Читать книгу Augustes Rosen - Barbara Kreuter - Страница 4

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Vorsehung

Ich durfte mich niederlegen,

musste allerdings meine Gedanken

nun auch himmelwärts schicken.

Körper ohne Gedanken

sind der Starre preisgegeben.

Der Tod ist sicher, nur die Stunde ist ungewiss.

Das Jahr war ihm bekannt. Wilhelm Lenz befand sich seit kurzem in dem Lebensjahr, das sein Sterbejahr sein sollte. Er fühlte sich nicht krank, war nicht ängstlich. Er beschäftigte sich auch nicht täglich mit dem Gedanken, traf jedoch Vorkehrungen. Ein paar Sachen sollten nach seinem Ableben mit seinem Einverständnis geschehen, der letzte Wille als Wille durchdacht dokumentiert sein.

Und dann kam der Tod. Nicht mit Blumenduft im Reisegepäck und alle andere Möglichkeiten ausschließend. Ganz einfach, schlicht, würde der Tod sagen. Bei einer Tetanusspritze machte sein Herz einen Sprung. Den Sprung ins Aus.

Tetanusspritzen sind harmlos, aber nicht, wenn sie zum vorbestimmten Zeitpunkt des Todes gegeben werden. Dies ist das Problem der Spritze, nicht des Todes.

Eines hatte sich Wilhelm Lenz vom Schicksal gewünscht - er wollte, wo auch immer, in adäquater Umgebung sterben.

In diesem Punkt war der Tod dann doch nachsichtig. Der Arzt wollte ihn privat besuchen und schlug vor, ihm die Spritze daheim zu geben. So starb Wilhelm Lenz im eigenen Haus mit Blick auf seinen wunderschönen Garten.

Demokratie beginnt beim Tod, er macht sie alle gleich.

Demokratie endet beim Tod, er verweigert uns den freien Willen, ihm zu folgen oder nicht.


Wilma bog in das Parkgelände vor dem Friedhof ein. Sie stellte fest, sie hatte die Blumen vergessen. Gelbe Rosen hatte sie gekauft, und zu Hause am Tisch liegenlassen. Ohne viel Grün. Nur kleine Rosen, kurz geschnitten. Onkel Wilhelm hatte immer einen Strauß haben wollen, kein Gesteck. Hohe, schmale Vasen waren ihm zu unsicher. Sie haben keine Plattform, hatte er ihr einmal erklärt. Seitdem kam ihr jede schlanke, hohe Vase verdächtig vor. Als Vase, die Formschönheit blieb für sie erhalten.

Sie befürchtete, keinen Parkplatz zu finden. Mit Erleichterung sah sie in der letzten Reihe eine Lücke, und fuhr darauf zu. Sie bemerkte, die anderen Trauergäste waren auch erst aus dem Auto gestiegen, um sich auf den Weg zur Friedhofskirche zu machen.

Ohne jemand näher anzusehen, mischte Wilma sich unter die Menschen. Auf Beerdigung war sie noch nicht richtig eingestimmt. Sie hörte die letzten Klänge der Kirchenglocke. Friedhofsglocken hatten für sie immer so einen spärlichen Klang. Es lag wohl daran, dass die Kirchen kleiner, die Türme nicht so hoch, und selbstredend die Glocken nicht so groß waren. Sie erinnerte sich, sie war erst vor kurzem von jemand darauf hingewiesen worden, dass die Totenglocken in großen Kirchen auch unverwechselbar klangen. Sie wären höher eingestimmt.

Abschied von Onkel Wilhelm - so schnell und völlig unerwartet hatte niemand daran gedacht. Beerdigungen sind nur Formsache. Abschied ist, aus den Gedanken verlieren. Sie konnte sich im Augenblick nicht erinnern, wer es gesagt hatte. Sie meinte, dass Abschiede oftmals Formsache seien, und eine Beerdigung letzten Endes doch ein Abschied für immer ist. Dieses Nachher und Wiedertreffen - es war nicht zu beweisen. Und selbst wenn man daran glaubte, es dauerte so lange, bis zum nächsten Leben. Man erkannte sich dann nicht wieder. Wusste nicht, dass da ein Mensch ist, den man vielleicht einmal geliebt hatte. Wenn es eine Wiedergeburt überhaupt gab. Ein Vergleich gefiel ihr, Seelen, die sich schon mal begegnet waren, würden sich zärtlich berühren, wie mit den Fingerspitzen streicheln. Fingerspuren der Seele. Ob es so etwas tatsächlich gab? Den Seelen würde es dabei gut gehen. Liebe? Liebe der Seelen, die Körper suchen?

Sie schaute auf die dunkelgekleideten Menschen und stellte fest, ein Großteil von ihnen hielt einen kleinen Blumenstrauß in den Händen. Sie dachte an ihre Rosen. Ein paar der Männer hatten drei Rosen bei sich. Drei Rosen, lose, nicht mit Grün zu einem Strauß gebunden. Wilma wunderte sich darüber, etwas sehr schlicht. Sie sah sich um, bemerkte, dass mehrere Männer das gleiche Arrangement gewählt hatten. Nur Männer, keine Frauen. Es war immer eine weiße, rosa und dunkelrote Rose.

Der Rosen Duft verflüchtigt sich in der Vase – stündlich.

Ein junger Mann, der den Weg, der von rechts auf den Hauptweg einbog, hastig entlangkam, hatte auch Rosen in der Hand. Wilma sah es, als er ein paar Schritte neben ihr lief. Er trug einen schwarzen Popelinmantel und knöpfte ihn erst jetzt beim langsameren Gehen zu. Er war ihr in der Menge der Menschen aufgefallen. Sie hatte sich für einen Augenblick umgedreht und ihn kommen sehen. Er hatte beim schnellen Laufen, mit dem offenen dunklen Mantel, wie ein Rabenvogel, der mit schlagenden Flügeln Anlauf nimmt, ausgesehen. Jetzt, da er in normalem Schrittempo neben ihr ging, kam er ihr gutaussehend vor. Für diesen kurzen Augenblick beobachtete sie ihn von der Seite. Er schien niemand zu beachten. Wilma liebte Raben. Krähen, wie immer sie auch genau zu bezeichnen waren. Ihren Start, ihre Landung. Wenn sie sich mit ausgebreiteten Flügeln sonnten. Wie es Amseln auch unglaublich lange tun. Bei den Raben sah es imposanter aus. Raben gehörten hier nicht her. Es fehlte noch, dass ein paar Krähen herumfliegen würden. Es würde als schlechtes Omen gedeutet werden.

Und doch war einer explizit unter ihnen, der dem Toten als nächster folgen würde. Es wird für ihn gebetet.

Die Großzügigkeit des Todes ist es, dass er ein Geheimnis um sein Kommen macht.

Sie spürte ein leichtes Kribbeln um den Magen. Sie kannte so etwas nicht. Mutter hatte ihr manchmal davon erzählt. Wie es ihr in jungen Jahren ergangen war. Sie konnte sich das Kribbeln nicht erklären. Herzklopfen war es nicht. Das Gefühl war ihr neu. Sie fühlte sich für einen Augenblick unglaublich wohl. Als hätte sie diese Situation schon einmal erlebt.

Das Areal vor der Friedhofskirche war mit Menschen überfüllt, sie hatten im Innenraum keinen Platz gefunden. In kleinen Gruppen standen sie beieinander und unterhielten sich leise. Wilma ging an ihnen vorbei. Sie hatte ihren Schritt verlangsamt, bemerkte, wie sie bewusst angeschaut wurde. Automatisch zog sie ihre Schultern nach hinten. Denk an deine Haltung, hatte Mutter immer gesagt. Ein schmaler Gang zur Kirchentür hin, war frei geblieben.

