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DER GELIEBTE

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Der schweigsame kleine Pope schritt mit der Laterne voraus und bezeichnete dem »Herrn Unteroffizier«, der ihm offenbar durch seine Kenntnis des Russischen eine furchtsame, tiefe Ergebenheit abnötigte, die Häuser, deren Bewohner geflüchtet oder die schon von den Russen nach Leinen- und sonstigem Verbandzeug durchsucht waren, aber Richner hatte ihn im Verdacht, daß er so vielleicht nur seine besondern Schützlinge vor ihm bewahren wollte. In den Sälen der Schule und des Gemeindeamts drunten lagen die Blutenden von Stunde zu Stunde immer dichter beieinander auf ihrem Stroh.

In eines dieser Häuser nun, aus dem er Geräusche zu hören glaubte – es war eines der letzten vereinzelten Gehöfte am Waldrand jenseits des Flusses – drang er trotzdem ein, fand jedoch wirklich alle Räume zerstört und verlassen und wollte schon wieder fortgehen, als er am Ende eines Ganges vor einer verschlossenen Tür ein junges Mädchen auf einem Reisekorb sitzen sah, regungslos mit gesenktem Kopf, als ob sie schliefe. Er trat mit dem Licht vor sie hin. Sie hatte offene Augen, blickte sinnend auf ein Stückchen Boden vor sich. Sie merkte immer noch nicht, daß jemand gekommen war, obgleich beide sie anriefen und miteinander laut von ihr sprachen.

Der Pope schien aufrichtig verwundert und geradezu beunruhigt über ihre Anwesenheit, fragte sie, warum sie denn nicht mit den Ihren geflüchtet sei und sich seither hier versteckt halte, daß kein Mensch im Dorf unten eine Ahnung habe, sie sei da? Er redete nachsichtig sanft wie zu einem kranken Kinde, nannte sie bei ihrem Vornamen, warb geduldig auf alle mögliche Weise um ein Lebenszeichen und hob ihr zuletzt das Kinn, als ihr teilnahmsloses stumm gesenktes Gesicht nicht mehr zu ertragen war.

Sie sah ihn mit großen erstaunten Augen an, als erwache sie und erkannte ihn wohl nicht gleich. Dann glitt ein Zittern über ihr Gesicht, sie lächelte verlegen und fragte in ziemlich natürlichem höflichem Ton, was die Herren hier wünschten?

Richner wollte die Dinge aufzählen, die er brauchte, aber der Pope machte ihm ein Zeichen, daß das hier zwecklos sei, ging gar nicht auf ihre Frage ein, sondern redete ihr zu, doch nicht hier allein zu bleiben, lieber mit ihm zu guten Freunden zu gehen.

Das Mädchen lächelte nur müde und gequält und sah stumm an ihm vorbei auf den Deutschen. Sie hatte ein wenig schrägliegende dunkle Augen unter sehr langen Wimpern. Das abgezehrte, von Leiden vergeistigte Gesicht saß seltsam auf dem bäurisch breiten untersetzten Körper. Die hellen Haarmassen auf dem Kopf schienen noch reicher dadurch, daß sie, nur unordentlich und flüchtig aufgesteckt, über Ohren und Hals hinabfielen.

Mit wachsender rätselhaft angstvoller Spannung durchforschte ihr Blick Richners Mienen. Jetzt trat sie auf ihn zu: »Ein fremder guter Mensch!« sagte sie nachdenklich und schüttelte langsam den Kopf, »ein solches Gesicht kann nicht lügen!«

Der Pope faßte sie bei den Händen und wollte sie mit sanfter Gewalt fortführen. Aber ein Zucken wie Ekel lief ihr durch den Leib und sie schüttelte das Männchen zornig ab. »Wie lange bleiben Sie noch hier?« fragte sie Richner.

»So noch ein bis zwei Wochen vielleicht,« sagte er, verwirrt von der sonderbaren Frage, »bis die Kleinigkeiten da geheilt sind,« er deutete auf die verbundenen Stellen.

