Читать книгу Hüben und drüben Davor und danach - Beate Morgenstern - Страница 3
I. Urbanstraße 104 A
ОглавлениеDer Zug näherte sich der Grenze im Thüringisch-Fränkischen. Die Berge rückten aneinander. Kaum Platz zwischen ihnen für einen Weg, ein Schienenbett. Man konnte nur noch hinaufschauen. Seit ihrer Kindheit hatte sie nicht mehr auf so hohe Tannen gesehen.
Lange hielt der Zug. Dann waren die Dörfer noch beinahe genauso, wenn die Häuser auch in besserem Zustand. Und man sprach wahrscheinlich noch immer denselben Dialekt.
Besuchsgrund? Die Aussprache nur dieses einen Worts verriet den jungen Grenzbeamten als aus dieser Gegend stammend.
Beruf?
Und warum tragen Sie die schwarze Armbinde?, fragte sie zurück.
Für unsere in Frankfurt erschossenen Kollegen.
Sie hatte in den Nachrichten davon gehört, dass es bei einer Demonstration gegen den Flughafenausbau, den Bau der Startbahn West, zu Tumulten und diesem Unglück gekommen war.
Sie war wieder allein, schaute wieder in die Landschaft, grübelte. Nichts anregender für sie, als weite Strecken allein mit dem Zug zu fahren. Da kam sie zu Gesprächen mit sich selbst. Worauf es mir ankommt, dachte sie, während sie immer weiter hinausschaute auf Wege, Brücken, Felder, Wiesen, als erhielte sie von dort Antwort. Zusammenhänge sind mir wichtig, sagte sie langsam in sich hinein und fand nach einigem Nachdenken, dass man wohl so bezeichnen konnte, was ihr Inneres im tiefsten bewegte. Alles hat einen Sinn. Es existieren geheime Zusammenhänge zwischen allem Leben und scheinbar toter Materie. Sie war offenbar nicht weit davon entfernt, an Fügung zu glauben. Dass sich etwas zueinander fand aus geheimer Anziehung. Auch das wie zufällige Aufeinandertreffen macht einen Sinn. Wenigstens dem im Nachhinein hinterherzuspüren!, dachte sie.
Sie döste, schlief ein in bequemster Lage. Der Schaffner hatte ihr gezeigt, wie sie die gegenüberliegenden Sitze zusammenschieben konnte. Einmal schaute sie auf. Hier wollte die Kollegin mit ihrem Mann, einem emeritierten Professor, aussteigen. Nach der Zollkontrolle auf dem Bahnhof war sie geradewegs in die Arme der auf ihren Mann wartenden Kollegin geraten. Sie hatten sich für den Speisewagen verabredet, dort auch lange gesessen. Die Kollegin zu einer Lesereise unterwegs.
Das erste Mal?, hatte sie mit unverhohlener Neugier gefragt. Sie hatte gleichmütig geantwortet, war dann aufgeklärt worden, dass die Männer auf der anderen Seite so viel höflicher und so weiter seien. Und ihr eigener Mann, der ja aus dem Osten stammt wie sie?, hatte sie gedacht. Sie öffnete das Fenster, suchte in der Menschenmenge vergeblich nach dem Paar.
Der Zug hielt nun oft. Die Ortschaften so viel aneinander und wie ganz neu. Sie war die Menschenleere zwischen Siedlungen aus kleinem Land gewohnt und Alterung der Ortschaften. Dann fuhr der Zug in den Kopfbahnhof ein. Sie nahm ihre Tasche, stieg aus.
Hertha am Ende des Bahnsteigs. Sie sah schon stehen in ihrem Cape, groß, leicht gebeugt mit den kurz geschnittenen grauen Haaren. Die Tante hatte sich ausgebeten, sie bloß Hertha anzureden. Auch ihre Söhne redeten sie so an. Hertha allen neuen Ideen aufgeschlossen, hatte sich sogar zeitweise tatkräftig für die damals linken Ideen ihres jüngeren Sohnes interessiert. So jedenfalls die Familiensaga. Wir nehmen ein Taxi, entschied Hertha. Sonscht kannsch zu Fuß laufen. Gradwägs durch den Park. Aber bei dem Regen!
Ich kenn das hier, sagte sie, als sie aus dem Bahnhof trat. Ich muss hier gewesen sein. Mir ist, als hätte jemand hinunter auf die Stadt gewiesen und davon gesagt, sie liege im Kessel. Ich habe die Erinnerung, unten flimmerte es vor Hitze. Kann sein, das Wort Kessel hat diese Vorstellung hervorgerufen. Sie sprach viel und schnell. Wie aufgeregt sie nun doch war! Aber nicht wegen des Unbekannten, sondern der - vielleicht eingebildeten - bekannten Bilder.
Wirst bei der Lis gewesen sein. Wir haben zu der Zeit noch in Waldorf gewohnt.
Hertha gab dem Fahrer eine geringe Summe und nichts darüber. Der Fahrer hatte wegen Umleitungen Nerven bewahren und Entschlossenheit zeigen müssen. Er kam nicht auf sein Geld, sagte das auch. Wie sich seine Sprache anhörte. Schon Herthas Sprache war ihr immer wie ein Stück Heimat gewesen. (Wie viele Heimaten sie durch Kindheit an verschiedenen Orten hatte. Eine schwäbische gehörte auch dazu.)
Der Regen hatte nachgelassen. Sie gingen an einem großen Haus vorbei in einen Hof. Überrascht sah sie einen efeubewachsenen Hang hinauf. Unten abgetragen. Eine Mauer hielt den Hang. Oben auf einer Terrasse ein Haus, nicht so groß, und ein schmaler langer Garten. Auf halber Höhe der steilen Treppe ein zweites, sehr kleines Haus. Sie musste erst einmal schauen, ehe sie weiterging. Keiner hat mir gesagt, wie schön ihr wohnt! Mitten in der Stadt!
Das hab ich mir auch überlegt, dass ich nie davon erzählt hab und du gar nicht weißt, wie wir wohnen, sagte Hertha. S´ war ein Wahnsinnsglück damals. Niemand glaubte, dass wir hier im Osten der Stadt ein Haus kriegen. Das Geld haben wir natürlich auch nicht gehabt. Aber wir haben´s rischkiert. In Herthas Gesicht erschien das ihr eigentümliche Lächeln. Als wisse sie sehr viel, aber gäbe nur einen Bruchteil ihres Wissens preis.
Vom Herrn Erleuchtete hatte sie so lächeln sehen. Doch Hertha nahm, soviel ihr bekannt war, nicht in Anspruch, erleuchtet zu sein.
Ich halt nix vom Spare. Schulden haben wir unser Leben lang gemacht, fuhr Hertha fort. Übrigens, das ist amal ein Weinberg g´wesa. Nach dem Krieg, als das große Mietshaus davor in Trümmern lag, hat sich der Besitzer auf seinem Weinberg aus den Ziegeln des alten Hauses und was er sonst in der Gegend fand ein neues gebaut. Fantastisch!
Hertha schien von ihrer Begeisterung befriedigt.
Auf halber Höhe der langen Treppe setzte sie Hertha vor dem Gartenhaus ab. Das Fundament reichte bis hinunter zum Hof, war auf einem Gebäude errichtet, das vielleicht als Waschhaus oder Garage oder als Lager diente. Das Gartenhaus zum Domizil für Gäste ausgebaut, gasbeheizt. Sie betraten den einzigen Raum. Warmfarbige abstrakte Bilder aufgehängt. Originale selbstverständlich. Hertha und Heinrich sammelten. Im hinteren Teil das Bad.
Komsch nachher zum Heinrich hoch, gell, sagte Hertha. Und morgens bringscht die Zeitungen mit rauf. Sie wies die Treppe hinunter in den Hof auf einen offenen runden Blechbehälter an der Mauer unterhalb des Gartens. Der Heinrich brauch zum Frühstück seine Zeitungen! Hertha ließ sie allein.
Dann war es Abend, der Vorabend von Herthas siebzigsten Geburtstag. Sie mit Hertha und Heinrich allein in ihrem Haus. Dieses nicht so groß, aber großzügig durch den zweigeteilten hohen Raum, der den größten Teil der Fläche im Erdgeschoss einnahm. Heinrich deutlich älter als Hertha. Ein feiner, alter Herr, zierlich. Er ging etwas gebeugt mit kleinen Schritten. Seine Hände zitterten. Das ist die Krankheit, sagte Hertha leise. Doch seine Sinne vollkommen wach. Eine stille Freundlichkeit kam von ihm, die Frauen ganz sicher immer für ihn eingenommen hatte. Sie jedenfalls verstand, was Hertha über ihn und seine Verhältnisse zu Frauen gesagt hatte, lachte, als sie daran dachte, dass der Vater, auch die Mutter, verzweifelnd wegen ihres angeblichen Eigensinns ihr gedroht hatten: Du kriegst nie einen Mann. Und wenn, dann höchstens einen Prinzgemahl wie Tante Hertha! So wenig wussten die Eltern von der Beziehung zwischen Hertha und Heinrich! Ungewöhnlich, wie ruhig Hertha saß und - an einem Pullover trennend - zuhörte. Das Strickzeug zu Hertha nicht passend. Sie erklärte, das sei eine alternative Tätigkeit und für sie deshalb von Interesse.
Am Geburtstagsmorgen Hertha zunächst in die oberen Gemächer verbannt, wo sie endlos telefonierte. Heinrich erklärte: Wegen ihrer Asylarbeit. Er setzte hinzu: Wenigstens heute könnte sie doch ...! Er sprach seine Kritik nicht bis zu Ende, schüttelte ärgerlich den Kopf. Heinrich in einem dunklen Anzug mit Weste, Schlips und weißem Hemd, volles weißes Haar, kleiner Schnurrbart, sehr blauäugig. Wie hübsch er aussah! Seine Nichte schon aus Tübingen angereist und tätig.
Eine sehr ansehnliche, schlanke Frau Ende vierzig. In zwei Körben hatte sie alles Notwendige für ein außerordentliches Frühstück mitgebracht. Heinrichs Hände zitterten noch mehr als sonst. Offenbar war seine Anspannung groß, dass alles richtig gemacht wurde und der morgendliche Festakt ordentlich verlief. Dennoch beharrte er gegenüber der Nichte auf dem gewohnten Teil seiner Hausarbeit. Ihr war schon am Abend aufgefallen, wie Heinrich mithalf, den Tisch abdeckte, den Geschirrwagen in die Küche fuhr. Sehr langsam ging er, setzte Fuß vor Fuß. Geduld brauchte es, das mit anzusehen. Nie hätte sie Hertha Geduld zugetraut. Geradezu pädagogische Fähigkeiten bewies sie im Umgang mit Heinrich.
Durch die geöffnete Glastür am Eingang des zweigeteilten großen Raums sah sie Hertha die Treppe herunterkommen. Als sie eintrat, blickten alle auf sie. Sonst in langen, weiten Gewändern, mit schwerem Silberschmuck behängt, erschien sie heute in einer Bluse aus sicher sehr edlem Material zu gut geschnittenem, langem Rock. Sie sah aus wie im Sonntagsstaat, bürgerlich. Aber auch im Sonntagsstaat beeindruckte sie. Und dass sie wegen eines Rückenschadens etwas gekrümmt und manchmal fast schwankend lief, minderte den Eindruck nicht.
Hertha blickte auf die festlich gedeckte Tafel in dem zum schmalen Garten hin gelegenen Teil des Raums. Hübsch habt ihr´s gemacht. Ich dank euch!, sagte sie, ging zur Barockkommode, die den besten Platz im Raum hatte, an der Stirnseite neben der Glastür zum Garten. Die Barockkommode eine der beiden mobiliaren Kostbarkeiten. Vorn am Eingang ein großer, schwerer Schrank. Auf der Kommode Blumen und die ersten Geschenke. Ihres ein Bildband. Was konnte man einer Verwandten, auch für hiesige Verhältnisse wohlhabend, schon schenken, kam man von drüben!
Sie sagten Hertha ihre Glückwünsche, die umarmte sie, was sie sich mit stiller Rührung gefallen ließ. Diese Gefühlsäußerung der sonst eher herrscherlichen Frau für sie neu.
Es klingelte. Die Nichte stand auf.
Paul!, sagte Hertha, erklärte Paul sei zum Frühstück eingeladen, brächte für nachmittags Kuchen mit. Seine Frau eine Schwester aus Herthas altem Krankenhaus.
Paul begrüßte Hertha. Viel Glück und Gesundheit!, sagte er.
An seiner Seite seine kleine finster blickende Tochter. Wie ein Bub!, meinte Hertha.
Das Frühstück konnte beginnen. Kaffee, Tee wurden ausgeschenkt. Die Kleine trank Milch. Kaum hatte Hertha einige Bisse getan, musste sie schon zur Barockkommode, um ein Spielzeug für das Mädchen zu holen, kramte, trug dann über der Hand, der Arm hochgereckt, eine hölzerne Schlange, deren Glieder sich durch ein stark haftendes Band endlos bewegte. Die Schlange machte die Runde, ehe es das Mädchen bekam, das sich auch durch diese Gabe zu keinem Lächeln verleiten ließ. Das Telefon läutete. Und noch einmal und immer wieder. Das Essen, für Hertha offenbar sowieso eher eine Nebensache, geriet ihr ganz aus dem Gedächtnis. Wieder endlose Gespräche. Heinrich leicht genervt. Er hielt es anscheinend für notwendig, dass Hertha aß und trank. Sie bediente sich von den Herrlichkeiten auf dem Tisch. Vergewisserte sich, dass man nicht nach ihr schaute. Allgemein aß man sehr mäßig, sie aber nun gar nicht bei einem solchen Angebot. Das war wohl hier so, dass man hatte, aber nicht ausgab. Wie die Großmutter von ihrer Kindheit erzählt hatte. Es sei in besseren Kreisen verpönt gewesen, viel zu essen. Sie nicht angepasst, so dass sie leicht ins Hungern kam und ins Frieren.