Charlotte, Sebastian und Thomas saßen bereits in der ersten Reihe. Sie hatten Frau Zeise, die langjährige Haushälterin von Onkel Wilhelm, in ihre Mitte genommen. In den anderen reservierten Bänken saßen ebenfalls geladene Gäste. Auch ehemalige leitende Angestellte der Firma und die engsten Freunde von Wilhelm Lenz. Wilma war langsam den Mittelgang vorgegangen. Mit einer knappen Kniebeuge zum Altar hin schlüpfte sie in die Bank. Sie schaute den anderen kurz in die Augen und flüsterte entschuldigend: „Stau“. Sie nickten. Charlotte sah ihr gerade in die Augen. Für Wilma konnte niemand so kommentarlos, und zugleich treffend wie ihre Cousine schauen. Völlig ohne jeglichen Gedanken zeigend. Sie schaut steril, dachte sie jedes Mal. Sebastian zwinkerte ihr wohlwollend zu, und Thomas zog die Brauen hoch. Thomas zog bei der geringsten Gelegenheit die Brauen nach oben. Seine Brauen waren mittlerweile geformt, so erschien es ihr. Er hob ein bisschen seine Hand. Das Kribbeln im Bauch war verschwunden.

Sie drehte sich dezent nach den Bänken auf der rechten Seite um, und bemerkte in einer Reihe die Männer, die die drei Rosen in den Händen hielten. Bei ihnen saß Julius Gärtner. Er wirkte heute blass und angestrengt. Er hatte zwar keine Rosen bei sich, doch der Mann an seiner Seite war der Mann, der eben neben ihr gegangen war. Sie hatte ihn noch nie gesehen. Die drei Rosen mussten eine Bedeutung haben.

Das Licht, das die Dunkelheit erhellt, stellt die Nacht jedoch nicht in Frage.

Der Pfarrer mit den Ministranten eröffnete in diesem Augenblick den Trauergottesdienst. Sicherlich war die Kirche, wenn die Sonne schien, freundlicher. Heute, wo es bewölkt war, wirkte sie ungemein düster. Durch die Lampen und die brennenden Kerzen wurde sie jedoch zu einem festlichen Raum.

Wilma kam zur Ruhe. Sie dachte an Onkel Wilhelm. An die Begegnungen mit ihm, an die Zeit, die sie mit ihm erlebt hatte. Es geschah alles im Zeitraffertempo, nur Bruchstücke des Erlebten. Bei der Predigt bemühte sie sich, aufmerksam zuzuhören.

Der Pfarrer war ein ausgezeichneter Redner. Es berührte sie, wie Pfarrer Henders von Onkel Wilhelm sprach. Wohl vorbereitet und mit persönlicher Anteilnahme hielt er Rückschau auf das Leben von Wilhelm Lenz. Seine Stimme kam mit einer so weichen Tiefe, dass Trauer nahezu ausgeschlossen war. Wunderbarer Klang erfüllte den Raum. Er sprach über die Lebensphilosophie des Verstorbenen. Persönliche Daten hatte er aufs notwendigste reduziert.

Wilma wusste, dass er die zehn Jahre, die er hier als Pfarrer arbeitete, mit ihrem Onkel befreundet gewesen war. Gleich zu Beginn seines Amtsantrittes waren sich Peter Henders und Wilhelm Lenz begegnet. Wilhelm Lenz war nicht so regelmäßig in der Kirche gewesen, wie es die Kirchenordnung vorsah. Er hatte leidenschaftlich große Kirchenkonzerte besucht, war auch an besonderen Festtagen in den Gottesdienst gegangen. Die Christmesse am Heiligen Abend hatte er bewusst ausgelassen. Da waren ihm zu viele fremde Gedanken im Raum gewesen. „Sie können in dieser Nacht ihre Gedanken nicht zu Hause lassen“, hatte er zu Pfarrer Henders gesagt. „Ich bin froh, dass sie überhaupt kommen. Was wäre es, wenn sie bei ihren Geschenken und üppig geschmückten Weihnachtsbäumen blieben? Sie machen sich die Mühe, in dieser Nacht in die Kirche zu gehen. Das ist eine Menge.“ hatte ihm Henders geantwortet. Als Erwachsener, als er selbst darüber bestimmen konnte, hatte Wilhelm Lenz nie gebeichtet oder die Kommunion empfangen. Sie hatten sich auch so verstanden. Wichtig war den beiden, alle vierzehn Tage Schach miteinander zu spielen, und die anschließende Dämmerstunde, wie sie es genannt hatten. Beim Spiel war jeder auf seine eigenen Züge konzentriert und sehr bemüht, gegen den anderen zu gewinnen. Nachher war alles vergessen. Verbunden hatte die beiden auch die gleiche Weinsorte. Die Zeremonie beim Ausschenken, die Wahl der Gläser.

Pfarrer Henders war nun am Ende der Predigt angelangt. Er machte eine kurze Atempause, stellte sich gerade hin, verbeugte sich ein wenig vor der Trauergemeinde – alle schauten gespannt zu ihm. Man wusste nicht, was er jetzt sagen würde. Er war eine außergewöhnliche Erscheinung. Groß, blond und sehr stolz wirkend, sein Körper war sportlich durchtrainiert. Man konnte es selbst unter seinem Messgewand noch sehen. Bei offiziellen Anlässen wollte er stolz wirken. Stolz war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung, aber er vertrat seinen Berufsstand, seine Kirche. Er dachte nie an sich persönlich. Er machte einen Unterschied zwischen Stolz und Hochmut.

„Lassen Sie mich zum Abschluß Wilhelm Lenz selbst zitieren. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, und deuten Sie es nicht als Scherz oder Ironie. In den letzten Tagen habe ich oft an seine eigenen Worte gedacht. Ich möchte sie ihnen nicht vorenthalten. Manchmal sagte er zu mir:

„Jeder Frühling, der einen Sommer erleben durfte,

dem ein Herbst geschenkt wurde,

wird dem Winter in Ruhe entgegensehen,

ohne Angst zu haben, frieren zu müssen.

Der Winter lässt die Natur schlafen, um sie dann neu aufwachen zu lassen.

Da gibt es aber auch dann den Winter, der den Tod mit sich bringt. Ich, der alte Lenz, weiß, dass andere ihren Frühling noch vor sich haben.“

Pfarrer Henders machte eine kurze Atempause, und fuhr fort: „Verehrte Trauernde, so wie die Schöpfung der Natur die Jahreszeiten gegeben hat, so hat Gott uns die Freude am Leben, aber auch das Recht auf Sterben gegeben. Möge er in Frieden ruhen. Amen.“

Feierliche Stille erfüllte den Kirchenraum. Es räusperte sich nicht einmal jemand. Man hörte auch durch die offenen Kirchentüren von den draußen Stehenden nichts. Pfarrer Henders hatte sie mit seiner Ansprache erreicht.

Recht zu sterben, mit dem Gedanken ging Wilma konform. Sie meinte, dass Onkel Wilhelm mit achtundsiebzig Jahren ein Recht zu sterben hatte, auch wenn die Medizin manchmal zur Unsterblichkeit verpflichten will. Er wird ihr fehlen, das war jedoch eine andere Sache.

Alle Wünsche und Hoffnungen,

die wir in die Welt hinausschicken,

finden sich am eigenen Grab erfüllt wieder.

Als Wilma nun neben ihrer Cousine Charlotte, ihren Cousins, den Zwillingen Sebastian und Thomas am offenen Grab stand und sich umsah, erfasste sie die Menge der Menschen, die zur Beerdigung ihres Onkels gekommen waren. Überall zwischen den anderen Gräbern standen Menschen. Die Wege waren nahezu überfüllt. Alle standen ganz eng beieinander. Der Boden war vom Regen der letzten Tage aufgeweicht. Außerhalb der Kieswege, zwischen den anderen Gräbern, standen sie im feuchten Gras oder im Matsch.

