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Vierzehn oder: it’s fun to lose and to pretend

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I hate myself and I want to die, schreibt Anna in ihr Tagebuch. Sie mag nicht mehr Mathe lernen, nicht mehr Latein. Mein Kopf zerplatzt gleich, gleich muss ich mich übergeben, schreibt sie. Sie möchte herumliegen und nichts tun. Sie wollen mich mästen, schreibt sie in ihr Tagebuch und hört, liest, wiederholt immer wieder, and I forget just why I taste. Sie versucht es mit den Mädchen aus ihrer Klasse, die sich jeden Tag streiten, sie versucht es mit den wenigen coolen Typen in der Schule, sie schreibt, ich will nicht sterben, ich will anders sein, jemand, mit der die coolen Leute reden, die Leute mit den bunten Haaren und den zerrissenen Hosen, mit den Wollwesten, Converse und Piercings.

Sie sitzen gegenüber vom Breakdance am Boden, zwischen der Geisterbahn und dem Karussell, der eine klein mit einem roten Iro, der andere sieht aus wie Kurt Cobain, nur größer. Sie verbeugen sich vor den Rummelplatzbesuchern, sie lachen alle aus, nur Anna, Petra und Melli lachen sie an. Anna, Petra und Melli kommen näher, bleiben stehen, setzen sich zu ihnen auf den Boden.

»Ich bin der Kurt«, sagt er.

»Wirklich?«, fragt Anna.

»Was ist schon wirklich«, sagt er und prostet Anna zu, hält ihr eine Bierdose entgegen und eine seiner selbst gedrehten Zigaretten. Seine Augen sind groß und blau, seine Haare blond, gebleicht, seine Jeans löchrig. Die Sätze hängen wie abgerissene Fäden zwischen ihnen, die Blicke durchbrochen von bunten Lichtkegeln und die Bügel vom Breakdance schließen sich, die Plattform beginnt sich zu neigen, zu heben, zu drehen.

Als Anna Kurt das nächste Mal sieht, lacht er nicht. Sie weiß nicht, ob er sie begrüßt, weil sie, sobald er sie ansieht, wegschaut. Sie weiß nicht, ob er sich an sie erinnern kann, es würde sie wundern, wenn er sich an irgendetwas und gerade an sie erinnern kann, aber sie bildet sich ein, dass er sie ansieht, die nächsten Male, als sie sich über den Weg laufen, sie bildet sich ein, dass er sie sieht, wenn sie ihn sieht und sie sieht ihn immer. Am Hauptplatz zwischen den anderen, im Park zwischen den anderen, auf der Straße kommt er ihr entgegen und steht vor dem Keller herum, obwohl er alt genug ist, um hineinzudürfen. Er sitzt auf der Straße vor dem Keller neben ihr, zufällig, denkt sie und dass er traurig aussieht, traurig und schön, obwohl er alle kennt, obwohl alle auf ihn stehen, obwohl er aussieht wie Kurt Cobain, als einziger wirklich ist wie Kurt Cobain.

Anna fühlt sich, als wäre sie betrunken, obwohl sie noch nie so richtig betrunken war. Sie sitzt in der Schule und alles beginnt sich zu drehen, sie geht von der Schule nach Hause und hat das Gefühl, über der Straße zu schweben. »Das Wachstum«, heißt es, »der Kreislauf«, hört Anna die anderen sagen, oder weil sie weniger isst, denkt sie, sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich weniger isst.

Anna verdreht den Oberkörper und versucht sich im Spiegel von hinten zu sehen. Sie schlüpft aus der Jeans, in die andere Jeans hinein, blickt in den Spiegel, verdreht sich, so weit sie kann.

»Komm heraus«, hört sie die Stimme der Mutter.

Anna öffnet die Tür der Umkleidekabine, macht einen Schritt nach vorne, dreht sich einmal um die eigene Achse. »Ist die nicht ein bisschen zu eng«, sagt die Mutter und Anna zuckt mit den Schultern, geht zurück in die Umkleidekabine, schlüpft aus der Jeans, blickt auf das Etikett mit der Größe, die darf nicht zu eng sein, denkt sie.