(Die Gasheizung im Gartenhäuschen hatte sie trotz ihres Fröstelns nach langem Abend nicht höher zu stellen gewagt. Herthas Satz, so warm müsse man es ja nicht haben, hatte sie davon abgehalten.)
Sie begann mit Paul ein Gespräch. Ist das Ihr richtiger Name?
Ja. Paul sagte seinen Namen, er klang wie Paule oder Paulo.
Wir wohnen in Kerala. Ganz im Süden. Dort leben Christen viele Jahrhunderte. Wenn Tochter in Schule kommt, wir gehen zuruck. Un Sie können nischt überallhin in Welt reisen?, fragte Paul mitleidig.
In meinem Beruf noch eher, antwortete sie ausweichend. Sie war gegen Mitleid empfindlich. Aber wenn Sie im Süden wohnen, wie kommt es, dass Sie eine so helle Haut haben?
Ja, das gibt es, sagte Paul. Helle Haut, dunkle Haut.
Doch grüne Augen! Ein einziges Mal sah sie ganz unverhohlen in diese Augen.
Paul lachte. Das ischt sehr, sehr selten. Mein Vater un mein Großvater hatten solsche Augen. Un isch. Aber nischt meine Tochter un nischt mein Sohn.
Die Tafel wurde aufgehoben. Hertha hatte ihren kalten Kaffee dann doch getrunken, ihre Scheibe Brot gegessen.
Paul nun ein weiterer hilfreicher Geist, um Speisen und Geschirr in die Küche zu bringen und zu verstauen. Er sowieso derjenige, der das Haus sauber hielt. Alles Geld, das seine Familie bekam, konnte helfen. Und Hertha und Heinrich machten aus jeder Beziehung eine Freundschaft. Eigentlich Hertha. Es war ihre besondere Fähigkeit, Menschen um sich zu sammeln. Heinrich tat mit.
Die Türklingel schellte. Die Nichte brachte eine Dame herein. Hertha stellte vor: eine Angestellte der Filialbank, in der Hertha und Heinrich ihre Konten führten. Die Bankangestellte überreichte Hertha einen großen Strauß Blumen und gab das Geschenk der Bank des festlichen Anlasses wegen bekannt: Alle wegen eines kürzlich aufgenommenen Kredits anfallenden Arbeiten würden umsonst geleistet.
Isch des nich nett, Heinrich!, sagte Herta, offenbar gewillt, sich an diesem Tag über jedes Geschenk zu freuen. Die Bankangestellte wurde zum Bleiben genötigt und mit dem besonderen Gast von drüben bekannt gemacht. Meine Cousine aus Ostberlin, sagte Hertha.
Ach ja?... Kürzlich hatten wir Verwandte aus Halle in der DDR zu Besuch! Die Bankangestellte sagte es so, als wolle sie mit einer eigenen kleinen Errungenschaft auch nicht hinter dem Berg halten. Ach, wie wir mit ihne durch die Geschäfte gegange sin, un sie haben die Dinge gesehe, die man zum Baue braucht. Sie baue nämlich. Sie haben alte Möbel. Drüben in der DDR hat man das. Darum baue sie sich ein Haus. Aber an allem isch Mangel.
Erwiderung war verlangt. Ja, das ist schon so, gab sie zu.
(Als mache sie sich selbst klein, wenn sie einräumte, sie käme aus einem solch ärmlichen Land.)
Un denke Sie: Meine Verwandte ware seit vierzig Jahre zum erschte Mal in Deutschland!
Sie sah auf die Angestellte der Filialbank, sah dann auf Hertha, Heinrich, die Nichte. Offenbar hatte sie richtig gehört. Und alle schienen damit einverstanden, dass es nur dieses eine Deutschland gab, nämlich das, in dem sie lebten. Obwohl doch Hertha und Heinrich so aufgeklärt waren, tolerant, aufgeschlossen, eben das alles. Aber wo leben wir dann für sie?, dachte sie. Beginnen die russischen Weiten bis zur Taiga hin in der Vorstellung dieser Menschen schon gleich hinter dem Eisernen Vorhang?
Etwas später machte der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, in dem Hertha gearbeitet hatte, seine Aufwartung. Auch ihm wurde die Cousine vorgestellt. Hertha vereinfachte die Verwandtschaftsbeziehung. Vielleicht war im Schwäbischen die Vereinfachung auch üblich. Der Verwaltungsdirektor von körperlichen Ausmaßen, die eine gebührende Stellung erwarten ließ, zeigte sich ebenfalls sehr wohlwollend. Zum Abschied bekam sie fest die Hände gedrückt.
Und nutzen Sie jede Stunde, sagte er eindringlich. In Freiheit, ergänzte sie für sich. Sie befand sich wohl in der Lage eines Freigängers. Mach ich, sagte sie. Ja, sie hat sich sehr viel vorgenommen, bestätigte Hertha.
Paul mit kleiner Tochter wieder gegangen. Hertha und Heinrich im Gespräch. Nein, nein, sagte Heinrich mit einem Mal lauter. Das geht nicht mit meinem Tatterich. Er streckte die Hände, um sein Händezittern zu imitieren. Es geriet ihm nur um weniges stärker als das, was man von ihm kannte.
Ach richtig, dein Tatterich, den vergess ich immer!, sagte Hertha, lachte so frei, dass jeder denken konnte, sie vergäße den Tatterich tatsächlich.
Am Nachmittag traf Heinrichs Schwester ein. Eine resolute Frau, eine Schlesierin, die Färbung ihrer Sprache ihr gut bekannt, der Typ auch. Du bist so dünn geworden!, sagte sie zu Heinrich.
Er hat grad für den Tag gefastet! , erwiderte Hertha.
Als Heinrich außer Hörweite war, sagte sie: Das gehört zum Krankheitsbild. Man muss doch erfinden!
Hertha konnte grob werden, auch ohne erkennbaren Grund, brüskierte, sagte ihre Meinung möglichst so, dass andere sich an ihr stießen. Sie war radikal und rücksichtslos im Umgang mit Worten. So hatte sie Hertha kennengelernt. Erst als sie sich gesagt hatte, sie ließe sich von Hertha einfach nicht mehr beleidigen, kam sie in etwa mit ihr zurecht. Zu wie viel Zartgefühl Hertha fähig war, erlebte sie jetzt im Umgang mit Heinrich. Nachdem er seine Praxis mit achtzig Jahren endlich hatte aufgeben müssen, hatte sie ihn ganz für sich und genoss es. Offenbar war eine Altersliebe gewachsen. Durch wie viel Jahre, in denen sie sich gegenseitig wehgetan hatten, waren sie bis dahin gegangen! Hertha in den Aussagen über ihre Ehe, Heinrichs Zuwendung zu anderen Frauen so offen wie in allem, was sie redete.
Zum Tee kam noch Pauls Frau, so schön, wie sie sich das vorher gedacht hatte.
Sie sprach Heinrichs Nichte an, die sich neben sie gesetzt hatte. Wenn du mal nach Berlin kommst, könntest du mich besuchen!
Bärbel schüttelte den Kopf. Noi, noi. Da sind so viele Bestimmungen zu bedenke. Was i hab alles beachte müsse, als mein Sohn mit der Klasse nach Frankfurt/Oder g´fahre ischt. Keine Aufkleber, keine Reklame an der Kleidung, nix, was provoziert. Meinem Sohn hat´s nix ausgemacht. Aber i bin ganz durchanander g´wesa im Kopf!
Die Abfuhr freundlich wie verständlich. Herthas jüngere Schwester Gisel hatte sie vor wenigen Jahren in Berlin besucht. Mit geradezu panischem Schrecken hatte sie von dem Grenzübertritt gesprochen. Von den Hunden. Und wie sie später durch ein halbzerstörtes Gelände eines Chemiewerkes gefahren war. Das wolle sie nicht noch einmal auf sich nehmen, hatte sie gesagt. Die einen wagten sich in den Osten, die anderen ließen es. So war das nun mal.
Der Abend brach an. Die Gäste mehrten sich. Unter ihnen die schwarzhaarige Kat, vielleicht Mitte fünfzig, hübsch anzusehen. Wenn ich nicht irre, sind wir verwandt, sagte Kat munter mit lauter Stimme. Ihre schwarzen Augen blitzten. Sie nannte ihren Nachnamen.
Der Konteradmiral?
Jawoll. Ja. Is mein Vater.
Der Konteradmiral hatte in Familienerzählungen häufig eine Rolle gespielt, nicht nur seines Ranges wegen. Mein Vater war auch bei der Marine, sagte sie.
Is ja interessant! Kat, sicher seit Jahrzehnten im Süddeutschen lebend, sprach immer noch mit norddeutschem Akzent.
Aus dem Stoff seiner Uniformen hab ich meine Skihosen bekommen. Das war sehr festes Material.
Kindheitserinnerungen interessierten die schwarze Kat weniger.
Wieder läutete es. Hertha ging nun immer selbst. Die Gäste, die kleine Feier mit ihnen, das eigentliche Geschenk dieses Tages. Sie kam mit einer Frau in den Sechzigern zurück. In Heinrichs Augen wieder ein Blinken. Jede Frau, ja jeder Mensch, den er kannte, konnte sich von ihm besonders geliebt fühlen.
Frau Veschper!, stellte Hertha vor. Das also die langjährige Hausdame und Geliebte Heinrichs, wie sie von Hertha wusste.
Hertha hatte ihren Facharzt der Anästhesie in der Schweiz gemacht. Familie und Beruf mussten immer zusammengehen.
(Und Leben musste auch sein, so dass sie nachts einluden und zu Einladungen gingen.) Heinrich hatte das Alleinsein auf Dauer nicht ausgehalten. Frau Vesper inzwischen offenbar auch ein Mitglied der Familie. Vielleicht hatte Hertha auch aus anderem Grund als aus alter Verbundenheit nicht verzichten wollen. Frau Vesper die Tochter des bekannten Verlegers, Schwester eines Mannes, der mit einer bekannten Terroristin liiert gewesen war, die sich umgebracht hatte. Hertha hatte starke Neigung zum Sozialen, besaß aber auch eine Schwäche für Menschen, die sich durch irgendetwas vor anderen auszeichneten, sei es durch ihre Herkunft aus fremden Landen oder durch eigene oder ererbte Verdienste. Frau Vesper führte eine kleine Buchhandlung in einer kleinen nördlichen Universitätsstadt. Um diese am Leben zu erhalten, arbeitete sie außerdem als Vertreterin für einige Verlage. Die letzten Informationen hatte sie am Nachmittag von Hertha erhalten, die offenbar eine Freundschaft zwischen ihnen zu stiften hoffte - Hertha stiftete so gern Freundschaften!- oder sich wenigstens eine interessante Abendunterhaltung versprach.
Frau Vesper musterte sie ganz und gar unbeeindruckt vom Herkommen aus östlichen Landen wie durch ihren verwandtem Beruf. Ihr Blick sagte, sie solle erst einmal beweisen, ob sie dauerhaft etwas zustande brächte!
Mittag hatte es wegen des ausgedehnten Frühstücks nicht gegeben. Zum Kaffee hatte sie gerade mal ein Stück Kuchen zu sich genommen. Der Aufbau des Büfetts wurde immer noch verschoben. Götz muss noch kommen!, hieß es. Götz der jüngere der beiden Söhne. Mit Stefan, dem älteren, war nicht zu rechnen. Nicht mitten in der Woche, hatte Hertha gesagt. Er hätte ja eine Feier am Wochenende vorgeschlagen! Aber ob er am Wochenende noch käme, wenn jetzt gefeiert würde, sei fraglich. Er hatte die Mutter nachts halb eins angerufen. Stefan wohnte in Westberlin. Fuhr Hertha zu ihrem älteren Sohn, verbrachte sie immer einen Nachmittag/Abend in Ostberlin. Meist kamen dann Stefan und Freundin mit. Das ging schon fast zehn Jahre. Sie war Stefan schon auf ihrer ersten Fahrt in frühen Kindheitstagen begegnet. (Der Vetter, der Bananen aufaß, die ihr an der Grenze geschenkt wurden und die sie nicht mochte, der Vetter, mit dem sie ein Weihnachten mit einer leider dann doch vertrockneten Kokosnuss unter einem Tisch feierte. Die Tischdecke hing tief herunter, so dass sie sich wie in einer Höhle fühlten.) Stefan heute sehr zurückhaltend. Sie hatte die Mühe um ihn aufgegeben. Auf Götz war sie neugierig. Götz sollte ganz anders sein.
Götz immer noch nicht da.
Ob Hertha anrufen wolle, fragte man.
Das sieht aus, als will ich ihn drängen, sagte sie, weigerte sich. Die Beziehungen in der Familie offenbar schwierig. Was sie bei Herthas harschem Wesen viel eher verstand als dass sie so zahlreiche Freunde an sich band. Einige Freunde hatte sie verloren, redete auch darüber, gab sich die Schuld. Ihre Mutter - in Jugendzeiten sehr mit ihr befreundet - hatte sich von Hertha abgewandt. Der hier in der Nähe lebende Bruder der Mutter, der lange Jahre gemeinsam mit ihr erzogen worden war, hatte sich, wie er sagte, fortwährenden Beleidigungen entzogen. Ihn vermisste Hertha, konnte seinen Rückzug nicht begreifen. In der Regel aber wohl die Anziehung, die Hertha ausübte, so stark, dass man gelegentliche Kränkungen vergaß.
