Читать книгу Totensee, oder Die Odyssee des van Hoyman (eine historische Erzählung) & Der viereinhalbte Mann (eine Kriminalgroteske) - Barni Bigman - Страница 6
Verschleppt
ОглавлениеLangsam gingen die Lichter bei Piter van Hoyman wieder an und der höllische Kopfschmerz verhinderte vorerst jegliche Art anderer Wahrnehmung. Unter dieser Folter der Inquisition würde er alles gestehen. Ein salziger Geruch stieg Pit in die Nase und über ihm flatterte ein riesiger Drache mit den Flügeln. Langsam, in die Sonne blinzelnd, öffnete Pit erst ein und dann das andere Auge und erblickte über sich große Segel, die im Wind flatterten. Viele Stunden hatte er traumlos auf einem Haufen dicker Seile verbracht, was auch seinem Rücken nicht gut getan hatte. Pit fühlte sich wie krummgeschlossen.
Er konnte sich kaum rühren und entschied sich, erst einmal abzuwarten, was geschehen würde. Augenscheinlich war es nicht die Inquisition, welche hier zugeschlagen hatte. Über ihm erschien ein breit grinsendes Pfannkuchengesicht, welches, mit einem schwarzen Rauschebart versehen, voller Ästhetik glänzte. „Na, wieder wach und unter den Lebenden? Weißt wohl nicht mehr, dass du bei uns angeheuert hast?“ Pit schwante nichts Gutes. Für einen Bauern wie ihn, auch wenn er an der Küste geboren war, war die See immer etwas Schreckliches, von dem man sich geflissentlich fern zu halten hatte.
Wie vom Blitz getroffen, setzte er sich auf. Die Schmerzen waren kurzfristig vergessen. Nur schnell von Bord und wieder festes Land unter den Füßen. Aber da war kein Land. Wenigstens nicht in greifbarer Nähe. Weit am Horizont zeigte sich der Streifen Küste, welcher einmal seine Heimat gewesen war. Auch die Flussmündung ließ sich noch hinter dem Schiff erahnen. Pit konnte zwar schwimmen, was die Seeleute wohl alle nicht beherrschten, aber das war bei dem eiskalten Wasser dann doch zu weit. Entmutigt fiel Pit auf den Haufen Tampen zurück. Er war Gefangener der See. Wenn sie doch wenigstens gen Norden fahren würden dort war sein Ziel, sein „gelobtes Land“.
Aber die Reise ging südwärts. Wenn Pit die Geschichten der guten Erna richtig verstanden hatte, lag dort Portugal oder Spanien oder gar Afrika, wo die Menschenfresser wohnten. Das Elend nahm kein Ende. Vorbei die schönen Winternächte voller Geilheit und Unbefangenheit. Sie waren aus seinem hämmernden Schädel vorerst entschwunden. Was so ein Klaps alles nach sich zieht, sinnierte Pit.
„Ruh dich noch etwas aus“, sagte das Pfannkuchengesicht, was sich später als Manfred der Schiffskoch vorstellte. „Du wirst noch früh genug dein Süppchen verdienen müssen.“ Pit schloss die Augen, haderte noch ein wenig mit seinem Schicksal, mit Gott und der Welt und glitt ab in einen Traum voller Schmerz und Selbstmitleid. Etwas erholt, aber immer noch mit einem Gefühl wie aufs Rad geflochten, erwachte Pit nach geraumer Zeit und folgte Fred, welcher ihm wortlos winkte mitzukommen, in die Kombüse, dem einzigen Ort an Bord wo ein Feuer, gesichert in einem Ofen, entzündet werden durfte. Bei Sturm musste es sofort gelöscht werden, damit das Schiff nicht ein Raub der Flammen würde.
Fred erzählte Pit, dass Eric der Nordmann ihn vom Landgang mitgebracht habe. Eric hatte lachend erzählt, er habe Pit einen übergezogen und dann gefragt, ob er nicht als Schiffsjunge oder als Liebchen anheuern wolle. An Bord waren Erics abartige Gelüste hinlänglich bekannt und der erste Offizier entschied, dass Pit, sollte er den Schlag überleben, als Schiffsjunge und Küchenhilfe bleiben dürfe. Es war bezeichnend, dass der erste Offizier und nicht der spanische Kapitän Estrell diese Entscheidung traf. Estrell litt stark an Seekrankheit und war bei etwas schwererer See stets volltrunken und dienstuntauglich.
