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Der Fluch

des Rhododendrons

Teil 2 - Paula und die Feuertänzerin

~ Prolog ~

Vor unvorstellbar langer Zeit, als die Lüneburger Heide noch ein einsamer, geheimnisumwitterter Ort war, dessen Moore lebensgefährlich waren und über denen oft tagelang die unheimlichen Nebelschleier hingen, lebten nahe Suderburg zwei Frauen, Bernadette und ihre Tochter Elisabeth, die beide als Hebammen, Kräuterkundige und weise Frauen galten.

Sie wurden allgemein die „Waldhexen des Hexentobels“ genannt und waren weit über das Suderburger Land hinaus berühmt.

Bernadette, die Mutter soll eine Feuertänzerin gewesen sein. Eine der Frauen, die Feuer besprechen, es an sich ziehen, es anfachen oder die Flammen beschwichtigen und in den Schlaf tanzen konnten.

Frauen, die große Macht über Blitze besaßen und sie nach Belieben zu lenken wussten. Sie tanzten mit dem Feuer zum Segen oder manchmal auch zum unermesslichen Schaden für Land und Leute, wenn es Verbrechen zu sühnen gab.

Das Erscheinen einer Feuertänzerin soll Unglück, Brand oder Krieg nach sich ziehen, so fürchten manche Leute bis auf den heutigen Tag.

Andere schwören darauf, dass die Feuertänzerin sich stets am Beginn einer großen, unstillbaren Liebe zeigt, die weder das Leben noch der Tod beenden kann.

Die bekannteste Prophezeiung berichtet, dass sich die Feuertänzerin in jedem Jahrhundert einmal erneuern und wieder für einige Zeit auf die Erde zurück kehren kann, um ihre verlorene Liebe zu finden und die versäumte Erfüllung dieser Liebe mit Feuergewalt nachzuholen.

~~~

Im 21. Jahrhundert - Februar 2016 -

Die junge Paula Gehring hatte 2015 überraschend und völlig unvorbereitet das Grundstück „Hexentobel“, auf dem einst Bernadette und Elisabeth lebten, geerbt.

Es war ein schwieriges Erbe, denn auf dem Grundstück wohnten in alter Zeit nicht nur die beiden sogenannten Waldhexen, sondern darauf liegen auch noch immer äußerst gefährliche und sogar tödliche Flüche.

~ 1 – Paula – Michael – Ruth ~

Trotzdem hatte sich Paula spontan entschlossen auf den Hexentobel zu ziehen. Zu ihrem Glück lernte sie gleich zu Anfang die pensionierte Lehrerin Ruth Hellwig kennen, die ein kleines Heimatmuseum betrieb und viel über die Geschichte und Vergangenheit Suderburgs wusste. Nur mit ihrer Hilfe hatte Paula es geschafft, ihren Pakt mit dem Hexentobel zu erfüllen und dem Garten den Fluch zu schenken, der einen bestimmten, schuldig gewordenen Mann bestrafen würde, sobald er das Grundstück betrat. Ihr tödlicher Fluch galt dem Schuldigen Michael Gabler, der seine elfjährige Stieftochter Leonie mit Hexensalbe betäubt und an mindestens einen Mann verkauft hatte. Für diese grausame Tat hatte er die harte Strafe verdient.

Paula war fest davon überzeugt, dass er noch nie auf dem Hexentobel gewesen war. Insgeheim hatte sie sogar etwas Angst davor, dass Michael ihr Grundstück betreten könnte, denn dann würde er noch in derselben Nacht auf dem Tobel, wo Paula lebte, unter unermesslichen Qualen sterben. So hatte sie es in ihrem Fluch, den sie fast wie in Trance geschrieben und gebunden hatte, festgelegt. Und so würde es sich erfüllen, wenn die Zeit gekommen war.

Doch der Verfluchte war, ohne dass Paula das ahnte, schon oft auf ihrem Grundstück gewesen. Und bald, wenn der Mond günstig stand, würde er wieder kommen müssen, um Pflanzen zu holen, die nur auf Paulas Grundstück wuchsen und die er für die von ihm entwickelte Salbe zwingend benötigte.

Michael Gabler wohnte am Ortsrand von Suderburg und betrieb mit Kathrin, seiner Frau eine kleine Gärtnerei. In den letzten Jahren war er viel öfter, als ihm lieb war, in Vollmond- und sogar auch in den ungleich gefährlicheren Neumond- oder Dunkelnächten zum Hexentobel geschlichen. Die Kräuter, die dort so zahlreich wuchsen, waren wesentlich stärker und wirkungsvoller, als jene, die er in seinen Gewächshäusern selbst zog, oder die im Wald oder auf den Wiesen an der Hardau gesammelt wurden und die allenfalls für einen Tee oder einen wohltuenden Aufguss ausreichten. Die immens starken und geheimnisvollen Kräfte des Tobels waren Michael durchaus bewusst und er fürchtete sie sehr. Pflanzen, die zu bestimmten Zeiten dort gesammelt wurden, enthielten erheblich stärkere Wirkstoffe, die sich nicht mit normalen Kräutern vergleichen ließen. Die Zutaten, die er für die Hexen- oder Flugsalbe benötigte, mit der er seine Frau und seine Stieftochter, die kleine Leonie, immer wieder so zuverlässig ins Reich der Träume schickte, waren aus den modernen, vergleichsweise schwach und kraftlos gewordenen Pflanzen nicht herstellbar.

Michael hatte sehr lange an dem Rezept für die Salbe gearbeitet. Er hatte diese und jene Zutat dazu gemischt, andere weggelassen oder die Menge verändert, bis es ihm endlich gelungen war, genau die Salbe herzustellen, die er für seine Zwecke benötigte. Auch gab es auf dem Tobel einen Pilz, eine Röhrlings-Art, die er noch nirgendwo anders gefunden hatte und deren Gift sich nur im genauen Zusammenspiel mit bestimmten anderen Pflanzen entfalten konnte. Viele der Pflanzen, die hier wuchsen, wie Eisenhut. oder Nachtschatten, Bilsenkraut oder der Stechapfel hatten im Laufe der Zeit hochwirksame Substanzen entwickelt und in ihren Blättern, Blüten und Wurzeln gespeichert. Es waren reine Arten, die sich über Jahrhunderte ohne abschwächendes Saatgut erhalten hatten, denn der Hexentobel war bei den Leuten gefürchtet und sie betraten ihn nicht.

Der sogenannte Tobel war seit jeher das Gebiet der „Waldhexen“ und es war nicht ratsam, sich dort hinein zu wagen. Michael wusste das sehr genau und er bezahlte jedes Mal einen sehr hohen Preis dafür, wenn er sich Pflanzen vom Tobel besorgte, um die hochwirksame Salbe herzustellen, die zuverlässig ihre überwältigende, stark berauschende Wirkung entfaltete. Er litt vor jeder seiner Exkursionen unter unerträglichen Ängsten, denn es war besonders in den Neumond-Nächten sehr gefährlich, das Grundstück auch nur zu betreten und viel riskanter war es noch, dort Pflanzen zu entnehmen. In diesen so genannten Dunkel-Nächten waren nicht nur die Pflanzen wirksamer, es erwachten auch die geheimen Wächter des Waldgartens, öffneten wachsam ihre Augen und lauerten Michael kampfbereit auf. Es gab so weit Michael wusste, Beschützer, die die Grenzen bewachten und andere Späher mit unzähligen winzigen und nimmermüden Augen direkt auf dem Gelände. Gesehen hatte Michael sie noch nie, doch voller Schrecken und in namenloser Angst gefühlt, hatte er sie jedes Mal. Er hatte ihre Anwesenheit gespürt, ihre Blicke, die ihn lähmten, ihren Atem, der unsichtbar, doch umso gefährlicher reines Gift verströmte, das die pflanzlichen Wächter über ihre Wurzeln wieder aufnahmen.

Michael hatte auch stets ihre nur mühsam und widerwillig unterdrückte Wut auf ihn gefühlt, die jederzeit ausbrechen und ihn töten konnte. Michaels Hände waren jedes Mal, nachdem er in der Nacht den Tobel betreten und Pflanzen daraus entnommen hatte, tagelang von einem brennenden, juckenden, feuerroten Ausschlag bedeckt, der nur zögernd zurück ging und bei jedem neuen Besuch länger andauerte. Eitergelbe Knötchen bildeten sich in seinen Augenwinkeln und er fürchtete immer wieder von Neuem, eines Tages zu erblinden. Stets, wenn Michael wieder Pflanzen von dem Grundstück geholt hatte, dehnte sich der Ausschlag weiter als beim vorigen Mal aus. Zuerst waren es nur die Hände gewesen, dann die Arme und beim letzten Mal hatte die Rötung bereits auf den gesamten Oberkörper übergegriffen und sich unerträglich juckend und qualvoll schmerzend ausgebreitet.

Auch seine Arme und Schultern waren von dem juckenden, nässenden Ausschlag befallen worden, von dem sich nach einigen Tagen riesige durchlöcherte Hautfetzen ablösten und dann eine dünne, rote, wie vernarbt aussehende Haut, wie nach einem heftigen Sonnenbrand zurückließen. Auch seine Augen waren beim letzten Besuch stärker als je zuvor betroffen gewesen. Noch tagelang waren die Augenlider dick angeschwollen und die Knötchen in den Augenwinkeln hatten ständig eklig stinkenden Eiter abgesondert.

Kathrin hatte ihn entsetzt angestarrt und ihn drängend aufgefordert, endlich zum Augenarzt zu gehen. Noch etwas war nach seinem letzten Besuch auf dem Tobel anders gewesen. Er hatte zunächst, wie gewöhnlich, keine Tiere auf dem Grundstück gesehen oder gehört. Nur die Anwesenheit der Wächter hatte er übermächtig gefühlt, stärker, viel stärker als bei den vorigen Besuchen. Der Garten war sehr viel gefährlicher geworden, seit diese neue Hexe dort eingezogen war. Michael hatte zitternd vor Angst die Kräuter eingesammelt und war wie von Furien gehetzt von dem gefahrvollen, nächtlichen Grundstück geflohen. Am nächsten Tag waren sein Hals und sein Körper über und über von winzigen Bissen übersät gewesen. Zahnabdrücke und kleine Wunden durch nadelspitze Zähne fanden sich überall auf seiner Haut. Es waren giftige Bisse, die unerträglich juckten und ein Fieber hervorriefen, das ihn tagelang stark schwächte und nachts schweißgebadet und voller Angst erwachen ließ.

Michael fürchtete sich nach dieser bisher schlimmsten Nacht bis zum Erbrechen vor einem neuen Besuch auf dem Gelände. Doch die Pflanzen verloren, einmal gepflückt, in seinen Händen stets rasch an Wirksamkeit. Er konnte sie nicht auf Vorrat sammeln, sondern musste jedes Mal von Neuem den Tobel betreten, der ihn mehr und mehr in boshafter Freude zu erwarten schien. Wäre es nach Michael gegangen, hätte er das Sammeln der Pflanzen und ihre Verwendung längst aufgegeben, doch er hatte keine Wahl. Er hatte immens hohe Schulden, seine Gärtnerei war längst verpfändet und er war vollkommen in der Hand, der Leute, die verlangten, dass er weiterhin seine Stieftochter und auch Kathrin für ihre Zwecke zur Verfügung stellte. Michael würde bald wieder gezwungen sein zu dem Waldgarten zu kommen, denn er war ihm längst verfallen und hatte keine andere Wahl mehr. Doch nun gab es etwas, wovon Michael noch nichts ahnte. Bei seinem nächsten Besuch auf dem Grundstück würde er zwangsläufig Paulas tödlichen Fluch dort vorfinden. Den Fluch, den Paula geschrieben und gebunden hatte und der ungeduldig darauf brannte sich zu erfüllen und Michael zu vernichten.

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Für Paula waren diese besonderen Kräuter des Tobels und ihre geheimnisvolle Magie mehr denn je ein Kriterium für die Stimmungen des Grundstücks geworden. Sie achtete genau auf alle Pflanzen und notierte ihren Wandel und sie nahm die Signale, die sie spürte sehr ernst. Es gab ständige Veränderungen zu beobachten. Die Wandlungen der Kräuter mit dem Wechsel des Mondes, neue Pflanzen, die zuwanderten. Andere Pflanzen die den Garten verließen, und solche, die stärker oder schwächer wurden.

Paula wurde im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einer wahren Hüterin und Expertin ihres Grundstückes. So wie es wohl auch die Hüterinnen vor ihr gewesen waren. Schon seit einiger Zeit hatte Paula bemerkt, dass gewisse Pflanzen ihre Standorte manchmal zu ändern schienen. Zuerst dachte sie sich nicht viel dabei. Sie notierte die Veränderungen, so wie sie alles penibel notierte was auf dem Grundstück geschah. Doch dann stellte sie verblüfft fest, dass ein sehr genaues System dahinter steckte. Sie fotografierte zunächst alles was ihr aufgefallen war mit dem Handy und bekam prompt ihre Quittung dafür. Die Pflanzen, die normalerweise ihre Anwesenheit wohlwollend zur Kenntnis nahmen, reagierten abweisend, ja sogar wütend. Blütenkelche schlossen sich blitzschnell, Dornen richteten sich aggressiv auf, Blätter wandten sich abrupt von ihr ab und manche rollten sich sogar abweisend zusammen. Paula war verblüfft doch sie verstand rasch. Handyfotos als Dokumentation der Wanderungen lehnte ihr Garten strikt ab. Daraufhin gab sie diese Beobachtungen erst einmal erschrocken auf, bzw. ließ die Dokumentation ruhen. Sie wollte erst einmal mit Ruth, ihrer Freundin, darüber reden und deren Meinung einholen. Paula war innerlich beunruhigt. Etwas Geheimnisvolles ging auf dem Tobel vor sich. Oder eigentlich eher in seiner unmittelbaren Umgebung. Es war so, als dehnte der Garten sich und seine Kräfte aus, als reiche der Platz auf Paulas Grundstück nicht mehr und die Pflanzen und Tiere benötigten mehr Raum, den sie für sich eroberten.

Vielleicht war es aber auch so, dass die Wurzeln der Pflanzen, und ganz besonders des Rhododendrons sich in aller Stille und ohne, dass Paula zunächst etwas davon bemerkte, immer weiter ausgebreitet hatten. Beunruhigt dachte sie, er wächst und nimmt bald das angrenzende Grundstück, den sogenannten Wehrkamp und vielleicht sogar den anstoßenden Wald in Beschlag. Paula konnte nicht genau sagen, was sie auf diesen Gedanken gebracht hatte. Es war mehr ein Gefühl, als eine belegbare Tatsache, da sie die Wurzeln der Pflanzen ja nicht sehen, sondern nur ahnen konnte. Es war aber der deutliche Eindruck, wenn sie den Wehrbrink entlang ging und neuerdings sogar, wenn sie mit dem Auto entlangfuhr, dass sie sich bereits auf ihrem eigenen Gebiet, also auf ihrem Grundstück befand, obwohl das noch nicht der Fall war. Sie hatte diese Vermutung schon eine Weile gehabt, hatte aber nicht weiter darauf geachtet doch nun war es sehr deutlich geworden. Paula machte sich also auf den Weg zu Ruth. Es nieselte und sie hatte zuerst überlegt, ganz gegen ihre Gewohnheit mit dem Auto zu fahren. Doch dann beschloss sie den Wehrbrink, die gerade Straße, die durch den Wald führte, Richtung Hardau entlangzugehen und dieses Mal genau auf alles zu achten, was sie fühlte.

Sie zog ihre Wald-Jeans und eine gefütterte Kapuzenjacke, die ihr etwas zu groß, dafür aber herrlich bequem war, über. Paula liebte diese Jacke, weil man darunter auch einen dickeren Pullover tragen konnte und schon ein gutes Gefühl beim Hinein kuscheln hatte. Als Paula vor dem Spiegel im Flur stand erschrak sie über den besorgten Ausdruck in ihren Augen. Das war nicht das Bild, das sie gerne von sich sah. Sie band ihre inzwischen deutlich längeren, blonden Haare straff zurück und zog entschlossen die Kapuze hoch.

Zu Ruth konnte sie ohne weiteres in diesem Aufzug kommen. Paula verließ rasch ihr Grundstück und ging mit entschlossenen Schritten nach links den Wehrbrink entlang. Doch schon nach wenigen Schritten blieb sie verblüfft stehen. Bereits, als sie die hohe Hecke, die ihren Garten vom Nachbargrundstück trennte passiert hatte, bemerkte sie die Veränderung deutlich. Die Macht und die Kräfte des Tobels beschränkten sich offenbar schon länger nicht mehr nur auf ihren Garten. Sie hatten sich ausgebreitet und auf den Nachbargarten übergegriffen. Selbst als Paula weiterging, konnte sie noch immer die Auswirkungen des Tobels fühlen. Auch am letzten Grundstück auf dem Wehrbrink waren sie für Paula noch deutlich spürbar. Sie war geschockt. Soweit also hatte der Garten sich ausgebreitet und sie hatte nichts davon bemerkt oder es einfach nicht beachtet. Dabei hatte sie gedacht, dass sie inzwischen eine verantwortungsbewusste Hüterin war. Etwas ängstlich stieg sie die flachen Stufen im Wald hinunter, die zu der kleinen Brücke über das Flüsschen Hardau führten. Ja, auch hier war der Einfluss des Tobels noch immer deutlich spürbar. Erst als sie die kleine Brücke über die Hardau überquerte, endete die Macht ihres Grundstücks. Fließendes Wasser, natürlich, kam es Paula sofort in den Sinn. Fließendes Wasser hob fast jegliche Magie auf. Paula ging zur Probe noch einmal einige Schritte zurück und sofort griff der Tobel wieder gierig nach ihr. Ja, es gab keinen Zweifel. Der Einfluss des Gartens reichte bereits bis unmittelbar an die Hardau heran.

„Wie blind bin ich eigentlich gewesen, dachte Paula entsetzt. Rasch ging sie noch einmal über die Brücke, dann an den Feldern entlang und an der Gärtnerei vorüber, in der noch immer Michael Gabler mit seiner Frau Kathrin und der elfjährigen Leonie wohnte. Zu Leonies Schutz hatte Paula den Fluch gegen deren Stiefvater Michael ausgesprochen. Immer wenn Paula an sie dachte, fühlte sie fast so etwas wie Zärtlichkeit für dieses Kind und auch den Wunsch, Leonie zu schützen.

Leonie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen. Sie war zierlich und hatte leuchtend blaue Augen, die durch lange, dunkle Wimpern ausdrucksvoll betont wurden. Ihr Lächeln war so unwiderstehlich, dass man mit lächeln musste, ob man wollte oder nicht. Die dunkelblonden Haare mit den sonnenhellen Strähnen fielen seidig und leicht gewellt bis über die Schultern. Meist hatte sie die seitlichen Strähnen geflochten oder trug eine Spange, um die Haare aus dem Gesicht herauszuhalten. Paula hatte Leonie sprachlos angestarrt, als sie das Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte. Doch da sie inzwischen ja von Leonies dunklem Schicksal wusste, sah Paula die seltene Schönheit des Mädchens nun mit sehr zwiespältigen Gefühlen. Aufatmend klingelte Paula bei Ruth, die sofort öffnete, als habe sie ihr Kommen bereits erwartet. „Was ist los?“, fragte Ruth sofort und Paula streifte rasch ihre durchnässte Jacke ab und hängte sie an die winzige Garderobe in dem schmalen Flur. Bewundernd glitten ihre Blicke über die wunderschönen honigfarbenen Holzdielen und die als Rhombus dazwischen eingelassenen blau-weißen Fliesen.

Rasch zog sie nach einem missbilligenden Blick Ruths ihre schmutzigen Schuhe aus und stellte sie ordentlich nebeneinander auf die Matte, die unter der Garderobe lag. Dann schlüpfte sie ungeduldig in die Pantoffeln, die bei Ruth immer für sie bereit standen. Ruth hatte ihren Lehrerinnen-Blick aufgesetzt und es war das Beste diese Dinge rasch hinter sich zu bringen. “Also was gibt es?“, fragte Ruth noch einmal, als Paula endlich in dem bequemen Sessel saß, den sie stets bevorzugte.