»Nun, zwei Wochen sind auch etwas,« sie nickte einigermaßen befriedigt, »nicht wahr, Sie helfen gern, wo es nötig ist? Und wenn’s überdies ein unglückliches Mädchen betrifft? Es ist etwas sehr Wichtiges, von dem ich rede.« Sie senkte die Stimme. »Werden Sie kommen, sich danach zu erkundigen? Aber allein!«

Der Pope winkte Richner voll Unruhe, gar nicht zu antworten, machte ihm eifrig Zeichen, zuckte die Achseln und ging zur Ausgangstür voraus.

»Ich bin nicht verrückt,« flüsterte das Mädchen Richner zu, »kommen Sie nur!«

Als sie dann draußen den Weg fortsetzten, erzählte der Pope, daß das Mädchen noch vor gar nicht langer Zeit fröhlich und gesund und viel schöner als jetzt gewesen sei. Ihr Bräutigam war im Frühjahr verschwunden, wahrscheinlich desertiert. Er hatte sich verabschiedet, um zu seinem Regiment abzugehen und seither fehlte von ihm jede Spur. Sie aber wollte es nicht glauben und wartete immerfort auf Nachricht von ihm. Ihre Angst, ihre Sorge und Unruhe saß ihr wie ein immer tiefer eindringender Fremdkörper in Seele und Leib. Die unabsehbare Trennung, die stete Ungewißheit und namenlose Verlassenheit war zu viel für sie und die Natur richtete eine Mauer gegen das Unerträgliche auf: ihr Geist verwirrte sich.

Als Richner am nächsten Morgen, nicht ganz zufällig, an dem Hause vorbeikam, sah er das Mädchen hinten im Garten lässig bei irgendwelchen Erdarbeiten. Er trat an den Zaun und sah ihr zu.

Da hob sie den Kopf und erkannte ihn augenscheinlich, richtete sich auf, stützte sich auf den Spaten und betrachtete ihn. »Herr,« sagte sie, »Sie sehen meinem Bräutigam ähnlich!«

Er fuhr zusammen; ein Schauer überlief ihn bei diesem unsäglich innigen zutraulichen Ton, der von einem schwer zurückgedrängten Schmerz unsicher schwankte.

Der Pope hatte ihm gestern erzählt, daß ihr eine Zeitlang bei jedem eine Ähnlichkeit mit ihrem Bräutigam aufgefallen war. Sie hatte ihn wohl immer vor Augen, sah ihn überall um sich her und sein Bild verdeckte ihr jede Gestalt und jedes Gesicht.

Sie trat zu ihm an den Zaun: »Wollen Sie nicht zu mir hereinkommen?« fragte sie schüchtern, »ich habe es hier so einsam!«

Er blickte unschlüssig, prüfend in ihr ernstes blasses Gesicht, ganz verwirrt von der erwartungsvollen Spannung darin.

»Ach ja, nicht wahr, Sie kommen?« Sie faßte ihn beim Arm und sah ihm, indem sie ein wenig den Kopf neigte, von unten herauf in die Augen, »Sie werden bei mir bleiben, ja? bis – bis – Es ist so unheimlich hier im Hause allein! Gewissermaßen allein oder eigentlich viel schlimmer als das! Und weithin überall nur leere Häuser! Ich war schon so am Rande. Ich wußte nicht, daß ich auf jemanden wartete; erst als ich Sie sah, fiel es mir ein. Und Sie werden auch etwas für mich tun, nicht wahr? Mir helfen, wenn ich Sie sehr bitte. Werden Sie, werden Sie?« Das ängstlich gespannte Kinderflehen in ihren Augen hatte etwas unsäglich Hilfloses, Verzweifeltes.

Die Tränen stiegen ihm auf. »Ja, ja, natürlich!« sagte er eilig, »gern!«

Sie nickte gerührt und streichelte seinen Arm. »Alles?« fragte sie leise und zaghaft, »und wenn es das Schwerste auf der Welt wäre?«

»Alles,« erwiderte er ernst und eine Welle überströmender inniger Hingabe hob ihn hoch, er wäre in dem Augenblick wirklich alles für dies fremde Geschöpf zu tun imstande gewesen.

