Читать книгу Küsse für Butzemännchen - Beate Morgenstern - Страница 3
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ОглавлениеEin Schlag wie ein Stromstoß, ausgelöst von einem Namen, in der Aktuellen Kamera genannt, den Halb-acht-Uhr-Nachrichten des Fernsehens der DDR. Fünfeichen, hatte der Gutsbesitzer Dressel damals gesagt, hatte - den eigenen nahen Tod vor Augen - nicht geschwiegen, Nachricht gegeben vom Weg, den er gemeinsam mit dem Vater von Anfang an gegangen war, Bautzen, eine polnische Domäne, Graudentz, zuletzt Fünfeichen, ein kleines Lager des NKWD und das nördlichste der dreizehn in der sowjetischen Besatzungszone. Die Mutter und Susanne wussten von nun an, wann der Vater an Hunger und Entkräftung gestorben war und wo. 43 Jahre tot. An einem Märzabend 1990 wiedererstanden: Kameraschwenks über ein Waldstück. Eichen, noch nicht so kräftig, ein Anemonenfeld. Gräben durch dieses Feld gezogen, menschliche Skelette freigelegt. Bekannt die Bilder, mit denen war man aufgewachsen. Sie hatten das Volk der DDR warnen sollen: Nie wieder! Die Bilder betrafen Konzentrationslager der Nazis, Massengräber der von ihnen Hingerichteten. Es durfte nicht laut werden, dass in denselben Lagern auch nach 45 gestorben wurde. Leute, die abgeholt worden waren. Nazigrößen weniger, die waren in der Regel westwärts geflohen. Über Schuld mehr oder minder befand kein Gericht. Ein Hinweis genügte, von einem missgünstigen Nachbarn zum Beispiel, von einem, der seine eigene Haut retten wollte. Das war bis 45 so, das war danach nicht anders. Ein Leben lang Schweigen. Andeutungen nur zu Freunden. Dann Rechtfertigungszwang. In der NSDAP sei er wohl gewesen. Doch von der Verwandtschaft gedrängt wegen des Geschäfts. Alle Inhaber großer Geschäfte im Ort waren eingetreten. Und nur vier Wochen Zellenleiter. Obwohl schon 38 Jahre alt und ohne militärischen Rang, wurde er gleich am Anfang des Krieges einberufen, als habe man ihn weg haben wollen, als hätte er Feinde im Ort gehabt, wie die Mutter vermutete. Übrigens sei er trotz eines für eine Offizierslaufbahn ausreichenden Bildungsgrades bis zuletzt Gefreiter geblieben. Schreibstubenhengst. Und hätte ein Nazi wohl ein Mädchen jüdischen Namens adoptiert? Genaues über ihre Herkunft könne sie nicht nachweisen. Die Mutter hätte dem Vater alles überlassen oder absichtlich vergessen. Sie sagte nur, er habe unbedingt Susanne haben wollen, die damals noch klangvoll Susanna hieß. Auch die Frau, die Susanne zur Adoption freigegeben hatte, wollte oder konnte nicht sprechen. Vielleicht funktionierten noch alte Verdrängungsmechanismen. Sie verwies auf ihren 1926 nach Amerika ausgewanderten Bruder Georg, der hätte mit Susannes Vater verhandelt, war eigens wegen ihrer Geburt und Adoption noch einmal nach Nazi-Deutschland zurückgekehrt. Im Übrigen hätten sich die drei Männer der Familie - Susannes Großvater und die beiden Brüder - vor Georgs Auswanderung um die eventuelle Bereinigung der Dokumente gekümmert. Ein einziges kleines Zeichen ließ Susanne glauben, dass ihre jüdische Herkunft mehr als eine Vermutung war: ein kleiner Davidsstern, den der amerikanische Onkel Susanne in einem winzigen Päckchen zuschickte, als sie erwachsen geworden war. Er bekräftigte des Vaters Unschuld. Die Freunde hörten Susanne zu, schienen zu glauben. Einmal sprach jemand aus, was andere möglicherweise auch dachten: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Susanne hatte verdrängt, mühsam die Erinnerung weggeschlossen. Nun war sie nicht mehr zu kontrollieren, brach heraus. Die Hände krampften, die Zähne schlugen aufeinander. Sie hörte sich laut schreien. Es war ihr, als risse es sie auseinander. Tränen stürzten, flossen unaufhörlich. Sie hustete. Die Luft blieb ihr weg. Viele Jahre diese Träume: Unter Leichenbergen wacht sie auf, kann sich nicht von den auf ihr liegenden Toten befreien, bekommt kaum Atem. Susanne setzte die Flasche an. Der Rum würgte sie, sie röchelte, schnappte nach Luft, fiel über den Tisch, rutschte zu Boden.