Das Büfett wurde dann doch aufgebaut und eröffnet, ohne dass Götz erschienen war. Sie stand vor den Speisen, Früchten. Manches kannte sie gar nicht. Nehmen Sie doch!, sagte Heinrichs Schwester. Am Nachmittag hatte Heinrichs Schwester erklärt, so (üppig) gehe es bei ihnen (im Westen) sonst nicht immer zu. Unter den Augen der Schwester hatte sie dann gerade mal ein Stück Kuchen genommen. Jetzt war es nicht nur Zurückhaltung, sie konnte sich auch nicht entscheiden. Ich bin doch ungeneußlich, sagte Heinrichs Schwester und lächelte. - Ungeneußlich? - Das ist schlesisch. Ungenießlich, gierig.
Tja, was nehmen? Die schwarze Kat stand neben ihr. Woll auf alle Fälle Kaviar, mein ich. Übrigens, da gibt´s ne hübsche Geschichte. Ein Dötchen. Wie mein Vater nach zehn Jahren russischer Kriegsgefangenschaft zu uns heimkommt, bringt er vier Dosen Kaviar mit. Stelle man sich mal vor. Kommt mit vier Dosen Kaviar aus russischer Kriegsgefangenschaft! Als es nach Hause ging, haben die Russen sie mit Verpflegung überhäuft. Rucksackweise.
Offiziere!, dachte sie. Wie streng noch in Gefangenschaft die Rangordnung eingehalten wurde, war ihr bekannt.
Doch wie sie gehört haben, dass ein Speisewagen mitfährt, haben sie die Verpflegung dagelassen für die, die noch blieben.
Nur den Kaviar haben sie mitgenommen. War ja nich lebensnotwendig, nich? Kaviar muss dort woll fast ne Art Volksnahrung sein, quasi zum Leben dazugehörend, oder?
Kenn ich mich nicht aus.
Ich ja auch nich. Wie soll ich auch, nich?
Bei Tisch saßen sie dann auch nebeneinander. Kat redete weiter. Ich hab auch mal angefangen, meine Kindheit aufzuschreiben, aber denn hab ich schnell wieder aufgehört.
Warum?
Warum?, fragte auch Frau Vesper.
War so schwarz, so negativ. Also, das wollt ich denn doch nich.
Warum nicht?
Nee, dat war mir nichts. Aber ich frag mich, warum ich mich nur an solche Sachen erinner. Immer nur, wo ich enttäuscht war, wo ich eins draufgekriegt hab, wo mir elend war. Dabei hat mir meine Mutter erzählt, jeden Morgen, wenn sie mich geweckt hätt, hätt ich gestrahlt und gesagt: Mutter, ich freu mich ja so. Kannst du dat verstehen?
Nicht gleich.
Nur reinwech negativ. Ich versteh nich, warum sich nur so was in mein Kopf festgesetzt hat. Das hab ich nich aufschreiben wolln, nee. Wozu soll dat gut sein, nich? Übrigens, nu sind wir schon beim du, nich wahr? Irgendwo sind wir ja woll auch Cousinen. Meine Großmutter war ne Krügerin. Und mein Großvater ein Krüger. Der Bruder von Herthas Mutter.
Ach so seid ihr verwandt!
Götz ist da, teilte Frau Vesper mit.
Götz is da, na endlich!, sagte die schwarze Kat.
Na endlich, sagte Heinrichs Schwester.
Mit einem erlösten Lächeln stand Hertha auf, ging auf den Sohn zu.
Götz nicht besonders groß. Der Schädel kräftig, die Augen klein, das Kinn stark ausgeprägt. Schräge die Stirn-Nasenpartie, kurzer Hinterkopf. In seinem Gesicht eine kampfbereite Offenheit. Der Körper erschien dagegen eher schmal, wenn auch nicht mager.
Der Götz, des isch aber schön! Wir haben schon gefragt, wo du bleibsch, ob du überhaupt kommsch. Hertha legte ihren Kopf an den des Sohnes, ihre Hände umschlossen seine Schultern.
Na sicher komm ich, was denkscht denn du, sagte Götz. Seine Stimme reich, melodiös. Und guck, ich hab mich rasiert, extra für dich. Er rieb mit der Hand seine Wange. Sein Mund zum Lachen geöffnet. Tadellose Zähne. Mit einem Blick, die Hand noch an der Wange, erfasste er die Gesellschaft im hinteren Raum. erklärte dann sein Geschenk, ein Buch von Umberto Ecco, Der Name der Rose.
Wie schwierig es auch anderen war, Hertha etwas zu schenken, hatte sie am Tag erfahren, als sie das Haus besichtigt hatte. Alles vorhanden, das Notwendige und Praktische wie das Schöne überreichlich: alte Möbel, Bronzen, Bilder. Hertha und Heinrich ja Sammler. Am auffälligsten der Messingkopf einer Afrikanerin auf der Barockkommode. Der Kopf konnte ein historisches Stück sein. Und die schwarze, stark abstrahierte Büste einer Afrikanerin auf der anderen Seite der Tür zum Garten. Bücher, so hatte Hertha mehrmals am Tag verkündet, betrachte ich als einen Angriff auf meine Freiheit. Man muss sie dann lesen. Und was ich lese, das will ich mir selbst aussuchen!
Un du bischt die Beate, sagte Götz, als sie wieder am Büfett stand, sah sie aufmerksam an mit fast zärtlichen Augen.
Und du der Götz.
Was zu erraten war. Götz lächelte. Übrigens, ich war schon öfter bei euch drüben. Ich war ziemlich links, musch du wissen, sogar DKP-nah.
Ah ja.
Was nimmt man denn hier?
Sie nun kenntnisreicher, beriet.
Götz tat sich auf. Ich besuch dich mal, wennsch dir recht is.
Ja, sagte sie zögernd.
Willsch net?
Stefan kommt nicht mehr. Die Nanne auch nicht. Naja, Ille, wenn sie Nanne besucht. Sie sagte die Namen ihrer Westberliner Cousine und deren Schwester.
Ach die Ille! Kennsch die Ille?
Sie ist das Patenkind meiner Mutter. Und der Vater von Ille und Nanne ist der Bruder meiner Mutter.
Ja so. Ich blick bei den Verwandtschaftsverhältnissen net so durch. Also willsch, dass ich dich besuch?
Du sollst nur nicht sagen, du kommst und kommst dann nicht.
Ich komm aber. Drum frag ich doch. Isch kompliziert, oder? Götz lachte. Er nahm nun von dem Kaviar, rosa und groß die Eier. Beiß drauf, mit den Schneidezähnen. Dann platzen sie wie eine Blase!
Isch ja direkt unanständig!, sagte Götz.
Heinrich fotografierte. Trotz seines Tatterichs. Fotografieren, wie sie inzwischen wusste, eine Leidenschaft. Heinrichs Vater war in Breslau Fotograf gewesen. Er richtete den Apparat auf sie und Götz. Sie wurde aufmerksam. Heinrich machte ein unschuldiges Gesicht, als wolle er alles Mögliche fotografieren, nur nicht Sohn und Nichte. Wie sie ihn mochte! Ihn und seinen Sohn Götz auch. Sie unterhielt sich weiter mit dem Cousin, der seinen Lebenslauf hersagte. Sie sprachen über Politik, verständigten sich schnell. Mal sah sie auf Heinrich. Seine Hände lagen ganz ruhig auf dem Tisch. Das also gab es auch.
Sie dachte daran, was Hertha über die Krankheit geschrieben hatte. (Hertha eine große Briefschreiberin. Und sie bekam von ihr fast noch ausführlichere Antworten.).Das Krankheitsbild wird immer klarer. Wir leiden auch miteinander und versuchen, unserem Vorsatz - von der Heirat her - heiter sterben zu lernen, treu zu bleiben bzw. es zu lernen.
Gisel war gekommen. Herthas jüngere Schwester. Sie stand im Raum, kleiner als Hertha, füllig, die grauen, dichten Haare halblang nach innen gewellt, ihr Gesicht hübsch, sah man von einer kleinen Asymmetrie ab. Die Eltern hatten sie als knapp Fünfjährige für eineinhalb Jahre zu Gisel in den Schwarzwald gegeben, wo sie im elterlichen Haus Kinder gegen Geld betreute.
Und dann stand Hertha neben der Schwester, groß, schlank, etwas nach vorn gebeugt, herb das Gesicht, in milder Abwehr. Gisel reckte sich. Immer noch schien sie ihre Kraft an der älteren Schwester messen zu wollen.
Fotografier doch die beiden, sagte sie zu Heinrich.
Später, antwortete er ausweichend.
Am Kamin im vorderen Teil des Raumes bildete sich um Frau Vesper und Götz eine Runde. Man lachte und erzählte dort. Sie blieb an der Tafel sitzen. Mit ihr Kat und Gisel. Vielleicht blieb Kat nur da, um sie nicht mit Gisel allein zu lassen. Deren Schweigen beunruhigte. Kat unterhielt. Die laute Stimme hatte sie ja und die Unbefangenheit.
Spät am Abend erschien ein sehr korrekt gekleideter Herr. Schnauzbärtig, glattgesichtig. Hertha kam mit ihm an die Tafel, wo sie mit Gisel und Kat wie festgenagelt saß. Wir kennen uns von der Asylarbeit, sagte sie. Er möchte dich kennenlernen. Er ist an euch drüben so interessiert. Er bezeichnet sich selbst als konservativ. Als was er mich sieht, weiß ich nicht. Hertha lachte, starke Kehllaute ausstoßend. (Anmerkungen über ihre Person begleitete sie meist mit solchem Lachen.) Aber er engagiert sich stark bei den Asylanten. Übrigens spricht er immer noch von „Zone".
Besuchen Sie mich, sagte sie. Meine Tante gibt Ihnen die Adresse. Ich wohne im Zentrum. Ist ganz einfach zu finden. Der Herr lächelte sehr sympathisch.
Zeit war es für den Champagner. Götz schenkte ein. Ein Pommery!, sagte er. Den verträgscht garantiert! Nach dem Öffnen gab er ihr zur Erinnerung einen Korken. Alle hoben die Gläser, sahen zu Hertha.
Nicht viel später verabschiedete sich Heinrichs Nichte. Sie sah bleich aus.
Den ganzen Abend hat man dich net esse sehe. Du solltest wenigstens amals probiera!, sagte Götz zu ihr.
Nein, nei, mir isch so schlecht!, ´s war vielleicht ein bissele viel, seit früh immer im Trab. Und jetzt muss i noch fahre. Mei Mutter mag i net ans Steuer lasse bei dere Dunkelheit. Sie meinte die Schlesierin, Heinrichs Schwester.
Zwei Stunden hatte Gisel schweigend verharrt. Jetzt stand sie auf. Ihr entschuldigt mich!, sagte sie, ging bis zur Raummitte. Ich hab einen anstrengenden Tag hinter mir, redete sie in die Gesellschaft hinein. Ich muss meine Zeiten einhalten. Leider. Ihr Gesicht verzog sich zu einem schmerzlichen Lächeln. Morgen in der Früh fahr ich. Sie sah jeden einzelnen noch einmal an, hob ihre Arme wie zu einer segnenden Geste. Ihr wisst, Abschiede gibt es für mich nicht! Diesen wunderbaren wie rätselhaften Satz sagte sie und hatte, beabsichtigt oder nicht, einen hervorragenden Auftritt in der Gesellschaft ihrer Schwester.
Gegen Mitternacht holte Hertha Herrn Böck, der oben im Haus die kleine Wohnung hatte. Über Herrn Böck hatte Hertha schon gesprochen. Ein Anthroposoph, Schauspielschüler bei den Anthroposophen. Hertha stand der Steinerlehre nahe, sagte, sie sei allerdings zu dumm, um alles zu verstehen, Gisel sei da viel weiter. Auch Anne, Gisels Tochter. Ihre Mutter sei zuletzt ebenfalls Anthroposophin gewesen. Herr Böck saß nun zwischen den anderen Gästen, bleich, unschön, die Lider gesenkt, bis er befragt wurde. Worüber konnte man Herrn Böck befragen? Über seine Schauspielkunst! Nun redete er, den Blick über die Gäste hinweg mit einer tönenden Stimme für fünfzig Zuhörer. (Auch er eine Attraktion, dachte sie.) Plötzlich sank der anthroposophisch schauspielernde Herr Böck in sich zusammen.
Sie hatte ihn wieder und wieder angesehen, und ihre großen Abneigung absichtlich in ihr Gesicht gelassen. Vielleicht war er dauerhaft ihrem Widerspruch nicht gewachsen gewesen. Sie maßen sich immer noch einmal mit Blicken. Einer gab dem anderen nichts nach. Das hatte sie manchmal, dass sie einen Menschen vom ersten Augenblick an geradezu verabscheute. Bei näherem Kennenlernen änderte sich das meist.
Heinrich saß für sich allein an der Tafel. Der lange Tag hatte ihn genauso wenig mitgenommen wie Hertha. Seine Hände lagen weiter ruhig. Sie setzte sich neben ihn. Kannst du dich eigentlich noch an mich als Kind erinnern?, fragte sie.
Sicher.
Ich weiß noch, wie du mich in Dornstetten auf dem Motorrad mitgenommen hast. Wir sind an einem Kornfeld vorbeigefahren. Ich hab so eine Angst und gleichzeitig so eine Freude gehabt.
Heinrich älter als die anderen, das hatte sie deutlich wahrgenommen. Und seine Freundlichkeit. Seit dem gestrigen Abend wusste sie, Heinrich und Hertha hatten sich immer eine Tochter gewünscht. Deshalb wohl die besondere die Zuneigung zu Heinrichs Nichte Bärbel, und Gisels Tochter Anne. Sie selbst erfuhr ebenfalls Zuwendung, die ihr nicht ganz erklärbar war. Unser erstes, das tot geboren wurde, war eine Tochter, hatte Hertha gestern traurig gesagt. Und woran erinnerst du dich?, fragte sie Heinrich.
Du hattest ganz helle blaue Augen, fast durchsichtig. Hast du die eigentlich immer noch?
Nein.
Und an deinen Augenaufschlag erinnere ich mich!
Sie lachte. Das war Heinrich, der sich die Koketterie eines Kindes merkte.
