Читать книгу Das Bücherschloss - Das Geheimnis der magischen Bibliothek - Barbara Rose - Страница 7
Оглавление2. Kapitel
Zaubertreppen und Hungerbäuche
Eilig packte Becky den Käfig mit Lotti und stieg die Stufen empor. Als sie am Eingang stand, bemerkte sie den ungewöhnlichen Türgriff. Es war ein Löwe, der – Becky musste zweimal hinsehen – ein Buch zwischen den Zähnen hielt!
„Das passt genau zu unserem Namen“, meinte ihr Vater. „Ein lesender Löwe begrüßt die Familie Librum. Fein, fein.“
Librum war das lateinische Wort für Buch, das wusste Becky natürlich. Ständig wies Professor Librum sie auf die Bedeutung ihres Familiennamens hin. Die Librums hätten eine besondere Verbindung zu Büchern, behauptete er. Becky interessierte das nicht die Bohne. Nur weil jemand Bäcker oder Metzger hieß, musste er auch kein Brot backen oder Schweineschnitzel panieren. Becky weigerte sich, irgendwelche erfundenen Geschichten zu lesen. Eine Ausnahme machte sie nur bei Büchern, aus denen man schlau wurde, etwas lernen konnte. Sachbücher und wissenschaftliche Werke. Wie die Geschichtsbücher ihres Vaters, in denen Professor Librum immer wieder versank und deren Inhalt er anschließend seiner Tochter haarklein erläuterte.
Versonnen tippte Becky auf den Löwenkopf. „Papa? Warum bist du dir eigentlich so sicher, dass der Löwe das Buch lesen will? Bestimmt ist es so ein typisches Mädchenbuch, und er frisst es auf, weil es so albern ist. Ist doch logisch!“
„Becky, wirklich! Du willst eine echte Librum sein!? Du müsstest es eigentlich besser wissen. Es gibt keine albernen oder falschen Bücher. Es gibt nur Bücher, die zu einem Menschen passen oder eben nicht. Dein Urgroßvater hat ein Buch über die besten Bibliotheken dieser Welt geschrieben. Und Tausende von Büchern gelesen!“ Und deine Mutter …, wollte Professor Librum sagen, verkniff es sich aber, weil er wusste, wie sehr Becky ihre Mama vermisste. Stattdessen steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn zweimal um. Mit einem knirschenden Geräusch sprang die schwere Tür auf.
„Oha!“, entfuhr es Professor Librum, als er die Eingangshalle erblickte. „Jetzt komme ich mir langsam wirklich vor wie ein König!“
Becky schob sich an ihrem Vater vorbei und war ebenso beeindruckt wie er. Die Halle war riesig! Bodenlange, dicke Brokatvorhänge mit aufwendigen Stickereien schmückten die hohen Fenster. An einer Seite war ein mächtiger offener Kamin, über dem zwei gekreuzte Schwerter und ein Wappen hingen. Davor standen goldene Sessel mit dunkelrotem Plüschpolster.
„Nicht schlecht, Herr Specht!“ Professor Librum pfiff durch die Zähne.
Die Wände waren übersät mit Unmengen von Bildern in glänzenden Rahmen. Männer in Rüstungen und mit grimmigem Gesicht waren darauf zu sehen. Frauen mit kunstvollen Frisuren und feinen Kleidern. Paare, die steif und mit gepuderten Perücken nebeneinander auf einem zierlichen Sofa saßen. Oder Szenen voller Jäger, Pferde, Hunde, Rebhühner und Hirsche.
Becky sagte nichts. Sie staunte.
Neben einem langen, schmalen Goldspiegel war eine mannshohe, ziemlich verstaubte Ritterrüstung postiert. Das Visier war geschlossen. Mit beiden Händen umfasste der Ritter ein Schwert, dessen Spitze zu Boden zeigte. Bei seinem Anblick schauderte Becky ein bisschen.
„Er sieht nicht besonders freundlich aus“, meinte sie.
