Читать книгу Tumult der Seele - Beate Klepper - Страница 4
I. VON BLUMENKINDERN UND TRAUMGESTALTEN
ОглавлениеMaria Dorothea Stechard hieß sie, und dieser Name mochte nicht viel mehr wert sein als das Papier, auf dem ihre Geburt und siebzehn Jahre später ihr Tod vermerkt wurden.
17 Jahr und 39 Tage wurde sie alt, um es so wiederzugeben, wie Lichtenberg es aufschrieb, so genau in seiner Art als Mathematiker und Astronom. Viel hatte er dann nicht mehr über sie geschrieben. Es gab dazu keine Notwendigkeit. Wäre sie seine Frau geworden, hätte er sicher noch weniger von ihr mitgeteilt. Nicht in dieser Art, in der Trauer, die alles nur im Guten zu sehen vermag. So weiß im Grunde niemand etwas über die Stechardin. Eine Unbekannte, die man hie und da erwähnt, wenn man von Georg Christoph Lichtenberg spricht; oder über die man besser schweigt?
Geboren wurde sie am 26. Juni 1765, als einziges Kind ihrer Eltern, und sie mussten Maria zum Friedhof bringen. Im August war das gewesen, im Jahr 1782.
Wie der Leichenzug wohl aussah? Sicher spärlich. Wer sollte schon mitgehen? Die Handvoll Leute, die die Stechards kannten, und die wenigen Freunde Georgs, die dieser Liebe mit Respekt begegneten. Und das waren wenige.
An den Fenstern werden dafür umso mehr Leute gestanden haben. Lauernd, glotzend, um Lichtenbergs Leid zu begaffen. »Professorenhure« hießen sie das Mädchen, und sie war bei weitem nicht die Einzige, die sie in Göttingen so riefen. Dann nannten sie Maria auch »Lichtenbergs Schöne«, und diese Wendung fanden sie so treffend, da Lichtenberg klein, verwachsen und bucklig war. Somit war dies für Maria kein Kompliment, lediglich eine Gemeinheit neidischer, kleinmütiger Geister.
Und durch die Straßen wanderte ein Gerücht von Ohr zu Ohr: »Habt Ihr gehört? Jetzt nach dem Tode gleicht sie sich völlig wieder und die Schönheit ist in ihr Gesicht zurückgekehrt. So blütenfrisch und gesund, wie sie immer war, soll sie als Leiche ausgesehen haben.«
Sie meinten die Rose am Kopf, den Rotlauf, der über das Gesicht gewachsen war und die Schöne entstellte. Und tatsächlich, wie zum Hohn und zum Spott trat die Rose zurück, sobald der Tod da war. Eine mögliche Laune der Natur.
Lichtenberg kam am letzten Tag nicht zu ihr ans Bett, weil er es nicht mehr mit ansehen konnte. Aber Maria zweifelte ja nicht, dass bald alles überstanden zu haben, dass sie bald wieder gesund vor ihm stünde. Die besten Ärzte der Universität hatte er kommen lassen, und diese schworen ihm, bei einer Königin hätte nicht mehr getan werden können. Er glaubte ihnen nicht.
Es dauerte nur acht Tage, dann ging es schnell zu Ende. Im Fieberwahn, der ihr den Geist benebelte und irre machte, schlich sich der Tod gnädig und unbemerkt ein. In der letzten Nacht um halb vier des Morgens rief sie Lichtenberg in einem Moment der Klarheit »Gute Nacht« zu. Hinüber in sein Studierzimmer rief sie, wo er wachte und nicht schlafen konnte.
Es gab auch einen Anfang, fünf Jahre zuvor, in dem Sommer, in dem Marias zwölfter Geburtstag anstand und sie die Schülerin des Professors Lichtenberg wurde. Beide ahnten nicht, wie schnell diese Begegnung sie in diesen Tumult führen würde, den süßen Tumult der Seele, der sie nicht mehr losließ.
Die Stechards waren Leinweber, deren Leben karg war, aber hungern - nein, hungern musste Maria nie. Arm waren viele in der Albani-Gemeinde und die Kinder verkauften Blumen. Von jeher boten sie auf dem Wall die Blumen feil, denn Betteln war verboten. Bereits als Kleine gingen sie mit, bekamen von den Älteren gezeigt, wie man die zarten Stängel der Veilchen und Primeln mit einem Grashalm zusammenband, wie man sie in ein Körbchen auf etwas Gras legte und vor der Sonne schützte. Frisch sollten sie bleiben, bis sie die Spaziergänger trafen, die reich genug waren, ein paar Pfennige zu geben. Das Pflücken der Blumen hinterließ grüne Flecken an den Fingern, die grasig rochen, und der Grasgeruch mischte sich mit dem süßlichen Duft aus dem Korb. Sie gingen mit schnellen Schritten, beflissener Freundlichkeit und wenig Sinn für das Vogelgezwitscher über ihnen in den Linden. Ihre Hände gaben die Blumen und nahmen die Münzen, um die sich die Finger fest schlossen, da dieses Geld heilig war. Jahraus, jahrein zogen sie los, von der Blüte der ersten Schneeglöckchen bis zum letzten Heidekraut, das am Weg zwischen den alten Mauern auf dem Wall stand. Wenn Maria zurückkam in das Haus, das doch fremde Haus, in dem sie nur als Mieter geduldet waren, legte sie das Verdiente auf Heller und Pfennig auf den Tisch. Sie glaubte fest, die Hand müsste ihr abfallen, wenn sie auch nur eine Münze unterschlagen hätte.
In diesem Frühjahr bemerkte man deutlich, sie hatte die Größe ihrer Mutter erreicht. Ihre Kleider passten nicht mehr, und das Schnürleibchen spannte über den Brüsten. Die Mutter gab ihr von ihren Kleidern, was sie abgeben konnte, und sah ihre Tochter dabei an, mit Blicken, als wollte sie sagen:
»Ach, mein armes Kind. Wie soll nur dein Leben werden?“ Doch die Mutter sagte nichts dergleichen, und Maria tat, als verstünde ich sie nicht.