Paula beugte sich nervös vor und sagte mit zitternder Stimme: „Der Tobel breitet sich weiter aus. Es muss schon länger so sein. So etwas passiert doch nicht von heute auf morgen.“ „Ja“, nickte Ruth, die nicht sonderlich überrascht schien. „Natürlich ist das so. Die Pflanzen und ihre Wurzeln wachsen nun einmal. Und der Einfluss einer Pflanze erstreckt sich über ihr gesamtes Wurzelgebiet und den ganzen Raum, den ihre Blätter oder Zweige überdecken. Bei Bäumen sogar soweit der Schatten reicht. Das weißt du doch“, setzte Ruth belehrend hinzu und sah Paula über den Rand der runden Brillengläser hinweg streng an. „Ja, sicher“, murmelte Paula, „ja natürlich, aber, ich habe nicht gedacht, dass sie über die Grundstücksgrenzen hinaus…“, Paula zögerte kurz, dann setzte sie nachdenklich hinzu: „Ich weiß, es ist merkwürdig“, sie dachte einen Moment nach, „als würde er in aller Stille Land erobern“, setzte Paula dann hinzu. „Ich weiß nicht ganz genau wie weit das geht. Auf der einen Seite auf alle Fälle bis zur Hardau hinab, da kann ich es noch deutlich spüren“, sagte sie und verstummte gedankenvoll. Paula war ein bisschen enttäuscht. Sie hatte gedacht, mit einer wichtigen Nachricht zu kommen und nun nahm Ruth die Botschaft so gelassen und selbstverständlich auf. „Wie stark spürbar ist das denn und wie weit reicht es?“, fragte Ruth nun doch und sah Paula nachdenklich an. Paula holte tief Luft. „Sehr stark ist es am direkten Nachbargrundstück, sag mal, wem gehört eigentlich das Grundstück neben dem Tobel, du weißt schon, das mit der hohen Hecke, ich habe dort noch niemals jemanden gesehen.“ Ruth war alarmiert.“Ich weiß es nicht, aber das kann ich sicher herausfinden“, sagte sie grübelnd.

„Ich nehme stark an, dass es einer Frau gehört“, sagte Ruth leise, konnte diese Annahme aber nicht begründen. „Ich werde mal die Frau von Pastor Mechler fragen, die weiß das sicher.“ „Also“, fuhr Paula mit einem kurzen Nicken fort, „kann die Eigentümerin auch gar nicht fühlen was dort vor sich geht.“ „Ja“, stimmte Ruth zögernd zu, „aber das wird sich ändern, glaube mir. Du solltest diese Ausbreitung nicht auf sich beruhen lassen. Nur du kannst das machen. Du fühlst es am ehesten. Du gehst nach allen Richtungen um dein Grundstück und erspürst ganz genau wie weit diese Ausbreitung reicht und wie stark sie ist. Bitte mach es so schnell wie möglich.“ Paula nickte zögernd und blickte verdrießlich zu dem Niesel hinaus, der unaufhörlich über die Scheiben des kleinen Häuschens am Katzensteg perlte. „Ruf mich heute Nachmittag an oder komm wieder her, dann weiß ich sicher mehr“, sagte Ruth entschlossen und ihr Ton duldete keinen Widerspruch.

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Paula versuchte also, trotz des unablässig fallenden kalten Nieselregens noch einmal genauer herauszufinden, wie weit diese Ausdehnung ihres Grundstücks schon reichte. Paula, die tatsächlich auch bei intensivem Nachdenken sicher war, noch nie zuvor Personen auf dem Grundstück bemerkt zu haben, war gespannt, was Ruth in Erfahrung bringen würde. Abends rief Ruth an und berichtete etwas verärgert, dass auch die Frau des Pastors, die sonst über alles was in und um Suderburg geschah, genau Bescheid wusste, erst Erkundigungen einziehen wollte. Ruth schwieg einen Moment und dachte angestrengt nach. Dann sagte sie: „Vielleicht solltest du eine Landkarte mit Straßen und Wanderwegen nehmen und alles genau einzeichnen was dir auffällt, ich meine damit die Ausdehnung und die Bewegungen des Tobels.“ Paula stimmte sofort zu. „Natürlich, sagte sie, ich habe schon mal damit begonnen, die Bewegungen und Wanderungen der Pflanzen aufzuzeichnen. Ich habe auch Fotos gemacht, aber das war anscheinend keine so gute Idee. Alle Pflanzen haben sich sofort von mir abgewandt und mir sozusagen die Stachel gezeigt.“

„Ja, dein Garten weiß genau was er will“, bemerkte Ruth mit ihrem für solche Aussagen üblichen schrägen Lächeln, das Paula, direkt vor sich zu sehen meinte. Paula zeichnete also noch am selben Abend angestrengt und sorgfältig einen Grundriss ihres Gartens und übertrug ihn maßstabgetreu auf Millimeterpapier. Sie zeichnete die Pflanzen ein, alle Pflanzen und ihre Wanderungen, soweit sie dokumentiert waren. Es war verblüffend. Paula hatte den Gartenplan an der Wand neben ihrem Schreibtisch angebracht und zeichnete Kreuze für all ihre schriftlichen Aufzeichnungen ein. Auf diese Weise wurden die Wanderungen der Pflanzen deutlich sichtbar. Mehrere Pflanzen und zwar in erster Linie die gefährlichsten Giftpflanzen wie Digitalis, Eisenhut, Tollkirsche und schwarzes Bilsenkraut bildeten offenbar in letzter Zeit kräftige Ableger aus, die sich alle obwohl von verschiedenen Standorten ausgehend, langsam aber unaufhörlich auf ihr Nachbargrundstück zu bewegten.

Aber nicht nur die Gifte sandten Ableger, auch Heilpflanzen wie Johanniskraut und die sanfte Kamille machten sich scheinbar allesamt auf den Weg dorthin. Paula war fasziniert. „Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie ungläubig. Sie begann Fähnchen zu setzen und mit Schnüren die täglichen Strecken zu markieren. Keine Frage, der Tobel schickte Gift- und Heilpflanzen auf den Weg zum Wehrkamp, und zwar in beeindruckendem Tempo. Als sie aus dem Fenster sah, stellte sie missmutig fest, dass der Nieselregen mittlerweile in Schneegriesel übergegangen war. Da würden wohl in den nächsten Tagen keine weiteren Pflanzenbeobachtungen möglich sein. Paula dachte, dass auch der Vorschlag von Ruth ziemlich interessant war. Vielleicht sollte sie die Ausdehnung wirklich auch noch in eine Wanderkarte übertragen. Als sie mit Ruth telefonierte, erzählte sie: Ich habe bisher Millimeter-Papier und Fähnchen benützt. Die Pflanzen wandern rasch. Viel schneller, als ich mir das jemals hätte vorstellen können. Ich werde die Bewegungen auch noch auf eine Wanderkarte übertragen.

Ruth nickte nachdenklich und entgegnete „Oh ja“, das solltest du wirklich. „Pflanzen haben einen starken Willen und sind oft sehr zielgerichtet.“ „Aber was haben sie vor?“ fragte Paula verwirrt. „Sie alle wandern eindeutig zum Wehrkamp. Der ist doch unbewohnt. Weißt du denn jetzt, wem das Grundstück gehört?“ „Nein, Frau Mechler hat sich noch nicht gemeldet. Ich werde mich gleich morgen nochmal darum kümmern“, sagte Ruth entschlossen und schob energisch ihr Kinn vor. Paula konnte es förmlich vor sich sehen und grinste. Sie vermutete, dass sie spätestens am nächsten Tag wissen würde, wem der Wehrkamp gehörte. Paula war mittlerweile doch ziemlich verwirrt von den Vorgängen auf dem Tobel und dem Wehrkamp, obwohl sie eigentlich gar keine Zeit für diese Vorgänge hatte, denn noch immer war sie ausreichend mit dem Fluch beschäftigt, den sie für Michael angefertigt hatte, und der noch immer unerfüllt war. Und nun bereitete der Tobel offensichtlich bereits eine neue Aufgabe für sie vor. Paula hatte den tödlichen Fluch für Michael natürlich nicht leichtfertig erstellt und aktiviert.

Zusammen mit ihrer Freundin Ruth hatte Paula nach einem eher zufällig aufgekommenen Verdacht Nachforschungen angestellt und mit viel Spürsinn herausgefunden, dass die elfjährige Leonie, die Tochter von Michaels Frau Kathrin mit hoher Wahrscheinlichkeit unter Drogen gesetzt und missbraucht wurde. Paula hatte trotz der erdrückenden Beweise einige Zeit quälende Zweifel gehabt, ob sie einen Mann wie Michael, den sie kaum kannte, mit einem solchen Fluch belegen durfte. Doch ein Teil des bindenden Paktes mit dem Grundstück „Hexentobel“, den sie bei Antritt des Erbes unterschrieben hatte, forderte die Erfüllung einer ihr gestellten Aufgabe. Es hatte eigentlich kaum einen Zweifel daran gegeben, dass es Paulas Bestimmung war, den Fluch anzufertigen, der Michael Gabler für seine Taten bestrafen würde. Paula hatte damals immer wieder gezögert und war vor der Aufgabe zurück geschreckt. Erst als die Schuld Michaels zweifelsfrei feststand und sie sich durch Bildmaterial der übelsten Sorte eindeutig von seiner Täterschaft überzeugen konnte, hatte sie die nötige Wut und auch den Mut aufgebracht und in einer langen Nacht wie in Trance den tödlichen Fluch geschrieben, der seither auf Michael wartete und ihm bei seinem nächsten Besuch auf dem Tobel zum todbringenden Verhängnis werden würde. Paula versuchte diese belastenden Vorgänge rund um den Fluch zu verdrängen, so gut es ging, und doch fürchtete sie sich unsäglich vor der tatsächlichen Erfüllung ihres Fluches. Und nun begann auch noch der Tobel sich auszudehnen und sie hatte keine Ahnung weshalb. Nur dass es einen zwingenden Grund dafür geben musste, das war ihr inzwischen klar geworden. Als Paula am nächsten Tag wieder bei Ruth vorbei schaute, sah sie sofort dass ihre Freundin etwas in Erfahrung gebracht hatte. „Der Wehrkamp gehört Friederike Bornhoff“, erklärte Ruth so bestimmt, als müsste Paula sofort ganz genau wissen, wer das war. „Allerdings kümmert sie sich nicht wirklich darum“, fuhr Ruth energisch fort.

„So“, sagte Paula erstaunt, „das Grundstück sieht aber eigentlich nicht verwahrlost aus.“ „Das glaube ich gerne“, lachte Ruth. „Friederike ist eine überaus wichtige Stütze der Uelzener Gesellschaft. Rechtsanwaltsgattin, deren Ehemann auch ein aufstrebender Politiker mit exzellenten Zukunftschancen ist. Natürlich lässt sie das Grundstück pflegen.“ Ruth imitierte perfekt einen gekonnt hoheitsvollen Gesichtsausdruck und sah Paula unter halbgeschlossenen Lidern herablassend an. Paula lachte. Dann sagte sie mit gekrauster Stirn ernst werdend: „Da stimmt trotzdem etwas nicht. Der Tobel hat den Wehrkamp quasi annektiert. Dort tut sich etwas. Ich spüre genau, dass etwas sich stetig verändert, dass das ganze Grundstück aufmerksam und angespannt ist, als warte es auf etwas.

Bist du ganz sicher, dass das Grundstück wirklich noch immer Friederike gehört, vielleicht hat sie es ja verkauft.“ „Das glaube ich nicht“, murmelte Ruth nachdenklich und schüttelte den Kopf. „Aber ich werde das trotzdem nochmal klären.“ „Ja bitte, das solltest du unbedingt“, bat Paula bestimmt. Als Ruth nach einer Stunde nochmals zurückrief versicherte sie Paula, dass laut den Angaben Frau Mechlers, der Pastoren-Gattin, das Grundstück ganz bestimmt nach wie vor der rundum glücklichen Friederike Bornhoff gehörte.

„Etwas stimmt da trotzdem nicht“, behauptete Paula starrköpfig. „Nach aller Erfahrung und allem was ich weiß, würde ich sagen, der Tobel hilft dem Wehrkamp, sich auf einen Einsatz vorzubereiten. Was ist diese Friederike denn für ein Mensch, kennst du sie persönlich?“ „Ja, doch schon“, antwortete Ruth gedehnt, „von früher kenne ich sie, noch aus der Zeit ihrer ersten Ehe. Der Wehrkamp hat ihrer Familie gehört, soweit ich weiß. Friederike hat sich nie besonders darum gekümmert. Sie hat ein riesiges Grundstück drüben in Hösseringen geerbt. Auch aus Familienbesitz. Dort lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, der wesentlich jünger ist. Ihr erster Mann war ein ziemlich bekannter Anwalt hier in der Gegend und der zweite Ehemann war einer seiner Angestellten. Sie sind kinderlos und gesellschaftlich sehr aktiv. Das war es auch schon, was ich über sie weiß“, setzte Ruth nachdenklich hinzu, während sie überlegte, ob sie noch mehr über Friederike wusste.

„Hm“, sagte Paula nachdenklich. „Passt eigentlich überhaupt nicht zum Wehrkamp.“ Ruth nickte. „Ich werde mal sehen, was ich noch rausbekommen kann“, bot sie rasch an. Paula kniff skeptisch die Lippen zusammen. Sie fühlte genau, dass auf dem Tobel etwas vorging oder vorbereitet wurde, das weit in den Wehrkamp hineinreichte. Es war, als tuschelten die Bäume und Sträucher hinter ihrem Rücken wie Kinder, die kichernd Geheimnisse austauschen. Paula überdachte noch einmal die Infos, die sie von Ruth bekommen hatte. Nichts passte mit ihren Beobachtungen zusammen. Friederike Bornhoff, eine strahlende Gesellschaftsdame, zwar nicht jung, doch selbstsicher und vermögend, die ein großes Haus führte. Wie sollte das dazu passen, dass der Tobel und der Wehrkamp sich anscheinend vorbereiteten einer tief verzweifelten Frau zu helfen, die in großen Schwierigkeiten war. Paula machte sich seufzend einige Notizen und legte nach kurzem Zögern zuhause eine Akte Friederike Bornhoff an. Sie war sicher, sie wusste es einfach, dass es etwas gab, das diese Akte mit Leben füllen würde, eine Tochter oder Nichte vielleicht, die Hilfe benötigte, dachte sie nachdenklich.

Zur selben Zeit, als Ruth und Paula über sie sprachen und überlegten, ob sie eventuell Hilfe benötigte, saß Friederike Bornhoff grübelnd über dem Tagebuch, das sie seit einiger Zeit führte, genau genommen, seitdem ihr Leben sich unerwartet so sehr verändert hatte. Oder anders gesagt, seitdem sie so unglücklich war. Alles was Ruth über sie erzählt hatte, stimmte, oder es hatte bis vor einiger Zeit gestimmt. Seitdem war es mit Friederike Stufe für Stufe unaufhaltsam bergab gegangen, ohne dass ihre Umgebung bisher etwas davon mitbekommen hatte. Einige Zeit hatte Friederike noch gehofft, den Fall aufhalten oder verhindern zu können. Doch ihr Abstieg ins Unglück begann häppchenweise, es war kein plötzlicher Sturz in den Abgrund. Stattdessen war immer die Hoffnung da, sich wieder zu fangen und den Aufstieg wieder beginnen zu können. Immer wieder diese Hoffnung und jedes Mal danach unweigerlich die Zerstörung dieser Aussicht und gleich darauf ein weiterer Sturz. Wieder nicht bis ganz hinab, sondern durchaus noch im Hoffnungsbereich und so immer weiter. Wo würde dieser Abstieg wohl enden, fragte Friederike sich, seitdem sie sich endlich selbst eingestanden hatte, dass es ein Abstieg war. Würde er überhaupt enden? Oder gab es irgendwann einen finalen Sturz? Wie konnte der aussehen? Der Tod? Nun hör aber auf. Sei nicht so melodramatisch, rief Rieke sich energisch zur Ordnung. Doch im Moment gab es wenig Grund zur Freude. Obwohl Rieke sich eigentlich vorgenommen hatte, das nicht zu tun, stand sie doch auf und holte sich trotzig einen Drink.

Gleich darauf brach sie eine weitere Regel, die sie selbst aufgestellt hatte und blätterte in ihrem Tagebuch zurück zum Anfang, um noch einmal die einzelnen Stationen ihres Niedergangs nachzulesen. Der Februar war mild, nass und stürmisch und nach einen Blick auf die Fenster, über die der Regen perlte, fand Friederike, dass es genau richtig war, um so eine Rückschau zu halten. Rieke Bornhoff war tatsächlich schon einige Zeit alles andere als glücklich. Doch davon ahnte bisher noch niemand, außer ihr selbst, etwas. Oder besser gesagt. Außer ihr selbst, dem Wehrkamp und natürlich dem Tobel. Sie hatte das Gefühl, dass das Leben ihr unaufhaltsam aus den Händen glitt. Dass sie nur noch Zuschauerin war. Darum hatte sie bereits vor einiger Zeit beschlossen, eine Art Bestandsaufnahme zu machen. So etwas wie eine Bilanz ihres Lebens. Zeit genug hatte sie nun, da ihr Mann nur selten vor Mitternacht nach Hause kam. Wann genau hatte eigentlich der schleichende Niedergang begonnen? überlegte sie immer wieder. Friederike wusste es nicht genau. Vielleicht sogar schon viel früher, als sie sich eingestehen wollte.

Rieke fiel spontan der Urlaub auf Kreta ein, den sie sich damals so sehr gewünscht hatte. Es war im dritten Jahr ihrer Ehe mit Uwe gewesen. Sie war sehr glücklich mit ihm, so glücklich wie man nur sein konnte. Und sie war unendlich stolz auf ihren attraktiven, wesentlich jüngeren Mann. Jetzt im Nachhinein, als Friederike noch einmal die wunderschönen Fotos des Kreta-Urlaubs mit Sonne, Meer und Strand ansah, fiel ihr auf, dass sie selbst zwar immer überglücklich in die Kamera strahlte und dass sie auf all den Bildern braungebrannt, unbeschwert und freudestrahlend lachte. Sie wirkte, als sie jetzt die Fotos betrachtete, einfach beneidenswert und völlig sorglos.

Doch wenn sie Uwe auf den Bildern ansah, fiel ihr nun mit dem zeitlichen Abstand auf, dass er meist abwesend wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken sehr weit weg, als stünde nur sein Körper wie eine leere Hülle neben ihr. Tatsächlich hatte Uwe ungefähr nach der Hälfte des Urlaubes einen angeblich enorm wichtigen Anruf erhalten, der ihn zwingend sofort zurück in die Kanzlei rief. Damals hatten sie den ersten wirklich großen und ernsthaften Streit gehabt. Als Friederike jetzt die Bilder sah und an die damalige Situation zurückdachte, wurde ihr plötzlich schmerzhaft deutlich bewusst, dass Uwe damals auch keineswegs gewollt hatte, dass sie mit ihm vorzeitig zurückfuhr. Es kam ihr jetzt sogar so vor, als hätte Uwe es möglicherweise ganz bewusst gesteuert, dass sie alleine auf Kreta zurückblieb und er selbst ohne sie nach Hösseringen heimkehrte.

Also, dachte sie verwundert, hatte er vielleicht schon damals gute Gründe gehabt, ohne sie abzureisen. Friederike erinnerte sich noch genau, wie sie den Rest des Urlaubs einsame Ausflüge gemacht, im Meer gebadet und abends als gelangweilter Single an ihrem Tisch im Hotel das Abendessen eingenommen hatte. Wie verloren sie sich damals so alleine vorgekommen war. Wie tapfer sie immer so getan hatte, als mache es ihr nichts aus, alleine zu sein, als sei es für sie ganz normal und gewollt als Single unterwegs zu sein. Sie hatte damals eine ebenfalls alleine reisende, etwas ältere Frau kennengelernt, mit der sie dann immer ihre Mahlzeiten einnahm und abends meist schweigend oder bisweilen leicht genervt der Frau zuhörend, die gerne und viel redete, noch draußen auf der Terrasse saß. Friederike erinnerte sich plötzlich sehr genau daran, wie verzweifelt und hilflos sie damals ihre immer wieder aufkeimende Wut auf Uwe unterdrückte. Wie sie um alles in der Welt nicht zugeben wollte, dass ihr der einsame Urlaub keinen Spaß gemacht hatte.

Vielleicht, dachte sie, hätte ich schon damals direkt nachfragen sollen, was ganz genau der Grund für Uwes verfrühte Heimreise war. Damals hatte ihr die Kanzlei noch gehört und es hatte den alten Bellmann noch gegeben. Zu jener Zeit hätte sie alles noch ganz anders steuern können. Ja, dachte sie verbittert, seinerzeit wäre vielleicht alles, was danach kam, noch zu verhindern gewesen. Wehmütig und ein bisschen ärgerlich über ihre eigene Dummheit sah sie noch einmal das Foto an, auf dem sie so lachend und glücklich an Uwes Seite strahlte und ihr attraktiver Mann mit fernem, unergründlichem Blick auf das blaue Meer hinaus sah.

Auch Paula kramte währenddessen in Erinnerungen, an die sie eigentlich nicht mehr rühren sollte. Doch das war sehr schwer. Paula erinnerte sich an diesem Abend wie so oft schmerzhaft genau an die Nacht, in der sie den Fluch für Michael geschrieben hatte. Eigentlich hätte sie diesen Abend und den Fluch für immer aus ihren Gedanken verbannen sollen, einfach nicht mehr daran denken, denn einen einmal geschriebenen und gebundenen Fluch sollte man bis zu seiner Erfüllung ungestört ruhen lassen. Doch genau das fiel Paula schwer, denn der Fluch war noch nicht erfüllt und sie grübelte immer wieder, ob sie etwa doch etwas falsch gemacht hatte. Schon in diesen aufregenden Tagen hatte Paula erfahren, dass Michael sehr wohl schon oft auf dem Tobel gewesen war und dass er wieder kommen würde. Und das war noch nicht alles.