Der alte Friedhofswärter von früher fiel ihr ein. Sie hatten ihn, wenn sie mit ihrer Mutter am Friedhof gewesen war, fast immer getroffen. Er war nicht groß, ging immer sehr gerade. Den Kopf hatte er immer leicht erhoben. Nie wieder hatte sie es bei einem anderen Menschen so deutlich beobachtet. Wenn er sie sah, kam er immer her, und unterhielt sich mit ihnen. Sie hatte schon als kleines Kind bemerkt, dass er schneller als sonst gelaufen kam. Er wollte mit ihnen sprechen. Er sprach ihre Mutter mit Namen an. Ihren hatte er wahrscheinlich nicht gewusst, und hatte sich zumindest nie an sie direkt gewandt. Wenn er nicht gerade etwas arbeitete, hingen die Hände fast hölzern an seinem Körper. So war es ihr vorgekommen, als wenn sie gar nicht zu ihm gehörten. Seine hellen Haare bildeten einen besonderen Kontrast zu dem witterungsgebräunten Gesicht. An seine blauen Augen konnte sich Wilma gut erinnern. Mutter hatte den Mann gut leiden mögen, wenn er auch manchmal ihre Mutter mit seiner Deftigkeit, nicht gerade vor den Kopf gestoßen, doch etwas sprachlos gemacht hatte. „Er ist ein Philosoph“, hatte sie dann gesagt. Sie gab aber nie eine persönliche Meinung über ihn ab. Einmal hatte er gemeint: „Eine schöne Beerdigung ist es, wenn viele Leute da sind. Die Leiche gibt zwar das letzte Gastspiel, aber sie ist die Hauptperson. Da braucht man Zuschauer.“ Er hatte es nicht zynisch gesagt. Mit Toten umzugehen war der Ernst seines Lebens. Er hatte nichts ins Lächerliche ziehen wollen, merkte doch, während er redete, es war nicht das Richtige für ihre Mutter gewesen. „Sicherlich haben Sie recht“, hatte Mutter ihm zurückhaltend geantwortet, sich dann aber freundlich von ihm verabschiedet. Mutter hatte auf dem Nachhauseweg ein paar Mal den Kopf geschüttelt, ohne etwas zu sagen. Als sie im Alter krank wurde, äußerte sie ganz deutlich den Wunsch nach einer Beerdigung im engsten Familienkreis, und einer nachträglichen Todesanzeige. Wilma hatte ihr den Wunsch erfüllt.

Dass Wilma sich gerade jetzt an den alten Mann aus ihrer Kindheit erinnerte. Ihr fiel auch noch ein, als er die Aushubarbeiten für ein neues Grab beaufsichtigte, Mutter und sie vorbeikamen, meinte: „Die Erde gibt alles wieder zurück.“ Mutter hatte damals nur genickt. Hatte aber leise im Vorübergehen gesagt: „Aber sie kann nur geben, was wir ihr anvertrauen.“ Mutter war auch der Ansicht, dass nichts in der Welt verloren ging. Nichts, was jemals hier gewesen war. Sie war jedoch nicht stehengeblieben, um mit ihm darüber zu sprechen. Diesmal nicht. In seinem Sinn war es heute eine schöne Beerdigung.

Der Rosen Träume reifen,

und reduzieren sich auf Dornen und Knospen.

Der Trauerzug der Menschen, die vor das Grab von Wilhelm Lenz traten, schien kein Ende zu nehmen. Im Augenblick stand die Gruppe der Männer in einer Reihe vor ihr, die die drei Rosen in der Hand hielten. Jeder von ihnen stellte sich kurz vor das offene Grab, nahm Haltung an und hielt die Rosen für einen Augenblick an die Herzgegend. Dann warfen sie die Rosen in das offene Grab, auf den Sarg.

Wilma schaute genau hin. Der Mann von vorher, der neben ihr gegangen war, verhielt sich genauso. Er gehörte zu den jüngeren von ihnen. Einer der letzten in der Reihe, er war sicherlich der älteste der Gruppe, blieb nicht stehen, sondern bückte sich langsam mit seinen Blumen. Es machte ihm sichtlich Mühe. Er streckte seinen Arm so weit wie möglich aus, und ließ die Rosen vorsichtig in die Tiefe gleiten. Wilma war berührt von dem Anblick. Die nächsten warfen ihre Blumen wie üblich in die Sarggrube. Es kam ihr plump vor. Manche taten es so heftig, als hätten sie Angst zu nah an den Sarg zu kommen. Störend empfand sie auch das Geräusch, den dumpfen Laut, der zu hören war, wenn die Blumen auf dem Holz aufkamen. Der Ton vom Holz verlor sich, die Blumen fielen auf die vielen, die bereits unten lagen. Sie war auf vielen Beerdigungen gewesen. Dies war ihr bis jetzt noch nicht aufgefallen. Nicht einmal bei ihrer Mutter.

Sie blieben, bis alle Abschied genommen hatten, neben dem Grab stehen. Frau Zeise blieb auch bei ihnen. Obwohl in der Todesanzeige nicht erwähnt worden war, dass von Beileidsbekundungen im Friedhof doch höflich Abstand genommen werden möchte, gab niemand den Vieren die Hand und wollte Mitgefühl zeigen. Wilma betrachtete dies nicht als Abwertung von seiten der anderen. Es schien sich einfach so ergeben zu haben. Hätte einer damit angefangen, hätten es alle anderen nachgemacht.

Als der letzte gegangen war, legten Charlotte und Frau Zeise ihre Blumensträuße auf den Boden, an den Rand der Graböffnung. Frau Zeise weinte. Charlotte legte ihren Arm um ihre Schultern. Frau Zeise schaute sie dankbar an, und sagte dann: „Nun müssen wir aber auch ins Hotel. Wir können die Gäste nicht warten lassen“. Sie hatte im nahegelegenen Hotel „Zur Post“ den Empfang nach der Beerdigung bestellt.

Die geladenen Gäste waren nur wenige, im Vergleich zu denen, die gekommen waren. Und so konnte man das Auto jetzt, nachdem die anderen abfuhren, auf dem Parkplatz vor dem Friedhof, ohne andere Friedhofsbesucher zu behindern, stehenlassen.

Der Himmel war nach wie vor trüb und mit grauen Wolken verhangen. Nach einem wirklichen Regenguss sah es jedoch nicht aus. Ein leichter Wind war aufgekommen. Die meisten gingen die kurze Strecke zum Hotel zu Fuß. Man fing an, miteinander zu sprechen. Einige hängten sich vertraut bei ihrem Nebenmann unter.


Tränen sind Trauer nicht gleich zu setzen.

Im Hotel „Zur Post“ war im großen Konferenzzimmer, man nannte es auch den kleinen Ballsaal, für die Trauergesellschaft gedeckt worden. Frau Zeise hatte alles selbständig angeordnet. Sie war nun seit zwanzig Jahren im Hause Lenz als Haushälterin beschäftigt. Wilhelm Lenz hatte ihr freie Entscheidung bei der Haushaltsführung gelassen. Wilma hatte sich nur höflichkeitshalber angeboten. Sie war davon ausgegangen, dass Frau Zeise keine Hilfe brauchte, um einen den Empfang nach der Beerdigung zu veranlassen. Sie hatten lediglich die Traueranzeigen zusammen besprochen.

Charlotte meinte, es wäre schade, meistens nur bei traurigen Anlässen zusammenzukommen. Ihre Mutter hatte immer regelmäßige Familientreffen organisiert. Seit sie nicht mehr lebte, fanden diese nicht mehr statt. Maria, geborene Lenz, war die Schwester von Wilhelm gewesen und das einzige Mädchen der vier Kinder. Sie hatte längere Zeit als Witwe zurückgezogen gelebt, und war vor zwei Jahren von einer langjährigen Krankheit erlöst worden. Die Familientreffen waren ihr eine Abwechslung gewesen.

„Es ist auch schade, dass unsere Familien nicht abkömmlich waren“, seufzte Sebastian. Er setzte sich neben Charlotte.

„Was heißt, nicht abkömmlich?“ meinte Thomas. Jetzt, da sie älter wurden, sahen sie sich immer weniger ähnlich. Dass er der Zwillingsbruder von Sebastian war, hätte man nicht vermutet. „Abkömmlich? Keine Zeit haben sie. Keine Lust haben sie. Bei mir hatte jeder eine andere Ausrede. Wichtige Termine hätten sie alle. Und außerdem wären sie erst vor drei Monaten übers Wochenende bei Onkel Wilhelm zu Besuch gewesen. Wenn ich mich nicht täusche, haben sie in diesem Hotel gewohnt.

Das Andenken, ihn nochmals lebend gesehen zu haben, wäre ihnen viel wichtiger, als eine Stunde beim Begräbnis zu sein. Wenn jemand keine Lust auf eine Beerdigung hat, hängt er sich immer an der lebendigen Erinnerung auf.“ Zuhause hatte er alles versucht, seine Familie dazu bewegen, mit zur Beerdigung zu fahren. Er fühlte sich durch ihr Verhalten bloßgestellt. Sein einziger Trost war, dass es den anderen auch so ging.