Dabei verstand sie vieles, auch die Warnung: »Pass auf dich auf«, wenn sie auf den Wall ging, dann wusste sie, sie meinten die Männer, die die armen Mädchen für käuflich hielten und für billig, denn die Körper der Armen waren wenig wert. Die Kinder wussten dies alles schon immer, und es wurden keine Geheimnisse daraus gemacht. Man erzählte diese Geschichten über geschändete, geprügelte und gar verschwundene Kinder von jeher, und die Stimmen der Leute klangen dabei so gleichmütig, als unterhielten sie sich übers Brotbacken oder über ihre Legehennen. Und ihr Vater in seiner stoischen Ruhe sagte einmal:
»Die Not trägt viele Gewänder, und wo sie ist, hat man keine Zeit, darüber nachzudenken.« Nun stellte Maria sich die Not als eine üble Person vor, die vielleicht schon vor der Tür stand und jederzeit anklopfen konnte.
1. Kapitel
Der Rhythmus des Webstuhls war der Herzschlag der Weber. Das Klappen der Rechen drang aus den Häusern, durchzog sie bis unters Dach. Abends musste es für Maria als Wiegenlied herhalten, und kaum dämmerte der Morgen, setzten die Webstühle wieder ein. Man arbeitete mit dem lichten Tag. So wäre es immer gewesen, sagte der Vater. So hatte man zu arbeiten. Durch das Fenster fiel Licht auf den Webstuhl. Fasern tanzten in der Luft. Wenn Maria die Kettfäden aufspannte, schlug sie das offene Haar zurück, und man sah ihren langen, feinlinigen Hals. Es war der Hals ihrer Mutter. Beugte Greta Stechard sich am Webstuhl über ihre Arbeit, bemerkte man genau die gleiche Nackenlinie unter den Flauschhärchen, die aus dem Haarknoten gerutscht waren. Die Mutter war vor der Zeit gealtert, war hager und ausgezehrt. Aber Maria war jung, schoss gerade auf, wie die jungen Triebe im Garten. Maria habe auch die Augen ganz wie die Mutter, behauptete die uralte Frau Haberich, die oben in der Dachkammer wohnte.
»Die Farbe von Haselnüssen haben sie«, wiederholte die Alte dann mehrmals, wenn Maria sie über die Treppe führte. Und Maria nickte, auch wenn ihre Mutter mit Stolz über ihre so wohlgeratene Tochter dem widersprach:
»Feiner, viel feiner ist die Farbe von Marias Augen. Wie Karamell.« Und dann erzählte sie, wie sie in einer Backstube einmal zusehen durfte, als man Karamellmaße machte; wie in den gebräunten Zucker die Butter und der Rahm flossen und alles zu dieser feinen Masse verschmolz. Solange sich Maria zurückerinnerte, erzählte ihre Mutter diese Geschichte, und für Maria fügte sie dazu:
»Dann habe ich ein Bonbon essen dürfen, und davon hast du deine karamellfarbenen Augen bekommen.«
Damals, als kleines Kind im Haus in der Geismarstraße, dort, wo Maria aufwuchs und die glückliche, unwissende Zeit ihres Lebens verbrachte, glaubte sie, ihre Augen hätten die Farbe von den Bonbons erhalten, denn ihre Mutter musste es wissen. Eine Mutter weiß alles. Jedem erzählte Maria, ihre Augen seien Karamellbonbons, und ihr Vater sagte manchmal »Zuckerpüppchen«. Er öffnete das Fenster in der Stube, eine schöne Stube hatten sie damals, die zur Straße hinaus lag, und er drehte die Scheibe, damit sie sich beide darauf spiegelten. Dann deutete er auf ihre Karamellaugen und ihre dicken dunkelblonden Locken, die denen ihres Vaters so sehr glichen. Immer mehr erkannte Maria ihren Vater im eigenen Gesicht: die schmale, längliche Form, die ebenfalls schmale, von der Wurzel bis zur Spitze gleichmäßige Nase und die kräftigen Linien um den zu großen Mund, der beim Lachen das ganze Gesicht beherrschte.
Der Vater war ein ruhiger Mensch und lachte selten. Früher scherzte er mit ihr oft ausgelassen und sagte oft »meine Hübsche« zu Maria, aber in den letzten Jahren kaum noch. Maria konnte die bewundernden Blicke fremder Leute nicht als Ersatz dafür anerkennen, und sie ahnte, dass die nachlassenden Liebkosungen eine Folge ihres Heranreifens waren. Ihr Unterleib bestätigte es ihr jeden Monat, und die Burschen in der Nachbarschaft neckten sie und riefen ihr Späße nach:
»Du, bald hol‘ ich mir einen Kuss von dir.“ Oder: »Heut‘ Nacht schau ich dir beim Ausziehen zu.«
Maria warf den Burschen giftige Blicke zu, und mit etwas Stolz über die geschenkte Aufmerksamkeit hob sie ein wenig ihr Kinn.
Die Kaßpühle war eine lange Gartenstraße, die sich am Wall entlangzog. Wo sie auf den Albani-Kirchhof traf, stand eine Gruppe von engen, gedrungenen Fachwerkhäuschen, hinter deren kleinen Fenstern sich das Gesicht der Armut notdürftig duckte, damit man es nicht gleich entdeckte. Das Haus, in dem die Stechards seit zwei Jahren lebten, lag dem Portal der Albani-Kirche genau gegenüber und gehörte einem Tuchmacher namens Justus Vobbe. Ein Mann mit eingefallener Brust und faltig gegerbtem Gesicht war er. An der Stirnseite des abgewetzten Tisches, der unten in der Hausdeel stand, wo sich alle zum Essen einfanden, hatte Vobbe seinen Platz. Wenn die warme Suppe seinen dürren Schlund hinunterrann, begann er zu husten. Seine Frau hatte eine schleppende Stimme, und auch ihr Gang war durch das Wasser in den Beinen träge. Es schepperte immer erbärmlich, wenn sie am Herd mit den Töpfen hantierte. Der ganze Raum war stickig, angefüllt mit dem Geruch von Fett und Kernseife.