Kurz darauf war der unsägliche Verdacht aufgekommen, dass es vielleicht sogar Henrik von der Achteren, Aushilfs-Pastor in St. Marien zu Uelzen und Paulas Geliebter, gewesen sein könnte, der an dem Missbrauch der kleinen Leonie beteiligt gewesen war. War Henrik der geheimnisvolle zweite Mann hinter dem Missbrauch? War das möglich? Paula war völlig außer sich gewesen, als sie sich unversehens diesem ungeheuren Verdacht stellen musste. Sie versuchte verzweifelt diesen entsetzlichen Gedanken keinen Raum zu geben, wollte nicht darüber nachdenken, bis ihr eindringlich bewusst wurde, was schon der bloße Verdacht auch für sie selbst bedeutete. Sollte Henrik tatsächlich an dem Missbrauch beteiligt gewesen sein, würde auch ihr Geliebter unweigerlich auf dem Tobel sterben, sobald er ihn betrat. Seit Paula diesen Gedanken zum ersten Mal zögernd in ihr Bewusstsein gelassen hatte, fand sie keine Ruhe mehr, denn sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Ihr erster Gedanke war, Henrik nicht mehr auf den Tobel zu lassen, um ihn nicht zu gefährden. Doch schon einige Stunden später wurde Paula schmerzhaft klar, dass dieses Vorhaben ganz gewiss keine dauerhafte Lösung, sondern Feigheit war. Sie konnte nicht für immer mit der Ungewissheit leben, ob Henrik schuldig war oder nicht. So sehr sie ihn auch liebte, auf Dauer war es keine Lösung ihn fernzuhalten.

Nun, da Paula endlich den Fluch gesprochen, ihn unauflösbar gebunden und damit die Wirksamkeit besiegelt hatte, sollte sie eigentlich zur Ruhe kommen. Doch ihre schrecklichen Zweifel, ihre namenlose Angst wegen Henrik nagte unaufhörlich und ständig an ihr. Und dann waren da plötzlich auch noch die beunruhigenden Veränderungen des Gartens und zudem noch die Erregung und Anspannung der Wege, die in der Nähe des Grundstückes verliefen. Paula war aufgewühlt und beunruhigt, wie noch nie zuvor. Sie hatte den ganzen Tag schon ein drückendes Gefühl von nahender Gefahr gespürt. Sie hätte es nicht genau beschreiben können, doch die Gefahr war da. Sie war wie eine dunkle Wolke am Horizont, die sich heran schob und das Unheil war fast mit Händen greifbar. Und auch ihr Grundstück, das so vieles mit seinen ganz speziellen Fähigkeiten und durch die Kraft der Geschöpfe, die dort existierten, ausdrücken konnte, auch der Tobel war unglaublich wachsam und nervös. Die Unruhe war in Wellen, die selbst die Erde durchliefen, spürbar. Paula glaubte zu fühlen, dass die Wurzeln der Pflanzen geheime Botschaften und Warnungen untereinander austauschten.

Sie schrieb in ihr Tobel-Tagebuch. „Etwas geschieht. Etwas Unheimliches kommt auf uns zu. Die Pflanzen rühren sich nicht, doch sie sind wachsam und sie scheinen ständig untereinander zu kommunizieren. Durch Bewegungen, ein Rascheln der Blätter, ein geheimnisvolles Raunen und es ist Vollmond.“ Mit einem leisen Seufzer schloss Paula das Buch und ging noch einmal in den Garten. Die kleine verborgene Quelle im hintersten, dunkelsten Teil des Gartens sprudelte kurz auf, als Paula an ihr vorüber ging und floss dann wieder gurgelnd aus ihrem unterirdischen Zufluss, der hier an die Oberfläche trat und durch den Bernadette einst vor über 200 Jahren in dunkler Nacht den Zugang zu dem Garten gefunden hatte, der eigentlich uraltes Erbe ihrer Familie war. Zwischen den jagenden Wolken war immer nur für kurze Momente der riesige Vollmond zu sehen, der hell leuchtend über dem Wald stand.

Paula fröstelte permanent, ohne allerdings zu wissen, ob es eine natürliche Kälte oder die bange Ahnung von kommendem Unheil war. Sie häufte schaudernd Holz im Kamin auf. Insgeheim hoffte sie darauf, dass Bernadette, deren Leben sie unmittelbar nachdem sie auf den Tobel gekommen war, zuerst erforscht hatte, wie früher schon öfter geschehen, in den Flammen erscheinen und ihr weiter helfen würde. Paula hatte damals zu der Waldhexe, die 16jährig und schwanger um 1780 in großer Not auf den Tobel gekommen war, eine besondere Beziehung entwickelt. Doch das Feuer im Kamin brannte an diesem Abend einfach nur ruhig und unauffällig. Ein harmloses Kaminfeuer wie jedes andere. Paula saß nachdenklich vor dem Kamin und starrte in die Flammen, die sie mit ihrem feurigen Glanz zu verhöhnen schienen. Seufzend holte sie sich noch einmal ein Glas Wein und starrte ungläubig und etwas beschämt die bereits ziemlich leere Flasche an, die sie erst an diesem Abend geöffnet hatte. Dennoch fühlte sie keinerlei Wirkung des Weins und auch die erhoffte Müdigkeit war bisher ausgeblieben.

Überrascht sah sie auf die Uhr. Schon so spät. Sie war am nächsten Morgen mit Ruth verabredet. Entschlossen nahm sie drei Esslöffel der Tinktur, die ihr Ruth für solche Fälle überlassen hatte und die, wie Ruth versichert hatte, zuverlässig Schlaf bringen sollte. Allerdings hatte Ruth als Dosis lediglich einen Teelöffel der Flüssigkeit empfohlen und ganz gewiss nicht ganze drei Esslöffel. Tatsächlich aber fühlte Paula schon kurz nach der Einnahme von Ruths Wundertinktur eine bleierne, wohlige und absolut unwiderstehliche Müdigkeit in sich aufsteigen. Erleichtert ging sie rasch zu Bett und schlief lächelnd unmittelbar danach ein. Doch der erholsame Schlaf währte nicht lange. Schon kurze Zeit später begann ein Traum, der so lebhaft, so eindringlich und erschreckend war, dass Paula ihn sich später immer wieder sofort in jeder Einzelheit in Erinnerung rufen konnte. Sie sah dann die Bilder des Traums wieder lebhaft vor sich und vergaß ihn nie mehr.

Paula befand sich in einem Land, das sie nicht kannte und in dem sie ganz sicher noch nie zuvor gewesen war. Es war ein raues und wildes Land mit steilen Klippen, an denen Seevögel in schwindelnder Höhe nisteten. Von wo sie sich mit wilden Schreien halsbrecherisch von den scharfkantigen Klippen stürzten und schrill kreischend über die schäumenden Wellen und die hochfliegende Gischt der See hinweg flogen. Es war ein Land mit hohen, schroffen Felsen, aber auch mit sanften, grünen Hügeln und weiten, grasbewachsenen Hochebenen. Ein wütender Sturm tobte laut heulend und gefährlich über dem Land. Sturmgraue Wolken rasten über den düsteren Himmel und Blitze zuckten drohend zwischen den finsteren, hoch aufragenden Wolkentürmen. Paula versuchte verbissen einen Ort zu erreichen, von dem sie nicht wusste, wo er sich befand, noch was sie dort wollte, oder weshalb sie diesen Ort so verzweifelt suchte. Sie wusste nur, dass sie unbedingt so schnell wie möglich an diesen Platz gelangen musste.

Plötzlich sah sie auf einer sturmumtosten nahen Bergkuppe, über die unheildrohende, schwarze Wolken jagten, eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Sie hatte langes, tiefrotes Haar, das wild und wie lebendig geworden im Sturm um sie hertanzte. Das Mädchen hob graziös wie eine Ballerina beide Arme mit elegant gespreizten Fingern weit über den Kopf, dehnte genüsslich den schlanken Körper und begann in dem wilden Tosen langsam und sinnlich zu tanzen. Selbst der Sturm schien einen Moment innezuhalten und der fernen Melodie zu lauschen, die wohl nur das tanzende Mädchen hören konnte. Vielleicht hörte der Sturm aber auch auf einen Befehl, dem er zwingend gehorchen musste und den Paula nicht vernehmen konnte. Das Mädchen reckte sich, warf das lange Haar zurück und begann das Tempo zu steigern und wilder und hemmungsloser zu tanzen.

Hingebungsvoll wiegte sie sich im Wind, eine schmale, bis in die Fingerspitzen graziöse Gestalt, ganz und gar dem Tosen des Sturmes hingegeben und ihn gleichzeitig immer weiter anfeuernd. Bald wurde sie noch schneller, wilder und zügelloser und wirbelte in atemberaubendem Tempo ungestüm herum, so dass die roten Haare wallend und tanzend um sie her flogen. Dann wieder schien sie in stummem Befehl jemanden oder etwas zu sich locken. Sie bewegte beschwörend die schlanken Arme, als wollte sie etwas zu sich heranziehen. Plötzlich sah Paula erschrocken wie die felsige, mit leuchtend grünem Gras durchsetzte Bergkuppe, auf der das Mädchen sich wiegte, sanft von innen heraus zu glühen begann. Mehr und mehr, heller, leuchtender und feuriger. Je wilder die Tänzerin sich selbstvergessen wie in Trance drehte, desto heißer glühte die bläuliche, wabernde Flamme im Berg. Bis sich plötzlich mit einem Erdstoß, der Paula mit brutaler Gewalt umwarf und gegen einen zackigen Felsen schleuderte, ein klaffender Riss auftat. Ein Spalt, aus dem hohe bläulich rote, sengende Flammen schlugen und mit verlangenden Fingern und feurigen Zungen gierig nach der schönen Tänzerin griffen. Fasziniert und hilflos, mit heftig schmerzendem Rücken, musste Paula hart gegen den Fels gepresst, an den sie geschleudert worden war, mit ansehen wie der Riss in der Bergkuppe breiter wurde, immer mehr aufriss und die Flammen fortwährend höher hinauf schlugen, je wilder die Tänzerin herumwirbelte. Die Rothaarige tanzte jetzt mitten in einer Feuersäule rasend schnell und unaufhörlich. Sie heizte mit ihrem wilden Tanz die Glut immer weiter an. Und zwar sowohl den schaurigen Brand, als auch die Flammen und sogar den Sturm der, noch immer fauchend und heulend über das Land, das Meer und die Felsen hinweg tobte. Paula wollte schreien, nein, halt hör auf, doch sie brachte keinen Ton hervor und konnte sich nicht rühren. Hilflos, stumm und bewegungsunfähig musste sie mit ansehen, wie die Tänzerin noch immer in ihrem wirbelnden Tanz bis in die Wolken aufstieg und schneller und schneller wurde bis der ganze Berg mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst.

Glühende Lava schoss himmelhoch und funkensprühend in einer feurigen Säule zu den schwarzen Wolken hinauf und ergoss sich dann unter weiteren gewaltigen Erdstößen über das ganze Land. Sie begrub Dörfer, Gehöfte, Menschen und Tiere für alle Zeiten unter sich. Und noch immer tanzte die schöne Frau ungerührt in den Flammen weiter. Flüsse, die einst klares Wasser gespendet hatten, wurden zu glühenden Lavaströmen und damit auch zu alles vernichtenden, ausnahmslos jeden verschlingenden Todesfallen. Dörfer und Häuser wurden begraben und Mensch und Tiere starben in dem glühenden Gestein und würden irgendwann selbst zu Stein werden, erstarrt und erkaltet, gefangen in ihrer ewigen, immerwährenden Qual. Die ganze Welt ging in einem Flammenmeer unter und Paula wurde mit einem unendlich schmerzvollen Schrei ohnmächtig und versank im Dunkel der Bewusstlosigkeit.

Als Paula gegen Morgen, erwachte war sie vollkommen nass geschwitzt. Ihre Haare und ihr Kissen waren feucht und ihre Nägel hatten sich während des Traumes offenbar tief in ihre Handflächen gegraben und halbmondförmige, blutige Spuren hinterlassen. An ihren Fingern hatte sie schmerzhafte Brandblasen und die Tränen, die sie im Schlaf geweint hatte, hatten Spuren auf ihrem über und über mit Asche beschmutzten Gesicht hinterlassen. Ihre Wangen waren noch immer tränennass und sie fror entsetzlich.

Als sie zitternd und taumelnd aufstehend wollte, um ihren brennenden Durst zu löschen, sank sie laut stöhnend auf das Bett zurück. Ihr Rücken schmerzte unerträglich und als sie verblüfft in den Spiegel sah, bemerkte sie voller Schrecken großflächige Abschürfungen und einige tiefblaue Flecken und rötliche Schwellungen auf ihrem Rücken, als wäre sie mit großer Gewalt gegen einen harten Gegenstand geschleudert worden. In diesem Moment fiel ihr der Sturz gegen den Felsen wieder ein, als in ihrem Traum die Erdstöße begonnen hatten. Schwankend und unsicher kam Paula auf die Beine und trank gierig mehrere Gläser Wasser, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann duschte sie ausgiebig, ignorierte den Schmerz der Wunden auf ihrem Rücken, als das heiße Wasser der Dusche über die Verletzungen lief, und brühte anschließend noch immer stark benommen einen Tee aus Ruths Spezialmischung auf. Tief beunruhigt und leise stöhnend setzte Paula sich an den Schreibtisch und schrieb alles auf, was sie noch immer deutlich, wie etwas eben Erlebtes vor sich sah. Jede Einzelheit des schrecklichen Traumes war in Paulas Gedächtnis eingebrannt. Dennoch schrieb sie alles auf, auch über die Verletzungen, dass sie Brandblasen hatte, mit Asche beschmutzt war und ihr Rücken grün und blau wurde und tiefe Schrammen und Schwellungen, wie nach einem realen Sturz gegen einen Felsen aufwies.In dieser Nacht hatte Paula eindrucksvoll die Bekanntschaft der Feuertänzerin gemacht und ihr graute vor der ungestümen Gefährlichkeit dieses Wesens aus einer anderen Welt, oder wo auch immer sie herkommen mochte. Dennoch war sie überzeugt, dass es kein Zufall gewesen war, dass sie diesen Alptraum hatte durchleben müssen.

Am nächsten Morgen, so früh sie es nur verantworten konnte, machte Paula sich rasch auf den Weg zu Ruth, ihrer äußerst scharfsinnigen, mütterlichen Freundin, die am winzigen Katzensteg nahe der Kirche in Suderburg wohnte und dort so eine Art kleines Heimatmuseum betrieb, in dem sie in erster Linie alte Bücher, die sich mit der Geschichte Suderburgs befassten, aber auch alte Postkarten, Haushaltsgegenstände aus längst vergangen Zeiten und einige alte Möbelstücke, sowie Geschirr aufbewahrte. Ruth war früher lange Zeit Lehrerin in Suderburg gewesen und hatte sich schon sehr lange mit der Geschichte des Ortes und seinen Sagen befasst. Tief in Gedanken ging Paula den schnurgeraden Wehrbrink entlang, dessen schlanke, hoch aufragende Fichten ihr heute in ihrer Höhe und strengen Düsternis fast bedrohlich erschienen.

Auch die Sträucher und die hohen Brennesselbüsche längs des Wehrbrinks kamen ihr heute irgendwie aggressiv vor, als würde etwas Unbekanntes sie beschäftigen und ihre Brennhaare drohend aufrichten. Selbst der niedrige Holzlattenzaun längs der Straße und erst recht die abweisende Hecke, die Friederike Bornhoffs Wehrkamp umgab, wirkten abweisend, als würden sie eine eindringliche Warnung aussprechen. Paula war froh, als sie zu der schmalen Treppe kam, die zwischen Bäumen und Sträuchern zu dem Flüsschen Hardau hinunter führte. Doch auch hier fühlte sie sich heute irgendwie unsicher, ganz so als würde die Vegetation sie belauern und jeden ihrer Schritte registrieren. Sie war schon so oft hier gegangen und hatte doch noch nie wirklich bemerkt wie undurchdringlich und fast schon gefährlich hier das grüne Dickicht des Waldes aussah. Büsche und Ranken neigten sich ihr aufdringlich zu und Paula dachte etwas beunruhigt, wenn sie mir den Weg versperren wollten, dann könnten sie es tun. Selbst ein unauffindbares Verschwinden in diesem grünen, fest verschlungenen Pflanzenwall erschien Paula heute wahrscheinlich. Merklich erleichtert überquerte sie die schmale Brücke über das kleine Flüsschen Hardau. Hier sah alles wieder friedlich aus. Wie immer, wenn sie hier entlang ging, las sie auf der hier angebrachten Tafel die Stationen, die diese schmale kleine Hardau auf ihrem Weg ins Meer nahm.

Paula kannte die Stationen längst auswendig und las sie gewohnheitsmäßig doch immer wieder. Die Hardau floss bei Holdenstedt in die Gerdau, mit der Gerdau in die Ilmenau, mit der Ilmenau bei Winsen in die Elbe und mit der Elbe bei Cuxhaven in die Nordsee und dann weiter in den riesigen Atlantik. Sie fand das immer wieder beeindruckend und wünschte der kleinen Hardau stets auf ihrer großen Reise in die weite Welt viel Glück. Es war ein kleines Ritual beim Überqueren der Brücke und gefiel Paula immer aufs Neue.

Sie bog rasch in die Holxer Straße ein, die am Friedhof und zu Paulas Unbehagen auch an Michael Gablers Gärtnerei vorüber führte. Danach dann direkt in den alten Ortskern von Suderburg und zur Hauptstraße und dem Katzensteg, wo Ruth ihr kleines Haus hatte. Es war viel kleiner als die stolzen Stadthäuser in Uelzen, und auch wesentlich geduckter und langgestreckter. Die weiß gerahmten, relativ schmalen Fenster gingen fast bis auf die Erde hinab. Das Häuschen war weiß gekalkt und hatte ein dunkles Dach und nur die dunkel gestrichenen Balken des Fachwerkhäuschens gaben ihm Struktur und ließen es freundlich und gemütlich wirken.

Ein schmales, vielfach unterteiltes Fenster reihte sich an das andere und an jedem hingen putzige, weiße Scheibengardinen. Nur die dunkle, schwere, hölzerne Eingangstüre mit den reichen Ornamenten schien das Häuschen fast zu erdrücken.

Der kleine Katzensteg war eine schmale Gasse, die von der St. Remigius Kirche zum Alten Friedhof führte und kurz vor Ruths Haus an der Bushaltestelle die Hauptstraße überquerte. Nur zwei halbhohe an Holzpfeilern angebrachte und sich überlappende Querbalken in kurzem Abstand hinderten Fußgänger und auch Fahrradfahrer daran, sofort auf die Hauptstraße zu queren. Früher hatte man sich erzählt, dass über dieses schmale Gässchen die Hexen des Ortes anlässlich ihrer Feste zum Blocksberg reisten.

Tief in Gedanken kam Paula bei Ruth an, die noch etwas verschlafen aussah. Paula brannte voller Besorgnis darauf, mit Ruth über ihren seltsamen und beängstigenden Traum zu sprechen. „Was glaubst du“, fragte sie unsicher, „was das zu bedeuten hat.“ „Nun“, meinte Ruth grimmig, „vermutlich dass die nächste Feuertänzerin im Anmarsch ist und wir uns auf einiges gefasst machen müssen.“ Paula nickte besorgt. „Bernadette bekommt also eine Nachfolgerin“, setzte Ruth nach einer Weile gedehnt hinzu und sah Paula mit hochgezogenen Augenbrauen über die runde Brille an, die ihr stets das Aussehen einer weisen, aber auch überaus neugierigen Eule gab.

„Und was bedeutet das genau?“, fragte Paula etwas genervt. Sie brauchte hier gewiss keine Feuertänzerin und schon gar keine, die ihr Alpträume bescherte. Ihr reichte die schöne Bernadette die erste Hüterin, die sie erforschte und von der sie sehr viel lernte, damals, nachdem sie gerade den Tobel geerbt hatte. Als Ruth noch immer schwieg stand Paula wortlos auf, zog ihr Shirt hoch und zeigte Ruth die Verletzungen an ihrem Rücken. Ruth pfiff überrascht durch die Zähne. „Das ist allerdings merkwürdig“, gab sie leise zu und sah Paula erschrocken an. „Ja“, bestätigte Paula bissig, „vor allem wenn man bedenkt, dass es nur ein Traum war.“ Ruth nickte unbehaglich. „Nun“, erklärte sie nach einer Weile gedehnt, „der Legende nach gibt es in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin, eine Frau, die diese besondere Begabung hat mit dem Feuer zu sprechen.“

„Dann war der Feuermann, der in Theodor Storms „Regentrude“ über die Felder tanzte, vielleicht eine Feuerfrau, eine Feuertänzerin?“, fragte Paula und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte lächelnd die Schultern. „Vielleicht“, meinte sie geheimnisvoll und schwieg. „Was weißt du über die Feuertänzerinnen?“, fragte Paula gespannt und sah Ruth neugierig an. Ruth zuckte nur die Schultern. „Wenn in jedem Jahrhundert eine Feuertänzerin kommt, dann frage ich dich, wer kam beispielsweise nach Bernadette?“, fragte Paula gespannt. Ruth sah überrascht auf. „Verflixt“, rief sie dann und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass Paula zusammenzuckte. „Was ist“, fragte sie erschrocken und sah Ruth alarmiert an.