Wilma war es peinlich. Sie meinte: „Was soll es? Ärgert euch doch nicht. Es ist es nicht wert. Wenigstens seine Nichten und Neffen haben ihm die letzte Ehre erwiesen. Ihr hattet ja auch alle eine Anreise und müsst hier übernachten. Es wäre auch ein bisschen viel gewesen mit dem ganzen Tross. Da sind gleich zwei bis drei Tage weg. Ich bin am Ort. Bei mir ist es einfach“.

„Da hast du auch wieder Recht. Und du tust dich sowieso leichter, liebe Wilma, du bist allein. Was nützt eine Familie, wenn sie sich dann drückt? Und ob man es denkt oder hinter vorgehaltener Hand sagt, erben wollen sie alle“, meinte Charlotte. Es war bei ihr zu Hause über die zu erwartende Erbschaftssteuer diskutiert worden. An dem Thema an sich hatte sie nichts auszusetzen. Aber die Art, wie das Gespräch abgelaufen war, empfand sie als widerlich. Sie hatte sich ernsthaft vorgenommen, ein Testament zu schreiben. Eines, in dem ihr Willen ganz klar zu befolgen war. Und wenn sie dann auch nur über die Steuern reden würden.

„Sag mal, Wilma, jetzt bist du in ein paar Monaten vierunddreißig und immer noch nicht verheiratet. Hast du eigentlich nie daran gedacht?“ wandte sich Thomas an Wilma. Er schaute sie charmant an. Lächelte, als wollte er mit ihr flirten. Er wusste, wie gut er mit den Augen lächeln konnte. „Du bist hübsch. Und jetzt eine gute Partie, schon vom Erbe hergesehen. Und als Kinderärztin kannst du dich sicherlich gut ernähren, und ein bisschen mehr. Es gibt doch so viele brave Männer, die gerne heiraten würden. Magst du einfach nicht?“ Thomas kam mit seinem Gesicht näher zu Wilma. Sie befürchtete, er würde sie küssen, und rutschte zur Seite.

„Ich will nicht als gute Partie weggehen. Wenn eine brave Frau einen braven Mann heiratet, ergibt das noch lange kein braves Ehepaar. Wenn eine reiche Frau einen reichen Mann heiratet, ergibt es noch lange kein reiches Leben.“, meinte sie. Sie sagte es, als hätte sie diesen Satz einstudiert. Es schien ihr automatisch von den Lippen zu gehen. Es wirkte regelrecht stereotyp. Hätte sie jemand heiraten sollen, weil sie genügend Geld hatte? Sie wollte noch etwas dazu erklären, da mischte sich Frau Zeise ein: „Für eine große Dummheit oder ein kleines Glück ist es nie zu spät.“ Frau Zeise sagte das mit der größten Selbstverständlichkeit der Welt.

Alle schauten sie überrascht an. So spontan hatte ihr niemand so einen Satz zugetraut. Frau Zeise machte ein so überzeugtes Gesicht, als wüsste sie, dass sie sich morgen verlieben würde. Ihr Gesicht hatte plötzlich nichts mehr mit Trauerfeierlichkeit zu tun. Die schien sie im Moment vergessen zu haben.

„Ja, Frau Zeise, Sie müssen das ja auch wissen. Sie sind ja höchstens Anfang sechzig“, stimmte Thomas ihr zu. Ihm gefiel Frau Zeise. Er hatte sie nicht oft gesehen. Sie war ihm sympathisch gewesen, von Anfang an. Er machte sich in keiner Weise lustig über sie.

„Sollte unser Küken, Wilma, es sich doch noch überlegen, und heiraten wollen, kann sie mich fragen. Ich habe überzeugende Argumente ihr abzuraten.“ Sebastian war es etwas unbehaglich zu mute. Er hatte sich eine zwanglosere Unterhaltung nach der Beerdigung vorgestellt. Vielleicht hätte man über die Anzahl der Kränze sprechen sollen. Oder die Farbzusammenstellung der Blumen. Mit dem Gebinde, das von seiner Familie bestellt worden war, war er durchaus zufrieden. Wäre seine Frau dabei, hätte es nur ein Thema gegeben, die offizielle Kleiderordnung bei Beerdigungen. Die Art des Stoffes, Schnitt und Rocklänge, Hut oder nicht. Es war ein unerschöpfliches Thema für sie. Sie selbst trug immer ihren teuersten Schmuck zu solchen Gelegenheiten. Mit der Begründung, wenn zu Hause in der Zeit eingebrochen wird, diese Wertsachen nicht zur Verfügung stehen würden.

„Einen Fehler, aus dem man lernen will, muss man in vollem Umfang machen, muss ihn am eigenen Leib verspüren. Halbherzige Fehler sind wie Verkehrsübertretungen, bei denen der Polizist nur ermahnt. Ein hohes Bußgeld wirkt viel lehrreicher. Darum werde ich irgendwann selbst in den Apfel der Ehe beißen, um zu sehen, ob er sauer ist. Also - ich werde euch nicht fragen, sondern irgendwann irgendwen heiraten. Vielleicht sage ich es euch vorher. Vielleicht lade ich euch dazu ein. Wenn ja, dann seid ihr mir aber herzlich willkommen. Und von dem Mann, der mich heiratet, hängt auch einiges ab. Ihr wisst schon, wie ich das meine. Man heiratet sich schließlich gegenseitig.“ Wilma schaute auf das Tischtuch vor sich, als suchte sie nach einem Fleck. Da lag nicht ein Krümel zum Wegwischen. Sie hatte fest damit gerechnet, die anderen würden davon anfangen, sie sollte endlich heiraten.

Frau Zeise stand auf und erklärte, sie wollte sich mit anderen Gästen unterhalten. „Das ist wohl der Vorteil von dem sogenannten Leichenschmaus, die Lebenden kommen wieder ins Gespräch miteinander.“, meinte Charlotte.

„Wie hat sich Frau Zeise den Ablauf hier vorgestellt?“ wollte Thomas wissen.

„So wie sie mir erzählte, bleiben wir nach Kaffee und Kuchen noch sitzen. Du kannst dir deinen geliebten Schoppen Rotwein bestellen, dann gibt es zum Abschluss noch einen kleinen Imbiss“, antwortete ihm Wilma. Sie hoffte, das Thema Ehe wäre damit erledigt.

Ob Thomas am Tropf, genaugenommen am Rotwein hängen würde, wollte Charlotte wissen. Er erklärte ihr, er täte dies nicht. Oder besser gesagt, doch. Nämlich so wie sie ihren Kaffee trinken, oder Sebastian seine Schachteln Zigaretten rauchen würden.

„Mich lass aus dem Spiel. Ich mache das, was ich für richtig halte. Meine Zigaretten sieht man in meiner Lunge, den Rotwein in Thomas' Leber – und deine unzähligen Tassen Kaffee, Charlotte, sollen die doch färben, was sich ergibt.“ Sebastian dachte daran, dass er sicherlich zum Rauchen vor die Tür gehen musste. Größere Gesellschaften, bei denen sich nicht einer zu rauchen traute, kamen immer mehr in Mode. Das schien für ihn der Grund zu sein, warum es gesellschaftsfähig geworden war, wenn Frauen öffentlich auf der Straße rauchten.

„Ein Glas mit gutem Wein verbindet die Menschen mehr mit einander als ein gesundes Glas Buttermilch.“

„Hast du deine Philosophie deinem Weinhändler schon für Reklamezwecke angeboten?“ Charlotte meinte es ernst. Den Vergleich mit der Buttermilch fand sie gut. Sie schaute manchmal nur die Werbung im Fernsehen an. Wenn der Film weiterlief, stand sie auf, und suchte sich eine kleine Arbeit. Es faszinierte sie, wie viele Menschen sich Mühe machten, so kurz und gut wie möglich etwas anzupreisen. Schwäche und Unwahrheit schien es in der Werbung nicht zu geben. Heile Welt im Sekundentakt nannte sie es. „Sicherlich gibt es nachher noch einen Imbiss.“ „So hat man es früher auf dem Land gehalten. Kaffee und Kuchen, dann Bratwurst und Kartoffelsalat. Es wird nicht gerade Bratwurst geben.“

„Auf dem Land betete man auch noch gemeinsam beim Leichenschmaus für den Verstorbenen“, sagte Pfarrer Henders hinter ihr. Er war zu ihnen an den Tisch gekommen und bat, sich ein wenig auf Frau Zeises Stuhl setzen zu dürfen. Charlotte rückte zur Seite, und deutete mit einer Handbewegung auf den Stuhl neben ihr.