Maria saß der alten Haberich gegenüber, die beim Essen die getrübten Augen geschlossen hielt. Öffnete sie die Augen, wollte sie Maria sehen, ihre Frische und Jugend. Sonst gäbe es hier ja nichts Schönes zu sehen. Die Tochter der Vobbes, Betty, stand bereits im Dienst bei einem Kaufmann und wohnte nicht mehr hier im Haus. Maria trauerte ihr nicht nach. Die Zankereien der beiden Mädchen waren zum täglichen Ritus geworden, den nur ihre Väter mit einem Faustschlag auf den Tisch beenden konnten. Als aufsässig wurden sie beide gescholten, auch wenn man sagte, die jungen Mädchen hätten eben ihre Launen. Es läge am hitzigen Alter. Seit Betty fort war, schwieg Maria meist am Tisch.
Der Kopf des alten Haberich wiegte ununterbrochen hin und her. Vom Löffel kleckerte es oft herab, aber er aß geduldig, und seiner heiseren Kehle entwich ein gedehntes »ja - ja«. Einer wischte dann die Tropfen von seinem Kinn, und wenn Maria es tat, wisperte er durch seine Zahnlücken:
»Pass auf, Mädchen, lass dich nicht ins Armenhaus sperren!« Immer wieder durchzuckte es Maria ein wenig. Auch wenn der Alte oft irre redete, so lag doch hierin ein Funken Wahrheit. Arme Kinder wurden oft in das Werkhaus gesteckt, und dort sollten sie arbeiten und arbeiten, von früh bis spät für andere arbeiten. Der Vater, der am Tisch neben ihr saß, tätschelte ihr dann die Hand, und wenn sie ihre Wange an seinen Arm schmiegte, hatte sie keine Angst mehr. Dann lauschte sie auf das, was die anderen erzählten, vom Leben und Arbeiten, vom Geld, das knapp war, von heute und morgen, vom Wetter und von der Ernte. Weiter als über ein paar Monate hinaus rechnete keiner, denn wer wusste schon, wann die nächste Hungersnot käme. Dann zählte sowieso nur der nächste Tag. Maria hatte nur Stimmen und Worte gehört - als Kind. Nun war alles deutlicher, trat näher an sie heran. Wie schön wäre es doch, immer Kind zu sein, nichts zu verstehen. Die Vobbe meinte, dass das Großwerden nicht leicht sei, und trotzdem überstehe es jeder, so Gott will, wenn man gesund bliebe. Keiner könne sein Schicksal bestimmen, sagte jemand. Man würde sehen, welche Bahnen es nehme. Und hier nickte der Vater, während eine Gänsehaut Marias Rücken überzog.
Träume plagten sie in dieser Zeit, von Bettlern, die kein Zuhause haben, von Frauen, die sich verkaufen oder ihre unehelichen Kinder umbringen. Bei Tage schüttelte sie den Kopf über diese Träume, und wenn sie die Leintücher faltete und zu Ballen legte, an denen noch die Wärme aus der Hand des Vaters zu fühlen war, glättete sich das Unbehagen. Aber totschlagen ließ es sich nicht. Maria hatte zuviel nachgedacht.
Solange es ging, wurde an Kerzen gespart. Erst wenn man im Zimmer kaum mehr etwas sah, schloss Greta Stechard den Fensterladen und entzündete die Kerze auf dem Tisch.
Nur oben in ihrer Kammer waren die Stechards unter sich, waren sie eine Familie. Eine Kammer bewohnten sie - nicht mehr als ein Platz zum Schlafen. Die Kalkweiße an den Wänden war porös und über dem Kohlenbecken schwarz überzogen. Aber geschürt wurde nur bei strenger Kälte, und jetzt im Frühjahr kaufte der Vater keine Kohlen mehr. Der große Bettkasten für die ganze Familie stand an der Mitte der Wand. Darauf lagen drei dunkle Wolldecken. Eine Kleiderkiste und die Leinwebergeschirre, das war alles, was ihnen hier gehörte. Dazwischen Flachs- und Hanfballen, Hede und Wolle. Der modrig süßliche Duft der Fasern saß sogar im Bettzeug, überdeckte den Strohgeruch der Füllung.
Dieser Geruch war es, der Maria überallhin begleitete, war das, was ihr blieb, was ihr ein Zuhause vorgaukelte. Diesen Geruch lernte sie in dem Haus kennen, in dem sie geboren wurde. Er hatte sicher bereits an ihrer Wiege gehangen, denn auch dort in der Geismarstraße standen die Spulen und Spindeln im Zimmer, diesem hellen Zimmer, das zur Straße hinaus lag, das ihr auf den kurzen Kinderbeinen unermesslich weit erschien.
Einen Wald von Stuhl- und Tischbeinen gab es dort, voll von Verstecken und Geheimnissen hinter den Schränken. Und immer waren die Röcke der Mutter zur Rettung parat. Dort war ihr Zuhause, in dem Haus des Onkels, des Leinwebers Wilgen. Der war der Bruder der Mutter, und von der Schwester der Mutter erhielt Maria ihren zweiten Vornamen Dorothea. Maria Dorothea hieß sie, und sie glaubte, dort zur Familie zu gehören und Tante Dorothea würde es nicht zulassen, ihre kleine Maria gehen zu lassen. Doch es gab für die Stechards keine Rechte in diesem Haus, denn es war dem Onkel überschrieben, und der heiratete. Es wurde eng, als dann Wilgens Kinder zur Welt kamen, und Christoph Stechard vertrug sich mit seinem Schwager nicht mehr. Er wollte nicht als dessen Geselle gelten, sondern für sich selbst auf eigene Rechnung arbeiten und frei bleiben. Das vor Missgunst knisternde Schweigen zwischen den Männern wurde unerträglich. »Sturschädel« nannte ihn Greta Stechard deshalb, aber ihr Mann verzog dazu keine Miene.
Dieses Haus lag keine fünf Minuten Wegzeit entfernt, und für einen Teller Suppe hütete Maria ab und zu die drei Buben der Wilgens. Dann sah sie die steile Treppe wieder, über die sie damals hundertmal gerannt und sicher ein Dutzend Mal gestolpert und gestürzt war. »Wildfang« und »Sausewind« nannte sie Tante Dorothea, denn Maria war als hüpfendes und springendes Pferdchen verschrien, das darüber hinaus noch die Energie aufbrachte, Fragen über Fragen zu stellen. Von einem zum anderen war sie gelaufen, schmeichelte sich mit herzigem Kinderlächeln ein und begann zu fragen. Warum werden die Kartoffeln beim Kochen weich? Warum ist die Flamme unten blau? Warum zerbricht die Fensterscheibe? Warum wird der Bauch der Tante Wilgen dick? Warum haben alte Leute keine Zähne mehr? Tante Dorothea begann zu stöhnen, und die Mutter sagte:
»Sei ruhig, Kind!« Der Vater hatte die längste Geduld, und wenn er keine Antwort mehr fand, sagte er seinem kleinen Mädchen:
»Das weiß ich nicht, Mariechen. Die Menschen wissen nicht alles auf der Welt.« Und Maria hörte auf zu fragen. Was der Vater nicht wusste, konnte keiner sonst wissen.
