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KATZENFRAU

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Minnie, Standbild einer Rassekatze, weiß, ins Grau gehend das kurze Fell. Minnie thront. Ihr Lieblingsplatz der Geländerpfosten an der Treppe zum oberen Wohnraum. Oder das Einfuß-Tischchen neben der Eingangstür, ein Stilmöbel wie die meisten Einrichtungsgegenstände. Oder die Rippen der Zentralheizung. Minnie bevorzugt erhöhte Standorte. Von da kann sie alles überblicken. Ihre blauen Katzenaugen sind überall. Wird es uninteressant, schließt sie die Augen. Bei dem kleinsten ungewohnten oder schon herbeierwarteten Geräusch erblauen sie.

Schlüsselklappern. Türschließen. Minnie springt auf den Boden. Na, Minnie-Minnie, sagt Harriet, stellt ihre Einkaufstaschen ab, krault Minnie, die an ihren Beinen entlang streicht. Minnie nimmt Harriets Liebkosungen geradeso hin, und Harriet liebkost gerade so.

Wenig später kommt der schöne Henry, braunäugig, braun gebrannt, die Haare braun, der Schnurrbart ebenfalls. Minnie fordert ihm Begrüßung ab. Doch immer dieser zärtliche Henry! Sie springt weg, auf den Kühlschrank.

Harriet stellt sich auf die Zehenspitzen, macht eine Schnute. Küsschen, Henry, sagt sie. Der schöne Henry hätte sie sowieso geküsst. Aber Harriet ergreift immer vorsichtshalber die Initiative.

Ein Gläschen Saft oder ein Bierchen, Henry?, sagt Harriet und lächelt mit weit offenem Mund, der Gesichtsausdruck wahnsinnig gespannt. Ihre blauen Augen hängen förmlich an Henrys Lippen.

Ein Bierchen, ja, ein Bierchen, sagt Henry, setzt sich in den Ledersessel neben der Eingangstür, lässt sich von Harriet servieren, die das Öffnen des Bieres, das Einschenken, überhaupt alles mit merkwürdig gespreizten, ruckhaften Bewegungen tut wie eine Tanzpuppe, die aus Gründen mangelhafter Mechanik eine wunderbar künstliche Grazie hat.

Harriet turnt zwischen Kühlschrank, Herd, Spüle, die sich in einer Front befinden. Wieder diese abgezirkelten, pantomimenhaften Bewegungen. Klein ist Harriet, geblondet, langhaarig, hat ein schmales Gesicht, gebogene Nase, gebogenes Kinn. Ihr Körper ist durchtrainiert, body-gebuildet. Sie muss viel auf einmal tun, sonst würde sie krank. Ein Glück, als Empfangsdame in einem großen Krankenhaus wird einiges von ihrer Energie verbraucht. Womöglich sprühten sonst aus ihren Händen hin und wieder kleine Blitze. Ihre Arbeit verrichtet sie auf Zehenspitzen stehend. Vermutlich kostet das mehr Energie. Außerdem trainiert es. Standbein-Spielbein-Position, Spielbein angewinkelt. Manchmal erstarren ihre Hände in der Luft: Geste des Nachdenkens. Der schöne Henry kann ihren herrlich geformten Körper bewundern, die Muskulatur ihres Rückens, ihrer Arme.

Henry hat sein Bierchen getrunken, genießt nach einem langen, aufreibenden Arbeitstag im Büro den Anblick seiner Freundin.

Minnie hätte neben ihm auf den Einfuß-Tisch eine bessere Übersicht. Doch weiter zieht sie den Kühlschrank vor. Da ist sie in Bissnähe. Sie tut allerdings, als interessiere Harriet sie nicht, bis Harriet ihr mit langen Fingern Bissen zusteckt. Häppchen-Häppchen-Minnie?, fragt sie, zieht eine Schnute. Minnie schnappt zu. Katze und Harriet berühren sich nicht.

Harriet wird aufgeregt, tänzelt, die Posen wechseln schnell. Sie bückt sich, streckt ihren kleinen Hintern weit nach hinten, richtet sich halb auf, Beine immer noch angewinkelt, Kreuz durchgedrückt, Kreuz gebuckelt. Steht wieder gerade, extrem Standbein-Spielbein. Hält ihre Arme nach oben, lässt die Hände wie kraftlos fallen, krümmt nun die Finger, streckt sie, was wiederum die Bildung von Muskulatur fördert. Sie hat rote lange Fingernägel: Krallen.