„Ich weiß es nicht, ich weiß nicht wer nach Bernadette kam, ich habe bisher einfach nicht darüber nachgedacht“, gab Ruth grimmig zu und ärgerte sich offensichtlich über sich selbst und ihre Nachlässigkeit. „Bernadette“, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. „Sie lebte im 18. Jahrhundert. Elisabeth, ihre Tochter, war ganz sicher keine Feuertänzerin.“ Paula lachte. „Nein, ganz gewiss nicht“, erwiderte sie. „Eher das Gegenteil.“ „Jetzt haben wir das 21. Jahrhundert“, fuhr Ruth ungeduldig fort. „Wer war die Feuertänzerin des 19. Und wer war die des 20. Jahrhunderts. Warum habe ich mich nicht darum gekümmert?“ „Ja warum nicht“, murmelte Paula. „Ich werde es herausfinden“, versprach Ruth entschlossen und schob das Kinn vor. „Oder ich“, versicherte Paula nicht minder entschlossen. Ruth nickte. Sie sah sinnend aus dem Fenster, dann lehnte sie sich zurück und sagte nachdenklich: „Habe ich dir eigentlich je die Legende vom ‚Hexenfeuer‘ oder“, sie machte eine kurze Pause und sah Paula eindringlich an, „manche sagen auch den ‚Feuerhexen‘ oder“ sie zögerte etwas, „Feuertänzerinnen erzählt?“

„Nein“, entgegnete Paula sofort. „Davon habe ich nie gehört, aber ich habe wohl eine davon“, auch sie zögerte kurz, “gekannt, Bernadette.“ Ruth lächelte. „Ja, ja genau“, sagte sie. „Das meine ich.“ „Erzähl“, bat Paula sogleich, „ich habe so lange nichts mehr über Bernadette gehört.“ Ruth nickte und begann mit geheimnisvoller Stimme leise zu erzählen:

„Es gibt sie schon sehr lange, die Legende vom sagenhaften Hexenfeuer. Vom Feuer, das nur eine Hexe löschen kann. Eine starke Hexe, die furchtlos ist und sich dem Feuer stellt, die es bekämpft oder überlistet. Es sind diese unzähligen Legenden der Feuer- oder Brandhexen, die sich nie vom Feuer lösen konnten, die stets untrennbar mit den Flammen verbunden blieben.“ „Genau wie Bernadette“, bemerkte Paula versonnen. „Sie kann sich bis zum heutigen Tag nicht vom Spiel und vom Kampf mit den Flammen lösen und hat in meinem Kamin eine Möglichkeit gefunden, im Feuer immer wieder zurückzukommen.“

„Ja, ganz genau“, bestätigte Ruth nickend. „Kennst du diese Legenden auswendig?“, fragte Paula neugierig, „oder gibt es ein Buch darüber?“ „Nein“, lachte Ruth, „nein das nicht, aber einige weiß ich schon auswendig. Vielleicht sollte ich sie mal aufschreiben. Manche Leute sagten, dass diese Feuertänzerinnen Feuer entzünden konnten, und zwar allein mit ihrem Tanz. Je wilder der Tanz, desto größer und heftiger das Feuer. Sie sollen auch aktiv Gewitter besprochen und angelockt und dann im Zucken der Blitze getanzt und so das verheerende Feuer herangezogen haben.“ Paula nickte und dachte an die letzte Nacht und ihren unheimlichen Traum, an die junge Frau, die so selbstvergessen und hingegeben im Feuer des Vulkans getanzt hatte.

„Aber Bernadette war nie so“, verteidigte Paula sofort ihre Lieblings-Vorgängerin auf dem Tobel, mit dem Bernadette offenbar bis heute über all die Jahrhunderte hinweg untrennbar verbunden blieb. Von Bernadettes Schicksal hatte Paula gelernt, als sie auf den Tobel kam. Von ihr hatte sie Ermutigung bekommen, wenn sie verzagt war. Bernadette hatte ihr geholfen, wenn sie nicht weiter wusste.

„Feuertänzerinnen“, sagte Ruth versonnen, „sollen stets mehrere Generationen überspringen. Sieh dir Elisabeth, die Tochter Bernadettes an, Sie hatte zum Feuer gar keine Beziehung.“ „Das stimmt“, gab Paula nachdenklich zu „und Johanna, die danach kam hatte mit Feuer auch nichts zu tun.“ „Nein“, nickte Ruth, „die auch nicht. Es heißt ja wie gesagt, dass nur so ungefähr alle 100 Jahre eine Feuertänzerin geboren wird. Das Feuer muss ihr von Anfang an im Blut liegen.“ Ruth sah Paula lächelnd an und sagte versonnen: „Eigentlich ist die nächste Feuertänzerin längst überfällig. Was meinst du, hast du es im Blut?“ Paula sah Ruth entsetzt an. „Ich?“ fragte sie verblüfft, „ganz gewiss nicht.“ „Nun“, meinte Ruth, „dann wird es wohl bald wieder so weit sein, dass eine Feuertänzerin auftaucht. Ich bin sehr gespannt, wie sie sich in der modernen Welt bewegen wird.“ „Woran würden wir sie denn erkennen?“, fragte Paula.

„Na ja, am Feuer natürlich“, lächelte Ruth. „Alles an ihr hat mit Feuer zu tun. Sie kann Feuer entfachen und sie kann es bändigen. Und zwar jegliches Feuer“, sagte Ruth, plötzlich ernst werdend. „Manchmal flackern in ihrer Nähe plötzlich Streitfeuer auf, die sie mal anfacht, mal wieder löscht. Oft, sehr oft flackern in ihrer Nähe aber Liebesfeuer auf, große heftige Brände, die alles verzehren und kleine, spielerische Liebes-Feuerchen, die zuerst wie ein großes Feuer aussehen, die aber dann nur ein bisschen flackern, ein paar Funken sprühen und schnell verlöschen. Aber eben auch verheerende, lodernde Brände, die sich jeder Kontrolle entziehen.“ Paula war sehr nachdenklich geworden. Doch Ruth fuhr schon fort. „Das war aber beileibe nicht die einzige Funktion der Feuertänzerinnen. Wie jedes Feuer waren sie zwiespältig. Sie entfachten und schürten das Feuer, gewiss. Doch sie haben auch so einige Bauernhöfe und sogar ganze Dörfer und nicht zu vergessen die empfindlichen Heideflächen vor verheerenden Bränden gerettet.“

Paula blickte skeptisch und sagte nur „So.“ Lakonisch meinte Ruth. „Später hat man dann Feuerreiter daraus gemacht und aus den Frauen Hexen, die man angeklagt und verurteilt hat, wenn man sie fand. Die Obrigkeit hätte es damals nicht ertragen, so mutige und selbstbewusste Frauen zu dulden, die dem Feuer befehlen konnten, selbst wenn es mitunter die Dörfer rettete. Es war für die Feuertänzerinnen sehr gefährlich und sie riskierten auch oft ihr Leben. So schwiegen die Feuertänzerinnen und die, die ihnen verbunden waren, vorsichtig dazu, wenn nach einem Brand, der gelöscht worden war, aus der Retterin ein mutiger Reiter wurde, der angeblich den Brand besiegt hatte. Wie gesagt, es wird spannend sein, sehr spannend wenn die nächste Feuertänzerin kommt.“

Paula lächelte: „Komm schon Ruth, du kennst doch sicher eine Sage von einer Feuerreiterin. Ruth schmunzelte, sah Paula an und nickte. Dann lachte sie hell auf. „Ja“, gab sie zu, „sogar von einer ganz besonderen.“ Sie begann mit ihrer schönen ‚Märchen‘-Stimme zu erzählen: „Über alle Zeiten hinweg hielten sich hier in der Heide die Sagen über Feuerreiter. Da in der Heide, wenn der Regen fehlte und in langen trockenen Zeiten durch ein Feuer gewaltiger Schaden entstehen konnte, waren hier die Flammen besonders gefürchtet. Auch die niedrigen Heidehäuser mit ihren tief herab gezogenen Reetdächern waren leicht entflammbar und schnell konnte ein großes Gehöft oder sogar ein ganzes Dorf ein Raub der gierigen Flammen werden.

Der ‚Rote Hahn‘, wie man das Feuer nannte, war zu allen Zeiten in der Heide gefürchtet, besonders wenn er auf dem Dach eines Heidjerhauses krähte. Doch es ging auch die Sage, dass es Menschen gäbe, die zu den Flammen eine besondere Beziehung hatten und die imstande waren, sie zu besprechen, zu besänftigen und sogar zu besiegen, wenn auch oft unter Einsatz des eigenen Lebens.“ Gespannt beugte Paula sich vor und lauschte Ruths dunkler Stimme.

Ruth erzählte weiter: „Besonders bekannt wurde eine Feuerreiterin, die sich anscheinend furchtlos den gefährlichsten Flammen näherte und ihnen offenbar sogar befehlen konnte. Es soll eine junge Frau mit flammend rotem Haar gewesen sein. Viele glauben sogar bis heute, dass es eine der sogenannten Waldhexen auf dem Hexentobel war. Die Sage beginnt mit einer Hochzeit auf dem Holten-Hof. Der Holten-Hof war ein alter und reicher Hof mit viel Land und einer großen Menge Vieh. Der Holten-Bauer war hoch angesehen und zudem Bürgermeister.

Als der Sohn dieses reichen Bauern eine Braut aus einer ebenso reichen Bauernfamilie erwählte, waren die Eltern überglücklich. Es sollte eine riesige, so noch nie dagewesene Dorfhochzeit werden. Alle Einwohner waren dazu geladen und dazu noch jede Menge Gäste aus anderen Dörfern und sogar aus dem nahen Uelzen. Die Gäste freuten sich auf reichlich gutes Essen und Trinken im Überfluss, auf Musik und Tanz und viele Stunden fröhliches Feiern. Und es war zudem keine arrangierte Verbindung, sondern eine echte Liebesheirat. So etwas kam nur sehr selten vor. Die beiden Väter platzten bald vor Stolz und jeder wollte die Hochzeit noch prächtiger ausrichten. Auf beiden Höfen sollte gefeiert werden. Auf dem Hof des Brautvaters beim Abholen der Braut und auf dem Hof des Hochzeiters, der eines Tages der Erbe sein würde, bei der Ankunft mit der Braut und ihrem Einzug auf dem großen Hof. Überall herrschte pure Festesfreude.

Alle waren aufgeregt und glücklich und freuten sich mit dem strahlenden Brautpaar, das den Tag sichtlich genoss. In beiden Dörfern und auf beiden Höfen wurde ausgelassen gefeiert. Es wurde viel getanzt, gelacht, gegessen und natürlich auch viel getrunken. Die Braut strahlte in ihrem schönsten Festtagskleid mit der kostbaren Brautkrone auf dem Kopf. Mehrere geschmückte Wagen begleiteten die Kutsche, in der die Braut zum Hof des Bräutigams gebracht wurde. Als sie durch das weit geöffnete zweiflügelige Tor des riesigen Hofgutes fuhr, knallten, wie es Brauch war die Böller, die die junge Braut in ihrem neuen Heim willkommen hießen.“ Ruth sah Paula an, die dieser Beschreibung der prächtigen Bauernhochzeit lächelnd lauschte. „Dann erklang plötzlich ein entsetzter Schrei“, erzählte Ruth weiter und alle Leute starrten in die Richtung, in die der Knecht aufgeregt wies. Einer der Böller war versehentlich in das Strohdach eines der Nebengebäude gekracht und das Dach brannte sofort lichterloh und drohte auf die anderen Gebäude und wie schon öfter geschehen auf das ganze Dorf überzugreifen. Panik brach aus.

Von dem getroffenen Dach schlugen in kürzester Zeit helle Flammen meterweit in den Himmel und auch in Richtung der anderen Gebäude. Schwarzer Rauch quoll unheilvoll auf. Alle Gäste rannten durcheinander und versuchten sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Die Knechte des Hausherrn bildeten auf seinen Befehl sofort eine Wasserkette vom Brunnen bis zu dem getroffenen Gebäude. Es war der verzweifelte Versuch den Hof und das Dorf zu retten. Wenn jetzt noch Wind aufkam, war das Gehöft so gut wie verloren. Da galoppierte plötzlich mitten in dem Aufruhr auf einem riesigen Pferd eine zarte Gestalt auf den Hof. Ihr weiter Mantel flatterte um sie her.

„Zurück“, rief sie mit heller Stimme, „geht mir aus dem Weg.“ Alle Leute, die noch in der Nähe waren, flohen schreiend und auch die Knechte wichen angstvoll bis zum Tor zurück. Die mutige Reiterin trieb das Pferd an, geradewegs auf die Flammen zu. Es war eine zierliche Frau mit leuchtend rotem Haar, das wie Flammen hinter ihre her wehte. Sie galoppierte auf das brennende Gebäude zu. Dreimal umrundete sie den flachen Bau, wobei sie mit lauter Stimme unablässig Worte rief, die aber bei dem lauten Prasseln des Feuers niemand verstand. Doch die Flammen auf dem brennenden Strohdach schienen plötzlich inne zu halten und zu lauschen. Die Menge starrte fasziniert auf das Schauspiel, bereit jederzeit zu fliehen, falls der Brand auf die anderen Gebäude übergreifen sollte. Die junge Frau auf dem hohen Pferd jagte bereits zum dritten Mal rund um den Hof, da bildete sich hinter ihr eine Art wabernde Feuersäule, die rot und bläulich züngelnd rotierte und dann zuerst zögernd, dann immer rascher der mutigen Reiterin folgte.

Die Feuersäule baute sich etwa zwei Meter hoch auf und zog dann so etwas wie eine feurige Schleppe hinter sich her, die einen glühenden, wabernden Ring um den alten Bauernhof bildete. Als die rothaarige Reiterin zu dritten Mal den Hof vollkommen umrundet hatte und der Kreis geschlossen war, drehte sie in rasendem Galopp ab, sprengte durch das noch immer weit geöffnete Tor und bog in den nächsten Feldweg ein, der von dem Hof wegführte. Alle stöhnten entsetzt auf. Doch dann sahen die Hochzeitsgäste, dass die Feuersäule samt brennender Schleppe der Reiterin immer schneller folgte. Die Flammen verließen das bereits verloren geglaubte Gebäude und wandten sich allesamt der Reiterin zu, selbst kleinere Funken, die noch hier und da glommen, folgten der Amazone.

Die Gäste hielten den Atem an. Würde es der mutigen Frau gelingen schnell genug zu sein, um der feurigen Säule und ihrer lodernden Schleppe zu entkommen? Und wenn nicht, was würde dann geschehen? Schon leckten einige der Flammen bereits am Schweif des fliehenden Pferdes und einige Flammen schlugen hoch hinauf und versuchten sich scheinbar mit den flammenroten Locken der Reiterin zu verbinden.

Doch die mutige Frau trieb ihr Pferd mit gemurmelten Worten noch immer unbarmherzig an und zog hinter sich die Feuersäule und die glühende Schleppe aus dem Hof hinaus und auf den nahen Feldweg, der zu den Wiesen an der Hardau führte. Das Feuer folgte der tapferen Frau auf dem Pferd, die das Feuer vom Hof abgezogen hatte, noch immer nach. Es war eine sehr furchtlose Tat, die sie vielleicht mit dem Leben bezahlen würde, wenn sie nicht schnell genug entkommen konnte, oder das Pferd, das angstvoll wieherte, die Kraft verließ.

Mit lauten Rufen in einer fremden Sprache trieb sie jetzt ihr Pferd, weit über den Hals des Tieres gebeugt zum Äußersten an. Das Tier musste bereits die Nähe des Feuers an seinen Hinterläufen spüren, so nahe waren ihm die Flammen gekommen. Dann beugte sich die Frau im rasenden Galopp nach vorne und schien etwas in das Ohr des Tieres zu flüstern, das ein schrilles Wiehern ausstieß und einen gewaltigen Satz nach vorne machte. Mit gestreckten Beinen schien das Pferd förmlich durch die Luft zu fliegen und kam tatsächlich glücklich am gegenseitigen Ufer des Flüsschens Hardau wieder auf festen Boden. Die Feuersäule raste fauchend und brüllend hinter der Reiterin her, direkt in das eiskalte Wasser der Hardau hinein, wo es zischend und dampfend in einer hohen Säule aus Wasserdampf erlosch.

Auch die Schleppe erlosch rauchend und brodelnd in dem Flüsschen, das in diesem Moment zu kochen schien. Im selben Augenblick sanken auch auf dem Bauernhof die letzten Flammen zischend in sich zusammen und verglühten. Die Feuerreiterin hatte gesiegt und das Hofgut des Hochzeiters und seiner Eltern vor den Flammen gerettet. Vielleicht hatte sie sogar das ganze Dorf vor dem Untergang bewahrt.“ „Wie schön“, sagte Paula ergriffen, „eine hübsche Geschichte.“

„Ja“, lachte Ruth etwas bitter, „später hat man natürlich in der Dorfchronik einen mutigen Soldaten und Reiter zum Retter gemacht. Doch die alten Leute und die, die an jenem Tag dabei waren, wussten es besser und die Sage von der Feuerreiterin hielt sich noch lange in den Gedanken der Leute.“Paula hatte über der Geschichte ihre Schmerzen, die von den Blessuren am Rücken herrührten beinahe vergessen. Trotzdem nahm sie dankbar die Salbe an, die Ruth ihr für ihre Prellungen und Hämatome mitgab. „Arnika und noch ein bisschen mehr“, sagte Ruth auf Paulas fragenden Blick hin und Paula nickte, dankte Ruth mit einem Kuss auf die Wange und machte sich noch ganz in Gedanken bei Bernadette und ihrer mutigen Tat wieder auf den Weg nach Hause.

Um nicht an der Gärtnerei des Michael Gabler vorüber zu müssen nahm sie den etwas weiteren Weg über die Burgstraße zur Hauptstraße und die alte Celler Heerstraße, die ebenfalls zum Wehrbrink führte und ihr das unangenehme Gefühl ersparte, das sie stets beim Anblick der Gärtnerei überkam, die sie früher so gerne besucht hatte. Seit einiger Zeit hatte allerdings auch die ‚Alte Celler Heerstraße‘ ihre Tücken. Regelmäßig hatte Paula dort das Gefühl nicht alleine zu sein. Es war fast, als hätte sich mit den Aktivitäten ihres Gartens, der sich ausdehnte auch so etwas wie ein Tor zur Vergangenheit geöffnet und würde ihr kurze Momente und Einblicke auf die einst stark frequentierte Post- und Heerstraße gewähren, die von Hannover nach Celle führte.

Am nächsten Morgen rief ziemlich früh Ruth an, um zu fragen, wie Paula geschlafen habe und was ihre Blessuren machten. Sie sagte, als Paula versicherte, dass sie dieses Mal gut geschlafen habe: „Ich habe übrigens heute Morgen schon einiges über Friederike Bornhoff in Erfahrung gebracht!.“ Paula konnte bereits an ihrer Stimme hören, dass Ruth wichtige Neuigkeiten erfahren hatte.

„So früh, wer hat denn da schon angerufen?“, fragte Paula. „Frau Mechler“, bestätigte Ruth ihren Verdacht. „Ich komme heute noch vorbei“, sagte Paula neugierig und unterdrückte ein Gähnen.

Gegen Mittag, als Paula aus Uelzen zurück kam, fuhr sie darum weiter zu Ruth, um zu hören was es über die Inhaberin ihres Nachbargrundstückes Neues gab. Ruth beugte sich verschwörerisch vor und sagte so leise, als würde sie jemand belauschen: „Es geht um Friederikes Ehe, man munkelt anscheinend neuerdings, dass es da ein paar Probleme gäbe.“ „Aha“, sagte Paula und dachte, dass der Tobel womöglich doch Recht hatte. „Uwe, ihr Mann, ist neun Jahre jünger“, fuhr Ruth fort.„Er war zuerst bei Friederikes erstem Mann in der Kanzlei beschäftigt und hat dort rasch Karriere gemacht. Dann ist Martin, der erste Mann, überraschend gestorben und der smarte Uwe hat sich aufopfernd um die Witwe gekümmert. Jetzt drängt er seit einiger Zeit auch in die Politik. Er soll ganz dicke mit dem Landrat Dr. Hasselfeld sein. Hat wohl mal einen Prozess für ihn geführt.