Hertha befragte jeden, brachte dann Teller, auf denen verschiedenste Käsesorten und Weintrauben lagen. Wie sie herumging: eine Herrscherin, die diente.
Sie unterhielt sich mit Götz. Mit einem Mal saßen sie nur noch zu viert an der Tafel. Die Gäste verschwunden.
Hertha wurde von plötzlichem Ekel gepackt. Ach, Heiner, wo stehet wir jetzt? Was habe wir erreicht? Sie streckte sich, griff mit der einen Hand in ihren Nacken, mit der anderen suchte sie Heinrichs Arm, ihre leichte, gelb umrandete Brille hatte sie in das kurze, glatte Haar geschoben. Den Kopf halb im Nacken liegend, schaute sie auf Götz. Darf man als Mutter net was von seine Söhne verlange? Isch das abartig, wenn man sich von ihne was erhofft? Von Stefan, da wolle wir jetz net rede. Aber Götz, was tusch du, das man sage kann, ja er leischtet was. Er geht seinen Weg.
Leischte i nix?, sagte Götz aufgebracht. Du mit deiner Meinungsforschung, du tusch doch auch nur, was die wollet, damit dene ihre Wirtschaft floriert!
Des ischt so ungerecht, so grenzelos ungerecht, Hertha. Du machst dir ein Idealbild von deine Söhne, vor dem es ja nur Versage gebe kann.
Und du, Beate, wie angepasst du die ganze Zeit warscht!
Sie lachte. Hertha hatte den Punkt getroffen. Sie hatte vor der Übermacht von Meinungen kapituliert, hatte sich im Übrigen schon lange Reden gegen taube Ohren abgewöhnt. Hertha hätte sicher gern eine Rebellin gehabt an dem Abend, eine, die das Maul aufmachte.
Was war in der Familie angelegt!, sagte Hertha. So viele großartige Leut!
Denkst du an deinen Großvater, diesen Senatspräsidenten in Stettin?
Den vielleicht auch. Aber der isch feig gewese in der Liebe. Hat net die g´heiratet, die er hat wolle. Eine Schauspielerin, des war verpönt zu dere Zeit. Hat die g´heirat, die er hat solle. Und die Arme is in de Neuros geflücht, weil sie´s net ausgehalte hat mit ihm.
Nichts hasst Hertha mehr als Feigheit in der Liebe, dachte sie, erinnerte sich, wie aufgebracht Hertha von Heinrichs Versagen in früher Ehe berichtet hatte. Nicht, dass er eine Geliebte hatte, erschien ihr jetzt das Schlimmste, sondern Heinrichs Reaktion. Die Vesper muss weg!, hätte er sofort gemeint, als Hertha ihn gestellt hatte. Die Veschper! Wie er von ihr sprach!, hatte Hertha gesagt. Dabei hätt er bloß genau hinhören müssen. Nicht oben, habe ich gesagt. Wenn´s sein muss, dann im Gartenhäuschen. Und wieso musste sie denn gehen, wieso nicht ich? Bin ich als Ehefrau etwas so viel Höheres, Erhabeneres? Nur wegen einem Fetzen Papier. Die Männer sind so feig, hatte Hertha eines Abends in Ostberlin erbittert ihren Bericht geschlossen. Sie sind innerlich nicht über ihre Pubertät hinaus. Sie gehorchen ihren Ehefrauen, wie sie früher ihren Müttern gehorcht haben. Darüber solltest du schreiben. Das wäre ein Thema. Warum sich junge, attraktive Intellektuelle, Frauen mit Geist, auf solche Verhältnisse einlassen.
Hertha präzisierte. I denk an den Vater seiner Frau, der in Berlin vortragender Rat im Kultusministerium war. Noch mehr annen Brandenburger Kröger, den Tuchfabrikante. Warsch mal in der Brandenburger Kirch und hasch nach seinem Grabstein g´schaut?
Sie schüttelte den Kopf, war Herthas Aufforderung immer noch nicht nachgekommen.
Der war so einer, der net nur an sich un an sein Kapital gedacht hat. Ja, das ischt ein durchgängiger Zug in unserer Familie. Das Religiöse un des Soziale. I hab mir gedacht, unsere Söhne wäret religiös veranlagt. Aber ´s scheint net der Fall zu sein. Das Religiöse is net da. Un für die Kunscht interessiere se sich auch net. Unsere Bilder, die Bücher, alles dahin, wenn wir amal nimmer sind.
Stellsch uns ja wie Banause hin, intervenierte Götz, ´s wird schon in die richtige Händ gelange, Hertha!
Um auf mein Anliege zurückzukomme: In unsere Familie hen se net bloß für sich selbsch gelebt, sie hen auch was leischte wolle inner Gesellschaft.
Hertha war in stärkeres Schwäbisch verfallen. Je nach Gefühlslage redete sie mehr Hochdeutsch oder mehr Schwäbisch, wobei sie ein eigenartiges „R" sprach, aus dem Rachen her wie im Französischen, was sie wohl aus dem Hochschwarzwald mitgebracht hatte, wo sie herstammte, oder aus der Zeit, die sie als junges Mädchen bei der Schwester ihrer Mutter in Frankreich verbracht hatte. Um ihre Behauptung zu untermauern, erzählte sie eine wilde Geschichte von weiteren Verwandten, die nach Amerika ausgewandert seien, weil ihnen das Deutschland vor dem ersten Weltkrieg unerträglich gewesen sei. Und der Hofprediger Stoecker schloss sie, der im Haus von meinem Großvater überhaupt erscht gläubig g´worde is, war wohl ein schlimmer Antisemit gewese, aber doch mit starkem sozialen Engagement. I denk bloß an das Stoeckerstift in Berlin-Weißensee! Jetzt Stefanus-Stift. Sie vergegenwärtigte sich, was sie von den Vorfahren wusste. Die Linien der Großmutter bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein zu verfolgen. Durchweg hatten sie Beamtenposten bekleidet, waren Amtsrichter, Bürgermeister, Pastoren, mehr oder weniger hohe Gerichtsbeamte gewesen. Keiner, der in all den Jahrhunderten aus der sozialen Schicht herausgefallen war. Und waren doch sicher nicht alles kluge Leute gewesen! Die Krügersche Linie, die ihres Großvaters, auf die sich Hertha bezog, nicht so lang. Doch gab es mehr schriftliche Zeugnisse. Und durch die Frau, die ein Vorfahr Krüger geheiratet hatte, schließlich im 16. Jahrhundert mit einem Vorfahren von Goethes Mutter verwandt. Hatte Gisel gesagt, die die Dokumente aufbewahrte. Auch die Krügers erzkonservativ gewesen, ausgenommen vielleicht der Großvater von Hertha, Gisel und ihrer Mutter. Bis hin zum berüchtigten Hofprediger Adolf Stoecker, den eine Cousine des Großvaters geheiratet hatte. Und was war mit dem Konteradmiral oder mit seinem Bruder, der eine hohe Funktion bei der Post gehabt hatte? Hertha wünschte sich etwas zurecht und verwies zudem ihren Vater, einen mittellosen Bauernsohn, aus der Reihe verdienstvoller Ahnen. Im Gespräch mit Götz hatte sie mitbekommen, Götz hatte nicht die geringste Ahnung von dessen Existenz. Vielleicht auch, weil er sich nicht interessierte. Durch Gisel wusste sie mehr als er.
Könnt man sich net denke, dass bei einer so reich veranlagte Familie net amal ´n Durchbruch kommt!
Was redesch vom Durchbruch!, sagte Götz zornig. Was verstehsch überhaupt darunter.
Ein lichter Augenblick! Hertha machte eine unbestimmte Bewegung. In ihrem Gesicht das Lächeln einer Erleuchteten …
Hertha hatte zu viel getrunken. Sie neigte dazu, zu viel zu trinken. Wie anders hatte sie Beruf, Familie und ihrem starken Anspruch auf Freunde, auf Genuss am Leben verwirklichen können. Alkohol setzte bei ihr Kräfte frei.
Du redesch wie von nem religiöse Ereignis, sagte Götz.
Darf i net meine Gedanke, meine Wünsche habe! Hertha schlug die Beine über, tat ihren einen Ellenbogen aufs Knie, stützte den Kopf in die Hand. Sie hatte ein eher schmales Gesicht. Hohe, runde Stirn, die Jochbögen der eingefallenen Wangen wegen gut sichtbar. Die kleinen Augen von keiner bestimmbaren Farbe blickten sehr intensiv. Kurz und gerade die Nase, die Mundpartie vorgewölbt wie ständig kampfbereit, kräftig das Kinn. (Eine gewisse Ähnlichkeit gab es mit Götz.) Der grauweiße Stirnpony verlieh ihrem Gesicht zusätzlich etwas Verwegenes. Löwenhaft sah sie aus. Ja, jetzt hatte sie es. Sieht sie nicht aus wie eine Löwin?, sagte sie zu Götz.
Götz schaute seine Mutter an, grinste. Stimmt, ja. Hasch vollkomme recht.
Hertha schien zu überhören, was über sie gesagt wurde, war nach außen hin noch eine Spur ärgerlicher.
Kannsch net mal konkret sein. Was isch für dich denn wichtig, was zählt? Götz führte das Streitgespräch mit großer Geduld fort.
Dass mer was aus seim Lebe macht, dass mer´s gestaltet, einen Entwurf hat. Dass mer, was mer mal als richtig erkannt hat, durchsetzt un unbedingt seinen Weg geht!
Gut. Einverstande, sagte Götz. Un was hasch als richtig erkannt?
So allerhand, mein Sohn. Hertha nickte überlegen und leicht besoffen. Weisch, warum i mich in die Asylantenfrage so engagier. Weisch, warum Heinrich un ich, wir beide alte Leut, in Mutlange mitg´macht habet bei der Sitzblockad un habet uns wegtrage lasse? Des isch, weil´s war was Ungeheures, dass wir nach dem Hitler eine Demokratie bekomme habe. Wir hen sie quasi geschenkt kriegt, un jetz müsse wir se verteidige. Denn die Demokratie, des isch was ganz Koschtbares. Hertha formte mit ihren Händen eine Schale. Der Martin, deiner Mutter ihr Bruder - sie wandte sich an sie, ihren einzig übrig gebliebenen Gast - der meint, mer solle um Himmels wille nich an die Verhältnisse rühre, sonsch würde alles no schlimmer. Aber der Heinrich wie i denken, wir müsset was tun, damit net alles in die negativ Richtung geht. Und das kann leicht passiere, glaubet mir.
Stillstand gibt´s nicht, pflichtete sie Hertha bei. Wahrscheinlich muss man eine Demokratie immer aggressiv ausfüllen, um sie zu erhalten.
Vielleicht so, sagte Hertha. Mir wisse ja, was bei dem Hitler war. Um ein Haar wär ich zu Tod komme. Hertha zeigte zwischen Daumen und Zeigefinger, wie viel sie vom Tod entfernt gewesen war. Un da darf mer net ruhig seine Hände in den Schoß lege. Übrigensch, Heinerle - Hertha wandte sich an ihren Mann, der still neben ihr saß - die Beate sagt, drüben würde jetzt auch die Männer vom 20. Juli geehrt. War das richtig?
Ja, hab ich so gesagt.
Aber wäre die an die Macht komme, die meischte ware doch so was von konservativ. Das Militär musch denke, Beate, die meischte stammte außem Hochadel. I weiß net, was füre Regierung wir kriegt hätte. Ob sie net arg belaschtet gwese wäre. Ob´s eine Demokratie hätte gebe könne.
Un i mach nix aus meim Lebe!, begehrte Götz auf. Aber erscht muss mer doch mal was als richtig erkenne!
Schon, mein Sohn. Hertha griff sich in ihr Gesicht, knetete darin herum. Aber du arrangiersch dich und vergisch über dem kleine Leben das große Ganze.
Herrgott nochmal, sagte Götz, was soll i denn deiner Meinung nach tun?
Ja was. Dich engagiere und net arrangiere, sagte Hertha unbestimmt.
Sie dachte an ihre Vorfahren, sie dachte an ihre Eltern, an ihre Geschwister. Unsere Familie hat sich erledigt, sagte sie.
Götz sah sie sehr nachdenklich an.
Wie hasch gesagt, Beate?. fragte Hertha eine Weile später.
Sie konnte sich nicht mehr besinnen.
Unsere Familie hat sich erledigt, wiederholte Götz.
Unsere Familie hat sich erledigt, richtig. Hertha befriedigte die Aussage. Aber wir haben junge Menschen, in die wir unsere Hoffnung setze, auf die wir unsere Hoffnung setzet, auf die wir vertrautet. Gehörsch au dazu, Beate. Die junge Leut kommet zu uns, un wir freue uns, gell, Heinerle? Mit einem nach innen gesunkenen zärtlich trunkenen Blick schaute sie auf ihren Mann. Familie oder net, das isch net das Problem. Wenn mer au e bissele traurig isch.
Nein, des hält mer im Kopf net aus, sagte Götz, und sein Gesicht rötete sich. Mit ihre Ansprüch macht se alles kaputt.
Sie wunderte sich, dass Götz sich nicht stärker wehrte. Sie hatte auch an Stefan beobachtet, dass er sich nur geradeso vor Schlägen der Mutter schützte und selbst nicht austeilte. Warum? Hatten die Söhne an Heinrich gesehen, dass es so immer noch das Beste war. Sonst reizten sie noch stärkeren Widerspruch heraus, dem niemand gewachsen war? Waren Frauen klug, blieben sie im Wortgefecht immer Siegerinnen. Half nichts anderes, dann, indem sie unlogisch wurden. Sie dachte daran, wie Stefan ihr gesagt hatte, der Heinrich hätte Hertha Kinder gemacht, um sie zu bändigen. Doch sie war nicht zu bändigen. Eine Löwin eben. Imponierend als Frau. Als Mutter ein Ungeheuer. Im Übrigen verzieh Stefan dem Vater nicht, dass der Vater die Kinder als Mittel benutzt hatte. Was sicher nur ein Teilaspekt war und längst keine Rolle mehr spielte. Aber der Heinrich hätte dem Stefan nicht so etwas sagen dürfen, diesem armen Menschen, der sowieso kein Zutrauen zu sich hatte.