Sie stand eine Weile und atmete tief. Dann winkte sie ihm entschlossen, ihr zu folgen und ging eilig quer über den Garten dem Hause zu.

Er sah nach der Gartentür aus. Ja, sie war ganz nahe, aber geschlossen. Das Mädchen wandte ungeduldig den Kopf nach ihm. Da kletterte er denn, wiewohl es mit dem wunden Bein einigermaßen beschwerlich war, über den Zaun. Vor dem Hause hielt sie an und wartete auf ihn.

Er stand nun vor ihr.

»Ich weiß ja nicht, ob es nützen wird,« sagte sie mutlos und sann mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin, »aber tun muß man es doch! Man muß doch!« Eine Verzweiflung zuckte in ihrem weißen Gesicht, die nicht niederzuzwingen war. Ihr Mund, ihre Nasenflügel, ihre Augenlider zuckten.

»Worin soll ich Ihnen helfen?« fragte er nach einer geraumen Weile, um sie an seine Anwesenheit zu erinnern.

Sie sah auf: »Ich werde es Ihnen zuerst erzählen,« und sie wies auf die Bank neben der Tür, ohne sich selbst zu setzen. »Wissen Sie, ich hätte ja einfach jemanden aus dem Dorf unten rufen können. Der Pope hätte mir’s auch getan. Aber ich muß einen Fremden dazu haben. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen werden. Ich würde es nicht ertragen, wenn es ein Freund oder überhaupt ein Bekannter von früher wäre. Nicht, daß ich fürchtete, sie könnten mich steinigen. Oder doch ja, ein wenig fürchte ich mich schon auch!« Sie lauschte nach dem Hause hin. Nichts rührte sich dort. »Er ist nicht fort,« begann sie geheimnisvoll, »nein, er war überhaupt nicht fort. Ach, Sie wissen ja noch gar nicht, daß ich verlobt war; doch? Nun, ich ließ ihn nicht. Der Krieg dauerte damals schon so lange. Er wurde irgendwo in der Ferne ausgekämpft. Niemand dachte, daß er uns hier angehen könnte. Er begann erst für mich, als mein Bräutigam einberufen wurde. Am letzten Abend nun war er bei uns bis spät in der Nacht. Und ich goß wieder und wieder sein Glas voll. Ich hätte es auch ohne Absicht getan. Er war so traurig! Ja, ja, das kann er nicht leugnen. Und ich, ach, was war ich an diesem Abend! Niemand freilich sah mir an, wie wahnsinnig ich war. Alle weinten sie mehr als ich. Nach dem Abschied dann, als er fortging, ging ich mit ihm vor die Tür hinaus, die Treppe hinab, auf die Gasse. Niemand wunderte sich, daß ich mich von ihm nicht trennen konnte. Er aber wußte nicht, wo er ging und fast nicht, wer mit ihm sprach. Er lachte und sang und mein Vorhaben war leichter auszuführen, als ich gedacht hatte. Ich führte ihn hinunter in unsern Kohlenkeller,« sie dämpfte ihre Stimme und faßte heftig seinen Arm. Spitz bohrten sich die umklammernden Finger ein, »nicht in den andern, wo alle unsere Vorräte lagen und jeden Augenblick jemand hineinkam! Das war wohl überlegt. Ich band ihm Hände und Füße, das können Sie mir glauben. Band auch ein dickes Tuch um seinen Mund. Ein unabsichtlicher Schrei oder Ausruf in der Überraschung des Erwachens, dachte ich, wenn gerade zufällig jemand am Keller vorbeikäme. Und die Vorsicht erwies sich weit notwendiger, als ich dachte, aber aus einem Grunde, den ich wahrhaftig nicht hatte voraussehen können. Ich dachte nur, wenn wir es vorher beraten und beschließen würden, würde er es nicht wagen. Deshalb hatte ich ihn dazu zwingen wollen. Doch er war mit dem Mittel zur Rettung unzufrieden, denken Sie nur! Als er am Morgen seinen Rausch ausgeschlafen hatte, begann ein richtiger Kampf zwischen uns. – Ich war früher als alle anderen im Hause