Anna geht mit der Mutter durch die Fußgängerzone, hoffentlich trifft sie jetzt niemanden, denkt sie, es ist noch Vormittag, aber Schulschluss, die Fußgängerzone füllt sich, sie blickt hinunter auf die neuen Schuhe. »Nicht wieder schwarz«, hat die Mutter gesagt und die Farbe ist eigentlich ganz okay, denkt Anna, braun wie Dreck. Sie sieht auf, sieht auf der anderen Straßenseite, zwischen den anderen Fußgängern, über den anderen Köpfen die hell blondierten Haare von Kurt. Sie spürt einen Stich im Bauch, einen Schwindel, blickt zurück auf die Schuhe, atmet ein. Sie sieht wieder auf, dreht sich um, sieht Kurts Haare, seine grüne Wollweste, seinen roten Rucksack zwischen den anderen Fußgängern verschwinden.

»Habt ihr nur Kleidung eingekauft, oder gibt’s auch was zu essen?«, fragt Heinz, als sie mit den Einkaufstaschen im Vorzimmer stehen.

»Mathe-Genie bist du keines«, sagt er, als er den einzigen Zweier in Annas Zeugnis entdeckt, er grinst und drückt ihr einen Geldschein in die Hand, tätschelt ihr die Wange.

Anna geht in ihr Zimmer, zieht die neue Jeans und das dunkelblaue Shirt an. Sie geht ins Bad, kämmt die Haare und zerzaust sie wieder, bindet sie zusammen, seufzt, geht zurück ins Vorzimmer und schlüpft in die neuen Converse.

»Willst du nicht Mittag essen?«, ruft die Mutter aus der Küche.

»Wo geht sie jetzt wieder hin?«, ruft Heinz aus dem Wohnzimmer.

»Zum Abendessen bist du aber wieder da!«, ruft die Mutter.

»Nimm dir eine Weste mit«, hört Anna, als sie schon im Treppenhaus ist, sie läuft die Stufen hinunter.

Annas Lippen glühen, bildet sie sich ein und die Augen sind glasig, stellt sie fest, als sie später im Lift nach oben fährt. Sie blickt in den Spiegel, sieht ihr Gesicht und kann es nicht fassen, dass sie mit Kurt gesprochen, dass Kurt ihr zum Abschied ein Bussi auf den Mund gegeben hat, ihr und Melli, und dass sie und Melli ihn vielleicht, wahrscheinlich, hoffentlich gleich wiedersehen werden im Keller. Sie öffnet die Wohnungstür, es riecht nach Essen.

»Da bist du ja endlich«, sagt die Mutter, »deck bitte den Tisch.«

Anna geht in die Küche, greift zum Schrank, »hast du dir die Hände gewaschen?«, fragt die Mutter. »Natürlich«, sagt Anna, sie nimmt die Teller aus dem Schrank, nimmt Messer und Gabeln aus der Lade, »Suppe gibt es auch«, sagt die Mutter und Anna nimmt Löffel, greift wieder zum Schrank, nimmt die Suppenteller, »Servietten«, sagt die Mutter, Anna nimmt die Servietten und geht ins Wohnzimmer, stellt drei flache Teller, legt drei Servietten, stellt zwei Suppenteller, faltet drei Servietten, legt die Gabeln links, die Messer und Löffel rechts neben die Teller, »den Salat«, ruft die Mutter aus der Küche und Anna holt die Salatschüssel. Heinz steht vom Sofa auf und die Mutter trägt die Suppe herein, »den Untersetzer, bitte«, sagt die Mutter, Anna holt den Untersetzer und die Mutter stellt die Suppe auf den Tisch, sie nimmt den Schöpfer, hebt den Schöpfer hoch, hält inne.

»Ich mag keine Suppe«, sagt Anna.

»Sie weiß einfach nicht, was gut ist«, sagt Heinz und schüttelt den Kopf, die Mutter leert Annas Anteil in den Teller von Heinz, die Mutter geht zurück in die Küche.

»Darf ich noch mit Melli in den Keller gehen?«, fragt Anna, als die Mutter mit der Pfanne wiederkommt.

»Jetzt isst du zuerst einmal etwas«, sagt die Mutter und legt Anna ein Stück Fleisch auf den Teller und drei Kartoffeln dazu, drei riesige Kartoffeln, denkt Anna, sie isst Salat, »immer nur Salat«, sagt Heinz. Anna zwingt sich ein Stück Fleisch abzuschneiden und es in den Mund zu schieben, sie zwingt sich ein Stück Kartoffel, noch ein Stück Kartoffel zu essen.

»Ich kann nicht mehr«, sagt sie dann und »bitte, Mama, heute ist der letzte Schultag, alle gehen heute aus!«

»Bis halb zehn«, sagt die Mutter.

