundert. Ein solches Symbol ist genauso viel wie hundert Striche oder zehn Bögen.« Er schrieb ein kompliziertes Zeichen auf den Papyrus: »Tausend. Zehn Schleifen.« Dann malte er einen erhobenen Finger: »Zehntausend. Zehn von diesen Zeichen hier. Oder hundert von diesen hier. Oder tausend von diesen hier.« Dann schrieb er zwei erhobene Finger nebeneinander: »Zwanzigtausend. So viele Menschen arbeiten an der Pyramide.«

»Sind das alle Menschen im Land Kemet?«

»Nein, die letzte Steuerzählung ergab fast zwei Millionen. Hundertmal mehr als Arbeiter hier auf der Baustelle.«

Nun setzte ich meine Erkundung des Lagers fort: Im Hafen legten die großen Lastbarken an, die Kupfer aus dem Sinai auf die Baustelle brachten. Die Werkzeugmacher schmolzen in ihren Schmieden, die nicht weit entfernt waren, das Kupfer ein und fertigten Bohrer und Meißel für die Steinbrucharbeiter. Aus der stromaufwärts gelegenen Stadt Jebu trafen Schiffsladungen voller Säcke mit Quarzsand ein, der zum Schleifen von Sandsteinquadern benötigt wurde.

Vom Hafen aus führte eine Transportstraße zu den verschiedenen Werkstätten sowie zur großen Rampe am Fuß der Pyramide. Hinter der Baurampe waren große Brennöfen errichtet worden. Dort wurden Gefäße für die Bauarbeiter gefertigt: Bierkrüge, Schüsseln und Teller aus Ton. In der Nähe der Steinbrüche auf der anderen Seite der Baustelle fand ich mehrere Werkstätten, in denen die geschlagenen Steinquader behauen und geglättet wurden. Im weichen Wüstensand lagen viele scharfkantige Steinbruchstücke: Ich trug keine Sandalen, und so machte ich einen großen Bogen um dieses Gebiet. Hinter der Pyramide befanden sich die Lager für die Lebensmittel: Obst, Gemüse, Gerstenmehl und Fleisch – jeden Tag gab es für die Arbeiter der Pyramide eine Portion Fleisch. Kühe, Schafe und Ziegen grasten auf den durch Kanäle bewässerten Weiden.

Der Duft von heißem Gerstenbrot führte mich zu den Bäckereien, die direkt am Fluss lagen. Von der Bäckerin Satamun ließ ich mir zeigen, wie Brotteig gemischt und geknetet und wie Brot gebacken wurde. Sie arbeitete an einem langen Tisch aus aufgemauerten Bruchsteinen. Hinter ihr brannte ein großes Kohlefeuer, in dem das Tongeschirr zum Backen der Brote erhitzt wurde. Dann legte Satamun die Fladen in die unteren Teller des Brotgeschirrs und bedeckte diese mit den im Feuer erhitzten Tondeckeln. Die Gefäße wurden in den Kohlen vergraben, bis die Brote fertig waren.

»Wo kommst du her?«, fragte ich Satamun.

»Ich stamme aus einem kleinen Fischerdorf am Meer.«

Das Meer! Der Barkenkapitän, der meinen Vater und mich von Tis nach Mempi brachte, hatte mir vom Meer erzählt.

»Ist das weit von hier?«, wollte ich wissen.

Satamun lächelte. »Das Meer ist im Norden. Fünf oder sechs Tage auf dem Schiff den Hapi hinunter.«

»Ich komme auch von weit her, aber aus dem Süden«, erklärte ich ihr. »Warum bist du hier? Hast du keine Arbeit dort, wo du herkommst?«

»Doch, ich hatte Arbeit, aber ich bin hierher gekommen, weil ich dem König diese Pyramide bauen möchte.«

»Aber du baust doch gar nicht. Du backst Brote.«

»Ich kann keine Steine schlagen oder Schlitten ziehen. Aber ich kann Brot für die Arbeiter backen. Es ist eine Ehre, für den Lebendigen Gott arbeiten zu dürfen. Er wird keine Schwierigkeiten haben, Arbeitskräfte zu finden. Die meisten Arbeiter sind nur während der Flut hier, weil sie auf den überschwemmten Feldern ohnehin nicht arbeiten können. Sie entgehen den Seuchen und der Arbeitslosigkeit in ihren Dörfern, werden für ihre Arbeit an der Pyramide gut entlohnt und ihre Versorgung mit Brot, Fleisch und Gemüse ist gesichert. Wenn sie in ihre Dörfer zurückkehren, sind sie Helden, und abends am Feuer erzählen sie immer wieder, wie sie die Pyramide mit ihren Händen gebaut haben. Und jeden Abend wird die Pyramide in ihren Erzählungen höher und höher.«

»Aber du bist eine Frau. dir werden sie nicht zuhören, wenn du von deiner Arbeit sprichst.«

»Gut beobachtet, kleine Nefrit! Ich bin eine Frau. Und ich werde dir ein Geheimnis verraten: Eine Frau kann härter und ausdauernder arbeiten als jeder Mann.«

Am nächsten Morgen stand mein Vater schon vor den ersten Strahlen des Sonnengottes Re auf, ging hinunter zum Fluss, um sich zu waschen, und kam dann mit einem Brotfladen und frischen süßen Zwiebeln zurück. Wir brachen das Brot gemeinsam, bevor Re den Horizont überstieg, dann verließ er mich.

An diesem Tag erschienen viele neue Arbeiter aus dem Unteren Land. Am Tisch von Aperires Schreiber am Ende der Rampe bildete sich eine lange Reihe, wie Glasperlen auf einer Schnur. Es waren so viele, dass Aperire selbst zur Schreibbinse griff. Ich saß auf einem zerbrochenen Steinschlitten und zählte die neuen Arbeiter. Zuerst malte ich Striche und Bögen in den Sand, doch dann löschte ich die Zeichen aus und malte Schleifen. Am Abend waren es zwölf Schleifen, zwei Bögen und sieben Striche.

Als Aperire sein Schreiberzelt verlassen wollte, um die Abendmahlzeit einzunehmen, sah er mich die Zeichen im Sand zählen.

»Was zählst du, Nefrit? Eintausendzweihundertsiebenundzwanzig Sandkörner?«

»Keine Sandkörner, sondern neue Arbeiter.« Während ich sprach, löschte ich die Zahlzeichen im Sand mit meinem Stock aus.

»Du kannst schreiben, Nefrit?«, fragte er erstaunt. »Hast du diese Zahlzeichen in den Sand geschrieben?«

»Du hast sie mich doch gelehrt: gestern.«

»Du bist ein wirklich erstaunliches Kind, Nefrit. Wenn du Lust hast, kannst du mir morgen helfen. Ich habe eine Aufgabe für dich.«

»Warum schreibst du all die Namen auf?«, fragte ich Aperire, als ich ihm eine neue Papyrusrolle reichte. Ich hockte neben ihm und sah ihm beim Schreiben zu.

»Wir benutzen die Listen, um festzustellen, wer seinen Lohn schon erhalten hat und wer noch nicht. Hier in dieser Liste stehen die Namen der Arbeiter und dahinter die Menge des Kupfers, die Zahl der Kleidungsstücke, die Salben und das Natron, das sie als Lohn bekommen haben.«

»Ich will schreiben lernen«, verkündete ich.

Aperire lächelte: »Deshalb bist du hier, Nefrit.«

Ein Arbeiter hieß Kamose, wie mein Vater: Korb – Eule – Türriegel. Der nächste hieß Meri: Eule – Mund. Die Arbeiter kamen aus dem ganzen Land und sprachen verschiedene Dialekte. Ich lernte von Aperire, dass auch mein Name unterschiedlich ausgesprochen wurde: Nofret, Neferet, Nefrit. Geschrieben wurde er aber jedes Mal gleich: N F R T.

»Es ist seltsam, dass dein Name Nefrit ist«, sinnierte Aperire. »Der Name entstammt einem Dialekt des Unteren Landes. Du aber kommst aus der Gegend von Tis im Süden – im Oberen Land. Geheimnisvolle Nefrit!«

Als mein Vater an diesem Abend nach Hause kam, saß ich vor der Hütte und malte mit dem Stock die Schriftzeichen meines Namens in den Sand. Er trat hinter mich und sah mir beim Schreiben zu.