„Hüte dich vor Eric. Das ist der mit der Narbe schräg überm Gesicht. Er ist abartig und brutal“, sagte Manfred. „Schlimmer als ein Priester?“ fragte Pit. „Rede nicht so daher Junge“, meinte Fred. „Einige von der Mannschaft sind tief gläubig und würden einen Ungläubigen schnell über die Reling befördern. - Aber ja, er ist schlimmer als jeder Schweinepriester. Ich hoffe, du wirst es niemals kennenlernen, das Ungeheuer in ihm.“ „Danke, der Schlag reicht mir vorerst vollkommen“, erwiderte Pit.
Während Manfred das Essen für die Mannschaft zubereitete und Pit ihm schon zur Hand ging, unterhielten sie sich weiter, über ihre Herkunft und manch andere Belanglosigkeit. „Dieses scheint mir ein wahrhaft riesiges Schiff zu sein. Was haben wir geladen und wohin geht die Reise überhaupt? Wann segeln wir wieder gen Norden?“ fragte Pit. „Nach Norden, ha ha ha? Die nördlichen Küsten werden wir wohl viele Monde nicht wieder sehen. Wir fahren weit nach Süden auf eine Insel vor Afrika. Dort laden wir schwarzes Gold und fahren damit nach Westen, nach Indien“, erwiderte Fred.
Dass musste Pit erst mal verdauen. Was war schwarzes Gold und wo zum Teufel lag Indien? Im Westen gab es doch nur Wasser. Nach einiger Zeit des Verdauens dieser Nachricht, traute sich Pit, nach dem schwarzen Gold zu fragen. „Nein, schwarzes Gold hat nichts mit Holzkohle zu tun und Menschenfresser gibt es dort wohl auch nicht. Die Menschenfresser sind wohl eher wir“, erklärte Fred. „Dieses hier ist ein Sklavenschiff. Das schwarze Gold sind die armen Seelen, die wir vor Afrika aufnehmen und in die neue Welt verschleppen, wo sie, sollten sie die Fahrt überleben, fleißig arbeiten dürfen. Dort werden sie dann für uns zu richtigem Gold. Eine widerliche, aber einträgliche Geschichte. Aber, da Mutter Kirche sich nicht einig werden kann, ob es sich bei den Schwarzen um Tiere oder Halbmenschen handelt, ist unser Handeln auch vor Gott völlig in Ordnung.“
Die Tage vergingen. Pit verbrachte diese mit Deckschrubben und Arbeiten in der Kombüse. Es wurde von Tag zu Tag wärmer und die Sonne brannte vom Himmel, wie Pit es noch nie erlebt hatte. Es gab keinen Sturm, aber ein leicht achterlicher Wind und eine sanfte Dünung machten die Fahrt recht angenehm. Auch der Kapitän wurde an Deck gesichtet, gab ein paar Kommandos, opferte der See und entschwand erneut für Tage.
Nachts in den Hängematten im Mannschaftsraum hatte Pit seine liebe Not sich vor den lüsternen Blicken und eindeutigen Angeboten Erics des Schrecklichen in Acht zu nehmen. Glücklicher Weise stand er unter dem besonderen Schutz des Schiffskochs, sodass es sich Eric wohl zweimal überlegen würde, ihn anzugreifen, und damit verdorbenes Essen zu riskieren.
„Land in Sicht“, hallte es vom Mast. Die afrikanische Küste und einen Tag später die ersehnte Insel waren deutlich zu erkennen. Pit sah zum ersten Mal eine Insel mit rauchenden kahlen Bergen, welche unten in eine üppige Vegetation mit ihm unbekannten Bäumen und Sträuchern über gingen. „Das sind keine Bäume“, erklärte Fred, „das sind Palmen, die überall in südlichen Gegenden wachsen. Sind eher wie übergroße Grashalme, meine ich. Auf einigen wachsen Nüsse, so groß wie dein Kopf und auf anderen Datteln, pflaumenartige süße Früchte. Übrigens Nüsse“, erklärte Fred weiter, „sollten wir Zeit für einen ausgiebigen Landgang haben und auf einen Feuerberg steigen, sei vorsichtig bei den Erdspalten, sonst verbrennst du dir deine an den heißen Dämpfen. Und mit einem gekochten Gemächt geht’s einem schlecht, ha, ha, ha.“ „Behalt dein Seemannslatein für dich“, sagte Pit und fühlte sich doch etwas verkohlt, ob solcher unglaublichen Geschichten. Kopfgroße Nüsse. Heißer Dampf aus der Erde. Schwachsinn. Wer sollte so etwas glauben.