„Also haben der Tobel und der Wehrkamp vielleicht doch Recht“, bemerkte Paula fast befriedigt, obwohl es ja keine erfreulichen Neuigkeiten waren. Ruth nickte stirnrunzelnd. „Ja“, erwiderte sie leise, „es sieht fast so aus.“ „Du weißt noch etwas“, vermutete Paula und sah Ruth streng an. „Ich sehe es dir an.“ Ruth lächelte. Dann begann sie geheimnisvoll: „Es gibt noch etwas anderes, das Friederikes Familie betrifft.“ Paula saß plötzlich kerzengerade, „was ist daran Besonderes?“ fragte sie scharf. „Es ist eine alte Uelzener Familie“, begann Ruth und sah Paula aufmerksam an, als überlegte sie, ob sie ihre Neuigkeiten verraten sollte oder nicht. „Paula“, sagte sie dann eindringlich. „Friederikes Großmutter war Agnes, Johannas Tochter.“

Paula ließ sich auf dem Stuhl nach hinten fallen und schlug die Hand vor den Mund. „Nein“, sagte sie fassungslos. „Bist du sicher?“ „Absolut“, entgegnete Ruth. „Aber“, begann Paula und verstummte, denn in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. „Wie kann das sein?“

„Johanna war eine Hüterin des Tobels. Weshalb hat Friederike dann den Wehrkamp?“, „Johanna scheint ihn gekauft zu haben, als sie mit den Kindern nach Karls Tod auf dem Tobel lebte“, erklärte Ruth. „Bisher haben wir ja immer noch nicht herausgefunden, wie es mit ihr weiter ging nach Karls Tod“, bemerkte Paula seufzend. „Das war ein unverzeihlicher Fehler“, sagte Ruth streng, „dass wir nicht viel intensiver danach gesucht haben. Wir werden uns sofort darum kümmern.“ „Ja“, murmelte Paula noch immer überrumpelt, „sicher, das werden wir. Aber du weißt ja, da war diese Sache mit Leonie und mit…“ „Ja, ich weiß“, unterbrach Ruth sie ungeduldig. „Das alles ist zu beachten, gewiss. Und die Feuertänzerin wird auch kommen. Aber wenn der Tobel sich mit dem Wehrkamp verbündet, musst du wissen, was der Grund dafür ist und was zu tun ist.“ Paula nickte beklommen. Ihr schwirrte der Kopf.

Sie liebte Ruth sehr, aber jetzt musste sie alleine sein. Sie musste dringend ihre Gedanken sortieren. Tief in diese Gedanken versunken, fuhr sie nach Hause und verpasste sogar den kleinen Seitenweg, der zu ihrem Grundstück führte. Plötzlich stand sie am Ende der Straße, wo die Treppe zur Hardau begann. Sie wendete kopfschüttelnd und fuhr zu ihrem Haus zurück. So etwas war ihr noch nie passiert.

Paula hatte sich nach einer heißen Dusche und der Behandlung ihrer Prellungen und Brandblasen wieder einigermaßen gefasst und freute sich auf einen möglichst entspannten Abend, als spät am Abend das Telefon klingelte. Sie war nur mäßig begeistert, nahm den Anruf aber doch entgegen und musste lächeln, als Ruth am Apparat war und sichtlich aufgeregt klang. „Kannst du nochmal vorbei kommen?“, fragte sie atemlos. Paula wunderte sich. Ruth war sonst immer sehr überlegen und verlor eigentlich nie die Fassung. Sie wusste sehr viel und es gab wenige Dinge, die sie so sehr überraschen konnten. Es musste also etwas wirklich Gravierendes passiert sein, wenn Ruth so aufgeregt klang.

Als Paula wenig später bei Ruth am Katzensteg ankam, öffnete sie die Tür, noch bevor Paula klingeln konnte. „Komm herein“, sagte sie sofort und zog Paula etwas unsanft ins Haus. „Was ist denn los?“, fragte Paula verständnislos. „Ist etwas passiert?“ „Das kann man wohl sagen. Ich habe gleich nachdem du gegangen warst, nach den Sagen über die Feuertänzerinnen gesucht und sieh nur, was ich gefunden habe.“ Sie legte mit einem triumphierenden Grinsen vorsichtig eine Art altes Schulheft vor Paula hin. Paula stutzte und konnte es kaum glauben. Auf dem Umschlag stand in der sauberen, korrekten Schrift, die Paula so gut kannte:

Johanna 8.10.1919. Paula stieß einen leisen Schrei aus. „Ruth“, sagte sie, „ist das etwa ...“ „Ja“, unterbrach Ruth sie eifrig. „Johannas Tagebuch, das nach Karls Tod beginnt und das all die Zeit unauffindbar war. Ich weiß nicht, wie es nun plötzlich zu mir gekommen ist. Aber jetzt erfahren wir endlich, was damals aus Johanna und ihren beiden Kindern nach Karls Tod auf dem Tobel wurde. Ich frage mich nur, warum es gerade jetzt kommt, es gibt für alles einen Grund und nichts geschieht zufällig!“

Paula umarmte Ruth stürmisch und lachte. „Du bist die Beste. Eines Tages krempeln wir dein ganzes Haus um, wer weiß was wir noch alles finden.“ Auch Ruth lachte, wenn auch noch etwas gezwungen. Der Gedanke, dass es womöglich einen Grund für das plötzliche Auftauchen von Johannas Tagebuch gab, setzte sich wie eine leise bohrende Mahnung in ihr fest und ließ sie nicht mehr los.

Es waren zwei dieser Schulhefte und Paula nahm sie sofort mit nach Hause und wollte noch am selben Abend zu lesen beginnen. Als sie auf ihrem Grundstück ankam, fühlte sie eine eigenartige Beklemmung und die wachsame Aufmerksamkeit ihres Gartens. Es war ein Rascheln und Seufzen rund um Paula und sie sah merkwürdig berührt zu dem riesigen dunklen Rhododendron hinüber, der offenbar das Zentrum all der Vorgänge in Paulas Garten war.

Paula wusste, dass sich stets bei Erfüllung eines Fluches eine Blüte auf dem Rhododendron gezeigt hatte. Dies war im Moment natürlich nicht der Fall, doch die Blätter bewegten sich allesamt, obwohl es vollkommen windstill war. Paula erschien es, als würden sie ihr eifrig zuwinken. Sie vernahm ein zartes Ächzen, wie ein leises Stöhnen und sah sich erschrocken um, konnte aber kein lebendes Wesen entdecken. Erst als sie die riesige alte Buche ansah, die an der Grundstücksgrenze stand, fiel ihr eine Bewegung auf. Die Buche, die man die ‚graue Wächterin des Tobels‘ nannte, schien tief zu atmen. In ihrem mächtigen, silbrigen Stamm war ein flächendeckendes Netz längst vernarbter Wunden von Tätowierungen zu sehen, die aus den Jugendtagen der Buche stammten und deren Schutzkraft sie zur Wächterin machten.

Paula bemerkte, als sie genauer hinsah, hoch oben am Stamm, dass sich die riesigen Augen im Holz weit geöffnet hatten und aufmerksam auf Paula herab sahen. Diese gigantischen, silbrigen Augen, die normalerweise geschlossen und in der Rinde nicht zu erblicken waren, hatte selbst Paula nur selten gesehen. Sie nahm es als Zeichen, dass der Tobel an den Geschehnissen und am Auffinden von Johannas Tagebüchern Anteil nahm und alle Ereignisse mit Interesse verfolgte. Nur kurz währte der Augenkontakt zwischen Paula und der grauen Wächterin, doch diese Augen gaben ihr Kraft und Ermutigung. Als sie sich langsam wieder schlossen und auch der Rhododendron zur Ruhe kam, öffnete Paula beschwichtigt ihre Tür und betrat mit einem Gefühl der Gelassenheit ihr Haus, um Johannas weiteres Schicksal zu erfahren.

~ 2 – Paula – Henrik – Johanna ~

Johanna schrieb: „Es ist der Abend des 8.10.1919 und heute starb mein Mann Karl, der Vater meiner Kinder, durch meinen Willen und die enorme Kraft der Wächter-Buche auf dem Tobel. Heute hat sich durch meinen Entschluss, Karls Leben ein Ende zu setzen, mein Dasein und auch das meiner Familie drastisch und für immer verändert. Unsere Leiden unter seiner Herrschaft sind vorüber. Dieser 8.10.1919 ist der Tag, an dem die riesige, graue Beschützerin des Tobels, die uralte Wächter-Buche sich Karl, meinen Ehemann, mit all ihrer unwiderstehlichen Kraft und Stärke holte und ihn für immer unter sich begrub! Heute ist der Tag, ab dem ich endlich lernen muss, mein Leben und auch das meiner Kinder selbst in die Hand zu nehmen.

Unwillkürlich muss ich daran denken, wie ich am 27.4.1911, meinem 22. Geburtstag den sogenannten ‚Hexentobel‘ erbte. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit knapp zwei Jahren mit Karl verheiratet. Ich hatte eine neun Monate alte Tochter, Agnes und war mit dem zweiten Kind schwanger, meinem Sohn Gregor. Und zum ersten Mal in meiner Ehe widersetzte ich mich meinem Mann. Ich weigerte mich strikt, ihm wie damals üblich, das Grundstück zu überschreiben. Woher ich damals den Mut nahm, ist mir heute unbegreiflich. Damit begann eine sehr schwierige Zeit in unserer Ehe, die nun zunehmend von Gewalt geprägt war. So lange, bis ich voller Verzweiflung, um meine Kinder und auch mich selbst zu schützen, als letzten Ausweg einen tödlichen Fluch gegen meinen gewalttätigen Ehemann aussprach. Einen Fluch, der sich heute grausam und unaufhaltsam in allen Einzelheiten erfüllte.

Karl wurde von der grauen Wächterin, der uralten Buche unter ihren Wurzeln begraben. Ich musste am heutigen Nachmittag voller Entsetzen genau mit ansehen, wie sich mein eigener tödlicher Fluch erfüllt hat. Meinen kleinen Sohn Gregor hielt ich die ganze Zeit fest an mich gepresst. Ich hoffte so sehr, dass der weinende Achtjährige nicht genau gesehen hatte, wie sein Vater unter dem Wurzelstock der mächtigen Buche verschwand.

Allerdings hatte er vermutlich dennoch, obwohl ich ihm so fest ich nur konnte, die Ohren zuhielt, die verzweifelten Todesschreie seines Vaters gehört. Agnes war nach dem tödlichen Streit zwischen Karl und mir, alleine im Haus zurückgeblieben. Sie hatte von dem Todesdrama hoffentlich nichts gesehen. Genau weiß ich es aber nicht. Nur Minuten nach dem Verschwinden Karls unter der Wächter-Buche kam Agnes in den Garten gelaufen. Verblüfft sah ich sie an. Als ich Karl, der den weinenden, kleinen Gregor brutal hinter sich her zerrte, angstvoll in den Garten nach rannte, hatte ich Agnes schreckensstarr und tränenüberströmt in der Küche zurückgelassen. Agnes ist erst neun Jahre alt. Nun war eine erstaunliche und mir unverständliche Wandlung mit ihr vorgegangen. Fast schien es mir, als wäre Agnes in diesen Minuten während Karls Tod zu einer Frau und zur wahren Hüterin des Tobels geworden. Sie strahlte schon jetzt eine ruhige Sicherheit aus, die ich im Umgang mit dem Grundstück nie gefühlt habe. Sie hat den Tobel, kaum dass sie sprechen konnte, immer „mein Haus“ genannt. Schon als ganz kleines Mädchen. Das Haus in Uelzen ist nie wirklich ihr Zuhause geworden. Der Tobel war ihr Heim. Sie spielte unbefangen mit den gefährlichsten Giftpflanzen, die für sie bereitwillig ihre Blüten öffneten und mit der strengen Dame des Rhododendrons, die Agnes stets zu behüten schien. Schon früh ging Agnes alleine in den Garten, wenn sie krank war. Und sie erhielt immer Hilfe, und zwar jedes Mal ohne mein Zutun.

Auch wenn ich anfangs nicht immer glücklich über diese enge Verbundenheit war, ich erkannte sie doch an und akzeptierte diese besondere Bindung. Agnes ist das mitleidsvollste Geschöpf, das ich kenne. Sie kümmert sich um alle Wesen gleichermaßen, auch wenn mir das manchmal Angst macht.

Sie kümmert sich um Menschen, um Tiere und Pflanzen und kommuniziert mühelos mit ihnen. Und sie sorgt sich ebenso um Schatten, um Wesen, die nur noch als Erinnerung auf dem Grundstück präsent sind und auch mit ihnen kann sie Verbindung aufnehmen. Sie ist etwas ganz Besonderes und ich habe mir vorgenommen über ihre Entwicklung Buch zu führen, denn ich fühle, dass dieses Wissen über Agnes eines Tages wichtig werden könnte. Auch ich habe in den Jahren, in denen mir das Grundstück nun gehört, eine starke Beziehung zu den Kräutern und Pflanzen auf meinem Besitz entwickelt und habe mich sehr zu der Kräuterkunde hingezogen gefühlt.

Meine liebsten Kräuter sind aber eindeutig eher die dunklen Pflanzen. Die sogenannten Hexenkräuter. Und diese Kräuter waren es auch, die von selbst auf das Grundstück kamen und sich einen geeigneten Platz suchten. Ich musste sie nicht anpflanzen. Sie kamen aus eigenem Antrieb und gediehen überraschend gut, so wie Kräuter meist dort einwandern, wo sie gerade gebraucht werden. Man muss nur erkennen, was sich neu ansiedelt. Diese Pflanzen, die sich auf meinem Besitz ansiedelten, waren genau so, wie es wohl meinem Wesen entspricht. Jetzt, nach Karls gewaltsamem Tod auf dem Grundstück ist mir klar, dass ich mit meinem kleinen Sohn nicht ganz hier leben kann, wie ich es gerne tun würde. Hier haben immer Frauen gelebt und über den Garten gewacht.

Ich weiß aber nicht genau, in wie weit das Grundstück für einen heranwachsenden Jungen gefährlich werden kann. Ich würde sehr gerne eine richtig gute Kräuterfrau werden. Doch was soll dann aus meinem kleinen Sohn werden, wenn ich mit meiner Tochter Agnes und mit ihm hier bleibe.

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Paula gähnte ausgiebig und sah blinzelnd auf die Uhr, denn es war spät geworden. Es half nichts. Johannas Tagebuch musste bis morgen warten. Sie hatte sich mit dem Fluch für Michael schon einige Nächte um die Ohren geschlagen. Dann war der verstörende Traum von dem Vulkanausbruch und der Feuertänzerin gekommen und nun Johannas Tagebuch. Jetzt war sie todmüde, sie fühlte sich sogar richtig erschöpft und würde endlich ins Bett gehen und hoffentlich traumlos schlafen. Paula war sehr gespannt, ob sie bei Johanna etwas über deren eigenes Befinden oder etwaige Ängste nach der Erfüllung des Fluches finden würde. Noch während sie die Zähne putzte und immer wieder gähnte, dachte sie darüber nach, ob Johanna wohl irgendwelche Schuldgefühle oder Ängste wegen ihres Fluches gehabt hatte. Ob sie womöglich sogar das Gefühl gehabt hatte, erdrückt zu werden, so wie Paula das Gefühl hatte, zu verdursten.

Kaum hatte Paula bei sich beschlossen vorerst zu verhindern, dass Henrik auf den Tobel kam, da bekam sie unerwartet eine Gnadenfrist. Henrik würde in den nächsten Tagen, zu einer seiner Reisen zu mehreren Gemeinden in Lüneburg, Hannover und Lübeck aufbrechen. Das waren zum einen Reisen, die dem Erfahrungsaustausch mit anderen Gemeinden und ihren Pastoren dienten. Daneben hielt Henrik auch Informations-Vorträge für junge Leute, die den Wunsch hatten, Pastor oder Pastorin zu werden. Wie immer erfuhr Paula eher zufällig von der Reise. Sie hatten sich im Café Mephisto in der Achterstraße in Uelzen verabredet, wie sie das öfter machten. Paula versuchte immer, Henrik nicht zu häufig von sich aus anzurufen, was ihr oft sehr schwerfiel. Henrik selbst konnte manchmal scheinbar problemlos einige Zeit verstreichen lassen, ehe er sich bei Paula meldete. Doch nun hatten sie sich getroffen und Paula schnupperte zufrieden an ihrer Latte Macchiato mit dem samtigen Zimtaroma. Henrik bevorzugte Nougat. Er konnte manchmal eine regelrechte Naschkatze sein. Da es draußen im Februar natürlich noch zu kalt war, saßen sie an Henriks Lieblingsplatz auf dem blauen Sofa direkt am Ausgang, an dem kleinen runden Tisch. Es waren die Plätze hinter der Glastür mit den durch Sprossen vielfach unterteilten Fensterscheiben, durch die man die vorübergehenden Passanten beobachten konnte, ohne selbst genau gesehen zu werden. Paulas erklärter Lieblingsplatz war eigentlich draußen in dem blau-weiß gestreiften Strandkorb, an dem achteckigen Tisch, aber Henrik liebte eben das blaue Sofa.

Anja, die junge Aushilfe fragte während sie das Wasserglas für Paula auf den Tisch stellte, zu Henrik gewandt: „Wann reisen Sie denn nun ab?“ „Morgen“, sagte Henrik gelassen und Paula stieß prompt vor Schreck ihr Wasserglas um. „Entschuldigung“, stammelte sie verstört, als Anja mit einem Lappen kam, geschickt die Pfütze aufwischte und auf Henriks Nicken hin ein neues Wasser brachte. Seit Paula den Fluch für Michael Gabler geschrieben hatte, litt sie ständig unter diesem brennenden Durst, der sie Tag und Nacht quälte.

Diese Tatsache beunruhigte Paula stark. Sie nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit mit Ruth darüber zu sprechen. Ruth verstand meist ohne viele Worte die zahlreichen unbegreiflichen Dinge, die sich manchmal im Zusammenhang mit dem Tobel ereigneten. Wieder einmal dachte Paula etwas wehmütig, wie unsicher ihre Beziehung zu Henrik war und wie viel ihr diese Beziehung bedeutete, ja wie abhängig sie in gewisser Weise sogar inzwischen von Henrik geworden war. Diese Erkenntnis und auch, dass sie noch nicht in der Lage war, eindeutig zu klären, ob Henrik nun schuldig war oder nicht, belastete Paula schwer. Sie konnte den Fluch nicht zurück nehmen. Wenn Henrik wirklich schuldig war, würde er auf dem Tobel sterben, genauso wie Michael. Gierig trank Paula ihr Wasser aus und versuchte dann ihre Latte zu genießen. Henrik würde morgen abreisen. Es würde also erst einmal keine Klärung geben, aber auch keine direkte Gefahr für Henrik. Das musste Paula akzeptieren, ob sie nun wollte oder nicht.

Henrik, der wesentlich mehr von Paulas Gemütsbewegungen ahnte, als Paula begriff oder wusste, hatte tatsächlich den Verdacht, dass Paula dabei war einen Fluch zu schreiben, oder ihn bereits geschrieben hatte. Henrik bemerkte natürlich Paulas Blicke, als sie ihn zusammen mit der kleinen Leonie gesehen hatte und er fürchtete, dass Paula vielleicht etwas Unüberlegtes tun könnte. Henrik überdachte sorgfältig seine Möglichkeiten, so wie er es immer tat und wägte ab, was am besten geeignet war, seine Beziehung zu Paula nicht zu gefährden und gewisse Risiken auszuschalten oder wenigstens zu minimieren.

Vor dem Treffen mit Paula war er daher zum Safe in seinem Arbeitszimmer gegangen und hatte eine kleine, tief-schwarze Schatulle herausgeholt und sie äußerst behutsam geöffnet. Das kleine Kästchen war auch innen mit schwarzem Samt ausgeschlagen und darin steckte ein Ring, den Henrik schon sehr lange nicht mehr getragen hatte, obwohl er das ererbte Recht dazu besaß. Es war ein ganz besonderer Ring, der sich bereits seit langer Zeit in seiner Familie befand und angeblich seinen rechtmäßigen Träger, und nur ihn, gegen unangenehme Dinge, wie beispielsweise einen Fluch schützen konnte.

Henrik hatte sich fest vorgenommen, bei künftigen Treffen auf dem Tobel vorsorglich stets diesen Ring zu tragen. Er hatte den Ring zwar lange nicht benutzt, dennoch vermutete er, dass es eine interessante Erfahrung sein würde, diese Schutz-Funktion des Ringes auf die Probe zu stellen. Der Gedanke daran bereitete ihm durchaus einen spannenden Nervenkitzel, den er sehr genoss. Henrik nahm sich bei der Gelegenheit auch vor, die Geschichte des Ringes einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Laut der Familiengeschichte war der Ring erstmalig an der Hand seines Vorfahren Henricus, der vor ungefähr 200 Jahren gelebt hatte, aufgetaucht. Der Schmuck zeigte außerordentlich fein und künstlerisch gearbeitet ein Pentagramm mit fünf ineinander greifenden Sternen. Das Pentagramm war auf einem sehr schmalen und flachen Reif auf der oberen Ringfläche, die bei solchen Ringen normalerweise das Siegel des Besitzers trug, angebracht. Der dünne Reif sollte angeblich mit stark zauberkräftigen, ägyptischen Hieroglyphen bedeckt sein. Dies konnte Henrik nicht beurteilen, da er weder die Sprache beherrschte, noch die verschlungenen Zeichen entziffern konnte. In der Mitte des Pentagramms befand sich der winzige Kopf einer goldenen Eule mit fest geschlossenen Augen. Angeblich sollte das Pentagramm, solange es auf zwei Spitzen stand, inaktiv und die Augen der Eule stets geschlossen sein.