Jetzt waren die Buben der Wilgens kleine fragende Quälgeister geworden, die Maria piesackten, und Tante Dorothea lachte mit tiefen Furchen an den Mundwinkeln, die ihre gelbliche Haut durchschnitten. Sie trug seit Jahren dieselben graubraunen Kleider und war immer noch nicht verheiratet. Sie wäre das »Überbleibsel« ihrer Familie, eine Reliquie, die langsam verstaubte.
»Da springt kein Mann mehr für mich raus«, sagte sie Maria, schüttelte den Kopf und wies mit der Schulter abschätzig zum Nebenzimmer.
»Dass die mich bei sich wohnen lassen ...«, womit sie ihren Bruder und dessen Frau meinte, »... ist ein großes Glück für mich. Wo will eine wie ich noch hin?«
Eine Spindel hielt sie in der Hand, wie so viele in der Stadt, und sie spann Kammgarn für die Manufaktur des reichen Grätzel.
»Für ein Zubrot kann ich spinnen, bis mir die Finger bluten. Aber der Staub geht mir auf die Lunge.« Und ihre Faust deutete auf die Mitte der Brust. Bedächtig wischte Maria den Buben den Mund ab und zaghaft entschlüpfte ihr die Frage:
»Warum hast du nicht geheiratet, Tante Dorothea?«
»Nun, ja.« Dorothea legte ihr Kinn zurück und schob ihre Brust vor. »Das könntest du auch deinen Vater fragen. Der wollte ja deine Mutter! Aber ich sagte dir - es gab Momente, da ist ihm die Entscheidung schwergefallen. Nun gut, man kann nur eine Frau heiraten.« Und Dorothea nickte heftig, denn jetzt sollte sie schweigen vor dem Mädchen, das nicht wissen musste, wie ihre Mutter und Dorothea um Christoph Stechard, den einzigen Gesellen im Haus gebuhlt hatten. Sie buhlten mit allem, was ihnen zur Verfügung stand um den stattlichen Mann. Ihre Hitze versengte ihnen den Verstand, und sie gaben sich ganz preis. Bis er Greta heiratete!
»Da bin ich eben übrig geblieben, Mariechen. So ist das. Man muss Glück haben beim Heiraten oder etwas besitzen.« Ein huschender Blick Dorotheas, als hätte sie etwas entdeckt, glitt über Maria hinweg.
»Na ja«, sagte sie schnell. »Du bist ja hübsch. Die Hübschen haben auch eher Glück.«
Mit gesenktem Kopf gelang Maria ein schiefes Lächeln, und im Hals kitzelte sie ein kleiner Kloß. Wie hübsch musste man sein, damit die gähnende Leere ihrer Aussteuertruhe aufgewogen wurde? Dorothea schien sich ihrer eigenen Worte nicht sicher zu sein, und unter den breiten, dunklen Augenbrauen, die denen der Mutter so ähnlich waren, verschlossen sich die Blicke vor Maria. Da war die Spindel in Dorotheas Hand, der Faden zwischen ihren dünnhäutigen Fingern, unter den Nägeln eine Schicht von Fasern, und es wurde Marias eigene Hand, die alt und faltig geworden die Spindel führte, mechanisch, stetig und behände. Spinnen, bis die Finger bluten ...
»So, ich geh jetzt!« Maria stand auf, und der Nachdruck ihrer Stimme ließ Dorothea Wilgen aufhorchen. Hier stand eine junge Frau vor ihr, der man nichts mehr verheimlichen konnte.
Den Buben strich Maria übers Haar, der Tante gab sie die Hand, und schnell zog sie sich die wollenen Socken hoch. Da, schon wieder ein Loch im Strumpf, und es blinzelte über den Rand des Holzschuhs, der auch nicht mehr richtig passte. Ihr lagen noch Betty Vobbes Sticheleien im Ohr, die meinte, wenn die Socken dreimal gestopft seien, käme es nicht mehr darauf an. Bettys Spott konnte bissig sein, und heute war allein der Gedanke daran sauer wie ein Schluck Branntweinessig. Betty hatte gut lachen! Sie arbeitete als Hausgehilfin, bekam zweimal in der Woche Fleisch zu essen, und vom Klappern der Webstühle behielt sie höchstens noch die Erinnerung. Ihr hatte man ein ordentliches Kleid und solide Schuhe gegeben, und die hochgesteckten Haare waren unter einer weißen Haube aus Indienne verborgen. Um ihr ähnlich zu sein, kämmte Maria gerne ihre Haare hoch und bewunderte heimlich die um einige Jahre Ältere.
Mit der Hoffnung, Maria dürfte sich auch bald mit dem bescheidenen Titel einer Hausgehilfin, oder sei es nur einer Küchenmamsell schmücken, hatte ihre Mutter Anfang des Jahres bei Wilgens vorgesprochen. Ob sie nicht öfters kommen dürfe? Maria könne doch mehr arbeiten. Sie habe nun das Alter dazu, und sie sei geschickt und nicht auf den Kopf gefallen! Den Lobreden der Mutter stimmten die Wilgens bei, aber er verkroch sich gleich in seiner Werkstatt und überließ seiner Frau das Reden.
»Nein, wir können uns keine Hausgehilfin leisten«, und sie knetete ihre Verlegenheit in einen Brotteig hinein.
Seitdem war es Maria in diesem Haus nicht mehr traulich zumute, und der letzte Rest familiärer Aura schwand dahin. Fremd wurde es, wie auch die Leute hier fremd waren. Ein neuer Geselle wohnte nun hier, und aus ihrer alten Stube schauten Unbekannte. Eine Frau mit ihrer fast dreißigjährigen, verwachsenen Tochter, die auch beide Garn spannen.