»Was malst du da?«, fragte er.

»Ich schreibe«, korrigierte ich ihn.

Er setzte sich neben mich und begann zu essen. Fladenbrot mit Rindfleisch und Erbsenpüree. »Was schreibst du?«

»Kannst du das denn nicht lesen?«, fragte ich ihn.

»Nein, Nefrit, ich kann nicht lesen.« Er sah mich nicht an, denn es war ihm wohl peinlich.

Es tat mir Leid, dass ich ihm wehgetan hatte. Ich hatte nicht gewusst, dass er nicht lesen und schreiben konnte.

»Kamose schreibt sich so.« Ich kritzelte die Zeichen in den Sand, die er sich durch einen langen Blick einprägte. »Und das hier heißt Dede.« Nun malte ich zwei Hände in den Sand. Die behütenden Hände eines gütigen, liebevollen Vaters.

»Beweg dich leiser, Nefrit! Du machst einen Krach, dass uns die Arbeiter aus fünfzig Schritten Entfernung hören können!«, fauchte Djedef, als ich auf dem steilen Felsabbruch einen lockeren Stein lostrat. »Wenn wir erwischt werden, werden wir geschlagen.«

Djedef war ein Jahr älter als ich und der Sohn eines Schlittenführers, der vor wenigen Monden eine Hütte auf der anderen Seite der Baustelle bezogen hatte. Djedefs Mutter hatte sich von seinem Vater scheiden lassen. Sein Vater war wegen der Schulden, die er wegen der Missernte des letzten Jahres hatte, gezwungen gewesen, die Arbeit an der Pyramide anzunehmen. Djedef und ich hatten schnell Freundschaft geschlossen und spielten oft gemeinsam am Rand der Baustelle, deren Betreten uns verboten war. Dabei brachte doch das Herumklettern am Pyramidenfundament am meisten Spaß!

An diesem Tag hatten Djedef und ich uns von Westen an die Steinbrüche herangeschlichen.

»Mein Vater hat mich noch nie geschlagen!«, protestierte ich und kroch vorwärts, um über den Rand des Felsens zu den Arbeitern hinabzusehen.

Im Steinbruch arbeiteten hundert Steinbrecher mit Pickel und Schlegel aus Stein sowie mit Meißeln aus Kupfer, mit denen sich der Kalkstein formen ließ. Der helle Kalkstein war mit roten Schnüren in Rasterlinien eingeteilt. Jeweils zwei Gruppen von Arbeitern drangen entlang der Linien an allen Seiten des freizulegenden Steinblocks in das Gestein ein, bis sie die bereits geschlagene senkrechte Trennung auf der Rückseite des Steinquaders erreicht hatten. Dann wurde die Unterseite mit Hebeln und befeuchteten Holzkanten, die aufquollen und sich ausdehnten, von unten herausgebrochen. Auf diese Weise ernteten die Arbeiter den Steinbruch von oben nach unten ab und drangen mit jedem neuen Steinquader tiefer in das Plateau unterhalb der Pyramide ein.

»Die Arbeiter müssen nach einem genauen Zeitplan arbeiten. Nie macht eine ganze Gruppe Pause, um Wasser zu trinken«, flüsterte ich und deutete auf eine Gruppe Steinschlepper, die gerade einen großen Quader auf einen Holzschlitten kippten. Ein Aufseher eilte herbei und markierte den Stein mit roter Farbe.

Um die Arbeitsleistung zu kontrollieren, musste jeweils nach dem Ernten eines Steinquaders die Sonnenstunde auf einer Tonscherbe notiert werden, die später ins Archiv des Lagers gebracht wurde. Jeder gebrochene Stein wurde mit dem Tag, dem Mond und dem Jahr des Brechens sowie dem Namen der Steinbruchgruppe markiert. Erst dann wurde der Stein zu den Werkstätten geschleppt. Die Steinmetze glätteten den Stein, erneuerten die rote Markierung, dann wurde der Quader weitertransportiert.

Der schwierigste Weg für die Steinschlepper war die Baurampe. Sie hatte einen flachen Neigungswinkel und bestand aus Bruchsteinen und Geröll, das bis zur Höhe der oberen Plattform aufgeschichtet war. Über diesem groben Bauschutt war eine Schicht Sand aufgeschüttet, und darüber lag eine Straße aus Hölzern, die durch die Wasserträger regelmäßig befeuchtet wurde. Auf dieser rutschigen Bahn wurden die Holzschlitten die Baurampe hinaufgezogen. Drei parallele Holzbahnen führten himmelwärts, eine einzige führte wieder hinab. Die Holzschlitten mussten in regelmäßigen Abständen die Baurampe hinaufgeschleppt werden. Die Verzögerung eines einzigen Schlittens konnte einen Stau im gesamten System verursachen, was zu erheblichen Wartezeiten bei Hunderten von Bauarbeitern führte.

»Wenn ich erwachsen bin, werde ich Pyramidenbauer wie mein Vater«, erklärte mir Djedef am gleichen Nachmittag.

»Ich auch!«, antwortete ich.

»Frauen bauen keine Pyramiden.«

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. »Warum nicht?«

»Weil sie nicht stark genug sind«, provozierte er mich.

»Ich bin stark genug.«

Zum Beweis begann ich vor unserer Hütte mit der Errichtung meiner eigenen Pyramide. Die Bauanleitung hatte ich ja direkt vor mir.

Das Bauprojekt des Königs hatte in diesem ersten Jahr meines Aufenthaltes nicht das Aussehen einer Pyramide. Sie war eigentlich ein Turm aus drei flachen Plattformen. In der Mitte ragte der Kernbau in Form einer unvollständigen Stufenpyramide wie der des Königs Djoser in Mempi hervor. Dieser Kern war noch nicht fertig gestellt bis zur endgültigen Höhe, ließ aber erkennen, wie gewaltig das gesamte Bauwerk werden sollte. Auf diesem Stufenkern wurden ringsherum die Schichten der äußeren, später sichtbaren Pyramide erbaut. Mein Vater hatte mir erklärt, dass nur so sichergestellt sei, dass sich alle vier Kanten genau in der Spitze treffen konnten. In einigen Jahren, nach Fertigstellung der äußeren Pyramide, würde die Außenhülle mit großen, glatt geschliffenen Steinquadern bedeckt werden, die dem Bauwerk eine stufige, strahlend weiße Oberfläche geben würde. Dann würden die Kalksteinquader eine achtstufige Treppe zu den Göttern sein, die weit höher in den Himmel ragte als jedes andere Bauwerk vor ihr.

Aber an jenem Tag führte noch eine lange, steile Rampe bis hinauf auf die Ebene der Pyramide, die bereits vollendet war. Drei der geplanten acht Stufen waren verlegt. Der Kernturm hatte beinahe die erforderliche Höhe erreicht und war über seine Stufen mit Hilfe einer Spiralrampe aus Lehmziegeln erreichbar, die an der obersten Pyramidenebene begann.

Djedef und ich bauten das Fundament meiner Pyramide aus Kieselsteinen, die die letzte Flut des Hapi angespült hatte. In der Mitte errichtete ich einen Turm aus großen Steinen, der so groß war wie ich selbst: Er sollte meine innere Stufenpyramide werden, auf der die äußere Pyramide lastete. Als der innere Sockel fertig war, begann ich die Steinlagen aufzuschichten und erreichte, als Re den Zenit überschritt, die Bauphase, die die Pyramide des Königs hatte.

Und dann baute ich mit Djedefs Hilfe weiter, immer höher und immer steiler. Als die Kanten der Pyramide schließlich den Zenit des Stufenturms erreichten, trat ich zurück, um mein Werk zu bewundern. Ich war enttäuscht! Aus einigen Schritten Entfernung sah meine Pyramide aus wie ein hingeschütteter Haufen Kieselsteine. In einer großen Waschschüssel sammelten Djedef und ich Lehm, den wir mit Wasser zu einer zähflüssigen Masse verrührten. Ich hatte gesehen, wie die Hütten aus diesem getrockneten Schlamm errichtet worden waren. Gemeinsam strichen wir die steinerne Oberfläche der Pyramide mit dem Schlamm glatt, zuerst die unteren Ebenen, dann bis zur Pyramidenspitze hinauf.