Der Familiensage über dieses Schmuckstück nach aber, sollte sich das Pentagramm bei akuter Gefahr von selbst auf die Spitze drehen und die Augen der Eule würden sich dabei weit öffnen. In diesem Zustand konnte der Ring angeblich jegliche durch Magie hervorgerufene Gefahren, wie Flüche oder Dämonen abwenden und zwar in mehreren Stufen. Bei der ersten Stufe sollten die Augen der Eule weiß strahlen und damit Wachsamkeit bedeuten. Leuchteten die Augen tief türkisfarben herrschte erhöhte Wachsamkeit, begannen die Augen der Eule aber rubinrot, wie die Flammen eines Infernos zu funkeln, so die Sage, folgte unweigerlich die aktive Abwehr des Angriffes und totale Vernichtung des Gegners. Dies sollte in der Vergangenheit bereits einige Male geschehen sein und Henrik nahm sich vor, da einmal genauer nachzuforschen,

Henrik fand es sehr spannend, in der gegenwärtigen Situation den Ring zu tragen und seine Funktionen am eigenen Leib zu überprüfen. Überdies war er natürlich neugierig, wie Paula auf den Schmuck reagieren würde. Doch erst einmal stand seine Reise an und da würde er den Schutz nicht benötigen. Henrik lächelte und legte den Reif sorgfältig in die kleine schwarzsamtene Schatulle und in den Safe zurück, aus dem er ihn genommen hatte. Paula fiel der Abschied von Henrik wesentlich schwerer, als sie erwartet hatte, was sie ziemlich verbitterte. Und noch etwas geschah in den Tagen danach, das so nicht zu erwarten gewesen wäre.

Der Fluch, der sich noch immer nicht erfüllt hatte, kehrte mit Macht in ihr Bewusstsein zurück und erschwerte ihr das Leben. Einige Tage nachdem Henrik sich verabschiedet hatte, besuchte Paula wie so oft Ruth. Die alte Lehrerin und Freundin, die so vieles wusste war für Paula Trost und Ablenkung von den Gedanken an Henrik und an den Fluch. Paula hoffte sehr, dass es Ruth auch heute gelingen würde, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Forschend sah Ruth Paula an und sagte: „Dich bedrückt doch etwas, nicht wahr?“, Paula nickte. Ruth sah Paula noch immer an und sagte dann ehrlich, wie es ihre Art war: „Du siehst furchtbar aus. Was ist los?“, Paula trank gierig das Wasser, das Ruth ihr gebracht hatte und schenkte sich sofort wieder nach. Tief atmend sagte sie vorsichtig: „Ich habe doch getan, was ich tun musste. Nun bleibt mir nur noch übrig zu warten was geschieht. Und doch halte ich dieses Warten kaum noch aus.“

Wieder trank sie gierig. Ruth zog die Augenbrauen hoch und betrachtete Paula nachdenklich. „Und Henrik?“, fragte sie dann vorsichtig. Paula senkte resigniert den Kopf und murmelte: „Inforeise in verschiedene Gemeinden.“ Sie hatte Ruth nichts von ihrem Verdacht oder ihrer Befürchtung erzählt. Dennoch hatte sie wieder einmal das Gefühl, als wüsste Ruth intuitiv, wovor sie sich so sehr fürchtete. „Er ist also erst mal weg“, bemerkte Ruth trocken und sah stirnrunzelnd zu, wie Paula sich schon wieder Wasser nachgoss. Ruth war ziemlich sicher, dass Paula etwas mit Durst geschrieben hatte. Und sie hatte offensichtlich noch keine Möglichkeit gefunden, den Fluch bis zu seiner Erfüllung loszulassen. Ihn wie es sein sollte, zu vergessen, zu vergraben. Sie litt darunter und das war gar nicht gut. Vorsichtig sagte Ruth: „Du solltest nicht ständig daran denken. Lenke dich ab. Du hast doch jetzt Johannas Tagebuch. Du wolltest doch immer wissen, was aus ihr geworden ist. Oder lerne deine Lektionen für die Ausbildung zur Heilpraktikerin. Das lenkt auch ab.“

Paula nickte etwas zögerlich und doch auch ein bisschen erleichtert. Sie wusste natürlich, dass Ruth sie unbedingt von der fortwährenden Beschäftigung mit dem bereits geschriebenen Fluch ablenken wollte. Und sie wusste daher auch, dass Ruth Recht hatte, dass es nicht gut war, sich weiter damit zu befassen. Einen einmal geschriebenen Fluch sollte man in Ruhe reifen lassen, bis zu seiner Erfüllung. Paula war durchaus klar, dass ihr quälender Durst und die schlimmen Träume davon kamen, dass sie den Fluch nicht loslassen konnte und darum selbst davon gequält wurde.

Sie musste sich ja mittlerweile sogar oft zwingen, ihren gewohnten Weg zu Ruth zu gehen. Schon wenn sie den Wehrbrink entlang spazierte, begann sie den brennenden Durst zu fühlen, lief sie die Stufen im Wald zur Hardau hinunter, wurde der Durst unerträglich und sie nahm tiefe Züge aus ihrer Wasserflasche. Das Flüsschen Hardau schien sie aufzufordern sich hineinzustürzen und zu trinken ohne je wieder aufzuhören. All das Wasser, das der kleine Fluss Richtung Nordsee führte, wollte sie am liebsten gierig in sich aufsaugen. Ging sie die Holxer Straße entlang, schien die Hitze, obwohl es Februar war, stetig zuzunehmen.

Am Neuen Friedhof suchte sie manchmal Schatten unter einer vom Blitz gespaltenen Linde, die so nahe an dem niedrigen Holzzaun stand, dass Paula sie berühren konnte und die ihr seltsam tröstlich erschien. Doch kurz danach, auf dem Weg an der Gärtnerei Gabler vorüber, kam sie kaum noch voran. Angst schnürte ihr die Kehle zu und der Durst war allgegenwärtig. Erst wenn sie am ‚Alten Kaffeehof‘ vorbei zum Katzensteg an der Kirche ging und in die Nähe von Ruths Haus kam, besserte sich ihr Zustand etwas. Jetzt, da Paula Michael Gabler mit dem noch nicht erfüllten Fluch belegt hatte, fiel ihr die Nähe zu ihrem Opfer zunehmend schwer. Dennoch zwang sie sich meist, den Weg weiterhin zu gehen und nicht den Umweg über die Alte Celler Heerstraße, oder sogar das Auto für den kurzen Weg zu nehmen. Das kam für sie nicht in Frage und so litt sie auf dem Weg weiter. Ähnlich war es auch heute gewesen, doch Paula lächelte Ruth dankbar und auch etwas angestrengt zu und nickte. Ruth verzog das Gesicht. „Vielleicht schreibt ja sogar Johanna etwas darüber, wie man Flüche loslässt“, sagte sie wissend und anzüglich. „Johanna hatte schließlich auch Erfahrung damit.“ Paula musste schmunzeln. Ruth fand doch immer die richtigen Worte, um sie aus einer trüben Stimmung zu holen.Paula hatte sich nach einem Jahr auf ihrem Grundstück entschlossen, die unausgesprochene Tradition der Frauen, die vor ihr da gelebt hatten, fortzuführen. Sie hatte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin begonnen.

Bereits durch die Lebensgeschichten ihrer Vorgängerinnen, hatte sie einiges über Pflanzen und deren Heilkräfte gelernt. Sie hatte sich vorgenommen, all das besser zu verstehen. Ob sie selbst jemals Patienten behandeln würde, ließ sie momentan noch dahingestellt sein. Die Ausbildung interessierte sie und war fürs erste ihr Ziel, nicht das Eröffnen einer Praxis. Paula hatte nie aufgehört, nach Hinweisen und Geschehnissen zu suchen, die den Tobel und seine besondere Geschichte betrafen. Es war so etwas wie ihr Hobby oder eigentlich eher ihr Lebensinhalt geworden. Neben ihrer Arbeit für die Fern-Uni, für die sie Arbeiten korrigierte, und der neu begonnenen Ausbildung als Heilpraktikerin waren diese Geschichten für sie so etwas Ähnliches wie Ahnenforschung der besonderen Art. Die Frauen, von denen sie erfuhr, waren nicht unbedingt ihre direkten Vorfahren. Manche vielleicht, aber ganz sicher nicht alle. Das Grundstück war auch manchmal an eine nicht verwandte Frau vererbt worden, wenn es keine passende direkte Erbin gab.

Zuweilen gab es auch längere Ruhezeiten, in denen nicht bekannt war, welcher Frau das Grundstück gehörte. Mehrmals hatten sich Frauen sogar direkt entschlossen, den Garten einige Zeit ruhen zu lassen, um ihn nicht der Gefahr auszusetzen, böse zu werden und eigene Ziele zu verfolgen. Die Verbindung einer Hüterin und des Tobels war eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Wurden zu viele Flüche und zu rasch hintereinander aktiviert, bestand die Gefahr, dass das Grundstück sich nicht mehr mit der Hüterin verband, sondern selbst agierte und mit der Zeit völlig außer Kontrolle geriet. Wenn eine Hüterin so etwas bemerkte, dann tat sie gut daran, den Platz einige Jahre oder gar Jahrzehnte zur Ruhe kommen zu lassen. Paula machte es sich mit einem Glas Wein und einem Knabberteller als Balsam für die Seele gemütlich und nahm sich erneut Johannas Tagebuch vor.

Johanna 10.10.1919: „Ich bin nach dem grausamen Tod meines Mannes vor nunmehr zwei Tagen noch immer wie betäubt. Erst jetzt am Abend komme ich dazu meine Erlebnisse aufzuschreiben, um etwas Klarheit in meine Gedanken zu bringen. Mein kleiner Sohn Gregor, leidet und denkt noch viel an den Unglückstag. Immer wieder schluchzt er laut auf, ich presse ihn dann jedes Mal schmerzhaft fest an mich und meine Gedanken rasen und drehen sich im Kreis. Noch immer bin ich ratlos. Wie soll es nun weiter gehen? Was kann ich tun? Der Tobel hat mir geholfen, mich von meinem gewalttätigen Mann zu befreien. Und nun? Wieder denke ich an Karls Tod und wie ich darauf reagierte. Mühsam stand ich auf, nachdem alles still geworden war, zog meinen kleinen Sohn hoch, dem unablässig die Tränen über das Gesicht strömten, und küsste ihn. Bis hierher hatte der Tobel mir geholfen. Nun musste ich zeigen, dass ich mit dem Geschenk des Grundstücks etwas anfangen konnte. Dass ich würdig war. Ich war entsetzlich müde, aber ich zwang mich tief durchzuatmen, straffte immer wieder meine Schultern und hob den Kopf. Jetzt durfte ich nicht müde sein. Das konnte ich mir nicht leisten. Ich musste den Kampf aufnehmen. Jetzt, da ich alles aufschreibe, kommt es mir noch immer wie ein Traum vor. Doch als ich mit Gregor an der Buche stand, dachte ich: „Jetzt erst recht.“ Mit Gregor und Agnes, die so ruhig und vernünftig war und mir seltsamerweise Halt gab, ging ich ins Haus zurück, wo noch immer das tote Kaninchen auf dem Küchentisch lag, das mein Mann dort hin geworfen hatte. Als ich Gregors erschreckten Blick sah, warf ich ein Küchentuch über das Tier und packte es dann in den Proviantkorb, der noch immer in der Ecke stand.

Leise erklärte ich beiden Kindern, dass wir drei jetzt zusammen in unser Haus nach Uelzen zurückfahren würden. Etwas ungelenk schirrte ich die Pferde an und spannte sie vor den Wagen. Das hatte meist Karl erledigt. Doch die beiden gutmütigen schwarzen Kaltblüter, Wotan und Thor, machten keine Schwierigkeiten und ließen sich von mir problemlos zu unserem Haus in Uelzen zurück lenken. Es war das Haus, das ich mit Karl und den Kindern während meiner Ehe bewohnt hatte und das Karl gehörte. Das Haus, in dem jetzt meine Kinder schlafen und in das Karl niemals zurückkehren wird. Am liebsten würde ich zwar ganz auf dem Tobel bleiben und würde mich einfach vollkommen der Erziehung meiner Kinder und der Beschäftigung mit den Kräutern widmen. Doch die Kinder müssen natürlich weiter in Uelzen zur Schule gehen und der Tobel ist eindeutig ein Frauenhaus.

Das weiß ich ganz genau und ich will meinen kleinen Jungen, den ich gerade vor seinem gewalttätigen Vater beschützt habe, auf keinen Fall den gefährlichen und unberechenbaren Wesen des Gartens am Wehrbrink aussetzen. Bei Agnes habe ich keinerlei Bedenken. Sie hatte ja schon sehr früh ein tiefes und enges Verhältnis zu dem Grundstück mit all seinen pflanzlichen und tierischen Bewohnern entwickelt. Sie hätte sich auf dem Grundstück auf jeden Fall wohl gefühlt und sich wie es ihre Bestimmung ist, darauf vorbereitet, dem Garten eines Tages eine gute Hüterin zu sein.

Aber die Anwesenheit meines Sohnes auf dem Platz kann ich einfach nicht riskieren. Sein Vater liegt dort unter der Buche begraben. Die ganze Zeit während meiner Rückkehr in unser Haus, überlegte ich fieberhaft, wie ich das Verschwinden meines Mannes erklären könnte. Immer wieder sehe ich die Bilder vor mir, wie Karl schreiend unter dem mächtigen Wurzelstock der alten Buche verschwindet. Doch genau diese Bilder muss ich jetzt unbedingt ganz und gar aus meinem Gedächtnis verbannen. Ich habe mir eine Hinhaltetaktik überlegt. Fürs erste werde ich die unwissende Ehefrau spielen, die von den Geschäften ihres Mannes keine Ahnung hat. Diesen Anschein der unterwürfigen Ehefrau beherrsche ich längst perfekt. Karl hat mir diese Rolle über Jahre hinweg äußerst effektiv und schmerzhaft beigebracht. Was kann ich sagen, das wirklich glaubhaft klingt.

Die harten Zeiten haben sich gerade erst etwas gebessert. Der große Krieg, der Weltkrieg, ist zu Ende. Die Menschen schöpfen neue Hoffnung. Karl ist tot, er wird nicht wiederkommen. Was immer ich jetzt entscheide, Karl kann mich nicht mehr dafür bestrafen. Auf keine Art und Weise. Das kommt mir erst jetzt so richtig zu Bewusstsein. Heute Abend werde ich dieses Problem nicht mehr lösen. Ich werde zu Bett gehen, in der Gewissheit, dass mir heute Nacht nichts mehr geschehen kann. Morgen ist ein neuer Tag und vielleicht kommen auch neue Ideen.

Johanna 11.10.19: Die Kinder sind in der Schule. Bisher ist alles wirklich gut verlaufen. Sie haben früher nie mit anderen Kindern über Karls Jähzorn gesprochen und ich hoffe, sie werden auch jetzt über die Vorgänge auf dem Tobel schweigen. Ich glaube ich habe sogar eine Idee. Karl war ja immer außerordentlich geschäftstüchtig. Er hat in letzter Zeit mehrmals davon gesprochen, sofort nach Kriegsende in die Randgebiete des wieder friedlichen Deutschen Reichs zu reisen und dort neue Geschäftsverbindungen zu knüpfen. Dort wird ja jetzt praktisch alles gebraucht.

Karl selbst ist vom Wehrdienst verschont geblieben. Natürlich wegen seiner Verletzungen, die ihm die graue Wächterin, die Buche, damals am 10.Mai 1911 zugefügt hat. Ich weiß es noch wie heute, wie Karl wie ein Irrer auf den Rhododendron einschlug und außer sich schrie, der Garten sollte gerodet werden. Da hat ihm die Buche die Hand gebrochen. Das hat er mir und der Buche nie verziehen. So hat seine damalige Verletzung letztendlich für ihn doch noch Vorteile gehabt. Heute habe ich gehandelt. Ich habe Karls engsten Vertrauten, seinen Prokuristen Josef Stahlburg, zu mir kommen lassen. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und ihm ganz selbstbewusst mitgeteilt, mein Mann hätte mir eine Nachricht hinterlassen, dass er eine eilige Verabredung wahrnehmen müsse. Ich habe es so ruhig gesagt, als wäre das nichts Besonderes.

Bevor er weiter fragen konnte, habe ich ihm mitgeteilt, dass ich mit den Kindern in Suderburg war und dort eigentlich meinen Mann erwartet habe, der aber nicht erschienen ist. Es ist gut, dass es nichts wirklich Ungewöhnliches war, dass Karl plötzliche Reisen antrat, über die er niemanden zuvor informierte. Ich habe schon immer vermutet, dass diese Reisen nicht nur geschäftliche Gründe hatten und damit habe ich wahrscheinlich Recht gehabt. Genau hinterfragt oder Karl darauf angesprochen habe ich natürlich nie. Das wäre mir schlecht bekommen. Karls Jähzorn konnte schrecklich sein. Immer wieder hat er mich auch aus geringen Anlässen brutal geschlagen und verletzt. Mehrmals hat er mir Rippen gebrochen und einmal wohl auch die Nase. Ich weiß es nicht genau, denn ein Arztbesuch nach solchen Attacken war nicht erlaubt. Soweit ich weiß hat auch niemand aus seinem sonstigen Umfeld je direkt Fragen nach seinen spontanen Reisen gestellt. Diese plötzlichen Reisen sind jetzt ein Segen für mich.

Nun sind wir schon vier Tage wieder in Uelzen. Noch immer ist alles ruhig. Ich habe etwas Zeit gewonnen und ich werde sie nutzen. Ich habe während meiner Ehe mit Karl nie besonderen Ehrgeiz entwickelt. So etwas war in unserer Ehe nicht üblich. In der Ehe mit Karl habe ich gelernt, mich in die Gegebenheiten zu fügen. Jetzt geht das natürlich nicht mehr. Ich muss handeln. Ich fürchte so sehr, dass mein kleiner Gregor tatsächlich traumatisiert ist, von dem was seinem Vater zugestoßen ist. Gregor ist rein äußerlich noch immer der übersensible kleine Junge, den sein Vater stets für seine vermeintliche Schwäche verachtet und lauthals verspottet hat. Aber etwas ist seit dem Nachmittag, an dem sein Vater starb anders. Etwas Fremdes ist plötzlich an meinem kleinen Jungen, etwas das mir Angst macht.

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Paula war voller Mitleid mit Johanna und sie konnte deren Handeln und die Befreiung von ihrem gewalttätigen Mann nur zu gut verstehen. Sie hatte einmal in der Nähe des riesigen Rhododendrons im Garten eine dunkle, ernste Gestalt stehen sehen. Streng und fast furchteinflößend war sie Paula damals vorgekommen, wie sie in ihrem hochgeschlossenen dunklen Kleid ruhig dort im Schatten stand. Sie war keine wirklich hübsche Frau gewesen mit ihren kantigen strengen Gesichtszügen und der hakenförmigen schmalen Nase. Nun kannte Paula den Grund für die gebogene Nase und bedauerte Johanna aufrichtig. Paula schüttelte mitleidig den Kopf. In Bezug auf ihren kleinen Jungen hatte Johanna sich wohl selbst etwas vorgemacht. Zumindest in der ersten Zeit. Später musste sie mehr gewusst haben.

Zwischen den Seiten von Johannas Tagebuch lagen lose einige stark zerknitterte Blätter, wohl aus Schulheften herausgerissen, mit krakeliger Kinderschrift und offenbar tränenverschmiert, die aus dem Tagebuch heraus zu Boden flatterten. Nachdenklich las Paula, was da stand: „Papa ist tot!!!!“ Darunter fast unleserlich, verwischt und wellig: „Papa ist unter der Buche!“ Paula schluckte schmerzhaft. Ihr Mitleid mit dem kleinen Jungen war fast unerträglich. Auf einem wohl ursprünglich völlig zerknüllten, halb zerrissenen und dann sorgsam wieder glattgestrichenen Zettel stand: „Mama weiß es! Agni auch!“ Und darunter winzig klein, krakelig, fast unleserlich, als hätte der Schreiber sich nicht getraut, es in normaler Schrift zu schreiben:

„Mama hat das gemacht! Mama und der Tobel!“ Paula wischte eine Träne ab. Sie konnte fast körperlich die unerträgliche Qual des kleinen Jungen fühlen, der den gewaltsamen Tod, seines Vaters, mit angesehen hatte, des Mannes, den er zwar fürchtete, aber insgeheim fast gegen seinen Willen offenbar auch zutiefst bewunderte. Und augenscheinlich hatte er irgendwie sogar seine Mutter und vielleicht sogar auch seine Schwester, aber ganz gewiss den Tobel mit dem Tod des Vaters in Verbindung gebracht. Weshalb und wie das geschehen sein sollte, hatte er wohl selbst nicht genau gewusst. Doch offensichtlich war Gregor hin und her gerissen gewesen. Paula empfand tiefes Mitleid mit dem Achtjährigen, der so einer entsetzlichen Qual ausgesetzt gewesen war. Der Vater hatte ihn als Feigling und Schwächling, als Memme beschimpft.

