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HAMSTER IM KÄFIG

Heute habe ich das erste Mal in meinem Leben gehamstert. Der Flaschenpost-Bote schaut mich prüfend an, als er die acht Kisten Wein auf einer Sackkarre aus dem Fahrstuhl wuchtet. Könnte an meinem Outfit liegen, das so mancher Modekenner wohl als „gewagt“ einstufen würde (Ducktales-T-Shirt, kurze Hosen und Chewbacca-Pantoffeln). Oder an der Vermutung, dass er gerade einen schweren Alkoholiker beliefern muss.

„Sie haben aber einen Durst“, kommentiert er unser merkwürdiges Kennenlernen. Auch ich ahne beim Anblick der Kisten, die sich nun in meinem Hausflur stapeln, dass das eventuell nicht meine klügste kaufmännische Entscheidung der letzten Jahre war.

„Der war im Angebot“, versuche ich mich zu rechtfertigen, muss mich aber geschlagen geben, als meine Frau auf der Fußmatte neben mir auftaucht und mich ebenso irritiert anschaut wie der Flaschen-Postbote.

„Der war im Angebot“, wiederhole ich mich.

„Sind wir jetzt bei Loriot?“, sagt Nadja und spielt auf unsere liebste Szene aus „Papa ante Portas“ an, in der Loriot als Pensionär Hunderte Gläser Senf kauft, weil diese preisreduziert waren.

„Das ist kein Senf, das ist Wein“, antworte ich überflüssigerweise, und der Flaschenpost-Bote schaut mich fragend an und nickt vorsichtshalber.

Andere hamstern Klopapier und Hefe, wir dagegen sehen der Apokalypse mit einem Glas Riesling in der Hand entgegen. Immerhin besser als mit einer Klopapierrolle und einem selbstgebackenen Paderborner unter dem Arm. Der Wein war wirklich im Angebot, und da die zwei Flaschen letztens so gut geschmeckt hatten, hielt ich es für sinnvoll, daheim einen Vorrat anzulegen. Für den Weinkeller. Das Problem ist nur: Wir haben gar keinen Weinkeller. Noch nicht mal ein Weinregal. Aber unnormale Zeiten erfordern unnormale Maßnahmen.

Ich versuche den Getränkelieferanten loszuwerden und krame einen Fünf-Euro-Schein aus der Hosentasche. „Trinkgeld passt ja bei Ihrem Job“, sage ich und lache meinen eigenen schlechten Scherz weg, während der Mann mich anschaut wie fünf Meter Teerpappe und wortlos die Aufzugstür aufschiebt.

„Was ist das denn?“, fragt meine Schwiegermutter, die plötzlich auch noch auf der Fußmatte steht, um die vorwurfsvollen Blicke meiner Frau zu verstärken.

Sie trinkt kaum Alkohol. Wenn überhaupt, dann eine Weißweinschorle, in der Wein in homöopathischer Verdünnung von 1:100.000 vorhanden ist.

„Hast du etwa ein Alhololproblem“, lallt sie und kichert über ihre sprachliche Varianz. Wäre der Flaschenpost-Bote noch da, würde er wahrscheinlich mit seinem Registriergerät nach uns werfen.

Unser Zusammenleben in der Wohngemeinschaft nimmt mittlerweile mehr als seltsame Züge an. Meine Schwiegermutter ist zwar herzensgut, aber es gibt einen Grund, warum die meisten Beziehungen in kurzer Zeit zerbrechen, wenn die Schwiegereltern bei einem einziehen. Lebensentwürfe lassen sich schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen, bei dreißig Jahren Altersdifferenz umso weniger. Wenn ich morgens um 10 Uhr schlaftrunken in den Wohnungsflur schlappe, um auf einer Zahnbürste herumzukauen, steht meine Schwiegermutter bereits seit vier Stunden in der Wohnung und räumt auf. Mittlerweile müsste unser Zuhause geordneter sein als ein japanischer Zen-Garten.

„Tu so, als wäre ich gar nicht da!“, sagt sie und reißt die Arme in die Höhe, um mit den Händen eine seltsame Wackelbewegung zu machen, die ein bisschen an einen Handmixer erinnert. Diese soll wohl eine Art Verwirbelung der Luft herbeiführen, die sie unsichtbar macht.

Dieses Spiel machen wir jetzt mehrmals täglich. Ich schleiche nachts ins Bad zum Pinkeln, plötzlich kommt mir ein Schatten im Schlafhemd mit in die Höhe gerissenen Armen entgegen und sagt: „Tu so, als wäre ich gar nicht da!“

Ich komme mit dem Hund vom Gassi gehen, und aus der Küche kommt mir meine Schwiegermutter mit einer Banane in der einen Hand entgegen und brüllt: „Tu so, als wäre ich gar nicht da!“

Natürlich ist das ein absurder Wunsch, denn die Anwesenheit meiner Schwiegermutter in unserer Corona-WG ist omnipräsent – sogar wenn ich den Kühlschrank aufmache.