Immer wieder mussten wir den wegrutschenden Lehm festdrücken und weitere Schichten anfügen, aber schließlich hielt die Pyramide. Stolz schrieb ich meinen und Djedefs Namen in den schnell trocknenden Lehm – wie ich es an der großen Pyramide gesehen hatte: Dort fand sich an jeder Ecke der Königsname des Seneferu in einer Kartusche.

Als mein Vater nach Hause kam, betrachtete er erstaunt mein Werk. »Hast du die Pyramide gebaut?«, fragte er.

»Ja, das ist meine eigene!«, sagte ich stolz.

»Nur Könige haben Pyramiden«, wandte er ein.

»Jetzt habe ich auch eine. Aber ich schenke sie dir.« Mit der Hand löschte ich meinen Namen aus und schrieb stattdessen seinen in den Lehm. »Jetzt ist es deine Pyramide.« Triumphierend legte ich den Schlussstein auf die Pyramidenspitze.

Dann passierte die Katastrophe! Der noch feuchte Lehm begann wegzugleiten. Entsetzt stand ich vor meinem zerfließenden Bauwerk.

»Nefrit, ich werde niemals in einer Pyramide begraben sein«, sagte mein Vater ernst.

Doch er sollte sich irren.

Schon früh am Morgen herrschte eine unglaubliche Aufregung auf der Baustelle. Zuerst dachte ich, dass die Wasser des Hapi erneut zu steigen begonnen hatten, weil viele Arbeiter im Hafen an den Landungsstegen der Barken waren. Doch dann sah ich Bewaffnete, die nicht die übliche Kleidung der Lagerpolizei trugen. Ihre Rüstungen schimmerten in der aufgehenden Sonne, und sie waren mit Bronzeschwertern bewaffnet.

Ich stürmte hinüber zu Aperires Zelt.

»Ich habe keine Zeit, Nefrit!«, keuchte er noch ganz außer Atem, während er eine schwere Goldkette mit dem Sonnenemblem seines Gottes umlegte. Er trug sonst nie Schmuck. »Verschwinde und lass dich heute hier nicht blicken!«

»Was ist los?«, fragte ich und nahm auf einem Klappstuhl Platz, als hätte er mich nicht gerade fortgeschickt.

»Prinz Nefermaat besucht überraschend die Baustelle. Er ist als Wesir der Vorsteher aller Bauarbeiten des Königs. Er ist dem Herrscher gegenüber verantwortlich für den Baufortschritt.«

»Aber er war doch noch nie hier!«

»Aber jetzt ist er hier! Verschwinde, Nefrit!«

Ich hatte Aperire noch nie so aufgeregt gesehen. Er stürzte aus dem Zelt, nur um kehrtzumachen und eine Papyrusrolle von seinem Schreibtisch mitzunehmen. Dann ging er zehn Schritte und drehte erneut um, als er entdeckte, dass es die falsche Rolle war. Ich ging hinüber zu seinem Schreibtisch und reichte ihm die Gehaltsliste der Arbeiter. Er riss sie mir aus der Hand und verschwand nach draußen.

Der Wesir Nefermaat wurde vom Königlichen Bauleiter Api, den Mitgliedern der Bauleitung und den Vorarbeitern umschwärmt wie das Licht von Motten. Ich beobachtete Aperire, der dem Prinzen in respektvollem Abstand folgte, als er sich in seiner Sänfte über die Baurampe auf die oberste Plattform der Pyramide tragen ließ.

Das Gefolge des Wesirs blieb mit Aperire und den anderen Mitgliedern der Bauleitung zurück. Wenig später begaben sich der Prinz und der Bauleiter Api über die Rampe auf die unterste Stufe.

Prinz Nefermaat, den Bruder des Lebendigen Gottes, von ganz nah zu sehen, das hatte ich mir vorgenommen. Ich rannte um die Zelte der Bauleitung herum und erreichte unbemerkt das Fundament des Pyramidensockels. Ohne einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden, kletterte ich die Steinquader hinauf bis zur Plattform. Obwohl es nicht viele Steinlagen waren, war ich außer Atem, als ich mich zwischen die Quader drückte und vorsichtig über den Rand blickte. Prinz Nefermaat und der Bauleiter Api standen nur wenige Schritte von mir entfernt und unterhielten sich. Ich erwartete, dass der Wesir in die Residenz zurückkehren würde, doch ich sollte mich täuschen. Prinz Nefermaat ging mit dem Königlichen Bauleiter Api hinüber zu einer Öffnung: Sie betraten den Schacht zum Grabkammersystem unterhalb des Pyramidenfundaments!

Wenn Djedef hier gewesen wäre, hätte er mich zurückgehalten. Aber er hatte sich im Winter des zweiten Regierungsjahres von König Seneferu von mir verabschiedet. Sein Vater hatte eine Frau kennen gelernt und war mit ihr nach Mempi gegangen.

Wegen des Besuchs des Prinzen war die Plattform menschenleer, und ich nutzte meine Chance. Niemand bemerkte mich, als ich wenige Augenblicke später ebenfalls im Tunnel verschwand und dem Fackelschein vor mir ins Innere der Pyramide folgte. Ich hatte Angst, entdeckt und geschlagen zu werden, aber meine Neugier war größer als meine Furcht.

Der schmale und niedrige Gang führte steil bergab, tief ins Innere der Pyramide. Während der ersten hundert Schritte bestanden die Wände aus den behauenen Blöcken der äußeren Pyramide. Dann änderten sich der Zuschnitt und die Polierung der Steinquader. Nach weiteren hundert Schritten hörten die behauenen Quader völlig auf, und der Boden, die Wände und die Decke des Ganges waren glatt geschliffener Sandstein: Der Gang war an dieser Stelle direkt aus dem Fels geschlagen worden.

Immer wieder richtete ich meinen Blick auf den Prinzen Nefermaat, der vor mir durch den engen Gang kroch. Die Fackel warf einen düsteren Lichtschein bis zu mir herüber. Dann machte der endlose Grabschacht einen leichten Knick in die Waagerechte, hinter dem die beiden verschwanden.

Ich folgte ihnen bis zu einem kleinen Raum, kaum größer als eine Nische, der von oben durch das flackernde Licht einer Fackel erleuchtet wurde.

Ein Seil und eine Winde!

Dort oben war die Grabkammer des Königs.

Unschlüssig blieb ich stehen.

Der Wesir und sein Bauleiter begannen nach ihrer kurzen Besichtigung der Grabkammer, sich wieder in den Gang abzuseilen.

Was nun?

Sollte ich vor den beiden hinaufsteigen und damit im Gegenlicht und im Schein der Fackel deutlich sichtbar sein? Oder sollte ich die beiden Männer passieren lassen, um hinter ihnen die Oberfläche zu erreichen? Aber wo konnte ich mich denn verstecken? Zwei oder drei Schritte hinter mir war eine schmale Nische, mehr ein Mauervorsprung, der wohl durch ungenaue Messungen bei der Ausschachtung des Grabganges entstanden war.

Ich huschte in den tiefen Schatten der Nische.

Gerade noch rechtzeitig!

Der Wesir und sein Bauleiter schritten in gebückter Haltung an mir vorbei die steile Rampe hinauf zum Licht.

Ich presste mich gegen die kalte Wand und hielt den Atem an.

Wenn einer der Männer stehen blieb und sich umblickte, würde er mich im Schein der Fackel entdecken!

Erst als sie das Plateau erreicht hatten, wagte ich mich aus meinem Versteck und rannte den Gang entlang.

Den Eingang des Grabtunnels bewachten Schwertträger, die mir den Fluchtweg versperrten.

Verdammt, damit hätte ich rechnen müssen!

Aber besser zwei oder drei Wächter, deren Aufmerksamkeit irgendwann nachließ, als der schwere Rollstein vor dem Eingang, der mein sicherer Tod gewesen wäre. Also nahm ich geduldig das Schicksal hin, an dem ich selbst schuld war.