Hertha sprach immer weiter. Wechselte nun das Thema.
Magsch des Bärbele?, fragte sie wegen Heinrichs Nichte.
Ja.
Wir auch. Sie isch uns sehr ans Herz gewachse. Mer sollt´s net meine, wenn mer se sieht, aber was hat se schon hinter sich, schlimm! Weisch, was se sagt? In unserer Familie gibt es ein Schicksal. Ich hab´s net glaube wolle. Aber isch manches, was sie erlebt und was mer als Außenstehender doch auch mitkriegt, so furchtbar wahr. I seh noch heut die beide auf unsere Treppe drauße sitze, das Bärbele un ihr Mann. Un beide erzählet mir, was se erfahre habet über Bärbeles Schwiegervater. Dabei hat Bärbele ihn hochverehrt, ein sicher begnadeter Künschtler, so weit man´s aus der Ferne beurteile kann. Aber was hat er seiner Frau angetan! Und beide junge Leut ware so tief entsetzt darüber. Un net fünfzehn Jahre danach, als hätt Bärbeles Mann net auf der Treppe gesessen, so erschüttert, weiß Gott, da tut er in genau derselben Situation dasselbe wie sein Vater, un isch so gemein, so hundsgemein, dass mer´s in Worte net ausdrücke kann, ´s kommt eim beinah wie ein Zwang vor, als hätt er so handeln müsse.
Mer kann sowas auch herbei zwinge, indem mer immer drüber redet, sagte Götz.
Magsch recht habe. Aber wie er dag´sessen hat, da draußen auf der Treppe mit Bärbele, i seh´s immer noch vor mir. Un so viel andere Ding sin mit der Bärbel passiert. Schon, wenn du ihre Kinder nimmst. Alles wiederholt sich. Mit dem Unfall und soviel kann i dir erzähle. Da darf man sich net wundern, dass sie sagt: In unserer Familie gibt es ein Schicksal. Weisch, wie sie dasteht innerlich? Hertha hob die Hände über den Kopf. Dass se sich nur noch schütze will, sagte sie dann. Un all die Selbstmorde in der Familie. Hertha zählte. Heinrich zählte.
Fünf, sagte Hertha. Sechs, sagte Heinrich. Du vergisst ...
Ah ja, die hab i noch gerettet. Da bin i los mit unsere Feuerwehr, so sage wir zu unsere Notapparature. Ja, die hab i noch zurückgeholt!
Lag es an Herthas Art zu erzählen, am Champagner oder an der späten Stunde, sie sah die Rettungstat vor sich, dunkel auch die Selbstmorde. Sah das Bärbele und ihren Mann auf der Treppe vor Herthas und Heinrichs Haus sitzen in tiefer Verzweiflung. Als hätte sie zu intensiv einen Film gesehen oder abends zu lange schauerlich-gute Geschichten gelesen wie in ihrer Jugend die von Ebner-Eschenbach oder Droste-Hülshoff.
Ja, des isch das in der Seele verankerte Elternvorbild, so was lässt sich doch erkläre, sagte Götz. Du weisch es doch au. Mit Schicksal hat das nix zu tun.
I hab die Beate doch bloß gefragt, ob sie das Bärbele mag. Un weil sie au an ihr interessiert isch, erzähle ich, was das Bärbele glaubt. I will halt, dass se sich ins Bärbele hineindenke kann. Das isch doch net meine Meinung. I hab doch bloß wiedergebe, was in der Bärbele ihrem Kopf vor sich geht.
I mag net, dass wir so über die Bärbel reden. Wir ziehe sie ja direkt aus. Das isch net recht. Wir sollte net mehr über sie rede.
Ja, ziehen wir sie wieder an und lassen sie in Ruhe und vergessen alles, sagte sie.
I hab doch bloß die Beate gefragt, ob sie das Bärbele mag.
Das hasch grad schon gesagt.
Aber es isch ja nur gwese, weil i wollt der Beate klarmachen, was das Bärbele denkt, damit sie net meint, sie wär so ein einfaches, unbeschwertes Wesen.
Ja, wissen wir.
Hertha schwieg. Doch eine Weile begann sie wieder: Ich hab die Beate doch bloß gefragt, ob... Ich hab doch bloß...
Lächelnd machte Heinrich in Götz´s Richtung eine kreisende Bewegung. Götz wiederholte, lachte. Und dann lachten sie alle drei, erst leise, dann aus vollem Hals.
Wie Hertha sah, dass sich die drei über ihren Zustand lustig machten, überglänzte ihr Gesicht heiter-betrunkenes Lächeln. (Diese Frau hatte eine solche Fähigkeit, über sich selbst zu lachen!) Hertha wiederholte die kreisende Handbewegung. Jaja, i weiß, i red im Kreis. I bin besoffe!
Heinrich wies lächelnd auf einen ganz oben im Regal hängenden kleinen Hunde-Maulkorb.
Den hat der Heinrich der Hertha zu einem Geburtstag geschenkt, erklärte Götz. Wenn er drauf hinzeigt, dann heißt´s, Hertha soll die Schnauze halte. Sie isch zu besoffe. Des hat schon manches Unglück verhindert, gell? Er schaute mit einem zärtlichen Lächeln auf seine Mutter.
Wie wahr! Wie wahr! Hertha nickte, lächelte weiter vor sich hin, nahm Heinrichs Hand.
Drei Uhr war es, als sie endlich zu Bett gingen.
Das Frühstück gegen neun Uhr. Götz schon wieder unterwegs nach Heidelberg. Hertha stellte das Notwendige auf den Wagen. Die Küche so klein, dass der Wagen im Flur stand. Heinrich wartete, bis alles bereit war, schob ihn dann mit kleinen Schritten über die Schwelle in den Wohnraum, deckte im hinteren Teil. (Der Heinrich braucht Aufgaben!, hatte Hertha erklärt.) Tee gab es. Brötchen. Als sie das zweite nahm, kam sie sich wieder vor wie ein schlingendes Ungeheuer.
Die S-Bahn-Station nicht zu verfehlen. Sie war gleichzeitig die Unterführung zum Park. Wie sollte sie die Automaten bedienen? Auf der ganzen Station niemand in Uniform, den sie hätte fragen können. Und die Menschen sonst so eilig. Die es nicht so eilig hatten, die mit ganz schwarzen Haaren, die Frauen Tücher darum, von dunkler Gesichtsfarbe, schauten so, dass sie ihre Schritte beschleunigte. Sie ging die Unterführung weiter durch den Park. Der mit großen alten Bäumen, also schon lange da. Unter den Bäumen auf dem Rasen Menschen in schlechter Kleidung in Gruppen, allein, hatten Bündel bei sich. Auch die ihr nicht geheuer. Sie gelangte zum Hauptbahnhof. Also würde sie jeden Tag so laufen: durch den Park zum Hauptbahnhof. Nun war sie auf einer recht prächtigen Geschäftsstraße. Sie hatte die Kärntner-Straße in Wien zum Vergleich, wo sie einmal mit einem guten Stipendium vom Wiener Kunstverein für zehn Tage gewesen war. Ihr erster Besuch in westlichen Landen. Selbst in Wien war sie nicht über die Pracht schockiert gewesen, nicht einmal erbebt. Die Auslagen nur zum Bestaunen da. Gingen sie nichts weiter an. Sie hatte sich schon lange damit abgefunden, dass Auslagen sie nichts angingen. Sie lebte in ihrem Land von Stipendien und mal einer Buchauflage immer gerade so. (Das ein Preis ihrer Freiheit von Vorgesetzten und der geringere. Was sie nie gut aushalten würde, und das hatte sie schon vorher gewusst: Sie lebte nicht nur allein, sondern sie arbeitete auch allein.) Sie ging die Straße immer weiter und schaute. Alles in Maßen, die ihr zusagten. Und obwohl ringsum Hänge waren, hatte man mitten in der Stadt getan, als sei viel Platz. Es gab diesen Park und das neue Schloss mit seinen Anlagen und sonst schöne Gebäude. Und dann das alte Schloss, mehr eine Festung, und der Markt. Und Breuninger und wie die Nobel-Geschäfte eben hießen. Als es eng wurde, gefiel ihr auch das. Sie ging wieder zurück, kaufte sich zwei Brezeln. Es waren die ersten seit ihrer Kindheit im Schwabenland. Also feierte sie ein kleines Fest. Fünfzehn Mark besaß sie, 1:1 umgetauscht gegen Mark der DDR. Und wenn sie sich noch das Begrüßungsgeld auf dem Amt abholte, was Hertha ihr dringend geraten hatte! Sie rechnete, wie lange das Geld, das sie hatte umtauschen dürfen, reichte, kaufte sie sich jeden Tag eine, zwei Brezeln oder gar drei. Sie entschloss sich, nach der Straße zu fragen, in der sich das Amt befand. Das konnte sie schon machen. Sie sprach so, dass sie als Norddeutsche hingehen konnte und sie wenigstens nicht ihre Berliner Herkunft verriet. Sie mochte nicht, dass sie durch ihre Sprache von Einheimischen getrennt war, konnte sich ins Sächsische, Mecklenburgische gut einfügen. Berlinisch sprach sie sowieso. Aber im Schwäbischen versagte sie. Obwohl sie, als sie bei Gisel gewohnt hatte mit den anderen Kindern, in dieser Sprache gesprochen hatte.
Man wies ihr die Himmelsrichtung. Sie ließ sich immer weiter weisen. Es stellte sich heraus: Für heute kam sie zu spät auf das Amt. Also würde sie morgen wieder kommen. Sie lief nun am Rand des Kessels. Die Richtung hatte sie sich gemerkt. In dieser Stadt konnte man kaum fehlgehen. Es war nun ein ganz ordentlicher Weg zurück. Die S-Bahn-Station hatte sie sich gemerkt: Neckartor. Und dann irgendeine Straße hinauf, die würde auf die neue, unschöne Kirche und die Urbanstraße treffen.
Im Gartenhäuschen legte sie sich zum Schlafen. Im Sommer wäre ihr das Quartier schon sehr recht gewesen, ja das Schönste, was man sich denken konnte mit Blicken hinaus, hinunter, hinüber. Und ausgestattet aufs Beste der Raum zum Wohnen wie das Bad. Nur eben jetzt im November die Fliesen kalt. Ihr bisschen Fußwärme vom Laufen hielt nicht lange vor. Im Rücken fror sie sowieso immer, kam sie um die Jahreszeit von draußen. Sie häufte Decken über sich, Decken und Bettwäsche im Wandschrank sehr reichlich. Dunkel war es, als sie aufwachte. So konnte sie zu Hertha und Heinrich hinauf. Tagsüber wollte sie die nicht behelligen. Es war ausgemacht, dass sie sich tagsüber allein unterhielt. Du bist ganz frei, wie du es wünscht, hatte Hertha gesagt. Und sie wünschte es sich auch. Sie war gewohnt, eine Stadt allein und im Laufen zu erkunden. Man sollte zudem keinen Aufwand für sie betreiben. Da würde sie sich nachher von Schuld und Dankbarkeit ganz bedrückt fühlen.
Am nächsten Tag machte sie sich gleich auf den Weg zum Amt. Sie kam durch ein Gässchen. Als sie die Stimmung im Morgendunst mit der kleinen Kamera festhalten wollte, begann ein Geschrei von trotz des Novemberwetters halb nackten, schönen Damen, die sie erst jetzt wahrnahm und die Schilder an den Häusern. Rasch steckte sie die Kamera ein, breitete die Hände aus und ging sehr schnell und mitten auf der Straße. Das Amt geschlossen. Freitag war´s. Das hätte sie aber auch schon gestern lesen können! Sie müsste also mit dem restlichen Geld noch drei Tage reichen nach nie recht sättigendem Frühstück.
Das Abendbrot gab es warm, doch für sie ungewohnt spät. Und sie mit ihrer Sorge von Kindheit her, sie bekäme nicht genug zu essen! Sie lief wieder auf und ab in der Stadt, um sich alles gut zu merken und sich schließlich auszukennen. Die Überdachung der Geschäfte nahm sie als Schutz gegen den anhaltenden Regen. Da nun auch die Leute, die sie gestern im Park gesehen hatte. Nichtsesshafte, hatte Hertha gesagt und sich nicht gewundert, dass sie so viel davon gesehen hatte. Gleich in der Nähe gäbe es ein Obdachlosenasyl. Die Nichtsesshaften zwischen den anderen. Aber die einen gingen die anderen nichts an. Sie hatten keine Blicke füreinander. Wie merkwürdig. Nur sie als Fremde hatte Blicke für beide. Wie sie später durch den Park ging, der nun menschenleer, dachte sie: Wenn ich nun nicht hinauf zu Hertha und Heinrich gehen könnte! Die paar Mark, die ich noch in der Tasche habe. Ihre Haare nass. Sie hatte keinen Schirm mit auf die Reise genommen, um sich nicht unnötig zu beschweren. Nachdem es mit dem Geld nichts war, das Hertha ihr im Brief versprochen hatte, damit sie sich tagsüber allein versorgte, hatte sie auch nicht mehr nach einem Schirm fragen mögen. Ihr war elend, fühlte sich schon jetzt gemieden, obwohl sie doch ein von Hertha mal geschenktes Lodencape trug, was Regen abhielt, und wodurch ihr äußerlich Verwahrlosung noch nicht anzumerken war. Eine Gabe hatte sie, sich immer gleich ganz minder zu fühlen und wie eine Seiner geringsten Brüder und Schwestern!
Hasch den Umschlag mit dem Geld g´funde? fragte Hertha beim Abendessen.