Das Schiff ging vor Anker und ein Vorauskommando ging mit dem Beiboot an Land, um die Lage zu peilen. Nach ein paar Stunden kamen die Männer wieder zurück und gaben Entwarnung. Es waren keine Piraten in Sicht, aber auch noch kein schwarzes Gold angelandet. Also, alles auf Warteposition. Auf der Insel gab es ein kleines Nest mit wenigen Häusern und Hütten und ebenso vielen fragwürdigen Insulanern. Solche sind ja bekanntlich überall etwas merkwürdig, da sie sich untereinander fortpflanzen, sinnierte Pit mal wieder. Als Bauer war Pit Inzucht bekannt, auch wenn er es nicht für eine Strafe Gottes hielt, sich aber trotzdem die Zusammenhänge nicht weiter erklären konnte.
Das Nest hatte so etwas wie einen natürlichen Hafen, eine geschützte kleine Bucht mit einem Felsen, der wie eine natürliche Kaimauer geformt war. Da der Kapitän froh war, erst einmal auch aus der sanftesten Dünung heraus zu sein, und er diesen Liegeplatz bereits ausgiebig kannte, wurde das Schiff mit Tauen an den Felsen gezogen und fest vertäut. Eine Wachmannschaft blieb zurück, die kleinen Bug- und Heckkanonen wurden ausgepackt und vorsichtshalber geladen. Der Großteil der Mannschaft und Offiziere hatte Landgang. Dieser sollte erst sein Ende finden, sobald die Sklavenhändler von der Küste in Sicht kamen. Pit und Fred meldeten sich ab und verschwanden bald im Dickicht der üppigen Vegetation. Pit sah nun die Wunder der Natur aus nächster Nähe. Nüsse, die auf Palmbäumen wuchsen und die manchmal gefährlich nahe an ihnen einschlugen, wenn sie reif zu Boden gingen. Kopf groß, wie Fred es vorausgesagt hatte.
Fred hatte ein großes Hackmesser mitgenommen. Er nannte es liebevoll seine Machete. Die großen Nüsse schlug er damit auf und sie tranken das erfrischende, wohlschmeckende Wasser und aßen von dem weißen Fruchtfleisch. „Machete nennen es die Spanier in Indien“, meinte Fred. „Würde dir auch recht gut anstehen, wenn du etwas spanisch könntest. Ist sehr hilfreich in Indien.“ Er wog sein Hackmesser liebevoll in den Händen. „Hilft auch gut gegen Piraten, meine Machete“, lachte Fred.
„Komm lass uns weiter. Bevor die Fracht eintrifft, will ich dich noch eines Besseren belehren. Von wegen Seemannslatein.“ Sie marschierten weiter und je höher sie kamen desto geringer wurde die Vegetation. Als sie dann ganz aufhörte, standen sie direkt vor einem der rauchenden Berge. Das Gestein war wie erstarrter Lehm, den ein Riese durch seine Finger gequetscht hatte, und der dann vor Schreck versteinerte. Es hatte viele verschiedene Farben und sah eigentlich recht hübsch aus, wenn es Pit nicht so gruselig vorgekommen wäre.
Aber das war noch nicht das Erstaunlichste. Wie Fred wahrheitsgemäß erzählt hatte, rauchte es aus dem Felsen und an manchen Stellen musste man tatsächlich aufpassen, dass man sich nichts verbrannte. „Da unten ist die Hölle“, sagte Fred. „Wahrscheinlich hat der Teufel die Steine gekocht und dann ausgespien.“ Pit hatte eine andere Idee, nämlich dass es doch eher das Hinterteil des Teufels sein musste, was diese Würste geformt hatte. Der bestialische Gestank nach faulen Eiern ließ auf arge Blähungen schließen.