Aus der Finsternis des Stollens heraus sah ich Prinz Nefermaat seine Sänfte besteigen und mit seinem Gefolge die Baustelle verlassen. Die Besichtigung des Vorstehers aller Bauarbeiten des Königs war beendet. Aber wenn ich erwartet hatte, dass sich die Bewaffneten nun vom Eingang des Grabschachtes zurückziehen würden, hatte ich mich getäuscht.

Stunden später ging die Sonne unter. Ein Signal ertönte, und die Arbeiter ließen die Schleppseile fallen, wo sie gerade standen, und machten sich auf zur Essensausgabe am Flussufer. Als der letzte Arbeiter seine Ration an frisch gebackenem Brot erhalten hatte, seinen Krug mit süßem Bier gefüllt und sich in seine Hütte zurückgezogen hatte, war es bereits dunkel geworden. Ich dachte an meinen Vater und dass er mich vermissen würde. Ob er mit dem Essen warten würde? Ob er mich suchen oder die Lageraufsicht verständigen würde? Ich richtete mich auf eine lange Nacht im Grabschacht ein und beobachtete die Wächter.

Sie saßen auf der Plattform vor dem Gang, hatten einige Schritte entfernt ein kleines Feuer entzündet und vergnügten sich mit Wein und Essen. Als die drei Wächter die leeren Schüsseln am Rand der Plattform nahe der Baurampe abgestellt hatten, kreiste der Weinschlauch. Sie machten sich nicht die Mühe, den Dattelwein in ihre Becher umzufüllen, sondern ließen ihn unter großem Gelächter direkt in ihre Kehle laufen.

Das war meine Chance! Wenn sie so betrunken waren, dass sie einschliefen, konnte ich an ihnen vorbei nach Hause laufen. Geduldig lehnte ich mich gegen die Wand des Grabschachtes und wartete ab.

Der Mondgott Chons stand schon hoch am Himmel, als einer der Männer auf seiner Binsenmatte eingeschlafen war. Die beiden anderen unterhielten sich, als eine junge Frau die steile Baurampe heraufkam und das Geschirr einsammelte, um es zu waschen. Die Männer winkten sie ausgelassen lachend heran, doch sie ignorierte sie, drehte sich um und wollte wieder hinuntersteigen. Da sprangen beide auf und liefen zu ihr hinüber, um sie zu beschwatzen, einen Schluck Dattelwein mit ihnen zu trinken.

Die junge Frau, deren Gesicht ich in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, folgte ihnen bis ans Feuer, setzte sich mit dem Rücken zu mir und ließ sich von den Soldaten einschenken. Einer strich ihr über das lange Haar und das Gesicht, betatschte mit der einen Hand gierig ihre schwellenden Brüste und schob schließlich die andere zwischen ihre Schenkel. Dass sie ihn gewähren ließ, schien ihn zu erregen, denn er küsste sie, indem er erst seine Nase an ihrer rieb und dann seine Lippen auf ihre senkte.

Das hatte ich noch nie gesehen! Verblüfft sah ich den beiden zu.

Das Küssen mit den Lippen musste ein fremdländischer Brauch sein, denn im Land Kemet war nur das Nasenreiben üblich als Ausdruck höchster Wertschätzung.

Aus einem Leinensäckchen zog er einen Kupferbarren hervor. Sie schüttelte den Kopf, erhob sich und wollte wieder gehen. Der Mann zerrte hastig einen weiteren Barren hervor und hielt ihn ihr hin. Als die Frau nach beiden Barren griff, lachten die Männer voller Vorfreude.

Schwankend erhob er sich und zerrte die junge Frau zum Eingang des Grabschachtes.

Nein!, dachte ich entsetzt: Nicht hier!

Ich zog mich in die Dunkelheit zurück.

Sie ließ ihr Kleid über die Schultern gleiten, breitete es auf dem Steinboden des Gangs aus und legte sich nieder. Sie zog den Betrunkenen zu sich herunter und begann, ihn mit ihren Händen und Lippen zu erregen. Ihre Hand glitt unter seinen Lendenschurz und umfasste seine Männlichkeit. Er lehnte sich zurück und seufzte lustvoll.

Ich kauerte einige Schritte entfernt in der Finsternis und beobachtete die beiden.

Dann verlangte er von ihr, vor ihm zu knien. Sie drehte sich um und reckte ihm auf Ellenbogen und Knien ihr Hinterteil entgegen. In diesem Augenblick sah sie mich, und ich erkannte sie. Satamun war überrascht und zuckte zusammen. Der Mann, der hinter ihr kniete, lachte selbstgefällig: »Hast du Angst vor seiner Größe?«

Dann stieß er brutal in sie hinein und genoss stöhnend seine Wollust. Seine Bewegungen wurden schneller, er beugte sich über ihren Rücken und hielt sich an ihren Schultern fest, während er keuchend vor Lust sein Min in sie hineinstieß. Dann seufzte er und ließ von ihr ab.

Satamun wandte die ganze Zeit ihren Blick nicht von mir.

»Bist du endlich fertig mit ihr?«, hörte ich den anderen ungeduldig rufen. »Ich will sie auch!«

Immer noch schwer atmend erhob sich der Mann, schob den verrutschten Lendenschurz zurecht und verließ den Grabgang. Satamun gab mir ein Zeichen, in der Dunkelheit abzuwarten.

Dann betrat der zweite Mann den engen Gang. Im Feuerschein sah ich die Wölbung unter seinem Leinenschurz. »Ich hoffe, deine Dienstleistung ist einen ganzen Kupferbarren wert, Satamun.«

»Das darfst du selbst entscheiden, mein tapferer Krieger.«

Er legte sich auf ihr ausgebreitetes Kleid, und sie kniete sich auf seine Schenkel und strich ihm mit beiden Händen über Brust und Bauch. Dann setzte sie sich zurecht und ließ sein aufgerichtetes Min in sich hineingleiten.

Er seufzte, umfasste ihre Schenkel und zog sie ganz nah an sich heran, um gierig ihre Brüste zu küssen. Dann begann Satamun, sich auf ihm zu bewegen, erst langsam, dann immer schneller. Als sie sich schließlich über ihn beugte, um ihn auf die Lippen zu küssen, gab sie mir ein Zeichen: Jetzt!

Lautlos schlich ich an den beiden vorbei. Satamun küsste seine Lippen, sodass er mich nicht bemerken konnte. Dann hatte ich es geschafft!

Ich trat in den hellen Feuerschein und rannte los, quer über die Plattform und die Baurampe hinunter. Ich lief, so schnell ich konnte.

»Willst du mir für gestern Abend danken? Weil ich dir das Leben gerettet habe?«, fragte mich Satamun, als ich mich am nächsten Morgen in der Bäckerei eingefunden hatte. »Du brauchst mir nicht zu danken, Nefrit.«

Satamun beugte sich über den Knettisch, zerteilte mit beiden Händen den Teig und formte daraus kleine Kugeln, die sie über den gesamten eingemehlten Tisch verteilte.

»Du hast gestern sehr viel Kupfer erhalten.«

»Ich habe Glück, den Preis selbst festsetzen zu können.«

»Wie hoch ist der Preis denn üblicherweise?«

Satamun lachte und wischte sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ohne mit der Arbeit aufzuhören. Weißes Mehl bestäubte ihre schweißnasse Stirn. »Du willst immer alles ganz genau wissen! Der Preis für eine Nacht mit einer Liebesdienerin ist ungefähr zehnmal niedriger.«

»Wie kann man für die gleiche Dienstleistung unterschiedliche Bezahlung verlangen?«

»Angebot und Nachfrage«, erläuterte Satamun. »Du musst dich wertvoll machen, Nefrit. Du musst den Menschen etwas bieten, was sie haben wollen. Und wenn sie es nicht wollen, musst du sie dazu bringen, danach zu verlangen.«

»Wertvoll? Was ist der Wert eines Menschen?«

Satamun sah mich nicht an, während sie die anderen Brotlaibe flach klopfte und dabei eine Wolke von Mehl aufwirbelte. »Das liegt am Menschen selbst. Der Wert eines Menschen berechnet sich über das Kupfer, das er für seine Dienstleistung erhält. Ein Vorarbeiter verdient mehr als ein guter Steinmetz, der wiederum verdient mehr als ein Steinbrucharbeiter und ein Steinschlepper. Der Bauleiter wird mit Goldbarren entlohnt.«

Ich nahm einen der Brotfladen in die Hand und formte eine Pyramide daraus. »Ist deine Arbeit wertvoll, Satamun?«

Satamun lachte. »Ja, sie ist sogar sehr wertvoll, denn die Wächter sind wichtige Leute hier auf der Baustelle. Man muss sich gut mit ihnen verstehen. Weil sie gut verdienen, zahlen sie gut. Außerdem bringt mir die Arbeit Spaß.«

Ich sah in ihr verschwitztes Gesicht. »Bringt dir das Brotbacken keinen Spaß?«

»Ehrlich gesagt: nein. Ich stehe hier den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis nach Sonnenuntergang in der Hitze des Kohlefeuers und knete und backe hunderte von Broten am Tag. Dazwischen schleppe ich Säcke mit Mehl, die schwerer sind als ich selbst. Ich hole Wasser vom Fluss. Und ich erhalte dafür im Mond nur einen halben Kupferbarren. Meinst du, dass das Spaß macht?«

Satamun hielt die Hand auf, und ich legte die Pyramide aus Teig hinein. Sie legte sie vorsichtig auf den Tisch, schlug sie aber nicht flach.