Nein.
Ein bunter Umschlag von der Sparkasse! , setzte Hertha nach. Warum fragst dann net?
Ihr Gesicht wurde heiß. Ihre Scham aber geringer als die Freude.
Im Gartenhäuschen nahm sie das Geld, den großen Schatz, aus dem bunt bedruckten Umschlag, den sie als Reiseprospekt genommen hatte. Davon könnte sie jeden Tag vielleicht zweimal warm sehr gut essengehen und was noch! War der Umschlag auf dem Schreibtisch im Gartenhäuschen für sie, dann war wohl auch das Naschwerk für sie bestimmt. Ihr musste man so etwas sagen. Hertha in Auskünften über das alltägliche Leben sehr karg, hatte sie schon gemerkt. (Wie ärgerlich Hertha wurde, wenn sie bei Handreichungen in der Küche nicht gleich fand und wusste!) Und sie nicht fähig zu fragen. Da kamen zwei zusammen!
Was ich nicht brauche, bekommst du zurück!, sagte sie Hertha über das Geld. Sie dachte an die Mutter, die zu ausgiebig von Herthas wirklicher Großzügigkeit Gebrauch gemacht hatte. Worauf die Mutter derbe Schelte bekam: Ich scheiße das Geld doch auch nicht!, hätte Hertha zu ihr gesagt. Sie wollte bei Hertha Terrain wettmachen und nicht als eine vom „Stamme nimm" gelten, wie die Mutter ihr das früher vorgehalten hatte. Sie wollte weiter sparsam leben, doch ein, zwei Anschaffungen machen.
Einen Tag war´s so warm, dass sie ohne Cape aus dem Haus wollte, nur im Flanell-Jackett, von einer Schneiderin angefertigt wie einiges mehr, das sie vor der Reise in Läden nicht wunschgemäß oder zu teuer zu kaufen bekam. (Die Schneiderei recht preiswert.)
Wart mal, sagte Hertha, brachte einen meterlangen Schal an, gestreift, aus feinster Wolle, schlauchförmig gestrickt. Wie sie ihn um sich schlang, sah sie aus wie eine ganz andere. Den ganzen Tag ging sie als Reiche verkleidet. Sie sah, wie die Menschen immer erst auf den fünfhundert-Mark-Schal blickten und ihr dann in´s Gesicht. Die Verkleidung tat ihr so gut, nachdem sie sich ja einen anderen Tag wie eine Nichtsesshafte gefühlt hatte. Die Nichtsesshaften von ihr weiter wahrgenommen. Und was noch an Menschen waren, die auf der Straße ihr Leben fristeten. Auf dem Steinfußboden in der Einkaufspassage sitzend eine junge schwarzhaarige Frau, neben ihr ein in Tüchern gewickeltes Kleinkind. Junge Leute spielten auf Originalinstrumenten irische Folklore. Die Menschen umringten sie. Immer wieder ging einer in den Kreis, gab Geld in eine Büchse, nahm eine bereitliegende Kassette. Weithin zu hören das Spiel eines Akkordeons. Fröhliche, wilde Melodien. Wie sie näher kam, sah sie das Gesicht des Spielers: kalt, unbewegt. Seine Finger glitten mechanisch über die Knöpfe, die Tasten. Einer saß auf dem Boden, setzte die Flöte nie ab. Eine Melodie reihte sich an die andere. Das Instrument heiser. Der Spieler achtete nicht darauf, schaukelte rhythmisch nach vorn, nach vorn. Unaufhörlich. Niemand herrschte ihn an, man wolle ihn nicht mehr hören, nicht mehr sehen. Geld gab man ihm auch keines. Sie versuchte, das alles nur so nebenher zu sehen wie die Einheimischen und nicht zu werten. Sie war doch Gast in dem Land.
Hertha fragte sie ab und schickte sie ins Naturkundemuseum. Nun musste sie doch fahren, ließ sich von Hertha sagen, zu welcher Station und wurde von den Fahrgästen darauf hingewiesen, den Sammelfahrschein zu entwerten, den sie in der Hand hielt. Wenn die Kontrolle käme! Das war eine solche Fürsorge! (Den Sammelfahrschein hatte sie von der Stadt zum Begrüßungsgeld hinzugeschenkt bekommen.)
Indem sie die Funde aus früheren Erdzeitaltern besichtigte, bekam sie eine ungefähre Vorstellung, wie die Gegend Millionen Jahre, bevor die Menschen kamen, ausgesehen hatte. Schon in der Altsteinzeit war sie bewohnt gewesen, Kelten kamen. Römer. Einzig irritierten sie die vor Sauriern und Riesenhirschen sitzenden Kunststudenten. Ihr erschien deren Aufgabe sehr akademisch und wenig erfreulich.
Am Abend übergab Heinrich ihr einen Brief von Götz. Sie las den Brief und sagte zu Heinrich, der sicher wissen wollte, was der Sohn geschrieben hatte: Der Götz hat mich eingeladen. Auf der Rückreise könne sie doch bei ihm vorbeischauen, hat Götz geschrieben. Platz sei in der Wohngemeinschaft genug.
Heinrich teilte die Nachricht Hertha mit. Der Götz hat sie eingelade, so, sagte Hertha. Warum weiß i nix davon! Muss man solche Sache hinter meinem Rücke mache.
Es war nicht hinter deinem Rücken, sagte sie. Er hat mir geschrieben. Heinrich hat mir den Brief gegeben!
Ja, ihr erzählet!, sagte Hertha. Aber lassen wir das. Hertha nicht mehr zu bewegen, ein weiteres Wort der Erklärung anzuhören.
Du musst den Götz anrufen, sagte Heinrich. Sie wählte die Nummer, die Heinrich ihr gab, erreichte Götz, sagte, wie sehr sie die Einladung freue und auch, dass seine Mutter irritiert sei.
Da gib mir die Hertha doch mal!, meinte Götz, schien entschlossen, die angebliche Kränkung zu tilgen. Mutter und Sohn redeten lange. Danach war Hertha bester Laune.
Kannsch der Beate mal zeigen, was dir am Herzen liegt, sagte Hertha zu Heinrich an einem anderen Tag und beauftragte ihn zu einem Spaziergang in die Staatsgalerie, was immerhin ein ganzes Stück Weg für Heinrich war. Sie schritten dann die lange Glasfront der Galerie ab. Heinrich zunächst auf ein anderes Ziel aus: In einem der Räume im Erdgeschoss tagten Hertha und ihre Mitstreiter wegen der Asylanten-Hilfe. Sie saßen hinter der Glasfront wie öffentlich ausgestellt. Als Hertha redete, erkannte auch Heinrich seine Frau an den Gesten. So eine kindliche Freude hatte er, Hertha heimlich zu beobachten, dass sie davon angesteckt wurde. In der Galerie lief sie bald herum wie betrunken. Wann je hatte sie in einer ständigen Ausstellung so viel an Originalen gesehen, die sie zuvor schon von Abbildungen kannte, Klee und Nolde und Picasso und Schlemmer und und! Heinrich erklärte den Reichtum: Die Mittel für den Ankauf der Bilder kämen aus dem Reinerlös der Klassenlotterie. Wir können sicher auf dem internationalen Kunstmarkt nicht mithalten, sagte sie und meinte mit wir den Staat, aus dem sie kam. Aber ihr habt Dresden! , tröstete Heinrich, führte sie zu der Vitrine, in der sich Arbeiten des Bildhauers befanden, von denen Hertha und Heinrich auch Stücke besaßen.
Der Rückweg zu Fuß dann doch zu anstrengend für Heinrich, so dass sie die S-Bahn nahmen. Gern hätte sie von Heinrich erfahren, wie der Fahrkartenautomaten zu bedienen wäre. Doch der in Erklärungen über Alltagsdinge so unwillig wie Hertha.
Einen Abend besuchten sie zu dritt eine Aufführung der anthroposophischen Bühne. Wenige, offenbar kundige Zuschauer hatten sich eingefunden. Damen neben ihr redeten von der Inszenierung einer anderen Bühne in so hohen Worten, die hätte sie nie in den Mund genommen. Hertha wies auf die gedeckt-rosa Farbe des Saals hin und die besondere Form der Säulen. Alles hatte seine tiefe Bedeutung.
Nach der ersten Szene war ihr unklar, wie sie den Abend mit Anstand überstehen sollte. Vorsichtige Kritik hörte sie in der Pause selbst von ihren beiden Nachbarinnen: Im Grunde hätte man es ja hier mit Laien zu tun.
Ich hätt nicht gedacht, dass so was geht, realistisches Theater, sagte Hertha nach der Vorstellung. Aber in sich issesch stimmig. Hertha hatte offenbar die Fähigkeit, sich Dinge zurechtzusehen. Und du, Beate, was meinsch?
Nee, sagte sie. Nee! Mit diesen zwei Worten der Umgangssprache gab sie ihren Unmut kund, der beträchtliche Ausmaße angenommen hatte.
Das Wochenende sollte gemeinsam verbracht werden. Für den Samstag ein Besuch im Thermalbad geplant. Gleich am Morgen stand sie im Flur, der übereck ging, sich vor der kleinen Küche weitete. Sie stand mit glühendem Kopf. Denn wieder einmal war sie die, die auf gar nichts von selbst kam, der man alles am liebsten dreimal sagen sollte und die alles falsch machte. Das Versäumnis konnte nicht wettgemacht werden, indem sie schnell mal hinunter ins Gartenhäuschen ging, um eins von den Badetüchern zu holen, die dort reichlich lagen und von denen sie eben nicht mitgebracht hatte. Nein, Hertha musste beschämen, indem sie ins obere Stockwerk stieg. Nun geh i selber nach oben, obwohl, notwendig war ´s net g´wesa!
Sie schämte sich den Morgen immer so weiter. Nächstens im Thermalbad, dem Leuze, zu dem Hertha sie mit ihrer gerade reparierten Ente fuhr. Weil sie nicht wusste, dass die am Einlass gekaufte Karte als Verschluss des Spindes diente. Weil sie mit dem Mechanismus nicht zurande kam, so dass Hertha mit ihrer Karte den Spind schloss. Und wie sie nach dem Duschen am Beckenrand stand und Hertha kam und kam nicht und war auch nicht unter einer der Badekappen im Becken auszumachen, schwamm Heinrich auf sie zu und sagte mit großem Vorwurf in den Augen, was sie seiner Frau angetan hatte: Du hast Herthas Karte verloren! Sie konnte nicht vor und nicht zurück! Sie war also wieder an etwas schuld und wusste dieses Mal gar nicht, wieso. Dann war die Karte doch gefunden, sie war also falsch beschuldigt worden, und Hertha im Wasser, so dass sie nun auch ins Becken konnte.
Das Wasser unerwartet warm. Sie schwamm durch einen mit durchsichtigen, dicken Folien-Bändern überbedeckten Durchlass ins Freie in einen ovalen Kanal, ließ das mit großem Druck aus Wänden herausschießende Wasser auf ihren Körper trommeln und vergaß alles, was sie den Morgen hatte an Beschämendem hinnehmen müssen, auch das flaue Gefühl aus leerem Magen. Denn Frühstück sollte erst nach dem Baden sein.
Sie stemmte sich aus dem Kanalbogen, weil sie hatte einen hinüber springen sehen zu einem fast menschenleeren Becken. Sie wollte sich etwas beweisen. Sie also nass und fast nackt in Novemberkälte im Freien, rannte die kleine Strecke zum anderen Becken, stieg ins Wasser. Kalt. Oh! Oh! Sie musste gewaltig ihren Mund zumachen, um nicht Schreckensschreie hören zu lassen. Aber das Wasser perlte und reizte die Haut und machte die Haut warm. Wie sie was davon in den Mund bekam, schmeckte es nach Mineralwasser. Sie badete wohl nicht in Eselsmilch, aber in Wasser, sonst in Flaschen zum Trinken abgefüllt. War das gut! Sie sah auf den blauschwarzen Novemberhimmel, die grünen Wiesen, durch die Nässe schwarzen kahlen Bäume, den Hügel, hinter dem ein Kirchlein. Epigonal, was tat´s. Ein gleißend-goldener Streifen über dem Kirchlein wie ein Riss im schwärzlichen Himmel. Den Blick aus dem quellenden Mineralwasser mitten im November hinaus in diese Landschaft wollte sie im Kopf behalten. Wenige mit ihr im Becken. Die zogen stummstill ihre Bahnen in scheinbar gar keiner Freude und als gäbe es nur sie ganz allein. Das war hier wohl so, jeder für sich. Man kann auf Dauer hier als Fremde schwer leben, dachte sie. Im Kanalbogen traf sie auf Hertha, die sich an der Halterung klammernd mit dem Rücken gegen einen herausschießenden Wasserstrom stellte. Ich war drüben im Becken!, sagte sie, musste wie ein Kind erzählen.
Gell, s´isch was Herrliches, erwiderte Hertha. Der Heinrich und ich, wir lieben das Leuze über die Maßen! Sie lächelte wieder einmal dieses besondere, dieses Nicht-von-dieser-Welt-Lächeln, glückselig wie schon den Himmel erschauend, entblößte ihre Zähne. Sie war dem Gesicht von Hertha so nah, und das lag vor ihr im Tageslicht, dass sie sah: die Zähne lang und gelb. Und das Gesicht auch so blass mit Altersflecken und einer moosig-rötlichen Flechte. Also Hertha sonst geschminkt und jetzt nicht. Das Fleisch der Arme nicht sehr fest. Aber um den Brustkorb ging´s noch. Hertha gab sich ganz ihren scharfen Augen preis und hatte eine Würde dabei, schon wunderbar. Fast machte sie das Alter mit allem Hässlichen zu dem, das man eigentlich ersehnen sollte. Wenn man erst einmal die Schwelle der Scham überschritten hatte! Wenn man so gelassen die Erbärmlichkeit des Körpers nahm, kam daraus Schönheit. Sie durchschwamm die zweite Schleuse in die Halle hinein, begab sich in einen Liegestuhl, sah durch das Glas weiter hinaus ins Freie. Hertha noch bei Heinrich im kleinen, runden Heißwasser-Becken. (Das würde sie nicht so schnell vergessen, wie Heinrich dagelegen hatte im heißen Wasser, seinen mageren, alten Körper badete!)