„Kein leibliches Wohl, ohne den geistlichen Beistand“, dachte Thomas ironisch, machte jedoch ein freundliches Gesicht. Seiner Meinung nach wurden viele weltliche Genüsse durch die Anwesenheit der Geistlichkeit leicht geschmälert. Aus der Kirche ausgetreten war er allerdings nicht. Soweit ging seine Aversion dann auch wieder nicht.

Wilma fragte ihn nach der Bedeutung mit den drei verschiedenen Rosen. Sie ging davon aus, er würde es wissen.

„Das sind die Mitglieder der Freimaurerloge, der ihr Onkel angehörte.“

Dass Onkel Wilhelm Freimaurer gewesen war, wusste sie. Es ging ihr um die Bedeutung der Rosen. Sie hatte sie mit der Loge nicht in Verbindung gebracht.

„Die Rose hat es ganz schön in sich. Um über die gesamte Palette zu sprechen, in der die Rose als Symbol steht, reicht uns die Zeit heute sicher nicht. Doch soweit ich informiert bin, gilt sie bei den Freimaurern als Zeichen für die Vollkommenheit, aber auch auf das Vergängliche hinweisend. Ich persönlich sehe die drei verschiedenen Farben für die Jugend, für das Erwachsensein und das Alter. Ob es in der Loge so ausgelegt wird, kann ich nicht genau sagen. Die Rose ist ebenso das Symbol für Geheimnis. Denken sie an den Geheimbund der Rosenkreuzer zum Beispiel. Auch sie hatten die Rose zum Symbol erwählt. Das unter der Rose Gesagte galt als absolut vertraulich. Die Rose als Symbol ist ein nahezu unerschöpfliches Thema.“ Pfarrer Henders holte kurz Luft. Er lächelte etwas verlegen. „Ich wollte Ihnen jedoch keine Lehrstunde erteilen.“

Nicht nur Wilma hatte ihm aufmerksam zugehört. Auch die anderen interessierte das Thema. Sie schauten auf Pfarrer Henders‘ Hand. Er hatte die ganze Zeit seine rechte Hand so geformt, als würde er eine Rosenblüte zur Demonstration hinhalten. Er bemerkte es nun auch, sah lächelnd auf seine Finger, und legte die Hand flach auf den Tisch. Am rechten Ringfinger trug er einen schmalen Ring mit einem kleinen schwarzen Stein. Der Stein war so klein, dass er nicht gleich erkennbar war. So entstand vordergründig das Bild, es könnte ein Ehering sein. Henders wusste um die Optik.

Thomas beugte sich vor, und senkte seine Stimme: „Dann verstehe ich nicht, warum Frau Zeise nicht in die „Drei Rosen“ gegangen ist? Das wäre doch der entsprechende Rahmen gewesen. Das Lokal ist vornehm, der Name passend. Hundert Meter weiter - wäre doch ganz einfach gewesen.“ Sebastian meinte, die Bemerkung wäre pietätlos.

„Was heißt hier pietätlos? Wo ist Pietät bei den Freimaurern notwendig? Freimaurer feiern bei ihren Zusammenkünften Orgien.“ Charlotte hatte das Wort Orgie vor dem Pfarrer nicht sagen wollen. Es war ihr herausgerutscht.

Sebastian wollte wissen, worauf Charlotte ihre Information aufgebaut hat. Sie erklärte, das hätte sie in der Schule gelernt.“ Sebastian wurde fast laut. „In was für einer Schule hast du denn diesen Quatsch gehört? Ich hoffe, du hast das zu Hause deinen Eltern erzählt, damit sie etwas dagegen unternehmen konnten.“ Sebastian war es peinlich, dass er Charlotte so laut über den Mund gefahren war. Er wollte etwas Nettes zu ihr sagen. Es fiel ihm nichts ein. Eigentlich ging es ihn nichts an, was Charlotte von sich gab.

„Es war der Religionslehrer.“ Charlotte blieb trotzig bei ihrer Meinung.

Henders kam ihr zur Hilfe. „Sicherlich war es ein verbitterter Mann. Wahrscheinlich hatte er noch in Erinnerung, dass der Papst den Bann über die Mitglieder der Loge ausgesprochen hat. Nicht dieser Papst, sondern einer. Irgendwann in grauer Vorzeit. Das ist längst überholt. Es gab immer Theologen, es ist noch gar nicht so lange her, die vehement gegen die Freimaurer wetterten. Und sei es auch nur, um ein Thema zu haben, das sie mit erhobenem Finger bekämpfen konnten. Alles Geheimnisvolle macht nun mal mißtrauisch. Tier und Mensch. Alles, was wir nicht leicht verstehen, reizt und lässt uns dagegen auflehnen. Unser Unvermögen ist es. Ich kann sie nicht umfassend aufklären, aber soweit ich informiert bin, muss jeder Bruder, so nennen sie sich, der einzelnen Logen Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein, und an die entsprechende Stelle auch Steuern zahlen. Es geht auch darum, ein höheres Wesen über dem Menschen anzuerkennen. Gott. Ihr Onkel war Katholik. Er wäre nicht so römisch, wie ich das gerne möchte, hat er mir öfters gesagt. Christsein genüge ihm“. Mit einer entschuldigenden Handbewegung fügte er hinzu: „Ich habe schon wieder einen Vortrag gehalten. Entschuldigen Sie bitte.“

„Es ist gut, wenn man die andere Seite auch hört. Ich kann ja versuchen, die da drüben in einem anderen Licht zu sehen.“

„Die da drüben, wie du Sie nennst, waren die engsten Freunde von Onkel Wilhelm. Er teilte mit ihnen die gleiche Lebensphilosophie.“

„So habe ich es nicht gemeint.“

„Dann ist es ja gut“, mischte sich Thomas ein. Er wollte ein anderes Thema. Er meinte, die Beerdigung wäre schön gewesen.

„In diesem Fall ist es so. Aber im Allgemeinen heißt es doch gern, es wird nirgends so viel gelogen, wie bei einer Beerdigung. Ich bin der Meinung, es geht in Ordnung. Eine wohlgemeinte Lüge halte ich hier für zulässig. Nachruf darf auf keinen Fall anprangernd sein. Der Verstorbene kann sich nicht mehr wehren. Also wird gelobt.

Henders hatte sich ein oberflächlicheres Gespräch mit den Nichten und Neffen seines Freundes vorgestellt. Außer von Wilma hatte Wilhelm Lenz ihm so gut wie nichts von ihnen erzählt. Er wusste nur, der ältere Bruder von ihm, Max, war schon länger tot. Seine Frau war kurz nach ihm gestorben. Sie waren die Eltern der Zwillinge Sebastian und Thomas. Von deren Familien hatte er nie etwas erfahren, ebenso nichts von Charlottes Familie. Er konnte sich aber erinnern, dass die Mutter von Charlotte Maria hieß, und als sie Kinder waren, von ihrem Bruder nahezu verehrt worden war. Das hatte ihm Wilhelm Lenz mehrmals erzählt. Und der jüngste Bruder, Ludwig, Wilmas Vater vor ungefähr vierunddreißig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Es war sehr tragisch gewesen. Wilhelm Lenz hatte einen Abend lang davon erzählt. Es war der Todestag von Ludwig gewesen, und er hatte ihn gebeten, das Schachspiel diesmal ausfallen zu lassen. Sie waren dagesessen und hatten Wein getrunken. Lenz hatte geredet, er hatte zugehört. Lenz hatte an diesem Abend viel freier gesprochen, als es sonst zwischen ihnen üblich war. Das Thema wurde jedoch nie wiederholt.