Anna und Melli biegen ums Eck, Anna sieht Kurt vor dem Keller stehen, er wartet wirklich vor dem Keller auf sie und er gibt Melli und ihr zur Begrüßung wieder ein Bussi auf den Mund. Er gibt sonst niemandem ein Bussi auf den Mund. Er öffnet die Tür zum Keller und Anna geht vorbei an den Türstehern, die sie heute nicht nach dem Ausweis fragen, geht hinein ins Dunkle, einen Gang entlang und die Stufen hinunter. Es riecht nach Bier, nach Rauch und Schweiß, Anna atmet ein.

Kurt begrüßt den Kellner hinter der Bar, der Kellner reicht ihm ein Bier, Melli nimmt ein Bier für sich und Anna gemeinsam. Kurt führt sie ganz nach hinten, an einen großen Tisch. Er setzt sich auf die eine Seite, Melli setzt sich neben ihn, Anna setzt sich gegenüber, ein Fehler, denkt sie sofort, denkt sie zu spät. Die beiden reden auf der anderen Seite des Tisches, die Musik ist laut, sie versteht kein Wort, hört nur die Musik, I’m so ugly, that’s okay, cause so are you. Kurt sieht auf, sieht sie an, schiebt die Zigarettenschachtel über den Tisch. Anna schüttelt den Kopf.

»Ich will noch wachsen«, ruft sie.

»Ich nicht«, sagt er, liest sie von seinen Lippen ab, die Farbe seiner Lippen, seine Gesichtsfarbe, die gebleichten Haare, wie er sich eine Zigarette in den Mund steckt, daran zieht und sie anlächelt, wie er von allen Menschen gerade sie anlächelt, wie er sie so anlächelt, dass Melli nachher auf dem Nachhauseweg zu ihr sagt: »Er mag dich viel lieber als mich.«

»Wir haben nicht mal miteinander geredet«, sagt Anna.

»Weißt du, was er gesagt hat«, sagt Melli, »dass du hübsch bist«, und dann sagt Melli gar nichts mehr.

Anna denkt an Kurt, während sie ihre Längen durch den Pool zieht, immerhin hat das Haus einen Pool, denkt sie, immerhin ist es für irgendetwas gut, das Haus von Heinz, wenn sie schon hier sein muss, viel zu weit weg von allem, viel zu weit weg von Kurt. Sie fragt sich, ob er einfach nie in der Stadt war, wenn sie in der Stadt war, fragt sich, ob er jetzt gerade in der Stadt unterwegs ist, fragt sich, ob es ihn wirklich gibt, ob er sie wirklich hübsch findet, ob sie ihn wiedersehen wird, stellt sich immer wieder vor, wie es wäre. Morgen, denkt sie, morgen ist sie wieder zu Hause und bis morgen, nimmt sie sich vor, wird sie nichts mehr essen. Sie klettert aus dem Pool und legt sich in die Sonne, sie betrachtet den Bauch. Sie zieht ihn so tief ein, wie sie kann, ein Loch, sie betrachtet die Bikinihose, die sich über die Hüftknochen spannt. Sie stellt die Beine auf und spannt die Muskeln an, starrt auf die Teile der Oberschenkel, die locker nach unten hängen, die müssen weg.

»Willst du ein Eis?«, ruft die Stimme von Heinz und Anna schüttelt den Kopf, steht auf, geht an Heinz vorbei ins Haus, ins Badezimmer, stellt sich auf die Waage, die Waage von Heinz zeigt noch mehr an als die Waage der Mutter.

Anna schiebt den Einkaufswagen den Gang entlang, blickt auf die Milch, das Joghurt, den Sauerrahm, die Butter, schiebt den Wagen langsam weiter, schiebt gegen einen Widerstand, gegen eine zerrissene Jeans, spürt einen Stich in der Mitte.

»Hallo«, sagt Kurt, »was machst du da?«

»Einkaufen für Mellis Mutter«, sagt Anna schnell.

»Was suchst du?«, fragt er.

»Topfen«, sagt sie.

»Topfen«, wiederholt er, greift nach oben und hält ihr eine Packung hin.

»Noch zwei Packungen, bitte«, sagt sie und beobachtet Kurts Arme, wie sie nach dem Topfen greifen, wie sie den Topfen in den Wagen legen, wie dünn seine Arme sind, denkt sie und plötzlich steht Melli da und sieht von Kurt zu Anna und von Anna zu Kurt.

»Was machst du da?«, fragt Melli.

»Einkaufen für deine Mutter«, sagt Kurt und lacht. Er fragt, ob es Topfentorte gibt und ob er mitkommen darf, und Melli nickt und legt die Sachen in den Einkaufswagen, Anna schiebt den Wagen hinter den beiden her. »Die Anna hat sich schon solche Sorgen gemacht«, sagt Melli, Kurt dreht sich um und fragt »wirklich?«, und Anna sieht hinunter auf die Converse, sie möchte den Einkaufswagen in Melli rammen.