»Warum hörst du nicht auf damit?«, fragte ich.

»Von irgendetwas muss ich doch leben.«

»Und wenn du nur das andere …«

»Nein, Nefrit. Ich bin doch keine Liebesdienerin!«, fuhr sie mich an.

»Aber wo ist der Unterschied …?«

Satamun legte einen Laib nach dem anderen in die Tonteller und bedeckte sie mit Hilfe von Holzzangen mit den im Feuer erhitzten Tondeckeln, um sie in den glühenden Kohlen zu vergraben.

»Das ist ein sehr großer Unterschied! Nefrit, was immer du im Leben tun wirst, bewahre dir immer deine Würde! Du musst immer handeln, als ob es völlig in Ordnung ist, was du auch tust. Sobald du dir eingestehst, dass es nicht in Ordnung ist, hast du verloren.«

Offensichtlich entscheidet der Mensch selbst darüber, wann er seine Würde verliert und wann nicht. Ich jedenfalls wollte das immer selbst entscheiden!

In meinem sechsten Lebensjahr hatte die Flut einen ungewöhnlich hohen Stand erreicht, höher als in den beiden Jahren zuvor. Das Wasser war um fast zwanzig Ellen gestiegen. Das versprach eine gute Ernte und Glück für das Land Kemet, jedoch Unglück für meinen Vater und für mich, denn unsere Schlammziegelhütte stand zu nahe am Ufer und wurde von den herandrängenden Fluten mitgerissen.

Das dritte Regierungsjahr des Seneferu war ein glückliches Jahr. Mehr Saisonarbeiter denn je kamen ins Lager. Aperire sprach von dreißigtausend Arbeitern, die alle gespeist, gekleidet und mit Unterkünften versorgt werden sollten.

»Es ist unglaublich viel zu tun, Nefrit. Ich sitze von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und manchmal noch im Schein der Öllampe. Meine vier Schreiber schaffen ihre Arbeit kaum«, lamentierte er, während er im Zelt umherhastete.

»Dann hast du keine Zeit, mir Bildzeichen beizubringen?«

»Du kennst alle Zeichen! Was dir fehlt, ist die Übung des Lesens.«

»Ich habe nichts zu lesen.«

Am nächsten Morgen wollte ich Aperire in seinem Zelt besuchen, aber er war nicht da. Ich fragte einen seiner Schreiber nach ihm, der vor dem Zelt Notizen von Tonscherben auf einen Papyrus übertrug.

»Aperire ist in der Residenz«, sagte der Schreiber, ohne aufzusehen.

»Was tut er dort?«, wollte ich wissen.

»Er hat zusammen mit Api eine Besprechung beim Wesir.«

»Was …«

»Hab Erbarmen, Nefrit!«, flehte er mich an. »Ich bin nur ein Schreiber der Verwaltung. Ich weiß nicht, was die beiden mit dem Prinzen zu besprechen haben!«

Zwei Tage später sah ich Aperire zufällig in der Nähe der Baurampe. Er winkte mich zu sich. »Ich habe eine Überraschung für dich, Nefrit«, sagte er geheimnisvoll. Die Überraschung für mich schien ihm ebenso viel Freude zu machen wie mir, denn er lächelte unentwegt, als ich ihm zu seinem Zelt folgte. Aperire hatte mir in den letzten Monden immer wieder Süßigkeiten und Früchte gegeben, die er aus seinen eigenen Rationen aufgespart hatte. Und so erwartete ich eine Hand voll Datteln oder Nüsse oder ein Rosinenbrot.

»Ich war in Pihuni«, sagte er und kramte in einer Truhe. »Dort gibt es eine Bibliothek.« Dann hatte Aperire gefunden, wonach er suchte. Er hielt mir eine Papyrusrolle hin. »Lies, Nefrit, lies!«

Ich wusste nicht, wie ich Aperire anders danken sollte: Ich umarmte ihn.

Die Rolle enthielt die Aufzeichnung eines der berühmtesten Forschungsreisenden von Kemet, Neferefre. Ich setzte mich mit dem Buch ans Ufer des Hapi und begann zu lesen, als hinge mein Leben davon ab. Neferefre hatte viele Reisen im ganzen Land Kemet unternommen. Bilder entstanden in meinem Kopf von Gegenden, von denen ich noch nie gehört hatte. Der sich im Hapi spiegelnde Tempel von Pibastet. Die im Sonnenuntergang glühenden Felsen des Sinai. Das wogende Schilfmeer, das das Land Kemet von den östlichen Fremdländern trennte.

Und das Meer, das Ziel meiner Sehnsucht!

»Es ist schön, über diese fremden Orte zu lesen«, gestand ich, als ich Aperire die Rolle zurückgab. »Aber ich würde diese Orte lieber sehen, als nur davon zu lesen.«

»Das, Nefrit, wird dir wohl nicht vergönnt sein!«, äußerte er mit Bedauern. Wie sehr er sich irren sollte!

Glücklicherweise musste Aperire wenige Wochen später erneut in die Residenz fahren. Ich glaube, er freute sich über die Art und Weise, mit der ich ihm bei seiner Rückkehr ungeduldig die Papyrusrollen aus der Hand riss, die er für mich in der Bibliothek entliehen hatte.

Lesend verbrachte ich die Zeit der Flut.

Während des Winters des dritten Regierungsjahres machte ich mich in Aperires Schreibzelt nützlich. Er hatte kleine Aufgaben für mich, die ich gewissenhaft erfüllte. Ich durfte Notizen von Tonscherben auf Papyrus übertragen und Dokumente kopieren. Stundenlang saß ich in Schreiberhaltung mit einer Unterlage auf den Knien vor seinem Zelt und schrieb, bis mir die Hand wehtat.

Eines Tages schickte er mich als Boten zu Api, dem ich eine Papyrusrolle überbringen sollte.

Ich lief hinüber zum Zelt des Königlichen Bauleiters, konnte Api aber nicht finden. Das Betreten des Bauleiterzeltes war verboten, das wusste ich seit dem ersten Jahr auf der Baustelle. Aber das Verbotene übte einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus.

Das große Zelt bestand aus weißem Leinen. Zeltbahnen unterteilten das Innere in verschiedene Räume. Apis Schreibtisch aus geschnitztem Ebenholz war mit Papyri, Tintensteinen, Tintenschalen und geschnittenen Schreibbinsen bedeckt. Auf der anderen Seite des abgeteilten Zeltraumes stand ein großer Tisch, auf dem die Baupläne für die Pyramide gezeichnet wurden.

Api fand mich vor den auf Papyrus gemalten Plänen der Pyramide. Mit dem Finger zog ich die geraden Linien nach. Er musste mich eine Weile beobachtet haben, dann sagte er: »Nicht anfassen!«

Ich fuhr zusammen. »Ich habe nichts angefasst. Ganz bestimmt nicht!«

»Was tust du hier? Du darfst die Pläne nicht ansehen. Sie sind geheim.«

»Wieso?«, wollte ich wissen.