Später zeigte Hertha ihr die Platane im Innenhof. Was ich die liebe!, sagte sie mit Emphase. Hertha, diese manchmal richtig böse Frau mit sehr unfreundlichen Wort für fast jedermann, neigte zu Gefühlsüberschwang. Das eine stand neben dem anderen ganz unvermischt. Ihr machten solche Worte wie Liebe eher Angst, erzeugten Befangenheit, weil sie selbst mit solchen Worten nicht dienen konnte.
Gläserne Wandelgänge führten um die Platane. Im kleinen Café des Obergeschosses hatte man auch einen Blick auf das Hallen- und Freigelände. Hertha und Heinrich kauften für das Frühstück. Währenddessen kam sie ins Gespräch mit zwei Einheimischen, die ihr sagten, zu welch günstigerem Preis man auch im Leuze baden könne, wollte man häufiger kommen. (Ihr schien vieles so unerschwinglich, was man doch täglich oder wenigstens wöchentlich brauchte wie mit der S-Bahn-Fahren oder auch Baden. Und anderes billig, dass man es kaum glauben mochte, in der Regel Dinge, die man nicht täglich kaufen musste.) Bisher hatte sie noch mit keinem einzigen Menschen von hier außerhalb ihres Verwandtschaftskreises gesprochen. Gleich fühlte sie sich sehr gut. Es stand zwar für sie nie die Frage, hier zu bleiben. Aber sie dachte an die, die es in ihrem Land nicht ausgehalten und es unter schlimmen Umständen verlassen hatten. Ob sie heimisch werden konnten im Süd-, Mittel- oder Nordwesten. Brezeln hatte sie sich bei Hertha gleich zwei bestellt mit Butter, so dass sie satt wurde, was auch nötig war, denn bis zum Abend gäbe es nichts mehr. Sie hätten ja so spät gefrühstückt, sagte Hertha. Immer früh, mittags, abends etwas essen zu müssen! Offenbar hatte sie eine lächerliche, kleinbürgerliche Gewohnheit über vierzig Jahre hin betrieben. Später setzten sie Heinrich in der Urbanstraße ab und fuhren weiter zum Markt am alten Schloss.
So viele Stände, wo die Bauern ihre Ware anboten und Händler südliche Früchte verkauften. Man konnte jedes Gemüse, Obst Stück um Stück begutachten, nach frischen Kräutern Ausschau halten, ob sie auch wirklich frisch waren, vergleichend, verhandelnd herumschlendern zwischen den vielen Ständen.
Hertha redete nun in breiterem Schwäbisch. Tat das ganz ohne sich herabzulassen. Als sei sie eigentlich nur hier unter den Bauern, ihren Frauen zu Hause. Das schätzte sie an Hertha: Sie war mit jedem Menschen, ob hoch oder gering, gleich auf du und du. Sie wanderte Hertha nach, nahm belustigt die Rolle der Bediensteten an, die man mitgenommen hatte, damit sie die Einkäufe hinterher trage. Am Morgen hatte Hertha wie etwas Besonders angekündigt, sie werde mit ihr nach dem Leuze auf den Markt gehen, und sie hatte gedacht: Was soll das schon Besonderes sein? Sie kaufte immer alles auf einmal in der Kaufhalle, das musste für eine Woche reichen. Jetzt verstand sie: auf-den-Markt-Gehen war etwas anderes als bloß einkaufen. Es war eine Zeremonie wie das Kochen, wenn man das nicht zum alleinigen Zweck tat, um sich und andere zu sättigen.
In die Markthalle müsse wir au noch!, sagte Hertha.
Das dann ein fast noch größeres Erlebnis. Stand an Stand, Angebote von vielleicht hundert Sorten Käse, vielerlei Fisch und im Meer lebenden Tieren sonst, von Fleisch und so vielen Arten von Wurst, von Gewürzen und fremdartigen Erzeugnissen, von denen sie gerade Melonen und Oliven herauserkannte. Die Augen gingen ihr über.
Ein Auf und Ab von Menschen und weiter Neues, über dessen Verwendung und Geschmack sie nachzudenken hatte. Sowieso konnte man sich zwischen all den Ständen ganz leicht verlaufen, was nun auch Hertha klar war. Denn sie gab deutliche Anweisungen, wo sie stehen zu bleiben hätte, während sie schnell noch mal da und dorthin ging. Der Einkauf im Wesentlichen für das Quäker-Frühstück morgen, am Sonntag, bestimmt und mehr nebenbei für das, was sie, Hertha und Heinrich am Wochenende brauchten. An Fleischständen ging Hertha vorüber mit der Erklärung, dass sie und Heinrich nun kaum noch welches äßen seit sie wüssten, das Vieh würde mit Futter aus Entwicklungsländern gemästet zum Schaden für die Wirtschaft und Nahrungsmittelversorgung dieser armen Ländern. Sie selbst war gewohnt, in großen Zusammenhängen zu denken und dass man alles erreichen könne, wenn man nur verstünde, die Massen davon zu überzeugen. Zwangsläufig war damit das Handeln des einzelnen nur dann von einem Wert, wenn es sich bündelte mit dem vieler einzelner und ansonsten so vergebens. Zwischen sich und der Gesellschaft einen so persönlichen Zusammenhang herzustellen, wie Hertha und Heinrich es taten, der Gedanke war ihr fremd, doch bedenkenswert. Dass man mit dem ändern wollen in der Welt durch ganz persönliches Handeln im Alltag anfing ohne Rücksicht auf eine sichtbare Wirkung und im Zweifelsfall gegen Windmühlenflügel kämpfte.
Am Ende alles beisammen, Weintrauben, Äpfel, Brot, Gebäck, Käse und geräucherter Fisch. Bei der angebotenen Fülle eine eher bescheidene Ausbeute. Und wie sorgsam hatte Hertha den Käse auswiegen lassen. Sie hätte Pfunde eingekauft.
Puritanerin aber war auch sie, indem sie sich den Gedanken versagte, an einem übernächsten Tag in die Markthalle zurückzukehren, um sich von Herthas Geld den Bauch mit Köstlichkeiten vollzuschlagen.
Am frühen Abend, Hertha hatte gerade Ravioli auf den Tisch gebracht, kam ein Anruf. Lis, du!, rief sie. Dann nahm sie offenbar einen verspäteten Glückwunsch entgegen. Ach Lis, sagte sie dann. Du weißt doch, was du für ein Vorbild für uns alle bist un wie wir uns alle an dir ein Beispiel nehmet!... Ich auch, Lis! Mer könne uns ja gar nich mit dir vergleiche... Grad ich, Lis, kann einschätze, was du leischtest in deinem Leide!
Hertha wie ein junges Mädchen, gab Verehrung so lauthalsen Ausdruck!
Kats Mutter, erklärte Heinrich. Sie ist seit vielen Jahren gelähmt. Rheuma.
Übrigens, die Beate ischt au hier. Aus Ostberlin, denk mal, sagte Hertha. Sie hat die Einreise gekriegt, dabei is sie grad ersch ... Wie alt bisch, Beate?
Sie antwortete, erstaunt, dass der alten Dame ihr Name etwas sagte. Die Verwandtschaft doch so entfernt. Ja, natürlich, sie wusste, wer diese Lis war. Der Konteradmiral hatte eine Rolle in Erzählungen ihrer Eltern gespielt. Seines Ranges wegen. Und wegen seines segensreichen Vergessens von dem, was seine entfernte Nichte und der junge Mann, seit dem Jahre 37 in der Marine, bei ihrem Besuch auf seinem vor Cuxhaven liegenden Schiff gewollt hatte. Der junge Mann, ihr Vater, nämlich wollte sein Abitur nachmachen, um eine Offizierslaufbahn einschlagen zu können. Indem der Konteradmiral vergaß, blieb der junge Mann an Land als Telefonist und damit am Leben und hatte wegen seiner ziemlichen Unschuld nach Kriegsende bald eine Anstellung bei der Stadt mit Aufstiegsmöglichkeiten. (Eine andere Sache, dass er dann in die sowjetisch besetzte Zone ging, wo er nun keinerlei Aufstiegschancen hatte und bald mit dem Staat kollidierte und so von einer weltlichen Laufbahn abgedrängt wurde in eine kirchliche.)
Hertha sprach nun mit einem Richard.
Wer ist das?, fragte sie Heinrich.
Der Mann von Lis.
Der Konteradmiral? Ich hab gedacht, der ist schon lange tot!
Sie schaute auf Hertha, als rede die mit einem Gespenst. Der Konteradmiral eine Gestalt aus Sagenzeiten, als es Hitler gab. Die Lis eine Überlebende. Frauen überlebten. Doch der Konteradmiral gestorben. Das gehörte sich so, dass die von damals nur noch in Erzählungen unseligen Angedenkens nicht mehr existierten. Also nicht gestorben. Ein alter Mann, der sich an Herthas Geburtstag erinnerte.
Wie alt ist er denn?, fragte sie Heinrich.
Etwas über neunzig. Und nun iss. Wenn Hertha telefoniert, hat sie nachher sowieso kaum Appetit.
Sie nahm von den Ravioli, von der mit Basilikum gewürzten zerlassenen Butter, dem Parmesankäse. Und als Hertha ihr Gespräch beendet hatte und tatsächlich nur wenig aß, genehmigte sie sich noch eine zweite Portion. Sie hatte den ersten Teller voll ja nicht vor Herthas Augen gegessen. Und vor Heinrich schämte sie sich auch, aber weniger.
Hertha sprach über den alten Verwandten. Von Schuld wisse er nichts. Und er könnte bis heute nicht verwinden, dass ihn die Russen wegen missbräuchlicher Benutzung sowjetischer Straßen verurteilt hatten. Auch habe es ihn gekränkt, dass er seiner Rückkehr in die Bundesrepublik zunächst um zwei Gehaltsstufen zurückgestuft wurde. Er hat wohl bei seinen Truppen auf der Ostsee nicht mitbekommen, was in Hitlerdeutschland passiert ist!, sagte Hertha ungewöhnlich nachsichtig. (Als ob man sich nicht danach noch informieren konnte!) Das Ehepaar lebte heute in der Schweiz. Ihre alte Haushälterin hätten sie vorbildlich mit einer guten Rente versorgt, sagte Hertha, und er kümmerte sich rührend um seine gelähmte Frau. Offenbar war es Hertha darum zu tun, das Ansehen des Alten ein wenig zu heben und damit die Freundschaft zu ihm in günstigerem Licht erscheinen zu lassen. Sie hielt ja auch Heinrich nicht mehr vor, dass er Offizier gewesen war. (Mit dem Vorhalten dieser auf Heinrich lastenden Schuld hatte sie die Söhne auf ihre Seite gebracht, wusste sie von Stefan. Heinrich, der Fremdgeher, Heinrich, der Nazi.)
Jaja, sie befand sich in dem Land, in das die Generäle und Admiräle und Konteradmiräle gegangen waren. Andere, die mehr zu befürchten hatten, gingen nach Südamerika zum Beispiel, wohin zuvor die Emigranten vor Hitler geflüchtet waren. Oder Südafrika. Irgendwo mussten auch die leben. Die Generäle hatten bloß Krieg geführt, wozu ihre Kaste ja ausgebildet war. Und was da noch vorgekommen war an Dingen, zu denen selbst Krieger nicht berechtigt waren, davon hatten sie natürlich keine Ahnung, das entzog sich ihrer Kenntnis. Die Logik, weshalb sie mit sehr guten Renten belohnt wurden, so dass sie sich auch gegenüber ihren Haushälterinnen großzügig zeigen konnten, war ihr allerdings nicht zugänglich.
Das Abendessen früh, damit sie noch in die Oper gehen konnte. Hertha brachte sie bis zum Theater, drückte ihr hundert Mark in die Hand. Frag, ob jemand noch eine Karte abgibt. Isch billiger! Doch sie kriegte den Mund nicht auf, so dass sich Hertha - leicht unwillig - für sie aufmachte. Hertha schritt durch das Foyer, sprach Leute an. Unter den Theaterbesuchern keine wie Hertha. Die weißhaarige, löwenhäuptige Dame in weiter, eleganter Kleidung erkannte man überall heraus. Herthas kam zurück mit einer Karte für Studenten, Bundeswehr, Ersatzdienst. Mach dein jüngschtes Gesicht!, sagte Hertha, was sie eine sehr hübsche Bemerkung fand. Doch ihr Lachen blieb nicht lange, denn Hertha wollte die hundert Mark wieder, und sie hatte keine mehr. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr vorhanden gewesen! Schon gut!, sagte Hertha, schnitt mit scharfer Geste Worte der Entschuldigung ab, suchte auf dem aushängenden Plan, wo sie sitzen würde, übergab ihr ein Theaterglas. Sie hatte im dritten Rang ihren Platz, ging die Treppen hinauf. Während des ersten Akts ihre Aufmerksamkeit geteilt zwischen dem Geschehen und Gesang auf der Bühne und dem Opernglas, das sie in den Händen hielt. Jeden Augenblick vergewisserte sie sich, ob sie es noch hielt, da an diesem Tag ihren Händen, Schlüssel, Geld und sonst vielleicht noch Gegenstände auf unerklärliche Weise entkamen.
Der Vorhang fiel. Man klatschte, war in die Pause entlassen. Kaum stand sie auf, als sie angesprochen wurde.