Diese Tochter hatte ganz gleichmäßige, ja schöne Gesichtszüge, und wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel beobachtete, bemerkte man den Höcker auf ihrem Rücken nicht. Es war doch ein seltsames Gebilde, und es gab immer wieder kleine Kinder, die in übermütiger Einfalt einen solchen Buckel einfach begrapschten. Maria fühlte bereits, wie garstig solch ein Übergriff war. Es gab auch Schmerzen in der Seele, und doch war Maria manchmal der Versuchung nahe, die junge Frau zu bitten, ihr die Beschaffenheit eines solchen Buckels zu erklären. Sie schämte sich ein wenig dafür, ging vorbei und verließ das Haus, in dem sie nicht mehr zu Hause war.
2. Kapitel
Die Stadt hatte ihre Ordnung. Der Wall umschloss sie, war Schutz und Käfig zugleich, und die vier Tore waren die Ausgänge. Keiner, der kam oder ging, blieb unbeobachtet, und auch in sich zeigte die Stadt ihre Gesetzmäßigkeit. Im Zentrum lebten am Markt und in den Hauptstraßen die Reichen, die Gebildeten zur Mehrzahl. Maria hatte sich darauf ihren Reim gemacht. So wird es sein, denn wenn man einen Teller mit Getreide schüttelte, blieben auch die guten Kerne in der Mitte, und die Spreu verteilte sich am Rand. Ging man von der Geismarstraße nach Hause in die Kaßpühle vor der Albani-Kirche, war man Spreu. Man lebte am Rand. Die Bäume im Kirchhof legten einen Kranz aus frisch ausgeschlagenem Grün um die alte Kirche. Dazwischen spielte die gleißende, neckende Aprilsonne über die Dachschindeln. Die Sonne täuschte nur Wärme vor, der Wind verwehte ihr die Haare, und Maria zog sich ihr Tuch fester um die Schultern. Unter den Bäumen im Kirchhof lag ein frischer Erdhügel, um den die kleine Tochter des Totengräbers herumhüpfte. Der Totengräber Keyser selbst war in der ausgehobenen Grube nicht mehr zu sehen, schaufelte schweigend die feuchte Erde nach oben. Winkend rief das Mädchen Maria zu sich, sie solle mitspielen. Beim Totengräber Keyser hatten die Stechards auch schon eine Weile gelebt, und Maria kannte die Kleine gut, die nun in ihrer für Maria beneidenswerten, glücklichen Unwissenheit auf die alten, dunklen Knochen wies, die ihr Vater ausgehoben und ordentlich nebeneinander gelegt hatte. Schließlich folgte ein Schädel, und das kleine Mädchen ergriff ihn in den tiefen Augenhöhlen. Maria, nach einem ersten Unbehagen ebenso neugierig, lachte auf, als die Kleine auf den Schädel deutete und aufzuzählen begann:
»Die Augen - die Nase - die Zähne.«
Zu guter Letzt rannte sie mit dem Schädel unter dem Arm lachend über ein Treppchen hinunter zum Ziegenmarkt. Ein schönes Spiel war es, und vor Marias Rufen wegzurennen, gehörte dazu. Dass Maria über die aufgeworfene Graberde gestolpert war, sah sie nicht mehr. Benommen rieb sich Maria die lehmverschmierten Knie und rief nach Keyser.
»Sie rennt zur Straße! Schnell!« Aber nichts ging schnell! Der Schmerz zuckte in Marias Knien, und lange, so entsetzlich lange brauchte Keyser, bis er aus seiner Grube kletterte. Längst überquerte seine Tochter die Straße. Ein Fuhrwerk mit zwei schweren Gäulen passierte gerade das Albani-Tor. Das Getrampel der Tiere war laut, lauter als der Herzschlag des Vaters, lauter als Marias Atem. Das Fuhrwerk rollte über den Schädel, die Hufe traten ihn in Stücke. Als sich der ratternde Wagen stadteinwärts entfernte, stand auf der anderen Straßenseite das Mädchen, hüpfend und winkend.
Bleich und stumm nahm der Totengräber sein Kind auf den Arm und trug es heim. Seine Arbeit beendete er an diesem Tag nicht mehr, und Maria sammelte mit blutenden Knien die Teile des Schädels auf und legte sie behutsam zu den anderen Knochen. Konnte es sein, dass ihre Finger dabei zitterten? Ja, ganz leicht bebten sie mit dem Herzschlag. Auch noch in der Kammer zu Hause, wo sie die aufgeschürften Hände in die Waschschüssel legte, und ihr die Mutter die Knie wusch. »Entsetzlich« nannte die Mutter diesen Zwischenfall, aber Gott sei Dank, sei das Kleid nicht zu Schaden gekommen. Ja, das Kleid war wichtig, das einzige Kleid, das Marias Beine noch gut bedeckte.
Maria legte es am Abend sorgfältig über einen Stuhl, bevor sie zu Bett ging. Heute blieb sie auf dem Rücken liegen, obgleich es für sie ungewohnt war und ihr das Einschlafen schwer machte. Steif wie ein Brett blieb sie, konnte sich nicht wie gewohnt einrollen gleich einem Kätzchen im Schoß. Das Zucken in den Knien hatte nachgelassen, und auch ihre Hände waren ruhig. Daran konnte es nicht liegen. Das Wispern und Tuscheln der Eltern säuselte durchs Zimmer und nahm kein Ende. Aus dem Nebenzimmer bellte Vobbes Husten, und draußen im Garten zankten sich Amseln. Eine andere trällerte laut und vernehmlich wieder und wieder ihre Melodie über die Dächer, bis es dunkel war. Der gelbe, spitze Schnabel des schwarzen Vogels wanderte mit hinüber in Marias Schlaf, begann auf der lehmigen Erde zu picken und holte sich Gewürm heraus. Und der Vogel gelangte an den Schädel, der auf dem Erdhügel ruhte, schlug tönern die Schnabelspitze an, steckte den Kopf in die Augenhöhle und zog einen Faden gesponnenen Garns ans Licht. Ein unendlicher Faden wurde es, der sich herauswand, von selbst auf eine Spule sprang, die sich drehte und drehte, und aus der anderen Augenhöhle trat ein neuer Faden hervor. Auch er spulte sich auf, war unendlich lang, nahm kein Ende, und doch blieben die Spulen fast leer, so hastig sie sich auch drehten und den Faden aufnahmen. Maria und die Totengräberstochter beschlossen, den Schädel zu zerschlagen, und just in dem Moment, in dem er in Brüche ging, endete der Faden. Die Mädchen lachten, bis Maria Blut an ihren Beinen sah. Es klebte nicht an den Knien, sondern tropfte von weiter oben herab, und das kleine Mädchen fragte Maria, was sie denn habe.