Professor Librum zuckte mit den Schultern. „Na und? Er ist ja auch nicht lebendig.“ Er zupfte am seidenen Waffenrock, den der Ritter über dem Kettenhemd und der Brustplatte trug. „Sieh mal, Becky, hier ist ein kleines Namensschild an der Wand. Unser Blechfreund heißt Ferdinand von Schwertfeger. Was für ein ulkiger Name.“ Nach einem letzten Blick auf die Rüstung wandte er sich dem offenen Kamin auf der anderen Seite der Halle zu. Becky folgte ihm.
Hätte sie in diesem Moment weiter auf Blechritter Ferdinand gestarrt, wäre ihr aufgefallen, dass sein Visier kurz auf- und wieder zuklappte. So, als hätte er die neuen Bewohner genauer in Augenschein nehmen wollen. Doch davon bekamen weder Professor Librum noch seine Tochter etwas mit.
Stattdessen stellte Becky Lottis Käfig so neben dem Kamin ab, dass das Streifenhörnchen sich ebenfalls umgucken konnte. Sie selbst legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben.
„Faszinierend“, erklärte sie kichernd und mit verstellter Stimme. Sie ahmte ihren Vater nach, wenn er über Architektur oder Geschichte sprach. „Ein sogenanntes Kreuzrippengewölbe.“
Die Decke war geschwungen wie in einer Kirche, lange Steinbögen kreuzten sich in der Mitte. An ihren Enden saßen merkwürdige Gestalten. Schon häufig hatte Becky diese Art von Baukunst in den Büchern ihres Vaters bewundert. „Sieh mal, Lotti. Am Ende der Pfeiler sitzen die Kapitelle. Hier in Form von Steinfiguren.“
„Faszönörend“, murmelte auch Ferdinand von Schwertfeger. Allerdings so leise, dass Becky es nicht hören konnte. „Was für ein schlaues Mädchen. Dö kennt söch ja röchtög aus! Völleicht hat Pepper recht … ganz völleicht könnte sö es wörklöch sein, auf dö wör so lange gewartet haben.“
Interessiert betrachtete Becky die Figuren an der Decke, die mit weit aufgerissenen Augen, spöttischem Blick oder gerunzelter Stirn auf die Besucher herabsahen. Einige wirkten so echt, dass Becky beinahe darauf wartete, dass sie ihr auf den Kopf spuckten.
„Die Figuren sind großartig, stimmt’s? Ich muss mich unbedingt näher mit der Geschichte des Schlosses beschäftigen.“ Professor Librum war wieder neben seine Tochter getreten. „Sieh dir die ungewöhnlichen Treppen an.“
Becky folgte dem Blick ihres Vaters. Von einer großen Steintreppe aus gingen kleinere Treppen in alle Richtungen. Und zwar jede Art von Treppen. Schmale Holztreppen, schneckenförmig gewundene Metalltreppen, die sich steil nach oben schraubten, sogar eine Strickleiter, die aus einem Loch an der Decke baumelte. Alle sahen ziemlich baufällig aus. Und das Verrückteste: Die Treppen führten ins Nichts, sie endeten weit vor den Türen in den oberen Stockwerken.
„Wieso hören die Treppen einfach in der Luft auf?“, wunderte sich Becky.
„Keine Ahnung“, erwiderte Professor Librum. „Abgebrochen vielleicht oder verbrannt? Ich gebe zu … das ist wirklich ungewöhnlich. Allerdings kann ich mich im Moment nicht mehr richtig konzentrieren. Du weißt doch, wenn ich Hunger habe, setzt bei mir das Hirn aus. Deshalb suche ich jetzt erst mal die Küche.“
Kaum war der Professor weg, kletterte Becky auf den ersten Absatz der Haupttreppe. Sie wollte sich unbedingt das Gemälde, das dort hing, näher ansehen. Es zeigte eine Frau mit aufwendiger Turmfrisur, roten Wangen und einem gebauschten Kleid. Die Dame hielt einen Rosenstrauß im Arm, ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihren Mund.