»Niemand darf wissen, wie der König bestattet werden wird.«

Vorsorglich verschwieg ich ihm, dass ich bereits bis zur Grabkammer des Königs vorgedrungen war.

»Aperire schickt mich«, sagte ich. »Ich soll dir das hier geben.« Ich reichte Api die Papyrusrolle, und er gab mir ein Stück Kupfer.

In den nächsten Tagen sandte Aperire mich immer wieder als Boten zum Bauleiter. Als ich einmal in seinem Zelt eintraf, suchte Api nach einem seiner Gehilfen. Er sprang vom Schreibtisch auf und hastete durch das Zelt. Dabei stolperte er beinahe über mich. »Was willst du, Nefrit?«

»Ich soll dir diese Rolle von Aperire bringen.« Ich hielt ihm einen Papyrus hin. »Das ist die vollständige Aufstellung der Lagervorräte.«

Er entriss mir die Liste und warf sie auf seinen Schreibtisch. »Ich habe heute keine Zeit für dich, Nefrit. Ich muss dringend auf die oberste Plattform. Irgendetwas ist passiert. Wo steckt dieser verdammte …?«

»Wen suchst du?«

»Meinen Gehilfen. Er soll das Zelt bewachen, solange ich weg bin.«

»Das Zelt bewachen?«

»Das Zelt des Bauleiters mit den geheimen Plänen für das Grabmal des Königs darf niemals unbewacht sein. Das ist Gesetz!«

»Ich könnte doch …«

»Das kommt nicht in Frage.«

»Aber warum denn nicht? Ich habe doch sowieso schon alle Pläne gesehen«, wandte ich ein.

Er sah mich verwirrt an. »Das stimmt.« Er zögerte. »Gut, aber nur dieses eine Mal, Nefrit. Du lässt niemanden herein! Und du rührst dich nicht von der Stelle, bis ich wieder hier bin!«

Api hatte sehr schöne Schreibpinsel. Ich dachte mir, dass er vielleicht nichts dagegen hätte, wenn ich mir einen Pinsel auslieh und einen Bogen bemalte. Ich hatte nicht viel Gelegenheit, auf so schönem Papyrus zu schreiben. Auf seinem Tisch fand ich eine Schale mit roter Tinte sowie ein ellenlanges Lineal.

An seinem Schreibtisch zeichnete ich einen Plan der Pyramide. Zunächst kopierte ich mit Lineal und Winkelmesser den Bauplan, der an der Zeltwand hing. Dann malte ich auch das geheime Grabkammersystem und trug die Bemaßung am Rand der Skizze ein. Am Ende sah die Zeichnung sehr technisch aus, sodass ich neben meine Pyramide mit schwarzer Tinte noch die Hütten für die Arbeiter malte, die Bäckerei, die Schmiede und den Hafen. Gerade hatte ich mit blauer Tinte den Hapi auf den Papyrus gepinselt, als Api in das Zelt zurückkam.

Wie erstarrt blieb er stehen, als er mich mit dem Pinsel in der Hand über die Skizze gebeugt sah. »Nefrit! Bist du von deinem Ka verlassen?«, rief er entsetzt.

»Was ist, Api? Ich habe nichts getan!«

»Du hast einen wertvollen Bauplan zerstört! Wie soll ich das Prinz Nefermaat erklären? Der Plan war für ihn bestimmt!«

»Ich habe nur einen Papyrus genommen und zu malen begonnen …«, versuchte ich zu erklären, aber er ließ mich nicht ausreden:

»Der Papyrus, den du dir genommen hast, war ein Bauplan der Pyramide! «, brüllte er mich an.

»Das Blatt war leer!« Ich deutete auf die Zeltwand: »Das ist der Bauplan ...«, dann auf den Tisch: »... und das hier ist meine Zeichnung.«

Verwundert beugte er sich über mich und zog die Skizze zu sich heran. Immer wieder verglich er ihre exakten Linien mit denen des Bauplans an der Zeltwand. »Unglaublich präzise«, brummte er schließlich. »Wo hast du das gelernt?«

»Das Zeichnen hat mir niemand beigebracht. Aber Aperire hat sich sehr viel Mühe gegeben, bis ich die Bildzeichen gerade und ohne zu klecksen mit dem feinen Pinsel schreiben konnte.«

»Ich brauche einen Bauzeichner«, sagte er. »Nefrit, du bist eingestellt!«

Von Apis Rückkehr in den Tempel des Sonnengottes von Iunu erfuhr ich durch einen Brief, der im zweiten Mond des vierten Regierungsjahres des Seneferu von einem der Barkenkapitäne überbracht wurde.

Api war vom Hohepriester des Re zurückgerufen worden, weil er zum Propheten des Tempels ernannt worden war. Er zögerte nicht lange und gab mit Zustimmung des Wesirs Nefermaat seine Karriere als Königlicher Bauleiter auf, um in die Sonnenstadt Iunu zurückzukehren.

Er sollte durch einen neuen Bauleiter abgelöst werden – das hatte ich von Aperire erfahren. Doch niemand wusste, wann der Priester aus Iunu eintreffen würde. Auch nicht mein Vater, der als Aufseher der Steinverleger auf der obersten Plattform beinahe alles wusste, was auf der Baustelle geschah.

Die Arbeiten auf der Baustelle gingen auch ohne Api ihren gewohnten Gang. Das Chaos brach erst aus, als ein Bote aus der Residenz eintraf und den Besuch des Königs ankündigte. Aperire als ranghöchster Priester auf der Baustelle organisierte die Vorbereitungen für den Besuch.

Prinz Nefermaat traf am Nachmittag mit seiner Sänfte ein und erwartete seinen königlichen Bruder, der von einer Horusfahrt zurückkam. Die goldene Sonnenbarke legte am späten Nachmittag im Hafen an. Der Wesir empfing den König auf einem der Landungsstege, die mit Tüchern und Blumen geschmückt worden waren.

Prinz Nefermaat, der die Baustelle vor über einem Jahr zuletzt besucht hatte, zeigte König Seneferu die Steinbrüche, die Werkstätten der Steinmetze, die Baurampe sowie die Grabkammer unterhalb der Pyramide. Zum Schluss ließ sich der König mit einer Sänfte auf die oberste Plattform hinauftragen, von wo aus er bis zu seiner Hauptstadt hinübersehen konnte. Die Eskorte des Königs und seines Wesirs bestand aus hundert Würdenträgern, die ihre Zeit damit zu verbringen schienen, vor dem Göttlichen auf Knien zu rutschen und den Staub zu seinen Füßen zu küssen. Aperire kniete in angemessener Entfernung zum Herrscher.

Obwohl die Arbeiter die strenge Anweisung hatten, die Bauarbeiten durch die Anwesenheit des Königs nicht zu verzögern, kamen die Schlitten auf der Rampe zum Stehen und sogar teilweise ins Rutschen, weil die Arbeiter sich ihrem Herrscher zu Füßen warfen und auf eine kurze Segnung durch Seine Göttlichkeit hofften. Mein Vater und die anderen Aufseher hatten alle Hände voll zu tun, nach dem Abstieg des Königs von der obersten Plattform die Arbeiter wieder zum Steintransport anzutreiben. Die bereits gebrochenen Steine sollten an diesem Tag noch verlegt werden, um ein Chaos auf der Baustelle zu vermeiden, und so wurde die Arbeit bis in die späten Abendstunden angeordnet. Nach der Abendmahlzeit ging sie im Schein von Fackeln weiter.

In der Stunde des Sonnenuntergangs hatte sich der König vom Wesir die Pläne für sein Grabmal zeigen lassen. In einigen der Pläne hatte der Göttliche mit roter Tinte Änderungen vorgenommen.

Aperire fand mich nach Einbruch der Dunkelheit. Ich saß vor dem Zelt des Bauleiters und sah die Fackelzüge der Steinschlepper die unbeleuchtete Baurampe hinaufkriechen. Es war ein fantastischer Anblick! Tausende von Glühwürmchen bewegten sich von den Steinmetzwerkstätten hinüber zur Rampe, von dort hinauf auf die oberste Plattform, die ganz mit Fackeln ausgeleuchtet war.

»Glaubst du, dass Seneferu diesen außergewöhnlichen Anblick auch nur eines Blickes würdigen wird?«, fragte ich den Sonnenpriester.