»Nichts«, sagte Maria, »was dich etwas angeht. Sei froh, dass du das nicht weißt.« Und die Kleine, zufrieden mit dieser Antwort, lachte ihr unschuldiges Kinderlachen, dieses unwissende, glückliche Lachen, um das Maria sie so beneidete.
3. Kapitel
Maria schätzte ihre Gabe, unangenehme Träume am Tage beiseite kehren zu können wie Schmutz vor der Tür. Der Erdhügel im Kirchhof war bald verschwunden, und sie ließ ihren Traum mit begraben.
Die Gräber umgaben die Kirche, die nur aus Steinen bestand, aus Mauern wie jedes andere Haus. Außer einer gewissen Erhabenheit der hohen Wände, die im Innern der Kirche zwischen den Pfeilern die Stimme verhallen ließen, und trotz ihres Respekts vor dem Altar empfand Maria wenig Rührung im heiligen Raum. Es schien ihr, als sei am Rand der Stadt auch dieser Gott weniger wert als im reichen Mittelpunkt.
»Der Pfarrer und andere Gelehrte können über ihn reden, wir können ihn nur bitten und anflehen«, sagte Christoph Stechard gleich einer Erläuterung zum Sinn und Zweck des Kirchganges, bevor sie das Haus verließen. Draußen auf der Straße hob er den Kopf der Kirche entgegen, als bereite er sich auf einen geheimen Kampf vor. Und so waren die Kirchenbesuche für Maria eher ein Bittgang zu einem feindlichen Wesen, das man durch regelmäßige Glaubensübungen wie Beten milde stimmen wollte. Maria gab sich redlich Mühe, dem nachzukommen, wollte aufrichtig den Worten des Pastors folgen, was ihr aber selten gelang. Nur über die Hälfte der Sätze nachzudenken, hätte den ganzen Sonntag beansprucht und zu nichts geführt. So saß sie mit züchtig im Schoss gefalteten Händen in der durch und durch von Modergeruch durchzogenen Kirche und lauschte. Wenn es windig war, störten zuschlagende Fenster die Andacht. Im letzten Krieg hatten die Franzosen die Kirche als Futterdepot missbraucht, und beim Auffliegen eines Pulvermagazins in der Nähe waren Risse im Mauerwerk entstanden. Durch diese rieselte nun bei Sturm und Gewitter leise Sand, und die Gemeinde richtete furchtsame Blicke nach oben.
Auf Marias Gesicht waren ebenfalls besorgte Blicke gerichtet. Ganz deutlich fühlte sie es, so wie zu Hause, und noch ehe sie sich zur Seite wandte, war sie sich sicher, dass ihre Mutter sie ansah. Dieses bekümmerte Schauen und Betrachten konnte sie nun fast jeden Tag an der Mutter entdecken. Wenn Maria aus dem Haus ging und wenn sie zurückkam, fühlte sie diese Blicke. Musternd und fragend hingen sie an Marias Körper bei der Arbeit, beim Weben, beim Putzen, beim Essen.
Schon wie Maria den Löffel zum Mund führte, mit weiblicher Geste, oder sich mit Ernst über eine Sache äußerte. Kein unbedachtes Aufjauchzen schrillte mehr durchs Haus, und die Pausbäckchen waren längst zu Rosenwangen geworden. In den Augen dieser Spritzer von Stolz, den Greta Stechard so gut kannte. O ja, sie kannte diesen Stolz, den sie selbst in sich trug wie einen heimlichen Schmuck, den man sparsam zeigte, nur am rechten Ort. Auch war da dieser eiserne Wille, der verborgene Trieb, den eigenen Kopf durchzusetzen, nicht mit Trotz, sondern still, geduldig, ja auch mit etwas Berechnung auf Vorteile. Nein, dumm war ihr Kind nicht! Wie die Mutter, die damals ihr Ziel verfolgte, vor ihrer Schwester die Braut Christoph Stechards zu werden. Stechard hatte nichts zu bieten außer seiner schönen Erscheinung, die seine etwas behäbige Art wettmachte, und hinter seiner Schweigsamkeit vermutete jedermann Klugheit. Allein der Gedanke, von diesem Mann ein Kind zu bekommen, ließ Greta das kurze, trügerische Glück im verborgenen Heuschober als das Höchste auf Erden erscheinen. Ein Kind von diesem Mann musste ein Goldstück sein! Und so hatten sie nun nichts außer diesem Goldstück, ihrem Mädchen, das heranwuchs, aß und Kleidung brauchte. Greta Stechard kam sich schlecht vor in den Momenten, in denen sie dachte, es hätte besser ein Junge sein sollen. Ob armer Junge oder armes Mädchen - war es nicht gleich? Trotzdem, wenn sie ihre Tochter so sitzen sah, wollte sie sie beschützen vor diesem hinterhältigen Leben, das einer Frau doch viel übler mitspielen konnte als einem Mann. Ha, wie schnell hat man ein Kind im Bauch! Daher hatte Greta Stechard sich und ihrer Tochter Strenge auferlegt, da sie das Wesen der Unvernunft kannte.
Nun sprach Maria manchmal vom Heiraten, und neulich, nach dem Kirchgang, unten am großen Tisch, erwähnte sie die Dorothea, die leider keinen Mann bekommen hatte. Leider! Wieso sagte sie leider? Dann fragte Maria ihren Vater, ob sie in zwei Jahren zu ihrer Konfirmation ein gutes Kleid bekommen könnte, und der Vater löffelte stumm, zuckte die Schultern, als wisse er darauf keine Antwort, als gäbe es keinen Zweifel daran, dass dies ein unerfüllbarer Wunsch war.