„War er glücklich, so allein – ich meine unverheiratet? Ich will Ihnen persönlich, als Priester, mit dieser Frage nicht zu nahetreten. Freunde wissen jedoch meist mehr als Verwandte. Und ich war ihm vielleicht ein lieber Neffe, aber nur ein Verwandter.“

„Sie treten mir nicht zu nahe. Zertreten wird dieses Thema von der Öffentlichkeit, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung steht. Allein sein, heißt auch lange nicht einsam sein. Und wissen Sie, Einsamkeit ist auch nicht schlimm. Ich habe immer noch mich. Ich habe mit ihrem Onkel lange, erfüllende Gespräche geführt. Über seine Tätigkeiten in der Loge hat er nicht gesprochen, uns verbanden seine und meine Ideale.

Uns verband, es ist die Allmacht Gottes, die sich als Wahrheit und Schönheit offenbart. Die ewige Suche der Menschen nach einem Ziel, dem Licht.“

„Ist nicht der Tod unser Ziel? Vom ersten Atemzug an?“

„Ohne den Tod könnte der Mensch nicht leben. Er führt uns zur Unsterblichkeit.“

Der Mensch ist nicht tot, solange die Seele lebt -

und die Seele ist unsterblich.

Henders stand langsam auf. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dem Gespräch davon zu laufen. Er sah, Frau Zeise kam zurück. Er schob den Stuhl gerade hin und verabschiedete sich: „Ich überlasse Sie nun ihrem irdischen Schicksal. Wie ich sehe, beginnt man den Imbiss zu servieren.“ Er erklärte, er wollte sich noch zu Julius Gärtner setzen. Er hätte nicht nur seit über vierzig Jahren Rosengarten betreut, er wäre auch der Freund von Wilhelm Lenz gewesen.

Charlotte rückte ihren Stuhl auch zurecht. Sie bemühte sich, ihre Missstimmung zu unterdrücken. Sie wollte sich den Nachmittag nicht verderben lassen und wendete sich an Wilma: „Du warst viel mehr in Rosengarten als wir. Sicherlich kennst du Herrn Julius näher. Sagt man zu ihm Julius Gärtner, weil dies sein Beruf ist, oder ist Gärtner sein tatsächlicher Familienname?“

Wilma erschien die Frage albern. Aber Charlotte hatte nun mal ihre eigene Art, Fragen zu stellen. „Er heißt Gärtner mit Familiennamen, ein Doppelsinn des Schicksals. Es gibt dazu übrigens eine interessante Studie. Menschen mit einem ausgefallenen Namen wählen gerade den Beruf, der zu ihrem Namen passt. Ich wollte es gar nicht glauben, und hielt alles für gestellt. Es kann auch sein, der Name bestimmt die Berufswahl. Ich selbst kenne einen Urologen, der Schiffer und einen Zahnarzt, der Beissauf, einen anderen der Mund heißt. Als junges Mädchen habe ich Herrn Julius einmal gefragt, ob er nicht lieber Rosenstock heißen möchte? Er antwortete damals ziemlich ernst, es wäre ihm doch wohl zu wenig. Er kenne zwar einen Kollegen, der Rosenstock heißt, er liebte jedoch alle Blumen und die Harmonie, in der sie hier in Rosengarten lebten. Und der alles beschützt und hegt, ist der Gärtner. Er könnte sich keinen besseren Namen wünschen. Ich habe viel über Blumen bei ihm gelernt."

„Er muß doch auch schon über siebzig sein. Man sieht es ihm nicht an. Ist ihm die Arbeit nicht langsam zu beschwerlich? Was wird eigentlich aus Rosengarten, wenn er aufhört?“

„Er ist zweiundsiebzig, kerngesund und äußerst vital. Er hat seit langem einen Mann zur Hilfe. Es ist nicht der erste. Der Dritte, meine ich. Es hat ihnen gut gefallen, sie haben sich anderweitig engagiert. Der Mann ist fest angestellt. Er erledigt, mit Teilzeitkräften, die anfallenden Routinearbeiten im Garten. Für große Sachen oder wenn der Rasen zu mähen ist, wird eine Firma beauftragt. Herr Julius ist mit den Rosen, der Korrespondenz mit den Fachleuten, und mit eventuellen Besuchern voll ausgelastet. Der junge Mann, der neben ihm sitzt, wird eventuell sein Nachfolger. Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, er ist es. Warum säße sonst Herr Julius bei ihm? Ich habe ihn heute auf dem Friedhof das erste Mal gesehen. Gehört habe ich, dass er an der Universität arbeitet, und nur die Schirmherrschaft für Rosengarten übernehmen kann, wie Onkel Wilhelm es nannte. Wenn ich mich richtig erinnere, heißt er Adalbert Reza. Ein Gärtner, der fest angestellt wird, wird noch gesucht.“ Wilma sprach gern über Rosengarten. Das Hin und Her über die Freimaurer war ihr zu unruhig gewesen.

„Der junge Mann, wie du ihn nennst, ist sicherlich auch schon Anfang vierzig.“

„Vermutlich – ich weiß es jedoch nicht genau. Er wirkt an dem Tisch da drüben als jung. Ich will die anderen deswegen nicht alt machen. Heute hat sich doch der Begriff „jung“ weit nach hinten verschoben. Laut Statistik werden wir Alle älter und älter. So dürfen wir auch länger jung bleiben. Wer nicht alt werden will, muss sich entscheiden früh zu sterben.“ Nachdem Wilma es so gesagt hatte, fand sie es unpassend. So kurz nach der Beerdigung. Die anderen schien es nicht zu stören.

Alte Bekanntschaften wurden aufgefrischt. Man tauschte die Plätze untereinander, um sich auch mit anderen unterhalten zu können. Der Imbiss, der serviert wurde, war pikant zusammengestellt worden. Bratwurst und Kartoffelsalat waren es nicht. Frau Zeise hatte alles gut organisiert. Ein wenig müde und abgespannt sah sie jetzt aus. Die Aufregungen und Strapazen der letzten Tage zeigten sich in ihrem Gesicht. Es sagte ihr keiner. Man sprach darüber, wie erstaunlich gut sie ausschauen würde, obwohl sie die letzten Tage doch sicherlich nicht zur Ruhe gekommen wäre. Sie stand auf, und ging um die Gäste, die nach Hause gehen wollten, zu verabschieden. Thomas und Sebastian, Charlotte und Wilma würde sie ja morgen sehen.

„Ach stimmt ja, man trifft sich.“

„Trifft sich einer mit sich allein, kann er auch schön glücklich sein.“

„Was sich nicht treffen will, kann auf den Reim zurückgreifen.“

„Komm, trinken wir in Ruhe alle miteinander noch ein Glas Wein. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Es war eine gute Idee von Onkel Wilhelm, die Testamentseröffnung auf einen Tag nach seiner Beerdigung zu bestimmen - organisatorisch gesehen. In vielen Fällen geschieht das erst Wochen danach.“

„Ich glaube, ich trinke auch Wein“, meinte Charlotte und setzte sich. „Ich bleibe ja im Haus. Mein Zimmer gefällt mir übrigens sehr gut. Das Haus ist in Ordnung.“

„Wir befinden uns alle in sogenannten gesicherten Verhältnissen, wie man so sagt. Man könnte einer Testamentseröffnung gelassen entgegensehen. Es ist ja nur ein Zubrot. Onkel Wilhelm war nicht unser Vater. Verwandtschaft zweiten Grades – was immer wer erbt, wir müssen es hoch versteuern. Wenn ich daran denke, wird mir schlecht.“

„Viele würden gern Steuern zahlen, wenn sie überhaupt etwas erben würden.“

„Es ist eine altbekannte Tatsache, wer reich sterben will, muß vorher reich gelebt haben.“

„Chinesische Weisheit - oder was?“

„Wer will schon arm sterben?“

„Und trotzdem hat das letzte Hemd keine Taschen.“

„Das viel zitierte letzte Hemd. Bei Onkel Wilhelm mag das nicht zutreffen, aber – das letzte Hemd - es ist nicht mehr zu verkaufen. Es geht in die Verwesung ein. Man hat sich jedoch meist schon vorher selbst verkauft, lange vorher, mehrerer Hemden wegen.“

„Hat mit Onkel Wilhelm nichts zu tun.“

„Bist du dir da sicher?“

„Du hast sicherlich Recht, Sebastian. Aber die Natur hat uns nun mal kein Fell wachsen lassen. Wir müssen für Kleidung sorgen. Und schön gekleidet, ist immer noch schöner, als hässlich nackt.“ Charlotte versuchte ihr Gähnen vor den anderen zu unterdrücken. Sie wollte sich die beiden nicht nackt vorstellen. Es war alles gesagt worden. Man würde sehen, was es morgen beim Notar gab.