Sie lachten herzlich über Pits Ideen und als sie endlich ein Teufelsloch fanden, was keine stinkenden Dämpfe, sondern heißen Wasserdampf produzierte setzten sie sich und garten darüber das Fleisch, welches Fred lobenswerterweise noch an Bord eingesteckt hatte. Das am Stock gekochte Fleisch hungrig vom Knochen nagend, blickten sie von ihrem hohen Aussichtspunkt weit über die See. Im Osten meinte Pit Land zu erkennen. „Das dürfte die afrikanische Küste sein“, meinte Fred, „aber sie ist normalerweise außer Sichtweite. Hab aber davon gehört, dass es Spiegelungen geben soll, die sogar Schiffe an den Himmel zaubern sollen. Wenn ich daran glauben würde, würde ich es für ein schlechtes Omen halten.“ Pit und Fred stiegen höher und höher den Höllenberg hinauf, bis sie den schmalen Grad des Kraterrandes erreichten. Unten im Krater war zwischen aschfahlen und gelben Nebelschwaden das Feuer der Hölle zu sehen. Pit standen die Nackenhaare zu Berge. Schaudernd wendete er sich ab. Nicht nur, dass er nun die Hölle mit eigenen Augen erblickt hatte. Nein, auch sein gesamtes Weltbild geriet zumindest zeitweilig ins Wanken. Wenn es augenscheinlich eine Hölle gab, gab es dann auch einen Gott? – Das ist nicht die Hölle, dachte Piter van Hoyman und schon stimmte sein Weltbild wieder mit der realen Welt überein.
Die großartige Aussicht in den Krater hinein wurde von einer noch großartigeren Aussicht in die andere Richtung übertroffen. Weiter als von diesem höchsten Punkt der Insel konnte keiner über See blicken. Das Land, was dann doch wohl eine der besagten Luftspiegelungen war, war verschwunden. Überall, im Westen wie auch im Osten nur Wasser, die weite See. Am Horizont im Osten, wo sie das vermeintliche Land gesichtet hatten, tauchten nun mehrere Schiffe oder besser größere Boote auf. „Sind das Piraten“, fragte Pit? „Nein, dass scheinen unsere braven Handelspartner zu sein“, meinte Fred. „Warum sind wir nicht selbst an die afrikanische Küste gefahren? Wäre doch einfacher gewesen.“ „Ja, aber nicht sicherer“, meinte Fred. „Das Nest an der Küste ist größer und wird zurzeit oft von Piraten heimgesucht. Außerdem erscheint es dem Kaptein sinnvoll, dass die Schwarzen schon mal eine kleine Seereise hinter sich haben, um zu schauen, wer es eventuell überlebt und bis nach Indien schaffen könnte.“ Rosige Aussichten, schauen wer es überlebt, dachte Pit.
„Lass uns umkehren, sonst gibt es Ärger, wenn wir noch nicht da sind, wenn die armen Teufel eintreffen.“ Sie machten sich an den Abstieg und gingen den Weg zurück. Pit und Fred kamen gerade noch rechtzeitig, um die Boote anlanden zu sehen. Mit Joch und Tauen versehen, stolperten die Schwarzen an Land. Das waren die ersten schwarzen Leute, die Pit zu Gesicht bekam und sie kamen ihm wie Menschen vor. Hatte die Mutter Kirche sie nicht zu Nichtmenschen erklärt? War das nur geschehen, weil man sie sonst nicht wie Vieh verkaufen konnte? Halts Maul, dachte Pit. Hast dich schon öfter um Kopf und Kragen geredet und auf solche Kragen, wie sie die armen Teufel tragen, kannst du geflissentlich verzichten.
Es waren wohl um die zwei- bis dreihundert schwarze Menschen, welche stark genug erschienen, um die Reise in einem Stück zu schaffen. Pit kannte die Vorräte, die an Bord waren und die gute Erna hatte ihm genügend Rechnen beigebracht, um zu überblicken, für wie viele Menschen und für wie viele Tage Wasser und Essen reichen konnten, immer vorausgesetzt, sie würden nicht in eine Flaute kommen. Pit fragte Manfred, wie lange ihre Reise denn gehen würde und es wurde ihm schlecht, als er herausfand, dass mindestens ein Drittel diese Höllenfahrt nicht überleben würde.
Die kräftigsten Männer, Frauen und großen Kinder wurden unter Wehklagen ihrer selbst und der Zurückgebliebenen an Bord gebracht und die braven Geschäftspartner, welche ebenfalls eine schwarze Hautfarbe hatten, wurden ausbezahlt. Ein gewisser Teil der Mannschaft wurde zur Sklavenaufsicht abgestellt, was nicht bedeutete, dass sie etwa ihre anderen seemännischen Pflichten vernachlässigen durften. Es war klar, dass auch der schreckliche Eric zu dieser Gang gehörte.