Er hatte ihn gestoßen und geschlagen. Johanna hatte in ihrem Tagebuch solche Szenen mehrfach erwähnt. Seine Mutter hatte den kleinen Gregor stets beschützt, getröstet und sein empfindsames Wesen gefördert. Doch heimlich hatte er anscheinend, zwar widerwillig, doch immer stärker den robusten, jähzornigen Vater bewundert und wäre, obwohl es nicht seinem Wesen entsprach, gerne so hart und stark gewesen wie er. Was diese Zeilen für Johanna bedeutet haben mussten, die sie offensichtlich gefunden, geglättet und dann in ihrem Tagebuch aufbewahrt hatte, konnte Paula nur schaudernd vermuten. Sie legte seufzend die tränenverschmierten Zettel wieder zwischen die Seiten von Johannas Tagebuch, strich noch einmal glättend darüber und las weiter.

Sie wollte nun unbedingt wissen, was aus dem kleinen Jungen geworden war. Gregor, überlegte Paula angestrengt. Hatte sie je von ihm gehört? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber Paula hatte doch eine Idee. Johannas Zeit lag ja noch gar nicht so weit zurück. Vielleicht konnte sie mit Ruths Hilfe die weitere Spur Johannas und ihrer Kinder Agnes und Gregor im Dorfleben herausfinden. Die Ängste Johannas konnte Paula gut nachvollziehen. Als sie das Tagebuch weglegte und ins Bad ging, stellte Paula überrascht fest, dass sie an diesem Abend, an dem sie sich so sehr mit Johannas Schicksal beschäftigte, tatsächlich weniger unter Durst gelitten hatte und einfach abgelenkt gewesen war. Vielleicht war die strikte Ablenkung doch ein Mittel, mit den Folgen des Fluches fertig zu werden und ihn endlich loszulassen.

~ 3 - Michael – Paula - Henrik ~

Michael Gabler fühlte sich schon seit Tagen mies. Er hatte den Anruf erhalten, den er bereits seit geraumer Zeit voller Grauen erwartete. Dieser gefürchtete Anruf, der wieder einmal eine Leistung von ihm einforderte, die ihm längst zu einer erdrückenden Last geworden war und ihn unvorstellbar ängstigte. Er hatte wieder vergeblich versucht sich herauszureden, Zeit zu gewinnen. Er graute sich täglich mehr vor dem was er wieder einmal tun sollte, doch es gab kein Entrinnen. Das was ihm bevorstand, konnte er höchstens etwas hinauszögern. Verhindern konnte er es nicht. Seine Schulden, von denen seine Frau Kathrin nichts ahnte, waren allmählich erdrückend geworden.

Das Haus und die Gärtnerei mit allem Land waren längst vollständig verpfändet. Selbst wenn er verkaufte, konnte er seine Schulden damit nicht tilgen. Michael wusste nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Er war vollkommen in der Hand der Leute, die ihn benutzten. Sie ließen ihn nur noch so lange die Gärtnerei weiter betreiben, wie er ihren perversen Wünschen nachkam. Michael wusste, dass er irgendwann für alles würde bezahlen müssen. Als er Paula auf dem Weg zu Ruth an der Gärtnerei vorübergehen sah, wurde ihm übel. Er hustete krampfhaft und trank rasch ein großes Glas Wasser. Schon seit Tagen plagte ihn ein unerträglicher, nie dagewesener Durst, den er auch durch große Mengen Wasser kaum stillen konnte.

In acht Tagen war Neumond, die Zeit die er mehr als alles andere zu fürchten gelernt hatte. Er musste sich in tiefer Nacht auf den feindlichen und unheimlichen Hexentobel schleichen und die benötigten Kräuter holen. Kräuter, die nur dort so wuchsen, wie er sie brauchte. Doch auf dem Grundstück wohnte jetzt die neue Hexe, wie er sie nannte und seitdem war es noch viel gefährlicher geworden, sich die benötigten Kräuter zu besorgen. Michael fürchtete sich unsäglich, in den nun wieder bewohnten Garten zu schleichen und die erforderlichen Kräuter zu ernten. Doch er hatte keine Wahl. Vor dem was danach kam fürchtete er sich allerdings mindestens genau so sehr. Er würde wieder krank werden. Das war der Preis, den er jedes Mal zu bezahlen hatte.

Und er musste die kleine Leonie mit der Salbe, die er aus den Kräutern herstellte, betäuben und gefügig machen. Dann hatte er sie in ein geheimes Haus zu bringen und die Nacht über dem Mann, oder den Männern, die in diesem Haus waren, zu überlassen. Das schlimmste aber war, Leonie am anderen Morgen wieder aus dem dann leeren Haus abzuholen in dem Zustand, in dem sie sich dann immer befand. Michael schauderte. Doch er wusste, dass es keinen Ausweg gab. Auch seine Frau musste er betäuben, damit sie nicht merkte, wenn er Leonie wegbrachte. Michael schüttelte sich und sah Paula hinterher, die am Neuen Friedhof vorüber ging und vermutlich wieder einmal Ruth Hellwig besuchen wollte. Auch bei Ruth, die Michael seit langem kannte, hatte er neuerdings ein ungutes Gefühl. Er dachte manchmal, dass Ruth genauso wie Paula ihn beobachtete, ja regelrecht belauerte und dass die beiden Frauen seiner Kathrin unangenehm viel Aufmerksamkeit schenkten.

Kathrin war ohnehin ziemlich unsicher und Michael hatte jedes Mal große Angst, dass es ihm nicht gelingen würde, Kathrin so zu betäuben, dass sie nichts davon bemerkte, wenn er Leonie wegbrachte. Oder aber, dass die Betäubung zu stark war und Kathrin am nächsten Tag mit entsetzlicher Übelkeit zu kämpfen hatte. Das war bereits einige Male vorgekommen. Kathrin war dann den ganzen Tag wie benommen gewesen und hatte über starke Kopfschmerzen geklagt. Einmal hatte er gehört wie Ruth mit Kathrin über Träume sprach und er hatte gerade noch verhindern können, dass Kathrin etwas über die seltsamen Träume ausplauderte, die sie manchmal heimsuchten. Michael schüttete erneut ein großes Glas Wasser gierig in sich hinein und sah mit tiefer Abneigung Paula nach, die am Alten Kaffeehof die Straße überquerte und dann nicht mehr zu sehen war.

Für Michael war die Zeit viel zu schnell vergangen. Nur noch einige Nächte vor Neumond. Die Nacht der Kräuter nahte unaufhaltsam. Schon bald kam die Nacht in der sie geholt werden mussten. Nur so entfalteten sie ihre ganze schreckliche Wirkung. Hexensalbe. Die Salbe, die in der Lage war zu berauschenden Flügen über das Land, zu nächtelangen Tänzen bis zur Erschöpfung und zu unvorstellbaren Orgien bis zum Morgengrauen zu verhelfen. Michael war selbst wie berauscht gewesen, als er endlich das Rezept gefunden und ausprobiert hatte, immer wieder, bis es so ausgefeilt war, wie jetzt. Auch er musste Kräuter zu sich nehmen und wenn die Wirkung einsetzte, sein eigenes Blut mit zu der Salbe geben.

Michael verfluchte inzwischen längst seine Spielsucht und auch seine Neugier, die ihn getrieben hatte, nach dem Rezept für die Hexensalbe zu forschen, es zu testen, immer wieder, bis er es endlich schaffte die legendäre Salbe herzustellen und sogar noch zu intensivieren. Die Kräuter behielten nur eine einzige Nacht ihre volle Wirksamkeit. Die hergestellte Salbe konnte nicht aufbewahrt werden, sie verlor nach Ende der Nacht stündlich an Wirksamkeit. Dann bescherte sie nur noch einen schwachen Abklatsch der Erlebnisse, welche die frische Salbe schenkte, bevor sie dann beinahe wirkungslos wurde. Michael war sich nicht sicher, ob Kathrin nicht trotz ihres Drogenschlafes etwas über seine Machenschaften ahnte oder sogar wusste. Leonie, das war Michaels schlimmste Schuld. Immer wieder musste er sie den furchtbaren Erlebnissen aussetzen. Oft schon hatte er sich vorgenommen einfach nicht mehr mitzumachen. Sich zu weigern.

Doch jene, die dahinter steckten, waren mächtig. Sehr mächtig und sie wussten sehr genau wie sie das, was sie gegen ihn in der Hand hatten, einsetzen mussten. Und schlimmer noch. Leonie würde ihnen auf Dauer nicht genügen. Sie verlangten neue Mädchen, Freundinnen von Leonie. Schon jetzt hatte es solche Andeutungen gegeben. Michael geriet mehr und mehr unter Druck. Nun stand wieder eine Neumondnacht unmittelbar bevor und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich wenn diese Nacht begann, erneut auf den Weg zu machen, auf den gefährlichen Weg zum Hexentobel und seiner neuen Hexe.

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Paula ging in dieser Nacht, in der Michael nur seine Ängste und die unmittelbar bevorstehende Neumondnacht im Sinn hatte, noch einmal alle Aufzeichnungen durch, die sie von Bernadette angefertigt hatte. Sie suchte in Märchen und Sagenbüchern, die sie haufenweise von Ruth auslieh und auf den Tobel schleppte. Paula saß vor dem Kamin, nippte ab und zu an ihrem Wein und las jede Geschichte, die von einem außergewöhnlichen Brand erzählte.

Der Traum von der Feuertänzerin hatte sie erschreckt. Seit sie auf dem Tobel lebte, hatte sie gelernt, unbedingt auf Träume, Visionen und Ahnungen zu achten. Mit den Feuertänzerinnen hatte sie sich bisher nur am Rande befasst. Sie hatte wohl gewusst, dass die schöne Bernadette eine tiefe Beziehung zu Feuer und zu Flammen hatte. Dass sie auch so viele Jahre nach ihrem Tod noch immer in den Flammen erscheinen konnte, feurig und schön, als junge Frau, obwohl sie über 200 Jahre tot war. Doch Paula hatte für sie nie den Begriff der Feuertänzerin angewandt, obwohl sie genau das ja wohl gewesen war. Doch wer war nach Bernadette gekommen, welche Frau war vor ihr gewesen? Zu allen Geschichten, die mit Feuer zu tun hatten, machte Paula sich Notizen. Sie würde mit Ruth darüber reden. Paula ging erst spät zu Bett, als sie kaum noch die Augen offenhalten konnte und sie nahm trotz ihrer Bedenken und trotz ihrer bereits vorhandenen Müdigkeit noch einmal Ruths Schlafsaft ein.

Sie hoffte einfach, nicht vor dem Morgen aufzuwachen und legte sich sogar zusätzlich noch ein Lavendelsäckchen in ihr Bett, das sie selbst „besprochen“ hatte, so dass es eigentlich ruhigen, ungestörten Schlaf schenken sollte. Ruths Schlafsaft und das Lavendelsäckchen entführten Paula tatsächlich sehr rasch und zuverlässig in das Reich der Träume. Wenn auch leider nach einiger Zeit erneut wieder in das schreckliche Reich der Alpträume. Und zwar direkt in einen Alptraum, der nicht realistischer hätte sein können.

Die rothaarige Frau, die Paula sah, war dieselbe Frau, wie im ersten Traum. Nur das Land war nicht dasselbe. Im ersten Traum war es ein raues Land voll wilder Schönheit gewesen. Irland vielleicht oder Schottland, hatte Paula am nächsten Tag überlegt. Die Landschaft, die sie nun im Traum sah, erkannte sie sofort. Es war die Heide, der Ort an dem sie lebte und es war der Tobel, ihr Erbe und ihre Aufgabe. Dann sah sie übergroß dieses Gesicht. Das schöne Gesicht der jungen Frau, die auf dem Vulkan getanzt und ihn damit zum Ausbruch gebracht hatte.

Paula sah wieder dieses wunderschöne Gesicht, die ausdrucksvollen Augen, die sie spöttisch ansahen, den vollen Mund und das herrliche rote Haar. In Paula kam Angst auf, überwältigende Angst. Dann sah sie ungläubig mit an, wie das Gesicht schrumpfte und zum Gesicht einer schönen Frau wurde, die direkt auf der Heidefläche nahe Suderburg stand und Paula herausfordernd ansah, ehe sie im hellen Sonnenlicht langsam und sich in den Hüften wiegend zu tanzen begann. Paula wurde kalt, es war die Kälte der Angst. Sie wusste plötzlich, was die Frau vorhatte und konnte doch kein Glied rühren und auch nicht schreien. Hilflos, stumm und bewegungsunfähig musste sie diesem wundervollen Tanz zusehen, langsam zuerst mit geschmeidigen und fließenden Bewegung bis er schneller und schneller wurde.

Erste Flammen sprangen auf und tanzten um die Frau herum. Passten sich perfekt ihrem Tanz an. Je ungestümer die Frau herumwirbelte, umso höher schlugen die Flammen, bekamen sogar grinsende Gesichter, rote Fratzen, die sich schneller und schneller ausbreiteten. Bis mit einem ohrenbetäubenden Fauchen die ganze Heide ringsum in einem Flammenmeer aufging. Heidefläche, Wald, Gehöfte, Dörfer, Städte, alles wurde ein Raub der Flammen und zerfiel zu grauer, rauchender Asche. Und die Frau tanzte und tanzte. Sie lachte und fachte die Flammen immer weiter und immer von neuem an. Zuletzt musste Paula gelähmt, stumm und hilflos mit ansehen, wie auch der Tobel im stürmischen Tanz in Flammen aufging und die Frau sich noch immer lachend, schneller und schneller und wie rasend im Tanz drehte. Danach versank alles in Asche, grau und zerstört und Paula erwachte mit einem Schrei, der sich endlich aus ihrer wunden Kehle löste und sie von dem Alptraum befreite.

Schwer atmend lag sie im Bett und hatte noch immer die entsetzlichen Bilder ihres Traumes vor Augen. Diese Frau, die Bernadette so sehr ähnelte, besaß eine verführerische Schönheit und zugleich eine zerstörerische Macht, die sie einsetzte, wo sie nur konnte. Wieder hatte Paula Brandblasen an den Fingern und ihr Haar und ihr Gesicht waren voller Asche. Paula mochte überhaupt nicht darüber nachdenken, wie das geschehen war und was dieser Traum für sie, für den Tobel und für die Heide bedeutete. Was geschehen sollte, wenn die Feuertänzerin wirklich hier auftauchte, so wie ihre Träume es vorher zeigten.

Paula war stark verunsichert. Henrik war, wie sie durch Zufall erfahren hatte, wieder zurück von seiner Reise. Sie wollte ihn sehen, wollte mit ihm zusammen sein. Sie sehnte sich nach Henrik, doch er meldete sich nicht. Paula wollte ihn nicht anrufen, obwohl sie unter der Situation litt. Sie konnte ihn nicht zu sich einladen, solange sie nicht wusste, ob er schuldig war und ein Besuch bei ihr für ihn unweigerlich tödlich enden musste. Paula nahm schließlich ihren ganzen Mut zusammen. Sie fuhr am Freitagmorgen nach Uelzen und bummelte etwas gequält durch die Einkaufsstraßen. Dann entschloss sie sich eine Latte im Café Mephisto zu trinken, wo sie Henrik schon mehrmals zufällig getroffen hatte. Henrik würde sie durchschauen, falls er da war, da war Paula sicher. Dennoch konnte sie nicht anders. Sie betrat das Café und war enttäuscht. Henriks Lieblingsplatz auf dem blauen Sofa war leer. Wäre er da gewesen, hätte er auf jeden Fall dort gesessen. Zögernd nahm Paula seinen Lieblingsplatz am Fenster ein und bestellte eine Latte. Sie zog ihr Notizbuch heraus und begann zu schreiben. Sie hatte immer Notizen zum Tobel zu machen.

Plötzlich fiel ein Schatten auf das Blatt und Henrik sagte mit seiner schönen Stimme: „Schreibst du einen Fluch für mich?“ Paula schrak auf und ihr Notizbuch samt Stift fielen laut klappernd zu Boden. Henrik hob beides mit einer geschmeidigen Bewegung auf und setzte sich Paula gegenüber. “Bist du schon lange zurück?“, fragte sie mit bebender Stimme und räusperte sich. Henrik lachte nur und wechselte unvermittelt das Thema. „Wolltest du mich finden?“ fragte er leise und sah ihr direkt in die Augen. Paula bekam eine Gänsehaut. Dennoch schüttelte sie trotzig den Kopf und senkte den Blick. „Gewiss nicht“, erwiderte sie patzig. Henrik lachte wieder leise. „Komm schon“, sagte er ruhig und sah sie über den Tisch hinweg mit diesem Blick an, bei dem ihr immer ein Schauer über den Rücken lief. „Lass uns einen Ausflug machen. Ich möchte dir etwas zeigen.“

Obwohl Paula bei Henriks leisen Worten jeden Widerstand bereits aufgegeben hatte, stimmte sie scheinbar nur zögernd zu. Henrik lachte wieder leise und sagte: „Ich hole dich in“, er sah kurz auf die Uhr, „in zwei Stunden ab, schaffst du das?“ Paula hob entsetzt die Hände und wollte abwehren. Doch Henrik ließ ihr keine Chance. Er schien genau zu wissen, was er wollte und auch, dass sie ihm folgen würde. Paula war auf dem Tobel und sah nervös zur Uhr. Nur noch eine halbe Stunde, bis Henrik sie abholen kam. Sie warf ziemlich wahllos irgendwelche Dinge in ihre Reisetasche. „Henrik holt mich ab!“ Dieser Satz ging ihr unaufhörlich durch den Kopf.

Was würde passieren, wenn er gleich auf das Grundstück kam? Im Radio waren ständig Wetterwarnungen zu hören. Der Moderator sagte gerade: „Das Tiefdruckgebiet BIANCA liegt aktuell bei den Britischen Inseln und bringt mit einer Front im Norden und Westen Deutschlands Sturm, Schneeregen und Schnee.“ Paula wusste nicht, weshalb ihr diese Wetteraussichten so viel Angst machten. Tief „Bianca“ zog also an diesem Freitag, dem 4. März 2016 mit Regen, Sturm und Schneeschauern direkt auf den Norden zu. Paula zitterte und warf noch ein weiteres warmes Kapuzenshirt und eine Jacke in die Tasche. Dann fühlte sie, dass Henrik sich dem Grundstück näherte. Sie empfand die wachsende Erregung der Bäume, der Tiere, der Pflanzen. Sie spürte die Spannung und das Beben des Waldes. Sogar die Luft und die Erde vibrierten.

Paula griff hastig nach ihrer Tasche und trat rasch aus dem Haus. Henrik hielt direkt vor dem Einfahrtstor und stieg aus. Ein heftiger Windstoß, vielleicht ein Vorbote des anziehenden Tiefs „Bianca“ heulte durch die Bäume des Tobels und Henrik sah mit unergründlicher Miene zu den Wipfeln auf. Dann öffnete er durch Knopfdruck die Heckklappe des Porsche Cayenne und sah Paula spöttisch mit hochgezogenen Brauen an. Er hat überhaupt keine Angst, dachte Paula verwirrt. Noch immer jaulte der Wind in den Bäumen und Paula verließ eilig, fast rennend mit ihrer Tasche den Garten. Henrik nahm ihr gelassen lächelnd die Tasche ab und verstaute sie ruhig im Kofferraum. Er lächelte noch immer rätselhaft und Paula war plötzlich überzeugt, dass er sehr genau wusste, was sie so sehr bewegte und was das Grundstück derart erbeben ließ.

Henrik umarmte Paula, während er noch einmal kurz zum Garten hinsah. Dann öffnete er mit einer eleganten Geste die Beifahrertür und Paula stieg mit zitternden Knien ein. „Wo.. ähm, wohin fahren wir?“, fragte Paula mit rauer Stimme und Henrik lachte leise. „Lass dich einfach überraschen“, sagte er nur lächelnd und wollte dann nichts mehr über sein Ziel verraten. Paula saß ganz still und genoss Henriks Nähe. Sie liebte es, seine schönen, schlanken Hände auf dem Lenkrad zu sehen. Doch plötzlich schnappte sie nach Luft. Henrik trug einen Ring, den sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Paula wusste sofort instinktiv, dass es mit dem Ring eine Bewandtnis hatte, dass es nicht irgendein Ring war.

Vielleicht hatte darum ihr Grundstück so überaus stark auf Henrik reagiert. Paula wollte die zärtliche Stimmung in dem Wagen nicht zerstören, darum fragte sie trotz aller Neugier nicht, was es mit dem Ring auf sich hatte. Sie würde es schon noch erfahren. Vorerst war sie zufrieden, neben Henrik zu sitzen und mit ihm zusammen einem unbekannten Ziel entgegen zu fahren, an dem hoffentlich keine Gefahren drohten, außer vielleicht von dem anziehenden Tief. Sie fuhren etwas mehr als eine Stunde. Die letzte halbe Stunde rollten sie nach Norden in Richtung Lauenburg, manchmal sogar am Elbufer entlang. Dann erreichten sie den kleinen Ort Hittbergen und Henrik bog zügig in die hoch über dem Elbufer gelegene Straße, ‚Am Hohen Berge‘, ein. Paula stieß einen kleinen Schrei aus, als Henrik auf das Gelände einer zauberhaften kleinen Jugendstilvilla hoch über dem Elbufer einbog.