Man beschloss ins Bett zu gehen. Thomas bestellte sich beim Zimmerservice noch einen Rotwein.


Die zweite Möglichkeit, wenn sich das Problem nicht lösen lässt, ist, nach dem geeignetsten Weg zu suchen,

dieses zu umgehen.

Max, nicht Maximilian, war der Erstgeborene der neu gegründeten Familie Lenz. Maximilian war gerade nicht in Mode, und so hatte man auch im Taufregister darauf verzichtet. Man hatte gemeint, bei Max könnte auch nichts verkürzt werden. Drei Buchstaben, und das wäre es. Die meiste Zeit wurde er Mäxchen gerufen.

Max, Leonhard hatte sich mit dem auf die Welt kommen, Zeit gelassen. Zu dem errechneten Geburtstermin rührte er sich nicht. Ein Jahr und vierzehn Tage nach der Hochzeitsfeier wäre es für ihn so weit gewesen. Auch allen ärztlichen Anstrengungen widersetzte er sich. Auf Infusionen reagierte er einfach nicht. Auf die acht Rizinuskapseln bekam seine Mutter nicht einmal normales Bauchweh, geschweige denn dass die Wehen einsetzten. Die Herztöne waren normal. Der Mutter ging es hervorragend. Einer in der Familie, der an Horoskope und Sternzeichen glaubte, meinte, dass man dem ungeborenen Kind die Entscheidung für sein künftiges Leben überlassen sollte. Denn schließlich wären die Daten, der Tag und die Geburtsstunde, wichtig. Für seinen persönlichen Steckbrief sozusagen. Max Leonhard entschied sich für einen Sonntag. Drei Wochen später, als vorgesehen, kam er. Es war der zweite Sonntag im Mai, und Muttertag. Seine Eltern, der Arzt und die Hebamme, die aus medizinischer Sicht in Sorge waren, waren überrascht als die Wehen einsetzten. Auf einmal, ganz ohne ihr Zutun verspürte die junge Frau Wehen. Sein Vater hatte heimlich einen Strauß Rosen für seine Frau gekauft. Er wollte die Blumen seiner Frau zum Muttertag schenken. Als Trost, dass das Kind so lange auf sich warten ließ. Und schließlich war sie mit dem Kind im Bauch auch Mutter. Am Samstagabend stellten sich die Wehen ein. Als sie im Krankenhaus angekommen waren, setzten diese prompt wieder aus. Man nahm die junge Frau mit ihrem ersten Kind nicht ernst, kümmerte sich jedoch fürsorglich um sie. Als ihr Arzt dann auch anwesend war, bemühte sich Max auf die Welt zu kommen. In den Morgenstunden des Sonntags war es dann so weit. Er schrie aus Leibeskräften, wie es von ihm verlangt wurde, schlief dann aber gleich ein. Er war ein kräftiges, gesundes Kind.

Alle fanden ihn schön. Seine Mutter war enttäuscht über die roten Flecken auf seiner Haut. Diese kamen von der längeren Zeit. Das Fruchtwasser, das seine Aufgabe längst erfüllt hatte, hatte seine Haut angegriffen. Nach sechs Wochen hatte Max eine Haut, wie allen anderen Babys auch. Jetzt ließ seine Mutter jeden in den Kinderwagen schauen. Die Fragen, was er denn hätte, waren ihr vorher unangenehm gewesen.

Sonntagskinder können und wollen die anderen Wochentage nicht leugnen.

Max blieb ein Sonntagskind im wahrsten Sinn. Als man anfing, ihm Obst- und Gemüsebreie zu füttern, aß er alles. Alles was man ihm in Mund schob, schluckte er hinunter. Mit zehn Monaten lief er. Am Anfang fiel er oft hin. Er ignorierte seine Unbeholfenheit, versuchte es immer wieder, und fürchtete keine Kanten und Hindernisse. Am liebsten lief er an der Hand seiner Mutter. War sein Vater in der Nähe, ließ sie den kleinen Max auf ihn zulaufen. Der junge Vater konnte es fast nicht glauben, dass das erstgeborene Kind tatsächlich ein Junge geworden war. Er hatte es sich gewünscht. Immer und immer wieder daran gedacht, dass es nur ein Junge wird. Den Argumenten, Hauptsache das Kind ist gesund, hatte er zugestimmt, das war keine Frage. Die wissenschaftliche Aussage, der Vater bestimmt das Geschlecht, war ihm zu abstrakt. Er hatte sich einen gesunden Jungen gewünscht.

Nach zwei Jahren kam sein Bruder Wilhelm auf die Welt. Er sprach nicht viel. Das, was er sagen wollte, sprach er deutlich in Stichworten aus. Während ihrer Schwangerschaft mit Wilhelm hatte die Mutter Max von dem Baby in ihrem Bauch erzählt. Max wusste was ein Baby ist. Es kamen welche zu Besuch. Man hob ihn immer hoch, damit er in den Kinderwagen schauen konnte. „Baby, Baby“, sagte er dann immer ganz verklärt. Manchmal setzte man ihn in einen großen Sessel, und legte ihm unter Aufsicht ein Baby auf seine kleinen Beine. Er lächelte und verhielt sich ganz still. Sonst tobte er im Haus herum. Vorsichtig streichelte er dann dem Baby übers Gesicht. Er tat es so zärtlich, dass keiner der Erwachsenen ihn zur Vorsicht mahnen wollte. Seine Mutter nahm oft seine kleine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Max wusste mit seinen knapp zwei Jahren nicht so genau, was es heißt, dass in dem Bauch seiner Mutter ein Kind sein sollte. Er konnte es nicht sehen. Er vertraute seiner Mutter. Ihr Bauch wurde immer größer. Das nahm er wahr. Früh entwickelte sich seine Begabung für Formen. Manchmal steckte er sich ein kleines Kissen unter seinen Pullover, und betrachtete sich im Spiegel. Das tat er, wenn er einen Augenblick allein war, nie vor den anderen. Sie würden bald ein eigenes Baby im Haus haben.

Sein Bruder Wilhelm kam auch nicht so pünktlich, wie es errechnet worden waren. Der Arzt und die Familie sahen es nicht mehr so eng. Man war das ja von Max gewöhnt. Als die Mutter, mit eineinhalb Wochen Verspätung zur Entbindung ins Krankenhaus fuhr, überließ sie Max der Obhut ihrer Mutter, die extra dazu angereist war, und der Hausangestellten. Dieses junge Mädchen mochte er besonders. Sie war schon da, als er geboren wurde. Sie roch anders als die anderen. Wenn sie mit allein war, nahm sie ihn auf den Arm und küsste ihn. Max ließ es sich gern gefallen. Bald hatte er es heraus, in ihrer Nähe Luft zu holen, und diese dann lang anzuhalten. Er suchte sie auch, wenn er wusste, sie würde ihn hochnehmen und an sich drücken.

Der Vater von Max war in der Firma sehr eingespannt und froh, seinen kleinen Sohn versorgt zu wissen. Er freute sich auf sein zweites Kind. Irgendjemand hatte gesagt, mit einem zweiten Kind wäre man erst eine richtige Familie. Er hatte es nicht richtig verstanden. Es wurde ihm dann erklärt, ein Kind sieht sich immer zwei Elternteilen gegenüber. Wenn zwei Kinder da sind, dann wäre das Verhältnis Kinder zu Eltern ausgewogen. Er wollte mehr Kinder. Die Theorie mit dem Verhältnis und dem Standpunkt sah er allerdings nicht als Gefahr, konnte sie auch nicht so recht nachvollziehen.