Kann ich dir was helfen, Harrietchen?, fragt Henry.

Harriet dreht sich nach ihm um, schaut ihn prüfend mit ihren großen, schräg gestellten blauen Augen an, reißt sie noch ein wenig weiter auf: Och ja, sagt sie, Chicorée schnippeln!

Henry bindet sich eine Schürze um, sucht sich im Küchentrakt ein freies Plätzchen.

Harriet ist ständig um ihn herum, äugt. Aber im Weg brauchst du mir nicht zu stehen, Henry-Maus, sagt sie, als der schöne Henry sich nicht entschließen kann, nach dem Schneiden von Chicorée von Harriet zu lassen. Harriet lacht. Es ist ein helles, nervöses Lachen. Man sollte darauf achten, was Harriet vor oder nach so einem Lachen sagt. Das meint sie dann nämlich auch so.

Henry raucht sein Pfeifchen. Hat er sich so angewöhnt. Sieht sehr englisch aus, sehr nobel. Nahe der Nordseeküste, wo Henry und Harriet wohnen, hat man einen Hang zum Englischen. Henry hat ihn jedenfalls.

Minnie sitzt, starrt auf Henry.

Harriet turnt, tänzelt, steckt Minnie Bissen zu. Häppchen-Häppchen-Minnie?, sagt sie jedes Mal und zieht jedes Mal eine Schnute, als wolle sie Minnie küssen.

Schluss, Minnie! Sonst werden wir zu fett. Igittigitt, das wollen wir nicht, sagt Harriet.

Minnie ist gleichgültig, ob sie fett wird oder nicht. Aber Harriet hat das Sagen. Minnie springt vom Kühlschrank, läuft zur Essecke neben der Treppe, die hinauf in das Dachgeschoss führt, wandert von Stuhlbein zu Stuhlbein zu Tischbein, kommt wieder hervor, setzt schon zum Sprung auf das Einfußtischchen neben Henry an, besinnt sich und ist mit einigen Sätzen im oberen Wohnraum, Minnies eigentlichem Domizil. Hier verschläft sie die Zeit, in der Harriet und Henry nicht in der Wohnung sind. Einige lateinamerikanische grausliche Puppen und ein riesiger Basset leisten ihr Gesellschaft.

Der Basset kann nicht aus seinem Porzellan heraus, so dass Minnie ihn nicht fürchtet. Und für grausliche Puppen hat Minnie keinen Sinn.

Minnie schläft. Wie Katzen schlafen. Mit aufmerksamen Ohren.

Unten kämpft Harriet. Sobald die Fleischstückchen ins heiße Fett kommen, fällt ihre Teighülle ab, statt das Fleisch zu umschließen und knusprig braun zu werden. Harriet langt mit einem Spieß in den Topf, holt ein Stückchen Fleisch heraus, pustet, steckt es sich in den Mund. Schmecken trotzdem köstliche, Henry! Hm, große Klasse. Harriet schließt vor Entzücken die Augen, öffnet sie wieder, wackelt mit dem Kopf, macht den Rücken krumm, streicht mit ihrem Hinterkopf über ihre Schultern. Das bisschen Teig, was macht das schon. Manchmal ist sogar noch was dran. Willst du auch mal? Sie läuft mit einem nächsten Bissen zu Henry, krümmt ihren Rücken, pustet die Hitze vom Fleischstück, steckt es ihm in den Mund.

Aber so ist das nicht in Ordnung, sagt der schöne Henry gemessen und in seiner schönen gedehnten, nördlichen Sprache. Wirklich nicht, Harrietchen. So geht das nicht. Da lass doch bitte mich das machen!

Bitte, bitte! Harriet lacht, hat ihren Mund weit aufgerissen. Ganz spitz sind ihre Eckzähne, kein bisschen abgeschliffen.

Schließlich hab ich meine Erfahrung, sagt Henry.