Später sitzt Kurt in Mellis Zimmer, spielt auf Mellis Gitarre, singt Polly wants a cracker und sieht dabei Anna an. Später bedankt sich Kurt bei Mellis Mutter, umarmt Melli zum Abschied. »Ich bring dich nach Hause«, sagt er zu Anna.

Sie gehen über den Hauptplatz, durch die Fußgängerzone, durch Annas Straße, sie stehen vor ihrem Haus.

»Hier wohnst du?«, fragt Kurt, sie nickt.

»Es ist kalt«, sagt er, »gehen wir rein?«

»Anna«, sagt er, als sie im Halbstock zwischen dem ersten und dem zweiten Stock stehen, »Anna, ich hab dich lieb.«

Er macht einen Schritt auf sie zu, beugt sich nach unten, legt die Arme um sie, drückt sie an sich, sanft zuerst, dann fester. Sie spürt den Stoff seiner Weste, seine Wärme, seinen Atem auf dem Hals.

»Ich dich auch«, sagt sie leise, so leise, dass sie nicht weiß, ob er es hört, sie hebt den Kopf, sein Gesicht kommt näher, seine Lippen berühren ihre. Er tritt einen Schritt zurück, nimmt ihre Hände, sieht ihr in die Augen.

»Du gehst mit einem Selbstmörder«, sagt er, das Licht im Treppenhaus geht aus.

Am nächsten Tag steht Kurt vor dem Einkaufszentrum und gibt Anna einen Kuss auf den Mund. Er nimmt sie an der Hand und zieht sie hinein, sie fahren mit der Rolltreppe nach oben. Ganz oben gibt es keine Geschäfte, gibt es kaum Menschen, sie gehen nach hinten, hinter die Toiletten und setzen sich auf den Boden. Sie sehen von oben auf den Hauptplatz, sehen sich in die Augen. Seine Lippen sind weich und kühl, berühren ihre, sanft, und seine Zunge berührt ihre, sehr vorsichtig, bewegt sich in ihrem Mund, verschwindet wieder. Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schiebt sie hinter ihr Ohr, greift nach ihren Händen, legt die ineinander verschränkten Hände auf ihr Knie und zieht sie wieder zu sich. Es ist genauso, wie es sein soll, denkt sie, genauso, wie sie sich das vorgestellt hat, sie wird ihn für immer lieben.

»Stimmt es, dass du mit Kurt herumgeknutscht hast?«, fragt Petra am Telefon, sie weiß es von Melli, die es von irgend jemandem in der Stadt weiß, der sie gesehen hat, wie sie Hand in Hand die Rolltreppen hinaufgefahren sind.

»Melli ist voll fertig, sie meint, sie redet nie wieder mit dir, sie meint, sie liebt den Kurt über alles«, sagt Petra und Anna wird schwindlig, ihr wird schlecht, sie sieht schwarze Punkte vor den Augen, sie ruft bei Melli an, Mellis Mutter sagt, Melli ist nicht da.

»Der will doch nur Sex mit dir, das weiß doch die ganze Stadt«, sagt Melli, als Anna sie endlich erreicht, »glaubst du, der interessiert sich wirklich für dich?« Anna legt auf, geht ins Bad, setzt sich auf die Badewanne und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel, es ist so bleich wie die Haare von Kurt, unter ihren Augen schwarz, denkt sie, alles ist schwarz.

»Ist etwas passiert?«, fragt die Mutter, als Anna in der Früh nicht aufsteht.

»Was hat ihr jetzt wieder den Appetit verschlagen?«, fragt Heinz.

»Wenigstens wird sie vor dem Urlaub krank«, sagt die Mutter.

»Irgendein Kurt hat angerufen«, sagt Heinz.

Sie weiß, denkt Anna im Fieber, dass Kurt wirklich mit ihr zusammen sein will, sie weiß nicht, denkt sie, während sie zittert und schwitzt, ob sie das kann, wenn alle sie dafür hassen, sie weiß nur, denkt sie, während das Fieber langsam sinkt, dass sie Kurt, dass sie Melli und Petra nicht verlieren will.