»Ich glaube nicht, Nefrit. Der Göttliche speist mit seinem Bruder zu Abend. Morgen Früh wird er in die Residenz aufbrechen. Die Familie des Königs ist schon in den Palast zurückgekehrt.«

»Hast du die geänderten Pläne?«

»Ein königlicher Sekretär hat sie mir eben überreicht. Übertrage die Veränderungen in die Pläne der Bauleitung! Die neuen Bauzeichnungen müssen morgen Früh fertig sein!«

Mit einem feinen Pinsel zeichnete ich am Schreibtisch des Bauleiters das Fundament der Pyramide auf den Papyrus. Den korrekten Neigungswinkel maß ich mit einem Winkelmesser nach. Dann trug ich mit einem Lineal die neuen Maße ein.

Ganz in meine Arbeit versunken, schreckte ich auf, als jemand das Zelt betrat.

»Du darfst hier nicht hereinkommen!«, rief ich und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit.

Der Mann am Eingang rührte sich nicht. Im flackernden Schein der Öllampe konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.

»Bitte geh!«, bat ich ihn. »Sonst bekomme ich Ärger!«

Vom Zelteingang hörte ich ein leises Lachen. »Du wirst keinen Ärger bekommen.« Mit einem Weinbecher in der Hand kam er näher und sah sich die Pläne der Pyramide an.

»Diese Pläne darf niemand außer dem Königlichen Bauleiter sehen!«, wies ich ihn zurecht. »Sie sind geheim!«

»Ich darf sie sehen.«

»Wer bist du? Der neue Bauleiter?«

Er trat in den Lichtschein meiner Öllampe. Er trug einen weißen, vielfach gefältelten Leinenschurz, einen breiten Halsschmuck aus Lapislazuli und Silber und an den Füßen weiße Sandalen. Seine langen Haare, die ihm bis auf die breiten Schultern fielen, trug er offen. Den Kinnbart aus Türkis hatte er abgenommen.

»Ich bin Seneferu«, stellte er sich mit einem leisen Lächeln vor. Er sagte nicht: Ich bin der Herr der Weltordnung, dein König und Gott.

Erschrocken ließ ich meinen Pinsel fallen, der auf dem Papyrus einen schwarzen Tintenfleck hinterließ. Ich starrte Seneferu an, bis ich mir der unverzeihlichen Lästerung Seiner Majestät bewusst wurde. Dann warf ich mich auf den Boden und drückte die Nase in den Sand zu seinen Füßen. »Ich bitte Eure Majestät um Vergebung!«, murmelte ich in den Sand.

»Gewährt! Du kannst dich erheben.«

Den Blick zu Boden gewendet, richtete ich mich kniend auf.

Seneferu ging im Zelt auf und ab und betrachtete die Pläne der Pyramide, die ich in den letzten Wochen gezeichnet hatte. »Wo sind die Pläne, die ich heute geändert habe?«

»Auf dem Schreibtisch«, sagte ich und wollte mich erheben.

»Zeig sie mir!«, befahl er.

Ich erhob mich, und er folgte mir. Ich setzte mich in Schreiberposition vor den Schreibtisch und zeigte ihm den Plan, an dem ich gearbeitet hatte, als er eintrat. Oberhalb der Skizze der Grabkammer hatte sich eine Lache aus Tinte gebildet. Doch die neue Form der äußeren Pyramide war noch deutlich zu erkennen.

Er beugte sich über den Plan. Dann setzte er sich in Schreiberposition neben mich. »Pinsel und Tinte!«, befahl er.

Ich reichte ihm meinen zu Boden gefallenen Pinsel und die Tintenschale, und er begann den Plan zu ändern. Ich saß neben ihm auf dem Boden und betrachtete fasziniert, wie seine Hände geschickt den Pinsel führten. Er verbreiterte die Pyramidenbasis um weitere fünfzig Schritte und erhöhte so den Neigungswinkel bis zur Pyramidenspitze, die nun Djosers Pyramide um vierzig königliche Ellen überragen sollte.

Dann zeigte er mir den Plan. »Bist du einverstanden?«

»Euer Majestät, ich …«

»Wie heißt du?«, unterbrach er mich.

»Nefrit, Euer Majestät.«

»Du solltest lernen, deine Meinung offen zu sagen, Nefrit. Auch gegenüber dem König. Wenn ich etwas hasse, dann ist es ungerechtfertigte Schmeichelei meiner Person.«

»Ja, Euer Majestät. Die Linien sind nicht gerade. Und der Winkel ist zu steil.«

Seneferu sah mich erst ungläubig an, doch dann begann er herzlich zu lachen. »So spricht nicht einmal mein Bruder Nefermaat mit mir! Und er ist der höchste Beamte in meinem Staat.«

»Ich bitte um Vergebung«, murmelte ich, ohne ihn anzusehen.

»Wie heißt dein Vater, Nefrit?«

»Kamose, Euer Majestät.«

»Dann sag dem Bauleiter Kamose, der König wünscht die Pyramide größer als besprochen. Er soll die neuen Neigungswinkel und Ellenmaße in seine Berechnungen mit einbeziehen.«

Bevor ich das Missverständnis aufklären konnte, dass ich nicht die Tochter des neuen Bauleiters war, hatte sich der Lebendige Gott erhoben und ich meine Nase in den Sand gedrückt. Dann war er verschwunden.

Mein Versäumnis verursachte am nächsten Morgen eine große Verwirrung. Der König wollte vor seiner Abreise in die Residenz die neuen Pläne sehen und genehmigen. Aber von einem Bauleiter namens Kamose hatte sein Stab noch nie gehört. Ich hörte den Wutausbruch des Herrschers im Zelt des Bauleiters: »Was heißt das: Es gibt keinen Kamose?«

Das Wort des Lebendigen Gottes war Gesetz, und so machte man sich auf die Suche nach einem Mann namens Kamose, den man dem König vorführen konnte.

Ich rannte zu Aperire, der zunächst keine Zeit für mich hatte. Aber ich redete so lange auf ihn ein, bis er mir mit wachsender Aufmerksamkeit zuhörte. »Beim Sonnengott Re! Bist du von deinem Ka verlassen, Nefrit? Königlicher Bauleiter Kamose!«

Ohne lange zu überlegen, befahl er mir, meinen Vater von der Baustelle zu holen. Ich stürmte los und lief die steile Rampe hinauf. Irgendwo dort oben überwachte mein Vater die Schleppdienste und die Positionierung der Steinquader an der stromabwärts gelegenen Seite der Pyramide. Er half gerade zehn Arbeitern beim Abladen eines besonders großen Steinquaders von einem der Transportschlitten.

Wenn ich ihn störte, würde ich einen Stau auf der Rampe verursachen, aber ich hatte keine Wahl. »Vater!«

»Nefrit, bei allen Göttern! Was tust du hier? Verschwinde!«

»Es ist wirklich dringend! Ich muss mit dir sprechen!«

»Was ist denn los? Ich kann jetzt nicht …!«

»Der König will dich sehen!«

»Hast du zu lange in der Sonne gestanden, Nefrit?«

Ich zog ihn auf die Seite, sodass uns niemand hören konnte. Die Arbeiten am Schlitten wurden eingestellt, und die Arbeiter sahen uns zu, während wir diskutierten. Ich erklärte ihm, was am Vorabend geschehen war, und erläuterte in wenigen Worten seine Aufgabe: für kurze Zeit Bauleiter Kamose zu sein.

»Das ist Wahnsinn! Wo ist denn der neue Bauleiter Hemset?«

»Er ist noch nicht auf der Baustelle.«

»Bei der Göttin Maat! Das kann ich nicht tun! Wenn das rauskommt … Wir werden alle hingerichtet.«

»Du hast keine Wahl, Vater! Wenn du nicht mitkommst, wird der König zornig sein.« Ich zögerte. »Eigentlich ist er es jetzt schon.«

Die letzte Andeutung beschleunigte meines Vaters Schritte die Rampe hinunter. Wir liefen an etlichen Schlitten vorbei, die zum Halten gekommen waren. Neugierige Blicke folgten uns bis zum Bauleiterzelt.