Das komplette Innenleben unseres Kühlschranks sieht aus, als hätte es Christo verhüllt. In Zellophan eingeschlagener Käse liegt da neben einzeln in Zellophan eingewickelten Tomaten, Zucchini, Wurst, Frischkäsepackungen. Es verwundert fast, dass sie nicht noch den kompletten Kühlschrank in Zellophanfolie eingewickelt hat.

Ich bin der festen Überzeugung, dass das Mindesthaltbarkeitsdatum zwei Funktionen erfüllt. Zum einen soll es Verbraucher davor schützen, verdorbene Lebensmittel zu konsumieren, zum anderen soll es einen wirtschaftlichen Kaufanreiz darstellen. So werden Lebensmittel, die eigentlich noch genießbar sind, entsorgt und neu gekauft. Wir steigern das Bruttosozialprodukt.

Meine Schwiegermutter ist offensichtlich keine Anhängerin meiner Theorie.

„Wo ist der Frischkäse?“

„Entsorgt. War abgelaufen.“

Allein die Art, wie sie „entsorgt“ sagt, macht mich schon rasend. Das klingt, als hätte sie unseren Frischkäse per Castortransport in ein saarländisches Salzbergwerk gebracht.

„Und die Butter?“

„Abgelaufen.“

Immerhin, die Eier sind noch da. Diebisch starre ich auf das MHD, noch drei Tage haltbar. Glück gehabt, sonst wären die bestimmt ebenfalls im Endlager gelandet.

„Sekunde mal, wo ist das Salz?“

„Abgelaufen!“

„Salz? Das SALZ war abgelaufen?“

„Stand auf der Packung. War sogar schon ein halbes Jahr drüber.“

Nadja schaut mich strafend an, sie sieht die Ader an meinem Hals pochen, ich bin kurz vor einem ernsthaften Wutanfall.

„Salz kann nicht ablaufen! Oder glaubst du, das lag vier Milliarden Jahre in einem Salzstock irgendwo unterhalb einer ostdeutschen Brachlandschaft, und zack, nachdem Aldi es in die Tüte gepackt hat, dauert es zwei Jahre, und schon ist das Salz nicht mehr verwendbar? Was soll denn damit passieren? Schimmeln? Hast du schon mal Schimmel auf Salz gesehen?“

„Das kam aus Israel.“

„Was?“

„Das kam aus Israel, nicht aus Ostdeutschland.“

Ich starre meine Schwiegermutter an. Mexican-Stand-Off. Wegen 250 Gramm Jodsalz. Nadja macht hinter dem Rücken ihrer Mutter „Kopf ab“-Bewegungen. Die oberste Geschäftsführung rät mir, mich im Zaum zu halten.

„Kannst du bitte aufhören, unsere Lebensmittel zu entsorgen?“, presse ich zwischen meinen Lippen hervor wie ein Schwertschlucker die Klinge.

„Ich versuche nur euch zu beschützen!“

„Vor Jodsalz willst du uns beschützen?“ Nadja macht weiter die „Kopf ab“- Geste. Sie sieht aus, als hätte sie einen Volkshochschulkurs in Deeskalationspantomime belegt.

„Nein, vor Dummheit!“, brüllt meine Schwiegermutter zurück wie der kleinste Subwoofer der Welt. Dann dreht sie sich um und lässt mich in der Küche stehen. Diskussionen werden hier mit demselben probaten Mittel beendet, das ihre Tochter bereits seit 15 Jahren an mir ausprobiert: beleidigt den Raum verlassen.

Nadja hört endlich mit dem doofen Luftgeschneide auf und schaut mich mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung an.

„Musste das sein?“, fragt sie mich, als wäre ich allein schuld an der Diskussion.

Ich spüre ein Kribbeln in meinen Handgelenken, an denen zwei geballte Fäuste wie Knollen aus Wut hängen, und atme statt einer Antwort einfach nur lange und geräuschvoll aus.

Meine Frau wiederholt die halbe Pirouette ihrer Mutter und verlässt die Küche. In einem Theaterstück würde man nun über die Akteurin schreiben: „Nadja geht ab (Tür knallt)“.

Dann will ich etwas essen. Nahrungsaufnahme gilt in meiner Familie als probates Mittel, um Wut zu besänftigen. Ich habe noch nie jemanden so wütend Pfannkuchen, Rührei oder Gulasch in sich hineinstopfen sehen wie meinen Vater. Wenn sich meine Eltern gestritten hatten, saß er danach oft am Tisch und aß lautstark. Es wirkte fast so, als müsse er das Rind für das Gulasch ein zweites Mal töten.

Müsli geht immer, denke ich. Ich streue irgendetwas, das stark oberhalb der empfohlenen Tagesmenge liegt, in ein Schälchen, greife in den Kühlschrank und spüre erneut, wie sich meine Hand zur Faust ballt, bevor mein Geist die Situation vollständig erfasst.

„WO IST DIE MILCH!“, brülle ich durch die geschlossene Küchentür wie ein Wikinger.

Wie bei einer Kuckucksuhr öffnet sich die Küchentür, aber statt eines räuberischen Singvogels schiebt sich nur der graue Schopf meiner Schwiegermutter durch den Spalt und erwidert:

„War abgelaufen!“

Die große Pause

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