Schließlich hast du deine Erfahrung, Henry, sagt Harriett. Sie hält sich die Hand vor den Mund, senkt den Kopf, versucht sich an einer ernsthaften Miene. Doch ganz kann sie es nicht lassen, ihn zu ärgern. Mit tiefer Stimme sagt sie: Schließlich bist du sieben Jahre zur See gefahren!

Ja, genau, sagt Henry.

Und was das heißt, bei Wind und Sturm und Wetter jeden Tag eine Mannschaft zu versorgen. Sie spricht weiter mit tiefer Stimme und nickt bedeutsam mit dem Kopf.

Ja, genau, sagt Henry. Niemand kann das ermessen, der es selbst nicht mitgemacht hat! Er bemerkt nicht, welch übermäßig starren Ausdruck Harriets Gesicht annimmt.

Henry behauptet, das Fett war nicht heiß genug, als Harriet briet. Vielleicht hat er auch noch dem Teig Zutaten hinzugegeben. Jedenfalls schöpft er eine Weile später Fleischstückchen vom Huhn, vom Rind, vom Schwein in tadellos knuspriger Ummantelung aus dem Topf.

Oh Henry, o Henry! Harriet umspringt den schönen Henry, klatscht in die Hände, redet in kindlicher Sprache auf ihn ein: Hattu Talent, kanntu kochen!

Henry zieht die Mundwinkel herab, ganz leicht, was sich bei seinem Schnurrbart ganz großartig macht, senkt die Augen, nur ein wenig. Ist er stolz oder ärgert er sich über Harriet und sagt deshalb nichts, um sie mit Nichtachtung zu strafen? Doch, er sagt etwas! Du solltest dich eines größeren Ernstes befleißigen, Henry. Diese Albernheit steht uns in unserem Alter nicht mehr so gut zu, weißt du!

Oja, oja! Harriet sperrt den Mund auf. Wo du Recht hast, hast du Recht. Ihre Stimme so hoch, es klingt wie ein Miauen.

Harriet trägt diverse Salate auf. Den Tisch hat sie gedeckt, während Henry briet.

Über den mit Holz verkleideten Wänden der Essecke sind Taue verteilt. Jedes Tau anders geknotet. Henrys Erinnerung an seine Seefahrtzeit. Die geläufigsten Knoten kann Harriet inzwischen. Sie wohnen eine Autostunde von der Küste entfernt. Warum haben sie keine Jacht wie andere Menschen? Vielleicht mag Henry sich mit Kleinkram nicht abgeben, nachdem er mit wer weiß wie großen Frachtern gefahren ist.

Harriet und Henry festmahlen anlässlich ihres neunten Jahrestages. Da sie nicht heirateten, feiern sie den Tag, an dem sie sich kennenlernten. Inzwischen leben sie zusammen. Henry mietete eine Altbauwohnung und ließ sich vom Vermieter den Ausbau des Dachstuhls genehmigen. Ideal für Minnie, die Harriet in die Wohngemeinschaft einbrachte. Henry bestand darauf, Mulle zu erwerben, einen schwarzen Kater derselben Züchtung. Man soll Tiere nicht vermenschlichen, sagte er. Henry ist aufgeklärt, sieht alle möglichen Sendungen im Fernsehen. Außerdem missfiel ihm Harriets enge Beziehung zu Minnie. Leider ist Kater Mulle vor einem knappen Jahr verstorben. Einfach so. Seither hat Minnie keine Stimme mehr.

Harriet steckt Henry das und jenes in den Mund. Er soll probieren. Na?, sagt sie jedes Mal.

Ja, Harriet, ja!, sagt Henry geduldig wie zu einem Kind.

Och, Henry, kannst du mich nicht mehr loben?

Ganz wundervoll, wirklich! Große Klasse. Henry küsst sich auf den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.

Als Harriet nicht aufhört, ihn zu füttern, weist er sie milde zurück. Ich hab doch selber Hände, weißt du?

Ach so, ach so? Harriet ist ein wenig beleidigt, isst, trinkt, verschwindet plötzlich unter dem Tisch und taucht zwischen Henrys Beinen wieder auf.

Bist du Minnie?, fragt Henry entnervt.

Harriet miaut. Es klingt genau wie die Stimme, die Minnie nach dem Tod des Katers Mulle verloren hat. Harriet krabbelt über Henrys Beine, isst von seinem Teller, trinkt aus seinem Glas.