Als wir vor dem Zelt ankamen, erwartete uns Aperire. »Viel Glück!«, flüsterte er Kamose zu. »Er erwartet dich.«

Gleich hinter dem Eingang warf sich mein Vater demütig auf den Boden.

Der Herrscher stand mit Prinz Nefermaat am Zeichentisch und hielt einen der Pläne in der Hand. Als wir eintraten, drehte er sich um und betrachtete meinen Vater, der auf der geflochtenen Schilfmatte vor ihm auf Knien lag. Sein zweiter Blick galt mir. »Bist du Kamose?«, fragte er meinen Vater.

»Ja, Euer Majestät.«

»Du hast mich lange warten lassen!«

»Ich war auf der obersten Plattform der Pyramide, Euer Majestät.«

Die Antwort schien den König zu besänftigen. »Du überwachst die Arbeiten vor Ort? Das ist lobenswert. Was ist mit den neuen Plänen? Warum sind sie nicht fertig?«

»Euer Majestät, ich … hatte noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen …«

»Noch keine Gelegenheit?«, fragte der König. »Wann gedachtest du denn, meine Änderungen auf der Baustelle umzusetzen? Nächstes Jahr?«

»Nein, natürlich nicht … Aber wir haben bis spät nachts …«

»Ich wünsche, dass du die Berechnungen jetzt gleich durchführst. In meiner Anwesenheit. Ich will vor meiner Abreise wissen, ob die neuen Maße und Winkel umgesetzt werden können.«

Ich sackte in mich zusammen. Wie hatte ich nur den Fehler begehen können, meinen Vater in diese Situation zu bringen?

Mein Vater erhob sich und ging hinüber zum Tisch, an dem der Herrscher mit dem Wesir stand. Er warf einen langen Blick auf die neuen Pläne, die ich zu zeichnen begonnen hatte, als der König mit wenigen Pinselstrichen die Arbeit eines Abends zunichte machte. »Die neue Pyramide ist fast doppelt so groß!«, rief er entsetzt.

»Gibt es da Schwierigkeiten?«, fragte Prinz Nefermaat erstaunt. Er war Widerspruch offensichtlich nicht gewohnt.

Mein Vater zögerte.

»Sag mir die Wahrheit, Bauleiter! Sind meine Pläne zu ehrgeizig?«, fragte der König.

»Im Namen der Maat: Ja, Euer Majestät ...«

Der Herrscher sah meinen Vater schweigend an. Er wartete den Rest der Antwort ab. Mein Vater war schon zu weit gegangen, um sich jetzt noch aus der Affäre ziehen zu können.

»Diese Baupläne zeigen eine Schale mit einer glatten Außenseite über der achtstufigen Zentralpyramide. Dabei wird die bestehende Basislänge um fünfzig Ellen auf dreihundert Ellen erweitert. Die neue Basis der Pyramide verschlingt sehr viel Steinmaterial, mehr, als wir in der Kernpyramide bisher verbaut haben. Die Steinbrüche haben nicht mehr so viel Material, um die Pyramide in dieser Größe vollenden zu können. Der Sandboden des Plateaus, auf dem die Pyramide erbaut ist, trägt möglicherweise das gesamte Gewicht des vergrößerten Bauwerkes nicht. Und, was noch dazukommt …« Mein Vater betrachtete den Plan und legte den auf dem Tisch liegenden Winkelmesser an. »Der Neigungswinkel der Schrägen ist zu steil. Die Pyramide wird in dieser Form einstürzen.«

Prinz Nefermaat schüttelte den Kopf. Der König sah meinen Vater zweifelnd an: »Einstürzen?«

Nun war mein Vater in seinem Element. Er beachtete den Göttlichen gar nicht mehr und gab sich seinen Skizzen hin. »Eine Pyramide kann entweder in einem Verhältnis drei zu eins oder vier zu eins erbaut werden. Die ursprüngliche Planung sah den flacheren Neigungswinkel vor, Eure Skizze hier nähert sich vier zu eins an und ist damit zu steil.«

Der Lebendige Gott wartete auf weitere Erläuterungen.

Mein Vater zog einen neuen Papyrus hervor. Zwischen den Plänen suchte er nach einem Pinsel. Während Kamose noch die Papyri durchwühlte, ging Nefermaat zum Schreibtisch, holte eine Schreibbinse und reichte sie meinem Vater. Der tauchte den Pinsel in die Tintenschale und malte ein großes gleichschenkeliges Dreieck auf den Papyrus.

»Die Höhe einer Pyramide bemisst sich in königlichen Ellen. Zur Vermessung der Pyramidenbasis können wir keine Ellen nehmen, da ein Seil von beliebiger Länge entweder durchhängt oder reißt. Wir haben daher das Ellenmaß auf eine hölzerne Trommel übertragen. Diese Trommel wird entlang des Fundamentes gerollt. So stellen wir sicher, dass das Ellenmaß immer gleich lang ist. Der Neigungswinkel der Pyramide ergibt sich aus dem Verhältnis ihrer Höhe zu der Zahl der Rollellen vom Zentrum der Pyramide bis zu den Seiten. Das hier ist eine Pyramide im Verhältnis drei zu eins.« Dann malte er daneben ein anderes Dreieck. »Und das hier ist eine Pyramide im Verhältnis vier zu eins. Die Neigung der Seiten ist viel steiler, die Pyramide ist bei gleicher Basis viel höher, die Seitenflächen sind viel länger und benötigen mehr glatte Abdecksteine.« Dann malte mein Vater mit dem Pinsel Pfeile in beide Dreiecke, in das größere mehr als in das kleinere. »Das hier sind die Kräfte, die auf die Pyramide wirken.«

»Kräfte?« Der König hob die Augenbrauen.

»Jeder Stein drückt mit seinem Gewicht auf alle darunter liegenden Quader. Bei dieser flacheren Pyramide werden hundertzwanzig Steinlagen verlegt. Die Kraft wirkt aber nicht senkrecht nach unten, sondern nach außen: Die Pyramide droht zu zerspringen, ja: einzustürzen. Um das zu verhindern, werden die Steinlagen leicht nach innen geneigt verlegt.« Mein Vater sah dem König ins Gesicht, ob er verstanden hatte, doch Seneferus Blick ruhte auf den beiden Skizzen. Dann fuhr er fort: »In der steileren Pyramide sind wesentlich mehr Steinquader verbaut. Solch eine hohe Pyramide hat mehr als hundertzwanzig Steinlagen – vielleicht hundertfünfzig oder noch mehr. Das bedeutet, dass der Druck auf alle darunter liegenden Steine viel höher ist als bei der Pyramide mit dem flacheren Neigungswinkel. Bei der gewünschten Neigung wird der Druck die Steine an der Peripherie regelrecht aus der Pyramide herausschleudern. Die Verschalung wird nicht halten, und die Pyramide wird einstürzen. Vermutlich wird nur der Zentralkern stehen bleiben.«

»Das ist Unsinn! Meinen Berechnungen zufolge hält die Pyramide den Druck von vier zu eins leicht aus«, warf Prinz Nefermaat ein. »Ich bitte Euch, Majestät! Kamose scheint keine Ahnung zu haben.«

Der König blickte vom Plan auf und sah von einem zu anderen. »Nur einer von euch beiden kann Recht haben. Wird die Pyramide bei diesem Neigungswinkel einstürzen oder nicht?«

»Sie wird«, antwortete mein Vater und sah den König dabei an.

»Sie wird nicht«, tobte Prinz Nefermaat.

»Ich befehle, dass ihr beide eure Berechnungen unabhängig voneinander durchführt und mir morgen in der Residenz vorlegt.«

Prinz Nefermaat verbeugte sich vor seinem Bruder, und mein Vater warf sich in den Staub.

Der Netjer begab sich zum Ausgang des Zeltes. »Ich bin sehr zufrieden mit dem Baufortschritt, Kamose. Ich bestätige dich in deinem Amt des Königlichen Bauleiters.« Damit verließ er das Zelt.

Als Prinz Nefermaat an meinem Vater vorbeiging, fauchte er: »Widersprich mir nie wieder, Kamose! Oder deine Karriere ist beendet!«

Wie sollte der Wesir denn ahnen, dass sie gerade erst begonnen hatte?

Die Herrin der Pyramiden

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