Fräulein Krüger?, fragte eine Dame vom Einlassdienst. Ja?, Sie war kaum verwundert, dass sie mit dem fast richtigen Namen, dem Mädchennamen ihrer Mutter, angesprochen wurde. Ich möchte von Ihrer Tante, der Frau Conradi, ausrichten, das Geld hat sich angefunden!, sagte die Dame. - Danke, danke!, erwiderte sie, war ebenso gerührt, ja geradezu überwältigt von Herthas Fürsorge, wie sie vorher entsetzt gewesen war. Hertha hatte sich bis in den dritten Rang aufgemacht, wusste ja ihren Sitz, und dafür gesorgt, dass ihr nicht der ganze Abend verdorben wurde durch ihr angebliches Missgeschick. (Sie immer so ganz ohne Gedächtnis dafür, was man ihr gegeben oder genommen hatte, so dass sie in dieser Familie die ständige Verliererin sein würde.) Hertha hatte gutmachen wollen und war auch etwas durcheinander gewesen, dass sie wieder mal die Namen verwechselte. Es kam öfter vor, dass Hertha sie mit dem Vornamen ihrer Mutter ansprach. Sie nahm für Hertha den Platz der Mutter ein. Ich vermisse nichts, hatte Hertha gesagt. Du bist ja da. War vielleicht kein so schlechter Tausch, eine Cousine zu haben mit zwar wenig Interesse für Religion, aber dafür anderen Interessen und eine Generation nach ihr. Und dass Hertha Verlust spürte und Ausgleich suchte und den Namen der Mutter noch im Kopf hatte, zeigte eine Anhänglichkeit und Treue, die sie an Menschen immer gut leiden mochte.
Angekündigt für den Sonntagmorgen die Andacht der Quäker im Haus. Kannsch dran teilnehme, hatte Hertha gesagt. Da dät dir kein Zacke aus der Krone breche. Das war eine milde Aufforderung gewesen. Sicher konnte Hertha ermessen, was ihr an religiöser Übung zuzumuten war. Sie hatte ja keine Feindseligkeit, nur eben gar keinen Glauben. Hertha und Heinrich hergerichtet in feierlichem Sonntagsstaat. Ihr gefiel das Festliche am Sonntag immer, wenn sie selbst ihn auch von Wochentagen nie unterschied außer in etwas aufwendigerem Frühstück. Das hier würde nun besonders lecker. Sie sah den Käse, die Trauben, die verschiedenen Sorten Brot, am Tag zuvor mit ihr auf dem Markt gekauft. Aber das Frühstück weit in den Tag hineingeschoben bis nach der Andacht.
Wenige fanden sich zur Zusammenkunft ein: zwei ältere Damen, ein Ehepaar, sie schmal in bescheidenster Kleidung, er graubärtig in der Kluft des Wandersmannes, ein Jüngling, der wohl in der Annahme, auch sie sei Quäkerfreundin, den still-begeisterten Blick lange nicht von ihr wendete. Heinrich von der Runde etwas abgesondert am Gasofen in seinem Lehnstuhl.
Hertha las ein Stück aus einer vor Jahrhunderten verfassten theologischen Schrift. Mit einem Mal hörte sie ihre Großmutter, die eine leidenschaftliche Vorleserin gewesen war. Die gleiche altersraue Stimme, die Rachenlaute auffallend, noch mehr als bei der Großmutter. Stunden hatte die Großmutter vorgelesen und hätte man bei der nüchternen, spröden Frau niemals eine solche Leidenschaft vermutet. (Tante Traudchen, Hertha wie auch Heinrich sprachen mit großer Zärtlichkeit von ihr. Sie war ein Mensch sehr unterschieden von anderen gewesen, auch im Alter eine Zuhörerin, immer interessiert an dem, was in der Welt und mit anderen Menschen vorging, so dass sich wohl die Jüngeren jeder Generation von ihr angezogen fühlten.) Hertha hätte immer so weiterlesen können aus dieser in guter Sprache geschriebenen Schrift. Doch hielt das Vorlesen nicht lange an. Das Ende der Lesung dann auch das Ende aller Worte. Fort und fort schwieg man. Langsam dämmerte ihr, man gäbe ihr auf die Weise zu verstehen, sie störe den Kreis durch nicht genügend Andacht und Glauben. Man warte darauf, dass sie endlich aufstände und ginge. Dann würde man fortfahren in der Andacht, reden, widerreden, singen vielleicht auch, beten. Heiß wurde ihr, die Hitze zuerst im Gesicht, flutete durch den ganzen Körper. Wie sie schon aufstehen wollte, war ihr, dass ihre Worte, ihr Weggehen noch mehr Unheil anrichteten. So blieb sie doch lieber auf ihrem Platz, bis einer etwas zu ihr sagte. Doch niemand richtete das Wort an sie. Da endlich wurde ihr klar: Das Schweigen war Andacht! Verstohlen sah sie auf die Gesichter. Die angespannt wie bei harter Arbeit. Wieder dachte sie an die Großmutter, wie die um Versenkung gerungen hatte. Die Stirn gerunzelt, die Lippen zusammengezogen, dass Fältchen um den Mund entstanden, so hatte sie leise gebetet. Bei dieser Anstrengung der Großmutter war ihr oft zum Lächeln zumute gewesen. Als könne man Gott zwingen!, hatte sie sich gedacht.
Eine dreiviertel Stunde vergangen. Noch immer schwiegen Quäker-Freundinnen und -Freunde. Das unerwartete Schweigen wurde dadurch gelohnt, dass sie am Mahl teilhaben konnte. Sie versuchte, unauffällig immer wieder zuzugreifen, während die anderen miteinander sprachen.
Wie treu Hertha war, diese Menschen zu sich zu laden, die nichts besaßen, was sie für Hertha anziehend machte, außer ihrem Glauben, damit sie eine geistliche Gemeinschaft hätten!
Am letzten Abend gingen Hertha und Heinrich mit ihr in ein kleines Kino. Der Eintrittspreis überstieg ein Vielfaches von dem, was sie gewohnt war. Heinrich kannte den Film schon. Sie erinnerte sich an Ausschnitte einer Sendung des Westfernsehens.
Man hatte von kalten Farben geredet und dass der Film hauptsächlich in Innenräumen spiele, was für das Schaffen des Regisseurs von Bedeutung sei. Sie sagte Hertha und Heinrich davon. Ihre eigentliche Mitteilung aber: Wir sind drüben auch nicht auch nicht aus der Welt! Allerdings musste sie Hertha und Heinrich am wenigstens davon überzeugen. „Auf Wiedersehen, Kinder!" sagte der Pater. Sie hatte von keiner Träne wissen wollen und bis dahin durchgehalten. Nun musste sich nun doch die Augenwinkel tupfen und beiseite sehen, als es hell wurde.
Sie nahm wahr, wie Hertha kurz den Arm um den kleineren, so zierlichen Heinrich legte, dann mit der Faust seine Wange streichelte. Un das hasch du allein ausgehalte!, sagte sie. Hertha zartfühlende Ehefrau, die wusste, wie ihr Mann Filmen ausgeliefert war! Da musste sie auch nicht mehr beiseite schauen, sondern konnte Hertha zulächeln. Und Hertha lächelte zurück. Den ganzen Tag war schon so eine milde Freundlichkeit in Herthas Gesicht, die signalisierte: Wir verstehen uns! Mit Anne sind wir auch immer ins Kino gange, sagte Hertha. (Anne, Gisels Tochter, hatte eine Weile im Gartenhäuschen gewohnt.)
Sie ischt eine enthusiastische Kinogängerin. Anne liebt das Melodram. „Jenseits von Afrika" hat sie, mein ich, siebe Mal gesehen. Anne sagt, den „Kaiser von China" sollsch dir hier unbedingt ansehe. Aber wenn bei euch auch alle große Film komme, da isches kein Verluscht, dass er bei uns jetz net komme isch!
Hertha war so um ihre Vergnügungen besorgt!
Bis nach Mitternacht saßen sie mit der schwarzen Kat, die sich hatte den Besuch nicht ausreden lassen, als sie von der vorzeitigen Abreise erfuhr. Sie schwatzten miteinander. Sie hatten sich alle gut angefreundet. Und Hertha und Heinrich ihrem Herzen so nah. Man bekam von Hertha so viel mehr mit, wenn man sie mit Heinrich zusammen erlebte. Ich steh nicht so früh auf, sagte Heinrich, als sie sich endlich eine Gute Nacht wünschten. Sie war verwundert, dachte dann aber, Heinrich hätte recht, dem Abschied nicht so eine Bedeutung beizumessen.
Früh war Heinrich dann doch auf den Beinen. Nanu!, sagte sie.
Nanu, wiederholte auch Hertha, als die ihren Mann sah.
Heinrich brachte sie und Hertha bis zur Haustür. Immer noch hing der Kranz aus Grün, getrockneten Blumen und Früchten, den Heinrichs Nichte dort zu Herthas Geburtstag angebracht hatte.
Es war ein sehr schöner Morgen. Sie wandte ihren Kopf zur Seite, sah noch einmal zum langen, schattigen Gärtlein neben dem Haus. Eine halbe Efeu-Wildnis, so wollte es Hertha, und tat einen Blick auf die andere Seite, wo man die unschöne Friedenskirche sah. Sie schaute hinunter in den Hof. Zweiundvierzig Stufen hatte Heinrich gezählt. Grüß den Götz von mir, sagte Heinrich mit seiner leisen, alten Stimme, küsste sie auf den Mund. Und wann kommst du zurück?
Aber sie kommt doch nicht zurück, Heinerle, sagte Hertha.
Ich fahr noch zu einem Jugendfreund nach Bad Pyrmont, erklärte sie. Erst zu Gisel, dann zu Götz und dann nach Bad Pyrmont. Ich hab mich erkundigt, es ist egal, welchen Grenzübergang ich zurück nehme. Sie lachte.
Mit einem Mal eine Gleichgültigkeit in Heinrichs Gesicht. Als wäre er nicht doch ihretwegen so früh aufgestanden und hatte sie nicht eben noch geküsst. Er hat sich zurückgezogen, dachte sie. Jeder Abschied konnte einer für immer sein. Noch dazu, wenn man ein Wiedersehen erst in Jahren in Betracht zog.
Sein wohl bitterster Abschied lag ein halbes Jahr zurück, so dass man meinen konnte, eigentlich dürfe Heinrich gar nichts mehr berühren. Hertha hatte darüber geschrieben. Seine Helferin, 26 Jahre bei ihm in der Praxis, Tochter und Geliebte, ist wenige Tage nach ihrem 50. Geburtstag gestorben. Urplötzlich. Und so ist er auf mich verwiesen. Hertha wird ihm beistehen, dachte sie. Wenn es sein muss, bis zum Äußersten. Sie erinnerte sich an einen Satz, den Hertha nebenbei gesagt hatte. Sie wird ihn nicht leiden lassen. Ausgerechnet zum Buß- und Bettag fahre ich!, sagte sie.
Oh nein, zum Friedenschtag, erwiderte Hertha fröhlich. Heut Nachmittag gehn wir zu einer großen Versammlung mit Pfarrer Alberts!
Wie Hertha immer auf das Nächstschöne sah und immer etwas wusste, so dass große Traurigkeit nicht aufkam. Sie selbst wusste auch, wie sie mit Abschieden fertig wurde: Sie nahm ganz bewusst Bilder auf, sammelte Fotografien für ihr Gedächtnis. Eine jetzt: Hertha und Heinrich vor der geschmückten Haustür in festlicher Kleidung und ganz besonderer Stimmung, die sich ihr jetzt mit dem Friedenstag erklärte. Hertha siebzigjährig, gangunsicher, gebeugt, wenn auch immer noch groß und mit diesem sphinxisch, Leid abwehrendem Lächeln. Neben ihr der zwölf Jahre ältere Heinrich, dieser stille, liebebedürftige Mann, der es an ihrer Seite nicht leicht gehabt hatte. Aber nun war er allein auf sie verwiesen, konnte ihr nicht mehr ausrücken, so dass eine Altersliebe gewachsen war. Seit nicht langer Zeit unterschrieb Hertha ihre Briefe H. & H., glücklich offenbar über die neue Gemeinschaft. Jetzt wollte sie alles gut und richtig machen. Und es hatte den deutlichen Anschein: Es gelang ihr.
Sie ging Hertha voraus die zweiundvierzig von Witterung und vielem Auf und Ab der Schritte mitgenommenen Stufen in den Hof hinunter, wo Herthas Ente stand.
Dann waren sie wieder auf dem Kopfbahnhof. Ihre Reise führte sie weiter zu Herthas Schwester Gisel. Sie würde das Haus sehen, in dem sie, von den Eltern getrennt, eineinhalb Jahre ihrer frühen Kindheit verbracht hatte. Eine Reise in den Westen galt es auszunutzen. Wohl glaubte sie, dass die Reiseerleichterungen von Dauer sein und den merkwürdigen Zustand der Trennung eines Volkes erträglicher machen würden. Wenn man von einem Volk vielleicht auch nicht mehr so recht sprechen konnte. Aber was wusste man?
Stehenbleiben und winken wollte Hertha doch nicht, so dass sie sich vor dem Zug umarmten in der Gewissheit, sich im nächsten Jahr mindestens in Ostberlin wiederzusehen. Hertha scheute ja keine Grenzübertritte.
Und grüß den Heinrich ganz lieb!, sagte sie.
Und grüß den Götz!, sagte Hertha, die wohl die Reise zu ihrer Schwester nur als Umweg zu der zu ihrem Sohn sah. Sie entblößte ihre langen, unregelmäßigen, gelben Zähne und hatte das allerschönste Lächeln in ihrem Löwengesicht.
Lasst´s euch miteinander gut gehen! Der Zug auf dem Kopfbahnhof hatte noch und noch Aufenthalt. Sie sah Hertha nach, bis die Gestalt mit dem Löwenhaupt in langem, weitem Cape zwischen den anderen Menschen nicht mehr auszumachen war.
1987