»Was denkst du an solche Sachen?« Der Mund der Mutter wurde schmal und starr. Hart wischten die Worte einer Ohrfeige gleich über Maria hinweg.
»Was redest du vom Heiraten, Kind? Dorothea hat nicht geheiratet und viele andere auch nicht. Du bist arm und wirst dir keinen Mann aussuchen können. Schlag dir die Gedanken daran aus dem Kopf!«
Der Strenge der Mutter konnte Maria selten etwas entgegenhalten. Die Mutter wusste, was sie sagte. Aber an diesem Tag rannte Maria vom Tisch weg hinaus auf die Straße, flüchtete wie ein Schaf, das sein Siegel eingebrannt bekam und erst Schritt für Schritt den Schreck überwand.
So war die Mutter, ehrlich und streng, und sie konnte auch Marias Tränen trocknen, mit Güte, die genauso ehrlich war. Sie legte Maria den Arm um die Schultern, als sie wieder zurückgefunden hatte und neben ihr am Tisch saß. Aus der Werkstatt tönte das Klappen der Webstühle, der schlurfende Schritt der Frau Vobbe entfernte sich, und Maria blieb mit ihrer Mutter allein im Raum, die sagte:
»Es wird alles werden, Kind, aber falsche Hoffnungen bringen dir nichts ein. Wir verhungern schon nicht, und in allem andern müssen wir uns eben bescheiden.«
Dieses Wort »bescheiden«, hatte für Maria den trockenen, spröden Beigeschmack einer Hand voll Heu. Es lag ihr auf der Zunge, diese ewige Bescheidenheit bei der Mutter anzuklagen, doch Klagen vertrug die Mutter nicht.
Wir müssen uns bescheiden! Dies sagten die Mutter, der Vater, die Vobbe, der Pfarrer, der alte Schuster Mund, der Schneider Tollen, der Briefträger Schilling, der genügend Trinkgelder bekam, und sogar die Dirnen, die die Studenten und Handwerksburschen ansprachen, sagten, man solle sich bescheiden, wenn einer ablehnte.
Bescheidenheit erschien Maria als schwere Aufgabe, zumal sie fast jeden Tag die flanierenden, feinen Mamsellen auf dem Wall sah, die bei jedem Sonnenstrahl ihre Fächer und Schirmchen öffneten, unter sich tuschelten und ulkten, wenn die Studenten vorbeigingen. Sie hingen am Arm ihrer aufmerksamen Verehrer oder ihrer Brüder und Väter, den stattlichen Familienoberhäuptern, den Herren Assessoren, Professoren, Hof- und sonstigen Räten, und ließen sich von ihnen die Welt erklären oder reisten mit ihnen nach Hannover oder Hamburg. Wenn deren Mütter von Bescheidenheit sprachen, ging es wohl darum, den Perückenmacher nicht öfter als notwendig kommen zu lassen, damit die Eitelkeit gezügelt würde. Vornehmlich drüben im Westen, wo die Alleestraße auf den Wall traf, fand man die Reichen der Stadt, und es war der Platz, an dem der Verkauf der Blumen den besten Ertrag brachte. Gütige, ältere Damen streichelten Maria süßlich lächelnd über den Kopf und flöteten:
»Wie nett!«, und »Welch hübsches Kind!«
Maria dankte und knickste. Sie knickste auch, wenn ihr die Herren mit Daumen und Zeigefinger in die Backen zwickten, wie man es bei Kindern so tut. Bei denen, die in die hinteren Backen zwickten, schwieg sie. Rot wurde sie dabei längst nicht mehr. Ein wenig Stolz zu zeigen, hatte sich besser bewährt. Etwas erwidern durfte man bestenfalls bei den gemeineren Männern, ansonsten sollte man jedes Wort bedacht aussprechen und sich bescheiden.
So trug Maria diese Bescheidenheit, die man von ihr forderte, auch hinüber in die Albani-Schule, in den sparsamen Unterricht des Opfermanns, des Küsters, dessen Wohnhaus als Schule diente. Nicht mehr als eine gestreckte Bibelstunde hatte er zu bieten. Das bisschen Brot für den Geist, das man den armen Kindern anbot, damit sie die rechte Kenntnis als Duldende in der Welt erhielten, war das Lernen der Psalmen, die sie nur noch herunterschnatterten. Zäh war dieses Brot, aber Maria und die anderen nahmen es hin.
Der alte Herr Pastor hatte die Aufsicht über den Unterricht und übte seine Milde redlich. Er senkte seine Blicke vor den Unflätigkeiten, die seine Schützlinge von sich gaben, doch er nahm sich als Hirte ernst und besaß auch einen Rohrstock, mit dem er seine Schafe zurechtwies. Nicht wenig Kraft verwandte er darauf, er war ein großer Mann, und seine Hiebe trugen die Wucht einer einsamen, unzufriedenen Seele in sich. Unter Armen lebte er, die ihm mit Ehrfurcht begegneten, jedoch den Menschen nicht als Ihresgleichen ansahen. Ein Studierter war er halt, der Herr Pastor, und aus den Augen der Gemeinde starrte ihm dieselbe verwunderte Leere entgegen, die ihm auch die Schüler zeigten, wenn sie von ihren Eltern überhaupt in den Unterricht geschickt wurden.
Glücklich waren die Tage, an denen die Schüler ihrer Langeweile nicht entkamen und sich Gähnen breit machte. Verflucht waren die Tage, an welchen sie wie vom Hafer gestochen erschienen, und es war wie verhext, wenn das Nahen der warmen Jahreszeit zu fühlen war. Da grölten sie schon auf dem Schulweg, und im Unterricht hagelte es Witze und Frechheiten. Kopflos verlor der Opfermann die Gewalt über die Herde, und er schlug auf seine Zöglinge ein, verfluchte sein Amt und seine Aufgabe. Die Geschlagenen duckten sich, und aus den anderen Bänken quoll prustendes Gelächter. Die Mädchen kicherten oder kreischten wie Gänse. Maria saß immer mit der gleichaltrigen Tochter des Briefträgers Schilling beisammen, die beim Lachen einen hochroten Kopf bekam. Quietschte die Kreide auf der Schiefertafel, kiekste ihre Stimme kurz auf wie bei einem getretenen Hündchen. Die Köpfe steckten die beiden zusammen und wisperten und kicherten, auch wenn es nichts zu kichern gab. Wenn heute ein Tag zum Lachen war, so sollte man lachen! Es gab sonst wenig zu lachen. Der Rohrstock auf der Hand war nicht zum Lachen, und trotzdem schallte wieder Gelächter aus der Kehle. Und wenn dem Opfermann vor Wut das Wasser in die Augen stieg, war das auch nicht humorig, und dessen ungeachtet konnte man noch auf dem Heimweg nach der Schule diesen Anblick furchtbar lustig finden.