aufgestanden. Nicht aus Vorsicht und Ängstlichkeit. Ich hatte die ganze Nacht nicht schlafen können vor Glück, vor Freude über den Einfall und die gelungene Ausführung. Behutsam schlich ich durchs schlafende Haus. Mir war so selig zumute, als schliche ich zu einem verbotenen Stelldichein. Wie dankbar würde er mir sein für diese Eingebung der Liebe, dachte ich. Wie zu unverhofftem neuem Leben erwacht, mußte er sich doch fühlen! Statt in den Krieg zu müssen, im Arm der Geliebten zu bleiben, in ihrem Hause, von ihr gepflegt! Und ich malte mir aus, wie ich ihm das Leben drunten in dem engen dumpfen Raum erleichtern und verschönern wollte, ohne selbst die Eltern einzuweihen, da es ja allzu gefährlich war. Aber er, – als ich ihn zärtlich mit Küssen weckte, als er erfuhr, was ich vorhatte, – er wurde tobsüchtig vor Zorn über meine Zumutung. Sofort solle ich ihn freilassen, damit er noch den Zug erreiche. Ich flehte schmeichelnd und kosend, ohne auf seine Worte zu hören, er möchte, wenn schon nicht anders, so aus Güte und Mitleid für mich dableiben, da es doch ging. Er wäre einfach verschollen. Kein Mensch würde ihn hier suchen. Ich kniete vor ihm und bat ihn weinend mit gerungenen Händen. Er aber stieß mich von sich und herrschte mich wütend an, ich solle mich schämen, in solcher ernsten Sache eine so lächerliche Komödie zu machen. Ich verstünde von diesen Angelegenheiten nichts. Was würden die Leute im Dorf und was seine Kameraden bei der Kompanie von ihm sagen? – An solche Dinge dachte er, wo es sich um sein Leben handelte! Wahrhaftig, die Männer wissen nicht, was das Leben ist! – Und als er nachher, da ich ihn um keinen Preis losbinden wollte, mit aller Kraft um Hilfe zu brüllen begann, da packte mich die Wut über seine Dummheit und die Verzweiflung, daß er nun doch fort sollte und ich stopfte ihm ein Tuch in den Mund und band es fest. Da mochte er beißen und sich werfen, soviel er wollte. Ich werde ihn eben zu seinem Glück zwingen, wenn er so dumm ist, dachte ich. Er wird mir schon einmal Dank wissen. Aber schrecklich war es, wie er so hilflos war und ganz in meiner Gewalt, er, vor dem ich immer demütig gezittert hatte.« Grauen verzerrte ihr Gesicht und verdunkelte ihre Augen voll Tränen, »hatte ich denn nicht recht? Gehörte er nicht auch mir? Durfte er überhaupt noch allein über sich bestimmen? Nun, – Sie verstehen jetzt, warum ich nicht fliehen wollte. Ich war ja glücklich, als sie alle fort waren. Es wurde mir nicht leicht, meinen Gefangenen mit allem Notwendigen zu versehen, ohne daß jemand etwas ahnte. Aber ich war schlau. Es gelang mir sogar, unauffällig, einen Teil der Kohle hinaufzuschaffen. Ich kochte ihm seine Lieblingsspeisen, brachte ihm täglich frische Tannenzweige und Blumen, weil die Luft unten so dick und häßlich war, aber ihn freute nichts von alledem. Eine Zeitlang berührte er die Speisen nicht und wollte verhungern. Zu schreien oder sonstwie aus dem Loch heraus zu wollen, wagte er nicht mehr. Er wollte nicht als Deserteur erschossen werden. Mich haßte er. Ja! Er drehte mir den Rücken, wenn ich eintrat; er stieß nach mir, wenn ich ihm nahe kam. Wenn ich mich schmeichelnd an ihn schmiegte, von süßen Hoffnungen sprach, vom baldigen Kriegsende und den schönen Tagen unserer Zukunft, da lachte er nur so eigentümlich, daß es einem kalt den Rücken hinablief oder er wurde wild und schlug mich.

Zwei Erzählungen

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