Das Rauschen des Meeres, das Kreischen der Möwen, die Stimme der Mutter, die Annas Namen sagt, »aufstehen«, heißt es, »frühstücken«, heißt es, »dass wir noch was bekommen«, sagt Heinz und Anna rutscht aus dem Bett, schleppt sich ins Badezimmer, wäscht das Gesicht mit kaltem Wasser. Sie folgt der Mutter und Heinz hinunter in den Frühstücksraum, folgt ihnen an den Tisch, bleibt sitzen, als die beiden zum Buffet gehen. Sie gießt sich Kaffee aus der Kanne in die Tasse und trinkt. Die Mutter und Heinz kommen zurück, auf dem Teller der Mutter Weißbrot und Salami und drei Scheiben Gurke, auf dem Teller von Heinz Eier mit Speck und Bohnen und Toastbrot. Anna sieht weg.

»Holst du dir nichts?«, fragt die Mutter.

»Ich hab keinen Hunger«, sagt Anna, »ich schlafe eigentlich noch.«

»Man sieht’s«, sagt Heinz, »aber nachher gibt’s nichts mehr.« Er schiebt sich ein Stück Speck in den Mund.

Anna rutscht mit dem Stuhl zurück, steht auf, geht zum Buffet. Sie geht vorbei am Brot und der Wurst und dem Schinken und dem Käse und dem Frischkäse und dem Frühstücksspeck und den Eiern und dem aufgeschnittenen Gemüse und noch mehr Eiern und Aufstrichen und wieder Brot, vorbei am Müsli und den Frühstücksflocken, sie steht vor dem Obst und dem Joghurt. Von links nähert sich ein dicker Mann, der sie fast berührt, und von rechts eine dicke Frau, und Anna weicht zurück und geht weiter, vorbei an den Croissants und dem Kuchen und den Schokokeksen und den Säften. Sie könnte einen Saft trinken, denkt sie, aber sie kann nirgends Gläser sehen. Sie spürt den Blick der Mutter im Rücken, spürt, wie der Raum anschwillt, wie alles anschwillt um sie herum, sie steht wieder vor dem Joghurt. Sie nimmt sich eine Schüssel, leert ein wenig Joghurt hinein, nimmt sich einen Löffel und setzt sich zur Mutter und zu Heinz an den Tisch. Die Mutter zieht die Augenbrauen hoch und Heinz seufzt, steht auf und holt sich Nachschub.

Die Frau auf der Liege neben Anna steht auf und beugt sich nach vorn. Die Brüste und der Bauch hängen nach unten und baumeln hin und her. Anna dreht den Kopf, starrt auf den Bauch eines Mannes, der sich hebt und senkt, immer noch größer und größer wird. Sie schließt die Augen und denkt an Kurt. Kurt ist ein Gerippe, würde die Mutter sagen, wenn sie ihn sehen würde, wenn Anna ihn der Mutter vorstellen würde, was sie müsste, wenn sie von ihm erzählen würde. Was sie irgendwann tun muss, denkt sie und öffnet die Augen.

Die Mutter cremt Heinz den Rücken ein, die Mutter trägt einen Badeanzug und hat im Vergleich zu den anderen Frauen am Strand eine Figur, die noch die Figur eines Menschen und nicht die eines Walrosses ist, denkt Anna, sie hat keine Ahnung, wie die Mutter das macht. Die Mutter dreht sich um und hält ihr die Sonnencreme entgegen. Anna schüttelt den Kopf.

»Ich bleibe im Schatten«, sagt sie.

»Nachtschattengewächs«, sagt Heinz und lacht. Anna lehnt sich zurück und sieht aufs Meer, sie denkt an Kurt, eine Woche noch, denkt sie, eine Woche, dann sieht sie ihn wieder, sie will mit ihm zusammen sein, hat sie beschlossen.

Grashalme streifen Annas Arme, das Gras reicht ihr bis zur Hüfte, es ist trocken, sticht. Vor ihr Kurts lange Beine, sein Rücken, sein roter Rucksack, vor Kurt Edis roter Iro. Anna dreht sich um, Petra kneift die Augen zusammen, zuckt mit den Schultern, sie gehen Richtung Baustelle, Richtung Kräne, die Kräne drehen sich leicht im Wind. Bald wird es dunkel, denkt Anna, aber Edi kennt den Weg, kennt alle Wege durch die Felder, die Baustellen, Edi kennt sich aus. Vor ihnen eine Lichtung, ein Schatten, eine Betonplatte. Zu viert haben sie gerade Platz darauf, sie vier und Kurts Rucksack, aus dem er die Bierdosen zieht, die Zigaretten und ein Säckchen mit Gras.

»Schau«, sagt er, »schau, wie schön«, er öffnet es und hält es Anna unter die Nase. Sie riecht daran, es riecht wie alles um sie herum, eine Spur intensiver vielleicht.