Während der einen Woche, in der Mutter im Krankenhaus blieb, entwickelte Max einen nie vermuteten Starrsinn. Es lag vor allem daran, dass seine Großmutter ihn so gut wie nie allein ließ. So konnte er von dem Hausmädchen nicht in die Arme genommen werden. Er kam um das Vergnügen ihren Duft erleben zu dürfen. Er verweigerte jegliche Nahrung, außer Grießbrei. Man gab nach. Grießbrei und ein paar Gläser Milch nahm er am Tag zu sich. Zu anderem Essen ließ er sich nicht überreden. Vorher war er von Grießbrei nicht so begeistert gewesen. In den Grießbrei kam abwechslungsweise Obst oder vom Huhn kleine Fleischstückchen. Huhn war sonst sein Lieblingsessen. Morgens gab es einen Löffel Honig darüber. Aber Grießbrei als Basis musste sein. Das hatten sie erkannt, und hielten sich danach. Das Mädchen badete manchmal heimlich ihre Hände in Milch. Sie wollte nicht, dass es jemand wusste. Ihre Hände wirkten sehr gepflegt. Bei den täglichen Grießbreirationen für Max konnte sie nun bequemer eine Portion Milch für sich abzweigen. Als Diebstahl direkt betrachtete sie es nicht.

Max wollte untertags beschäftigt sein. Da es in dieser Woche regnete, hatte man ihm beim täglichen Spaziergang Gummistiefel und seinen gelben Regenmantel angezogen. Seine Großmutter ging mit ihm zu seinem Vater in die Firma. Max zeigte kein großes Interesse. Er küsste ihn brav auf den Mund, aber groß vermisst schien er ihn zu Hause nicht zu haben. Das Treppenhaus in dem großen Gebäude faszinierte ihn. Er hatte einen Ton gehört, und das Echo bemerkt. Er versuchte es auch. Mit seiner kleinen Stimme brachte er eine enorme Lautstärke zustande. Zuerst war es seiner Großmutter etwas peinlich. Sie fürchtete, es würde stören. Dann fand sie auch Spaß daran, wie Max trällerte und heulte. Er versuchte den Wind nachzuahmen. So wie es die Erwachsenen machten, wenn sie aus einem Kinderbuch vorlasen. Immer wenn er ein paar Töne von sich gegeben hatte, hörte er ins Treppenhaus dem Echo nach. Der verstärkte Hall, den er hörte, den hatte er verursacht. Das kam von ihm.

Gleich nach dem ersten Spaziergang hatte er sich geweigert, seine Stiefel auszuziehen. Man ließ ihm seinen Willen. Er lief in Stiefeln im Haus herum. Da Mutter und Kind im Krankenhaus wohl auf waren, war es abzusehen, bis alles wieder seine gewohnte Ordnung hatte. Das Hausmädchen fühlte sich nicht verantwortlich. Die Mutter der Hausfrau hatte jetzt das Sagen. Am Abend als Max ins Bett gehen sollte, bestand er darauf, mit den Gummistiefeln und seinem Regenmantel, statt in seinem Schlafanzug, schlafen zu gehen. Sein Vater kam auf die Idee mit Mutters Strümpfen. Er zeigte Max Kniestrümpfe seiner Mutter und schlug vor, diese statt der Stiefel ins Bett anzuziehen. Statt dem Regenmantel legte er ihm ein Nachthemd von ihr hin. Max war von der Idee begeistert. Alle waren begeistert, wie schön er in dem Nachthemd, das ihm natürlich viel zu groß war, aussah. Max gefiel es, wie sie ihn bewunderten. Er ließ sich dann problemlos ins Bett bringen.

Die Woche war vorbei. Max befand sich, unter Aufsicht seiner Großmutter, im Hof und watete in einer kleinen Pfütze, die sich nach dem langen Regen gebildet hatte, als das Auto langsam hereinfuhr. Vater hatte Mutter und den kleinen Wilhelm aus dem Krankenhaus geholt. Max begriff, dass seine Mutter nach Hause kam, und erinnerte sich augenblicklich daran, dass sie von einem Baby gesprochen hatte. Großmutter konnte ihn gerade noch festhalten. Sonst wäre er in das Auto gelaufen. Mutter mit dem kleinen Wilhelm auf dem Arm blieb im Auto sitzen, und Max kletterte zu ihr. Er weinte vor Freude.

Diese Zuneigung blieb ein Leben lang. Max entwickelte nie eine Aversion gegen seinen Bruder Wilhelm. Es gab nie einen Streit zwischen den beiden. Wollte Wilhelm einmal ein Spielzeug von Max haben, so überließ dieser ihm das ohne weiteren Kommentar, und wendete sich einer anderen Sache zu. Wilhelm kam allerdings auch nicht zu oft, um mit Max zu spielen. Wilhelm war schon als Kind ein Einzelgänger, und beschäftigte sich am liebsten allein.

Später in der Pubertät meinte Max, sein Name wäre viel zu kurz. Er stellte sich bei Fremden mit seinem zweiten Namen als Leonhard vor. Es gab dadurch einige Missverständnisse. Nach zwei Jahren ließ er es dann wieder sein, und kehrte zu Max zurück.

Max kam in der Schule gut voran, und entschied sich für ein Architekturstudium. Er arbeitete an der Planung von öffentlichen Gebäuden und Kirchen. Er hatte nie, außer für sein eigenes Haus, einen Plan für ein Einfamilienhaus entworfen. Es stand nie zur Diskussion an, dass er in der Firma seines Vaters arbeiten sollte. Während seines Studiums, im Praktikumssemester, lernte er seine spätere Frau kennen. Die Liebe zum Detail verband die beiden. Der einzelne Teil, der den Bestand des Ganzen ausmachte, war ihnen wichtig.

Die Liebe ist es – die Liebe zum Detail, sie lässt es zur Hauptsache werden.

Seine Frau wurde schwanger und erwartete Zwillinge. Die Zwillinge kamen vier Wochen zu früh zur Welt. Max freute sich über seine beiden Kinder Sebastian und Thomas. Sie waren gesund. Aber ein wenig Enttäuschung fühlte er, dass sie zu früh gekommen waren. Er hatte erwartet, sie würden ihre Geburt so spannend wie er seinerzeit hinauszögern. Zwillinge kommen immer früher, das bestimmt schon die Platznot. Dieses Argument ging an ihm vorbei. Bei diesen beiden Söhnen blieb es.

Max und seine Frau führten eine harmonische Ehe. Unterschiede ziehen sich an. Sie waren der Meinung, nur Gleiches würde es tun. Sie waren sich in so vielen Ansichten einig, dass der eine für den anderen, wenn der gerade nicht da war, eine Entscheidung treffen konnte. Der andere stimmte nachträglich selbstverständlich zu.

Als Sebastian und Thomas schon aus dem Haus waren, sie studierten an der Universität, zog Max sich eine heftige Lungenentzündung zu. Er war vorher nie krank gewesen. Schon dass er sich ins Bett legte, war ungewöhnlich. Seine Frau war beunruhigt, und pflegte ihn sehr aufmerksam. Der Arzt kam jeden Tag. Eine Einweisung ins Krankenhaus hatte keiner für notwendig gehalten. Das Fieber war nicht übermäßig hoch, der Allgemeinzustand des Patienten nicht Besorgnis erregend. Nach zwei Wochen starb Max. Es war niemand ein Vorwurf zu machen. Seiner Frau nicht, dem Arzt nicht. Mit dem Tod hatte man nicht gerechnet.

Träume ich von Schmetterlingen –

treibe ich im Wind, eine Blüte suchend.

Sie wird das Sehnen wiegen –

meine Seele ihren Schlaf finden.

Zunächst machte es für Außenstehende den Eindruck, dass seine Frau nicht sehr um ihn trauerte. Sie weinte kaum, sie klagte nicht um ihn. Ihr Umfeld wollte sie trösten, fand aber keinen Bedarf bei ihr. Man wusste sich kein richtiges Bild zu machen. Sie zog sich von den anderen zurück. Sechs Wochen nach der Beerdigung ihres Mannes starb auch sie. Einfach so, ohne sichtlich krank gewesen zu sein. Sie hatte ihre Söhne, Sebastian und Thomas allein gelassen, und war ihrem Mann gefolgt. Die beiden waren noch nicht verheiratet, als sie ihre Eltern beerdigten. Geld, dass sie ihr Studium problemlos fortsetzen konnten, hatten ihre Eltern ihnen genügend hinterlassen.

Augustes Rosen

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