Das Haus lag etwas außerhalb des Dorfes. Es war ein ganz reizendes weißes Haus mit tief gezogenen schmalen Fenstern zum Elbufer hin. Über dem fünfeckigen Erker waren ein Balkon und eine verglaste Veranda mit einem tiefen, gemütlichen blau-weißen Sofa vielen Kissen in verschiedenen blau-weiß Tönen. Diese Veranda ging ebenfalls zum Fluss hin mit einem weiten Blick über die Elbauen. „Ein Haus meiner Familie“, erklärte Henrik knapp ohne eine weitere Erklärung zu geben. Es war eine wunderschöne kleine Villa mit seitlicher Freitreppe und einem weitläufigen Garten mit uralten Bäumen. Das Haus wirkte sehr gepflegt. Es musste hier Leute geben, die es in Ordnung hielten, doch Paula sah niemanden. Henrik schloss die massive Holztür mit den schweren Schnitzereien auf und sie betraten das Gebäude, das Paula sofort begeisterte. Es empfing sie mit einer Wärme und einer Atmosphäre von ruhiger Geborgenheit, die Paula tief beeindruckte. Henriks Familie musste sehr begütert sein. Paula blieb zögernd im Eingangsbereich stehen und sah sich um. Henrik zeigte ihr die unteren Räume und führte sie dann in ein Zimmer im oberen Stockwerk, das vermutlich einmal ein Gästezimmer gewesen war. Er stellte ihre Reisetasche ab, küsste sie und sagte leise: „Ich bin gleich wieder da.“

Bereits nach wenigen Minuten holte er Paula wieder ab und führte sie in den Wohnbereich im Erdgeschoss mit Kamin und dem Erker im Türmchen, der Paula schon von außen so begeistert hatte. Im Kamin brannte bereits ein helles Feuer. Jemand musste vor kurzem hier gewesen sein und alles sorgsam vorbereitet haben. Paula fühlte sich in eine andere Welt versetzt, eine helle, freundliche Welt voller Wärme und Sicherheit. Sie vergaß oder wollte vergessen, dass sie Henrik je verdächtigt hatte, am Missbrauch der kleinen Leonie beteiligt gewesen zu sein. Es war ein wundervoller Nachmittag außerhalb der Zeit und abseits aller Probleme, die Paula momentan so sehr bedrückten. Sie hatte noch nie zuvor so wunderbare, harmonische Stunden mit Henrik verbracht. Paula war wie verzaubert. Das Wetter war trübe und etwas neblig und erste Windböen fegten über die Auen. Feine Nebelschleier lagen über dem Strom, der ruhig und sicher wie seit alter Zeit seine Bahn zog. Es war eine so betörende Stimmung, der sich Paula weder entziehen konnte, noch wollte.

Nonnengänse zogen in enger Formation über den Fluss und ihre klagenden Rufe klangen weit über das stille Land. Paula hatte sich Henrik noch nie zuvor so nahe gefühlt wie hier, wo sie nicht die Aufregung und das Vibrieren des Tobels fühlte. In dieser harmonischen Vorfrühlingslandschaft, an dem mächtig rauschenden Strom, konnte man fast mühelos zur Ruhe kommen. Sie gingen lange schweigend neben einander auf dem Deich am Flussufer entlang. Ihre Hände waren fest in einander verschlungen und steckten zusammen in Henriks Jackentasche. Paula fühlte sich sicher, wie nie zuvor in ihrem Leben. Henrik begann leise zu erzählen, von seiner Kindheit und dass er hier oft bei seinen Großeltern gewesen war.

Er erzählte von seinem Großvater, der eine wundervolle Sammlung alter Seekarten und golden glänzender Fernrohre besaß und wie sehr er als Kind den Strom und die Geschichten seines Großvaters liebte. Wie glühend er sich gewünscht und erträumt hatte, dem Fluss zu folgen, immer weiter bis hin zu seiner Quelle und auch weiter bis zu seiner Mündung bei Cuxhaven in die Nordsee. Seemann hatte er werden wollen. Den Strom in seiner ganzen Länge befahren. Die ganzen 1091 km von der Quelle im sagenumwobenen Riesengebirge, dem Herrschaftsgebiet des gewaltigen Rübezahl, bis zur Mündung in die Nordsee und dann noch weiter bis auf das unendliche Meer hinaus. Dorthin hatte es ihn gezogen. „Und bist du auf dem Strom gefahren?“, fragte Paula gespannt. „Oh ja, natürlich“, erzählte Henrik träumerisch und sah lächelnd auf den Fluss hinab. „Einige Jahre, ja.“ „Und dann?“, fragte Paula neugierig. „Dann habe ich ein Gelübde erfüllt und bin das geworden, was ich noch heute bin“, sagte Henrik knapp. Einen Moment war es still.

Dann begann er leise zu erzählen, von seinen Jahren auf dem großen Strom und dem einen Jahr, das er danach noch zur See gefahren war, so wie er sich das als Junge erträumt hatte. Paula lauschte seiner schönen Stimme und sah die wilde Sehnsucht in seinen Augen, die dem Verlauf des Flusses und dem schwer beladenen, tief im Wasser liegenden Lastkahn folgten, der gerade ruhig seine Bahn auf dem grauen Wasser zog, bis er allmählich im Nebel verschwand und nicht mehr zu sehen war. Schweigend sahen sie dem silbrigen Reiher nach, der laut rufend aus den Flussauen aufstieg und sich nach einer Runde über dem Fluss elegant wieder am Ufer niederließ. Die Nähe zwischen ihnen wurde noch greifbarer, als sie in das schöne, warme Haus zurückkehrten. Henrik kochte mit sicheren Bewegungen Kaffee, zeigte ihr wo das Geschirr war und Paula deckte den Tisch in dem hübschen Erker mit den tief gezogenen Fenstern, der zur Elbe hinaus ging. Sie saßen dicht zusammen, aneinander gelehnt, tranken Kaffee, naschten Kekse und sahen schweigend auf den Fluss hinab.

Henrik entzündete das Feuer im Kamin neu, das während ihres Spaziergangs erloschen war. Paula stellte Kerzen auf und Henrik ließ leise Musik erklingen. Es war eine träumerische Stimmung, abseits aller Realität, die nicht schöner hätte sein können. Henrik fragte Paula leise nach ihrer Kindheit. Er hörte ihr ernsthaft und interessiert zu, als sie von ihrer überaus behüteten Jugend bei einer sehr ängstlichen, allein erziehenden Mutter erzählte, die stets bemüht war, ihr kleines Mädchen vor allen Widrigkeiten zu schützen. Paula sprach nicht gerne darüber. Henrik bemerkte ihr Unbehagen, nahm sie in die Arme und begann leise von seinen Fahrten auf dem Fluss zu reden, während Paula mit angezogenen Beinen an seiner Brust lehnte und das Vibrieren der dunklen Stimme in seinem muskulösen Brustkorb wahrnahm.

Als Paula Henrik noch einmal nach seinem Jahr auf See fragte, erzählte er leidenschaftlich von sich und seinen Reisen. Und als dann allmählich die Dunkelheit den Blick auf den großen Fluss verschlang, liebten sie sich auf der großzügigen Sofalandschaft und dann noch einmal in dem mächtigen, massiven Bett, das so ausladend und sicher aussah, als könnte nichts, auch kein noch so heftiger Sturm es erschüttern, als wäre es für viele Generationen gebaut worden. Zum ersten Mal seit Paula Henrik kannte, rückte er danach nicht von ihr ab, sondern hielt sie fest in den Armen, den Mund zärtlich in ihrem Haar vergraben. Es war eine wundervolle und zärtliche Nacht mit diesem so ganz anderen Henrik. Offenbar war es der Henrik, der hier wieder zu dem Jungen mit den großen Träumen von der Seefahrt wurde, jung, offen und begeisterungsfähig. Paula war wie eingesponnen in dieses zärtliche Glück. Sie dachte in diesen Stunden nicht mehr an Strafen und Flüche. Dieses alte Haus an dem großen Fluss strahlte Wärme aus, Geborgenheit und Glück. Träume waren hier geboren und gelebt worden.

Paula fragte Henrik am nächsten Morgen beim Frühstück danach, wer hier im Haus gelebt hatte. Henrik lachte ein bisschen wehmütig. „Es war das Haus der Familie meiner Mutter. Eine alte Seefahrerfamilie aus Hitzacker“, erklärte er. „Verwegene, kühne Seeleute mit leuchtend blauen Augen im gebräunten Gesicht, die weder Tod noch“, er zögerte kurz, „noch die See und die Stürme fürchteten“, fuhr er dann fort. Paula nippte an ihrem Kaffee und sagte fragend: „Und natürlich gibt es wunderbare Geschichten ihrer Abenteuer auf See.“ Henrik nickte ernsthaft. „Gewiss“, bekräftigte er gewichtig und nickte noch einmal. „Erzählst du sie mir?“, fragte Paula und sah Henrik lächelnd an. „Vielleicht“, lachte Henrik und drückte sie zärtlich an sich. Paula kuschelte sich gemütlich an ihn und sagte gespannt: „Jetzt, ich möchte jetzt gleich eine Geschichte hören, bitte.“

Henrik grinste, sah nachdenklich auf den grauen Strom hinaus und begann geheimnisvoll: „Mein Ur-Ur-Großvater Klaas, aus der Familie meiner Mutter, das war ein Seemann aus Hitzacker, Ostindienfahrer, soll angeblich, wie man sich erzählt, sogar einen echten Klabauter mit in das Haus hier gebracht haben.

Der alte Klaas war nämlich zufällig, wie er erzählte, in der Nähe, als der Klabauter das Schiff des ‚fliegenden Holländers‘ während eines verheerenden Sturmes für immer verließ und damit natürlich den unweigerlichen Untergang des Schiffes und seiner Mannschaft besiegelte.

Mein Urahn erzählte: Der Klabauter, der sich niemals sehen lässt, solange er das Schiff behütet, sondern erst dann, wenn er das Schiff verlässt und dem Untergang weiht, soll an diesem Tag hoch oben in den Rahen des todgeweihten Schiffes sichtbar geworden sein. Hell und feurig wie Elmsfeuer soll er furchterregend dort oben gesessen haben. Und furchtbar soll seine gewaltige Stimme sich über das Brausen des Sturmes und das Donnern der Wellen erhoben haben. „Van der Decken“, das war der Name des Holländers, soll er mit donnernder Stimme gerufen haben, „dein unheilvoller Wunsch soll erfüllt werden, segeln sollst du ruhelos über die Meere solange ‚der Wind weht und der Hahn kräht‘. So verlasse ich nun dieses Schiff und überlasse dich für alle Zeiten deinem Schicksal.“ Paula hatte sich längst aufgesetzt und lauschte Henrik gespannt und aufmerksam. „Und dann?“, fragte sie drängend, als Henrik nichts mehr sagte. „Nun“, fuhr Henrik fort, „der Klabauter verstummte, wie mein Vorfahr Klaas später erzählte, und das Leuchten des geheimnisvollen, flackernden Feuers sei noch einmal hell über alle Rahen aufgestrahlt und dann für immer erloschen.

Mein Ahn Klaas auf seinem eigenen Schiff soll unmittelbar darauf das Gefühl gehabt haben, nicht mehr alleine mit seiner Mannschaft zu sein. Eine starke Präsenz war an Bord, die er zuvor noch nie gefühlt hatte. Das war der Klabauter, der Van der Deckens Schiff aufgegeben hatte und nun ab diesem Tag mit meinem Ahn segelte. Ab jenem Tag soll ein geheimnisvoller Segen auf allem gelegen haben, was der alte Klaas begann. So hat es mir mein Großvater erzählt und so hatte er es von seinem Großvater gehört, dessen Großvater der alte Klaas selbst war.

Es gibt noch immer in einer Seemannskiste auf dem Dachboden diese uralten Schiffs-Tagebücher, in denen angeblich die Erlebnisse meines Ahnherrn Klaas vermerkt sind. Besonders natürlich auch die Erlebnisse nach dem Einzug des Klabauters auf dem Schiff. Diese Tagebücher sind zwar alle noch vorhanden. Doch sie sind sehr schwer zu lesen und noch schwerer zu verstehen.“ Henrik lachte und nahm Paulas Hand. „Das nehme ich mir für das Rentenalter vor“, sagte er grinsend. Paula konnte es sich sofort vorstellen. Henrik hier im alten Elbehaus mit Blick auf den großen Strom und mit dem Studium der Bücher über die Erlebnisse seines Ahnherrn und den Taten des Schiffskoboldes beschäftigt.

Sie lachte etwas bemüht und unterdrückte nur mühsam die Frage, ob sie ihm dann dabei helfen könne, die Schriften zu entziffern. „Wie ging es denn weiter?“, fragte Paula etwas zittrig, aber auch neugierig. „Hat dir dein Großvater das auch erzählt?“, „Oh ja, natürlich“, raunte Henrik ernsthaft und gewichtig nickend. „Der Klabauter ist angeblich in der Familie geblieben, mal auf See, mal im“, Henrik zögerte kurz, dann flüsterte er kaum hörbar, während er sich vorsichtig nach allen Seiten umsah “im Haus. So lange er da ist gibt es kein größeres Unglück. Besonders auf den Schiffen fühlte er sich natürlich zuhause.“ Henrik schwieg und sah Paula ernst an. „Was denn, du meinst, er ist noch immer da?“, fragte Paula entgeistert. Henrik lachte und nickte zustimmend. „Ja, ja so sagt man“, bestätigte er geheimnisvoll. Er gab aber dann etwas zögerlich zu, dass es momentan wohl nicht die glücklichste Zeit für den Kobold war. Zu einsam, zu wenig zu tun und zu bewegen und zu weit entfernt von der großen See.

Auch das gesamte wunderschöne alte Haus strahlte gleichzeitig zu allem Glück und aller Geborgenheit, die es vermittelte, eine Art Wehmut und stille Traurigkeit aus. Paula fühlte es körperlich und schmerzlich, als sie nach einer weiteren Nacht in dem riesigen Bett wieder das Auto bestiegen, um zurück nach Suderburg zu fahren. So ein Haus durfte nicht leer stehen, das bekam ihm nicht. Liebe musste darin wohnen und Träume, die dort geboren und gelebt wurden. „Danke“, sagte Paula sehr leise, als Henrik einstieg, „Danke, dass du mir gezeigt hast, dass es solche Häuser gibt, die Glück gespeichert haben.“ Henrik nickte ernst und lächelte dann etwas wehmütig. Er nahm zärtlich Paulas Hand und küsste sie. „Ja“, gab er dann ruhig zu. „Ich wollte, dass du weißt, dass es auch solche Häuser gibt.“

Schweigend fuhren sie nach Suderburg zurück. Je näher sie dem Ort kamen, desto nachdenklicher und bedrückter wurde Paula. Die zwei Tage an der Elbe waren wunderschön gewesen, doch sie hatten ihre Probleme natürlich nicht gelöst, sondern eher verschärft. Als sie bereits wieder durch den Ort Suderburg fuhren, sah Henrik Paula kurz von der Seite an und bekannte dann leise. „Ich muss für einige Tage nach Lübeck. Ich werde dort zwei Vorträge und eine Lesung in der Kirche halten.“ Paula nickte beklommen und unterdrückte ein Seufzen.

Als Henrik in den Wehrbrink einbog und die gerade Straße entlang fuhr, die von hohen Bäumen gesäumt war, konnte Paula bereits wieder die gespannte Erwartung des Tobels fühlen. Wie ein sprungbereites Tier, dachte sie mit einem plötzlichen Anflug von Angst und Panik. Sie sehnte sich blitzartig schmerzhaft nach dem friedlichen Haus an der Elbe zurück. Henrik hielt vor dem geschlossenen Eingangstor zu Paulas Grundstück an. „Ich habe noch eine Verabredung“, informierte er Paula ruhig, „entschuldige bitte, ich bin schon spät dran.“ Damit reichte er Paula ihre Tasche, zog sie stürmisch in die Arme und küsste sie wild.

Ein plötzlich aufkommender Wind peitschte die Äste der Wächterbuche und die Zweige des Rhododendrons schienen sich bedrohlich nach Henrik und Paula auszustrecken. Es wurde schon dämmerig und drei große Krähen flogen mit rauem Gekrächze dicht über ihre Köpfe hinweg davon. „Ich melde mich“, bemerkte Henrik, sah nachdenklich und mit zusammengekniffenen Augen den Krähen nach, stieg eilig in den Wagen und fuhr mit hohem Tempo rückwärts den schmalen Zufahrtsweg zurück und auf den Wehrbrink hinaus. Die Bäume des Gartens bogen sich knarrend und stöhnend unter dem aufkommenden Wind und das Heulen und Ächzen in den Ästen und Wipfeln übertönte fast das Geräusch des rasch davon fahrenden Geländewagens.

Paula stand noch immer etwas verloren am Eingangstor und sah hilflos dem davon brausenden Wagen nach. Sie seufzte, es fiel ihr sehr schwer wieder in die an diesem Abend eindeutig bedrohliche Atmosphäre des Grundstückes zurück zu kehren. Das Haus am Fluss würde wohl für immer ein zärtlich vermisster Sehnsuchtsort für sie bleiben, egal wie es mit Henrik und ihr weiterging.

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Als wäre der Tobel eifersüchtig und wütend und wollte unbedingt diese Gedanken an Henrik und ein anderes Haus aus Paulas Kopf vertreiben, klagte und rauschte der Wind lautstark in den Bäumen und ein eisiger Regenschauer mit Graupel vermischt, fegte ihr die Kälte und ungemütliche Nässe ins Gesicht und trieb Paula endlich rasch ins Haus. Sie brauchte an diesem Abend sehr lange, bis sie sich vor dem flackernden Kaminfeuer mit Kerzen und Musik und nach einigem Zögern auch mit einem Glas Rotwein wieder einigermaßen sicher und wohl fühlte. Doch die Geborgenheit des alten Elbehauses wollte sich nicht einstellen und Paula empfand ein schmerzliches Gefühl des Verlustes.

Sie schaltete später sogar, um sich abzulenken den Fernseher an und zappte gelangweilt durch die Programme bis sie seltsam abgestoßen und deutlich widerstrebend bei dem Film „Die Ungehorsame“ hängen blieb. Ganz gegen ihren Willen fasziniert von der Frau, die ihren Ehemann erstochen hatte. Diesen Ehemann, der sie quälte, sie tyrannisierte und erniedrigte, so lange, bis sie nicht mehr anders konnte und tief verzweifelt zustach. Paula schaffte es trotz mehrerer Versuche nicht, abzuschalten. Sie sah sich den Film bis zum bitteren Ende an. Die zauberhafte Stimmung vom Vortag, die sie so gerne in ihren Alltag mitgenommen hätte, war ganz und gar verflogen.

Was blieb und seltsam fest in ihren Gedanken haftete, war das Bild, wie Henrik mit dem unheimlichen Ring am Finger fast fluchtartig den Tobel, der eindeutig in Aufruhr war, verlassen hatte. Auch am nächsten Morgen fand Paula nur sehr schwer in ihr normales Leben zurück. Gewiss, sie besuchte Ruth. Allerdings war sie in Gedanken noch immer und immer wieder bei den wundervollen Stunden im Elbehaus mit Henrik.

Ruth hatte eine Notiz in einem Zeitungsausschnitt gefunden, in dem über einen Vortrag berichtet wurde, den Uwe Bornhoff gehalten hatte und in dem auch seine Frau Friederike erwähnt wurde, die neben ihrem Mann strahlend in die Kameras lächelte. Paula nickte, als sie den Artikel las. „Gewiss“, sagte sie mühsam „das klingt interessant. Wir sollten uns unbedingt darum kümmern. Ruth nickte flüchtig und sah Paula, die verstört aussah, forschend an.

Paulas Gedanken wanderten schon wieder zu den so herrlichen zwei Tagen mit Henrik zurück. Warum konnten sie nicht immer so leben, unabhängig von drohenden Flüchen und Dämonen? Allerdings wusste Paula sehr wohl, dass auch Henrik dafür nicht gemacht war. Sie hatte sehr genau gespürt, dass am Abend zuvor nicht nur der Tobel in gespannter Aufregung gewesen war, sondern auch Henrik. Etwas bereitete sich vor. Etwas geschah. Etwas, das sie nicht aufhalten konnte, und das ihr Angst machte.

Als Paula am Abend auf ihrem Grundstück zurück war, spürte sie diese Unruhe fast schmerzhaft. Der Aufruhr konnte nichts mit Henrik zu tun haben, denn er war ja in Lübeck. Darüber war Paula sehr froh. Schon wieder trank sie und mehr noch als bisher, ein Glas Wasser nach dem anderen. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren und wälzte sich, als sie endlich mit einem Buch zu Bett gegangen war, schlaflos herum. Etwas, das nicht ihrem Willen unterlag, geschah unaufhaltsam auf ihrem Grundstück, ohne dass sie es verhindern konnte. Paula hatte Angst, große Angst und konnte der Situation doch nicht entfliehen.

Der Fluch des Rhododendrons

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