»Das sind Blüten«, sagt er, lächelt und hält ihr die Zigarettenpackung hin.

»Kannst du einen Filter machen?«, fragt er und Anna schüttelt den Kopf, sieht zu Petra, sie schüttelt auch den Kopf.

»Ich zeig’s euch«, sagt Edi und nimmt ihr die Zigarettenpackung aus der Hand, reißt ein Stück Karton aus dem Deckel, rollt es fest zusammen und reicht es Kurt. Kurt legt den Filter ans Ende, verteilt Tabak und Gras, schleckt über das Paper, rollt, streicht, streichelt den Joint, lächelt, zündet ihn an und zieht.

»Ich geb dir einen Schuss«, sagt er zu Anna und steckt den Joint verkehrt herum in den Mund und beugt sich zu ihr. Ihre Lippen schließen sich um den Filter, Kurts Augen ein unscharfes Blau, sie atmet ein und hustet.

»Beim ersten Mal spürst du nichts«, sagt Edi und Anna denkt, er hat recht, sie spürt nichts, nichts Besonderes, nur Kurt, der seine Hand auf ihren Oberschenkel legt, Kurt, glücklich und zufrieden, Kurt, der wieder und wieder am Joint zieht und eine Spur von ihr wegrutscht, Kurt, der, denkt sie plötzlich, von der Betonplatte rutschen wird. »Die Platte ist schief«, sagt Anna, die anderen grinsen.

»Die Platte kippt«, ruft sie dann und greift nach Kurts Hand, er zieht sie weg, schüttelt den Kopf. Sie greift nach seinem Arm, sie will nicht, dass er von der Platte rutscht.

»Lass das«, sagt Kurt und schüttelt ihren Arm ab und sie fällt gegen ihn, er fällt, rutscht zur Kante, halt dich fest, will sie sagen, sie klammert sich an ihn, er schüttelt sie ab.

»Was Süßes?«, fragt Edi und zieht eine Tafel Schokolade hervor, gibt sie Petra, die sich eine Rippe abbricht und Anna die Tafel hinhält. Schokolade, denkt Anna, irgendwie wäre Schokolade jetzt nicht schlecht. Sie bricht sich ein Stück ab, steckt es in den Mund, Kurt beginnt einen neuen Joint zu bauen, »bevor es ganz dunkel ist.«

Die Schokolade verklebt Anna den Mund, wird immer mehr, erst süß, dann bitter, dann säuerlich, dann ist sie weg bis auf den schalen Nachgeschmack. Nie wieder ein Stück, denkt Anna, ein Stück noch, denkt sie, nur noch ein Stück.

Die Mutter wischt über den Tisch, verschränkt die Hände und sagt: »Wie hast du dir das vorgestellt, mit deinem«, sie räuspert sich, »Bekannten? Hast du dir vorgestellt, er kann zu uns kommen, bei uns schlafen, du kannst zu ihm fahren? Willst du mit vierzehn Jahren die Pille nehmen?«

Anna deutet ein Nicken an.

»Ich verbiete dir das«, sagt die Mutter.

Anna schüttelt den Kopf.

»Ich verbiete dir, mit ihm zu schlafen«, sagt die Mutter.

Das kann sie nicht, denkt Anna, das kannst du nicht, will Anna sagen, das geht doch nicht, »du kannst mir keinen Menschen verbieten«, sagt sie leise, »ich verbiete dir keinen Menschen«, sagt die Mutter, »ich kann ja verstehen«, beginnt die Mutter, die Mutter versteht überhaupt nichts, denkt Anna und starrt auf die Hände der Mutter, die über die Tischplatte wischen, immer wieder über die Tischplatte wischen. Die Mutter kann ihr nicht den Menschen verbieten, den sie liebt, denkt Anna, die Mutter verbietet ihr nie etwas und jetzt gerade das. Die Mutter greift über den Tisch, greift nach Annas Hand, will eine Hand auf ihre legen.

»Anna«, sagt die Mutter, »ich will nicht, dass unser Vertrauen verloren geht.«

Anna schüttelt den Kopf, zieht die Hand weg, steht auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu und schreibt in ihr Tagebuch.

Die Mutter spricht nicht mehr mit ihr. Sie schweigt auf eine Art und Weise, wie sie noch nie geschwiegen hat. Wenn Anna die Mutter fragt, was los ist, sieht die Mutter durch sie hindurch. »Bitte rede mit mir«, sagt Anna schließlich zur Mutter, sagt sie immer wieder, dann gibt sie auf, geht in ihr Zimmer, macht die Tür zu.