Diese Frau!, sagt Henry.

Diese Frau!, äfft Harriet, reibt ihren Kopf an seinem Arm, an seiner Schulter.

Damit du klarsiehst, Harriet, sagt Henry, mitten in der Woche! Ich weiß im Büro nicht mehr, wo mir der Kopf steht.

Wie schade, wie schade! Harriets Nase wird vor Grämlichkeit noch krummer.

Arbeit geht vor.

Oja, oja, sagt Harriet mit hoher Stimme.

Ganz unmöglich! Henry bekräftigt seine Weigerung. Er scheint Harriets Willfährigkeit nicht zu trauen.

Dann wollen wir uns unterhalten!, sagt Harriet entschlossen.

Und worüber? Henry bleibt misstrauisch.

Über Politik.

Aha, sagt Henry.

Harriet hat in den Nachrichten etwas gesehen und nicht verstanden. Warum soll Henry, ihr kluger Freund, ihr jetzt nicht erklären, damit auch sie klüger wird. Wenn man Schulden hat, muss man sie doch bezahlen, Henry, sagt sie. Wenn ich dir was schulde, muss ich dir das zurückzahlen. Und wenn ich bei meiner Mutter Schulden habe oder meine Mutter Schulden bei mir, dann werden wir uns das auch zurückzahlen.

Ja und, Harrietchen? Aber du hast keine Schulden und ich Gott sei dank auch nicht. Die Zeiten sind vorüber.

Die armen Länder haben Schulden. Und sie wollen sie nicht an die reichen Länder zurückzahlen, weil sie arm sind. Das geht doch nicht.

Das ist wieder was anderes, Harrietchen.

Wenn ich mir was borge...

Dann hast du auch das Geld, es wieder zurückzuzahlen. Diese Länder haben kaum das Geld, die Zinsen zurückzuzahlen, weil sie gezwungen sind, ihre Produkte billig im Ausland zu verkaufen, belehrt Henry.

Dann dürfen sie eben keinen Kredit aufnehmen. Wenn ich mir was borge...

Wenn du dir was borgst, Harrietchen.

Du hast keine Lust mit mir zu reden.

Harrietchen, immer. Doch ich bin ein bisschen müde.

Leider ist mein Henry ein bisschen müde. Für die Liebe ein bisschen müde und für die Politik auch ein bisschen müde! Harriet redet vor sich hin, hat schon etliche Gläschen getrunken und nimmt es ihrem Henry nicht übel, dass sie nicht weiter über Schulden reden kann, die sie im Grunde nichts angehen. Oder vielleicht doch? Ein bisschen Angst hat sie schon, dass ihr die armen Länder etwas wegnehmen wollen.

Harriet schaut ihren schönen Henry an. Er liegt nun in seinem seidenen Pyjama im Bett und sie neben ihm. Henry, findet Harriet, ist ein zuvorkommender, höflicher Mann. Nichts kann man an ihm aussetzen. Nur: Er hat Grundsätze. Sagt er nein, sagt er nein. Henry löscht das Licht. Das ist Minnies Signal, herunterzukommen. Eigentlich hatte sie Harriet und Henry oben zum Fernsehabend erwartet. Aber der fällt auch schon mal aus. Minnies wegen sind alle Türen nur leicht angelehnt. Sie kann ins Bad, überallhin. Ihr Schlafplatz neben Harriets Kopf. Sie springt aufs Bett.

Minnie-Minnie, sagt Harriet leise.

Minnie krächzt, hat ja keine Stimme mehr.

Harriet streckt die Hand aus. Minnie reibt ihren Kopf in Harriets Handhöhlung.

Wollen wir ihn noch behalten?

Minnie reibt und reibt sich in Harriets Handhöhlung. Das kann Ja heißen. Oder auch Nein, schließlich bin ich noch da!

Manchmal ist er ja ein ganz schöner Dussel! sagt Harriet.

Minnie schmiegt sich ganz eng an Harriet. Das beruhigt Harriet und schläfert sie ein. Und so ist die Entscheidung, ob Henry ja oder ob Henry nein, wieder einmal aus Gründen allzu großer Harmonie hinausgeschoben.


Wie eine Familie

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