Alle rannten über den Kirchhof, die Jungen johlend, die Röcke der Mädchen wehten leicht und ausgelassen um die nackten Knie. Nichts konnte heute Marias gute Laune dämpfen, und doch, noch bevor sie den Kirchhof verlassen hatten, sah Maria Betty Vobbe von der Wendenstraße her um die Ecke biegen. In dem Korb, den Betty bei sich trug, befanden sich vermutlich Leckerbissen, die sie ihren Eltern mitbrachte. Maria durfte davon kosten, wenn ihr Bettys Laune diese Gunst gewährte, und beim Mittagessen würde sie zum Überfluss vor Marias Nase sitzen.
»Na so was, die Betty«, riefen die Jungen und die Söhne der bettelarmen Witwe Angerstein, denen die Kleider nur noch als Fetzen vom Leib hingen und ihnen jede Würde raubten, begrüßten Betty mit Pfiffen. Der Älteste klatschte in die Hände und rief:
»Hey, Betty, wie viele englische fucking Stuffs hast du schon gehabt? Hä?«
Betty warf den Kopf zurück.
»Saubande!«
Die Mädchen bogen sich vor Lachen.
»Meinst du, sie treibt es wirklich mit den Engländern, die bei ihr im Laden verkehren?«, fragte Christiana Schilling. Genüsslich zuckte Maria mit den Achseln. »Wer weiß?«
Eine andere rief unüberhörbar: »Na sicher verkehrt sie mit ihnen, speziell im Lagerschuppen.«
Schnaubend wandte sich Betty vor ihrem Elternhaus noch einmal um.
»Ach, ihr Schandmäuler! Ihr werdet froh sein, wenn ihr überhaupt einen anständigen, sauberen Schwanz in eurem Leben kennenlernt!«
Unter »Buhs« und »Pfuis« löste sich die Gruppe auf, und Maria folgte Betty ins Haus.
Drinnen setzte Betty eine herablassende Miene auf, die ihre Erregung verbergen sollte. Erstaunlich wenig sprach sie heute und warf begutachtende Blicke auf Marias oberste Hemdknöpfe, die offenstanden.
Nach der Mahlzeit holte sich Betty bei der Ziege im Garten einen Schluck Milch. Sie schob die störrischen Hinterbeine des Tieres geschickt zur Seite, und das Euter ließ die Milch reichlich in die Schale sprudeln. Ein weißes Bärtchen blieb auf Bettys Oberlippe zurück und fast bemerkte sie Maria nicht, die mit Wäsche unter dem Arm plötzlich neben der Ziege stand.
»Na, trägst auch schon das Hemd offen?«, stichelte Betty keck und wischte sich die Milch ab.
»Bei der Wärme, ja. Und? Sind die Engländer wirklich so sauber?« Maria legte die Wäsche in den Waschtrog.
Bettys zunächst scharfer Blick wandelte sich in verschmitztes Grinsen.
»Ach, Maria - wenn man wüsste, dass es einer ernst meint. Aber ich warne dich, halt bloß dein dummes Schandmaul! - Eigentlich geht dich das gar nichts an!«
»Freilich geht‘s mich nichts an. Aber hast du keine Angst? Was, wenn dir einer ein Kind macht?«
»Ach weißt du, die Aufmerksamkeiten, die Geschenke, die Küsse, das ist eben schön. Und wenn einer mal unter die Röcke will - was soll‘s.« Bettys Augen waren beim Lachen nur noch schmale Spalten, und ihre roten Backen stachen gegen die weiße Haube stark ab.
Jedes Mal wenn sie zu einem ihrer nun seltenen Besuche ins Haus kam, schien sie älter, eigentlich müde, der langsamen Art ihrer Mutter immer ähnlicher. Und so leichthin sagte sie: »Was soll’s.«
Marias Hand kraulte den Nacken der Ziege, und Betty griff nach dieser Hand.
»Ich sag dir das nur, weil du kein Kind mehr bist. Man kann nicht früh genug Bescheid wissen. Gesund müssen die Burschen aussehen, wenn du dich mit einem einlässt. Nicht schwindsüchtig oder verhurt dürfen sie sein. Aber manche tragen die Franzosenkrankheit mit sich rum und sehen selber aus wie das blühende Leben. Elende Sauwedel! Unsere lieben Engländer, die sie uns zum Studieren schicken, sind da keine Ausnahmen. Lass bloß keinen im Glauben, du gehst gleich auf alles ein. Zier dich ruhig ein bisschen. Am besten warte so lange wie möglich damit. So, und jetzt halt bloß dein Maul! Ich hab dir nichts erzählt. Bye, Mary!« Sie erhob sich, wischte mit der Schürze die Milchschale aus und ging ins Haus.
Eher wäre Maria die Zunge verfault, bevor sie Betty einen Dank gesagt hätte. Wo Stolz auf Stolz trifft, schlagen Blitze. Doch Maria gestand sich ein, einmal mehr von Betty beeindruckt worden zu sein. Allerdings, alles, was Betty sagte, trug einen bitteren Unterton, als verachtete sie die Männer. Verachtung lag oft in den Stimmen der Erwachsenen, und so wird Betty wohl erwachsen sein.
In der Werkstatt setzte ein Webstuhl ein, dann der zweite, und das klappernde Duett zerriss Marias Gedankengang. Sie runzelte die Stirn, nahm ein Rufen wahr, das sie erst nach zweimaliger Aufforderung hörte. Drei Gärten weiter stand Christiana Schilling am Zaun. Maria solle schnell kommen, sie müssten auf den Wall.
»Die Leute gehen spazieren bei der Sonne, haufenweise!« Natürlich, Christiana hatte Recht. Langsam kam Bewegung in Maria, und sie holte den Korb.