„Ge-no-va Kä-se, Grä-fin von Spi-nat“, entzifferte Becky das etwas verblichene Schild unter dem Gemälde. „Was für ein komischer Name. Was meinst du, Lotti?“
Wäre Becky jetzt nicht zum Käfig gelaufen, um Lotti zu holen, hätte sie möglicherweise gehört, wie das Bild mit der Turmfrisurenfrau sich leise aufregte: „Genova Käse, Gräfin von Spinat!? Aber ich bitte dich, junge Dame! Was soll das für ein Name sein? Das ist doch Unsinn, kompletter Unfug. Genoveva Känuse, Gräfin von Spisenat heiße ich“, flötete die Dame im Bilderrahmen. „Kannst du denn nicht lesen?!“ Empört pflückte Genoveva eine Rose aus dem Strauß und pfefferte sie in hohem Bogen aus dem Rahmen und auf den Boden.
„So, jetzt darfst du wieder raus. Sieh dich in Ruhe um. Komm, Lotti“, lockte Becky ihr Streifenhörnchen und öffnete den Käfig. Und als Lotti flink hinaussprang, lag da auf einmal die Blume.
„Häh? Wo kommt die denn jetzt her? Regnet es hier rote Rosen?“ Becky blickte sich um. Kein Mensch war zu sehen. Sie legte wieder den Kopf in den Nacken und spähte zur Decke. Nichts als Mauerwerk und leblose Steinfiguren. Becky schaute zur Wand mit den Gemälden. Doch auch hier war alles genau wie vorher. Die Porträts hingen reglos und stumm.
„Ein bisschen unheimlich ist dieses Schloss schon, oder?“, murmelte Becky, während Lotti ihr Hosenbein hinaufkrabbelte und sich auf ihre Schulter setzte. „Wobei … Unsinn! Es gibt für alles eine logische Begründung.“
Becky, die später unbedingt Detektivin werden wollte, suchte immer nach einleuchtenden Erklärungen. Sogar bei einer Rose, die plötzlich mitten im Weg lag. „Bestimmt hat Papa sie aus einer Vase gezogen, kurz daran gerochen und sie achtlos fallen lassen. Wäre ja wieder typisch für ihn.“
Sie schaute sich um, ob Professor Librum irgendwo zu sehen war, doch … Fehlanzeige. Becky bückte sich, um die Rose aufzuheben. Aber die war verschwunden. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst oder wäre nie dagewesen. Gespenstisch! Dafür huschte auf einmal ein nachtschwarzer Kater an ihr vorbei. Sein steil aufgerichteter Schwanz mit dem gekrümmten Ende sah aus wie ein Fragezeichen. Er lief so eilig, dass Becky wie erstarrt stehen blieb. Und sie hätte schwören können, dass er … eine Rose zwischen den Zähnen hielt!
„Was war das denn? Gibt es hier also doch noch mehr Schlossbewohner als uns drei?“, fragte Becky in Lottis Richtung.
„Hilfst du mir endlich?“, unterbrach Professor Librum Beckys Überlegungen. Er wuchtete gerade die beiden Koffer in die Eingangshalle.
„Ich dachte, du wolltest die Küche suchen?“, fragte Becky.
„Stimmt. Aber dann ist mir eingefallen, dass es mittlerweile schon dunkel ist und ich schnell noch die Koffer holen sollte. Ich weiß übrigens, dass allein hier im Erdgeschoss über zwanzig Räume sind. Das hat mir meine Sekretärin geschrieben. Sie kennt das Schloss wohl von früher. Zwanzig Zimmer, oje. Und eins davon wird die Küche sein. Die müssen wir jetzt dringend finden, ich sterbe nämlich vor Hunger.“
„Du, Papa, hast du vorhin eine rote Rose …“, fing Becky an. Doch Professor Librum war schon in einem dunklen Gang verschwunden.
„Okay“, meinte Becky, „das kann ich auch später noch fragen. Jetzt brauchen wir erst mal einen Wasserhahn und eine kleine Schüssel für dich, Lotti. Du hast bestimmt mächtig Durst.“