Später, viel später, macht die Mutter die Tür auf, steht im Türrahmen, sieht Anna an und sagt: »Ich habe dein Tagebuch gelesen.«

Anna öffnet den Mund, sie will etwas sagen, sie weiß nicht was, weiß nicht wie.

»Ich bin entsetzt«, sagt die Mutter, »was für ein Mensch meine Tochter ist. Ein Mensch mit so hässlichen Gedanken. Ich hätte mir das nie«, sagt die Mutter, »von meiner Tochter gedacht.«

Anna schließt den Mund, sieht auf die Tischplatte.

»Du solltest dich schämen«, sagt die Stimme der Mutter, Anna will sagen, dass es ihr leidtut, will sagen, dass sie irgendwo ihre Gefühle loswerden muss, »wirklich schämen«, hört Anna, sie sieht auf, öffnet den Mund, die Mutter dreht sich um und geht davon. Nie wieder Tagebuch schreiben, denkt Anna, anders mit den Gefühlen zurechtkommen, am besten gar keine Gefühle haben, nimmt sie sich vor.

Es hat ziemlich weh getan, schreibt Anna drei Monate später in ihr neues Tagebuch und dass sie seitdem endlich einen Tampon einführen kann. Die Mutter hat behauptet, dass jemand angerufen und gesagt hat: Wissen Sie, dass Ihre Tochter mit dem Kurt schläft? Ich weiß nicht, ob die Mutter lügt, ob die Mutter sich das ausdenkt oder ob wirklich jemand, ob vielleicht sogar Melli, Anna streicht Mellis Namen durch.

Sie schreibt, dass die Mutter ihr einen Schwangerschaftstest, Anna macht drei Rufzeichen, in die Hand gedrückt hat und dass sie ihre Tage erst bekommen hat, nachdem sie auf den Test gepinkelt hat, obwohl sie natürlich, Anna macht ein Rufzeichen, ein Kondom verwendet haben. Das Tagebuch versteckt sie ganz oben im Regal, hinter den Bilderbüchern.

»Beim Essen«, sagt Heinz, »kommen die Leute zusammen«, und er bietet Kurt sogar ein Bier an. Es gibt Suppe in Suppentellern, es gibt eine Hauptspeise, es gibt Salat in kleinen Glasschüsseln, es gibt sogar eine Nachspeise, Anna bemüht sich zu essen. Heinz bietet Kurt einen Kaffee an und Anna wartet darauf, dass er ihm einen Cognac anbietet und sich mit ihm zum Rauchen in den Salon zurückzieht, in den Salon, den sie nicht haben, und sie weiß nicht, was ihr peinlicher ist, Heinz, so betont lässig, oder der strenge Blick der Mutter auf Kurts nacktem Knie, auf seiner zerrissenen Hose, auf seinen Haaren, »er sollte sich mal kämmen«, sagt die Mutter später, »oder zumindest die Haare waschen.«

»Er soll sich eine neue Hose kaufen«, sagt Heinz, »so wird aus dem nie etwas.«

Kurt kommt nie wieder zu ihr nach Hause, an den Samstagen darf sie ihn sehen, unter der Woche muss sie lernen, »in der Schule darf sie nicht abfallen«, heißt es, unter der Woche darf sie nicht ausgehen und in der Stadt abhängen, so der Deal, nur am Samstagnachmittag, nach dem Mittagessen, Samstag und Sonntag essen sie gemeinsam zu Mittag, »wie es sich gehört.«

»Keine Suppe für mich«, sagt Anna.

»Will sie jetzt auch noch abnehmen?«, fragt Heinz die Mutter.

»Und Fleisch isst sie auch keines mehr«, sagt er kopfschüttelnd und isst ihr dennoch den Salat weg, mit der Gabel sticht er auf die einzelnen Salatblätter ein, mit Gabel und Messer zerteilt er das Fleisch, zerkratzt mit dem Messer das Porzellan und Anna will schreien und davonlaufen, sie sagt, es kratzt in ihrem Inneren, es zieht in ihren Zähnen, dieses Geräusch, doch die Mutter und Heinz schütteln nur den Kopf, »überempfindlich«, heißt es und »Pubertät« und nachdem Anna den Tisch abgeräumt und den Geschirrspüler eingeräumt hat, geht sie zum Kühlschrank und nimmt sich ein Vanillejoghurt.

»Das isst sie also«, sagt Heinz und Anna denkt, dass er recht hat, dass sie sich das Joghurt sparen sollte. Sie geht ins Bad, versperrt die Tür, sieht in den Spiegel, umrahmt die Augen mit schwarzem Kanal, fährt sich durch die Haare, bis sie nach allen Seiten abstehen.

