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Die letzte Zauberin
ОглавлениеEs war keine Milch mehr im Haus. Rose stellte die leere Schale auf den Boden vor die Füße ihrer Tigerkatze Samtpfote, hob ihren Gehstock und konzentrierte sich. Einen Atemzug lang geschah nichts, dann jedoch begann sich die Schale langsam zu füllen, als würde eine Geisterhand Milch aus einer unsichtbaren Packung hineingießen. Rose senkte den Stock wieder, und Samtpfote begann genießerisch mit ihrem Frühstück.
Der Duft von Kaffee durchdrang die Küche. Rose humpelte zur Anrichte und begann sich ein Honigbrot zu streichen. Schwarzer Kaffee und Honig am Morgen hielten sie jung, wie sie gern sagte. Thorsten und die Enkel lächelten darüber. Sie wusste selbst, dass sie alt wurde, aber einstweilen kam sie gut zurecht. Ein Fall fürs Pflegeheim war sie noch nicht. Das gab auch Thorsten zu, der sie an den Wochenenden besuchte, wenn er nicht gerade im Ausland war.
„Na, dir schmeckt die Zaubermilch wohl auch“, murmelte sie und sah zu, wie Samtpfote die Schale sauber ausleckte. „Nach dem Frühstück kaufe ich dir aber frische, einverstanden?“ Die Katze hob den Kopf und blickte sie unverwandt an. Katzen waren gute Gesellschafter, schweigsam und selbständig. Sie hatte immer welche gehabt: manchmal eine, manchmal fünf. Die meisten davon Streuner, die nach Belieben gekommen und gegangen waren. Samtpfote aber war die Erste gewesen und war ihr nun als einzige geblieben.
Katze und Herrin hoben im selben Moment den Kopf, lauschten. Da war – etwas. Rose erahnte es mehr, als dass sie es hörte. Ein Einbrecher in der Wohnung? Es gab hier nichts Wertvolles zu holen. Es war auch keines der Geräusche gewesen, die man gewöhnlich mit Einbrechern verband – kein Klirren von Glas, kein Stampfen fremder Stiefel. Trotzdem humpelte Rose hastiger als gewöhnlich aus der Küche. Sie stieß alle Türen in der Wohnung auf, den Stock wie eine Waffe erhoben. Sie blickte in alle Schränke, hinter die Vorhänge und sogar unter das Bett. Schließlich kehrte sie in die Küche zurück, ohne etwas gefunden zu haben.
Sie war allein. Doch so beruhigend der Gedanke für gewöhnlich wirkte, nun verstärkte er noch das Gefühl der Bedrohung.
„Das gefällt mir nicht“, murmelte sie. „Etwas geschieht hier, ich spüre es in meinen alten Knochen.“
Hatte Emma sie nicht vor solchen Dingen gewarnt? Wehmütig blickte Rose auf das gerahmte Bild neben dem Kalender. Viel zu früh war sie gestorben, ihre seltsame und doch zugleich wunderbare Schwester. Dieses Bild und Samtpfote, die Rose aus Emmas verlassener Wohnung zu sich genommen hatte, waren ihre einzigen Andenken an sie. Und natürlich jene Zauberkraft, die sich nach Emmas Tod auf sie, Rose, vererbt hatte.
Was hatte da noch mal in Emmas letztem Brief gestanden? „Sei vorsichtig, Rose. Es gibt dunkle Mächte da draußen, die den Pfad in unsere Welt zu finden trachten und unter allen Umständen daran gehindert werden müssen.“
Rose hatte nie so recht verstanden, was damit gemeint war, doch nun wohnte den Worten plötzlich ein Unheil verkündender Klang inne. War es das, was soeben geschah? War eine dunkle Macht auf dem Weg hierher? Rose blickte sich um, und es schien ihr, als würde sich der eben noch so helle Tag verdüstern.