»Wie eine Hexe«, sagt Heinz.

»Um zehn bist du wieder da«, sagt die Mutter.

»Halb elf«, sagt Anna.

»Zehn«, sagt die Mutter.

Kurt sitzt in der Wiese mit Edi und den anderen, Anna geht auf ihn zu, gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Er hält ihr seine Bierdose hin, sie trinkt, er bietet ihr eine Zigarette an, sie verneint, sie setzt sich neben ihn in die Wiese. Sie sitzen, reden, trinken, sie rauchen einen Joint, einen Joint nach dem anderen.

Später gehen sie und Kurt durch die Fußgängerzone, ein Kopfhörer in ihrem, ein Kopfhörer in seinem Ohr, sie spürt den Boden nicht mehr, sie schwebt, sie spürt noch Kurts Hand in ihrer, die Hand wird taub, sie spürt die Arme nicht mehr, die Beine, nur mehr die Mitte, den Magen. »Kurt«, sagt sie, sie wundert sich, dass sie noch sprechen kann, »mir ist schlecht«, sagt sie, Kurt sieht sie an, »du siehst aus, als müsstest du gleich kotzen«, sagt er und drückt ihre Hand, zieht sie ins Einkaufszentrum, fährt mit ihr die Rolltreppen hinauf, zieht sie Richtung Toiletten. »Ich kann nicht mehr«, sagt sie und lehnt sich gegen die Wand, er hält ihre Haare, sie beugt sich über den Mülleimer. »Am Dope kann es aber nicht liegen«, sagt er, als sie fertig ist, »das ist gutes Dope.«

»Es geht schon wieder«, sagt sie und nimmt einen Schluck Bier gegen den Geschmack von Kotze im Mund.

Anna springt vom Boden auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab. Sie hört das Zittern in ihrer Stimme, als sie ihren Nachnamen sagt, sie hört das Rauschen in den Ohren und die Stimme von irgendjemandem, der sie nicht interessiert. »Die sind nicht da«, sagt sie und legt auf. Sie geht ins Badezimmer und stellt sich auf die Waage. Die Waage zeigt seit Wochen das gleiche Gewicht. Sie geht ins Wohnzimmer, legt sich auf den Teppich und fährt damit fort, die Beine zu heben, zuerst auf der Seite liegend, dann auf dem Bauch, dann auf dem Rücken, sie macht alle Übungen aus dem Buch, das die Mutter ihr geschenkt hat. Schlank und schön, liest Anna auf dem Einband, dann blättert sie in der Frauenzeitschrift, die die Mutter von Petras Mutter bekommen hat, sie liest die Diättipps, die Kalorienangaben neben den Rezepten. Sie weiß nicht, was sie falsch macht. Das Telefon läutet und sie springt auf, läuft ins Vorzimmer und hebt den Hörer ab.

»Anna?«, fragt Kurt.

»Kurt«, sagt sie und ignoriert die Punkte, die schwarzen Punkte, die schon wieder in ihrem Gesichtsfeld herumschwirren.

»Wie geht’s?«, fragt er und Anna erzählt, dass die Mutter und Heinz nicht da sind, dass sie erst übermorgen wiederkommen und fragt ihn, ob er zu ihr kommen mag.

»Ich muss noch was erledigen«, sagt Kurt, »wie heißt der Schulkollege von dir, der Gras anbaut?«

»Paul?«, fragt sie.

»Kannst du den morgen Abend in den Keller mitbringen?«

»Ich werde es versuchen«, sagt sie und Kurt verabschiedet sich und sie geht durch die Wohnung, geht in ihr Zimmer, öffnet ihr Tagebuch.

Anna nickt den Türstehern zu, drückt sich gegen die Tür, geht die Stufen hinunter, hinein in den Keller und ganz nach hinten an den großen Tisch zu Kurt. Sie gibt ihm einen Kuss auf den Mund.

»Wo ist dein Schulkollege?«, fragt er.

»Er hat keine Zeit«, sagt sie und Kurt nickt, sieht weg. Anna sitzt neben Kurt, er sieht sie nicht mehr an, sie möchte ihn fragen, was los ist, aber er sieht sie nicht an, sie möchte etwas sagen, aber die Musik ist so laut, sie möchte ihn berühren, aber Kurt steht auf und klettert über die Bank, sein roter Rucksack verschwindet, der Keller ist voll, der Keller ist leer ohne Kurt.

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