Das Licht tat weh. Werkstattgeräusche vom Hof her, Hämmern gegen Metall. Ein Hund schlug an. Mittag war es wohl. Morgens hatte sie sich aufs Rad gesetzt, lieber einen Sturz in Kauf nehmend, als die Allee an den S-Bahngleisen hinunter zu laufen zum Kiosk am Bahnhof. Sehen wollte sie, ob sie sich vielleicht getäuscht hatte, und die Bilder abends zuvor in der Aktuellen Kamera waren in Wirklichkeit nur durch die Erinnerung vorverlegte Albträume der Nacht. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Die Zeitungen waren voll von Fotos der Art wie in der Nachrichtensendung. Dieselben Zeitungen, dieselbe Nachrichtensendung berichteten von dem, was sie immer verschwiegen hatten. Das allein war schon ungeheuerlich, nicht zu glauben, zeigte eine Zeitenwende an, die sie nur in den Endvierzigerjahren, allenfalls in den Fünfzigern, für möglich gehalten hatte. Mit Staunen, mit Angst reagierte sie. Umbruchzeiten erforderten Kraft. Sie hatte keine mehr, schon lange nicht. Lebte gerade so. Medikamente ermöglichten ihr eine erträgliche Situation. Nach Gleichmaß, Sicherheit verlangte es sie. Stattdessen beunruhigten sie Wahrheiten. Was kam alles ans Tageslicht, was man nicht gewusst, was man gewusst hatte! Nun wurde auch das Grab geöffnet, das Massengrab, in dem sie nächtelang statt des Vaters oder mit ihm begraben gelegen hatte. Oder sie lag unter jüdischen Häftlingen, hatte sich ein Was-wäre-wenn-Schicksal ausgeträumt. Irgendwie war sie zurück in ihre Wohnung gekommen, war nicht über die von Wurzeln der alten Linden angehobenen Gehwegplatten gestürzt. Sie hatte die Zeitungen auf dem Tisch ausgebreitet, wieder zur Flasche gegriffen, trotz ihres Bluthochdrucks. Das konnte ihr Ende sein. Egal. Susanne versuchte, sich auf die Beine zu stellen. Wie zwei Stelzen, wie zwei Dinger aus Holz, dachte sie, als es ihr gelang. Sie tappte zum Fenster, öffnete es. Die saubere Märzluft schlug sie zurück ins Zimmer. Sie fand sich auf dem Boden heulend, an allen Gliedern schlotternd. Taumelnd richtete sie sich wieder auf, wusste nichts Besseres als die Flasche. Die würde ihr zu weiterer Bewusstlosigkeit verhelfen. Eine Erinnerungsflut setzte ein, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort in eine vergessene Zeit, in eine vergessene Geschichte. Was ging sie diese Geschichte an, was gingen sie die Geschichten an! Der Vater lange tot, die Mutter seit drei Jahren. Was war mit ihr los, dass die Gegenwart entschwand, sich auf einfache Mechanismen wie Essen, Trinken und so weiter reduzierte? Als wäre die Erwachsene nur Mantel, nur Hülle für das Kind, als das sie sich nun erlebte. Wenigstens war sie dem Schicksal nicht so ausgeliefert wie einst, erhielt von dem Kind etwas Vorauswissen, was jedoch die Intensität des Erlebens nicht minderte:
Die Ladenglocke bimmelt. Frau Boehm & Burkard, ruft es, auf und zu geht die Küchentür. Am Fenster klopft es. Rosie öffnet. Jaja, ich frach mal, sagt sie, ruft: Frau Boehm & Burkard! Schon steht die Mutter wieder in der Küche. Das kenntn Se aber wissn, im zweeten Laacher ganz hindn!, erklärt sie zum Fenster hinaus dem Hofarbeiter. Machs Fenster zu, is kalt, Rosie, sagt sie. Und dass de Suppe nich anbrennt und dass mir das Nannchen keene Dummheitn nich macht! Vor Rosie war ein anderes Mädchen da. Kornblumenblau!, sang sie immer. Ssss, macht die Stubenfliege Monika, kreist am Fenster. Fliege, wenn ich dich kriege, reiß ich dir die Beine aus, dann kommst du in ein Krankenhaus, singen die Kinder. Der Stubenfliege wird kein Bein ausgerissen. Den ganzen Winter hat sie mit Zuckerwasser überlebt, wird im Haushalt respektiert, denn sie ist Susannes Freundin, die einzige. Von ihrem hohen Kinderstuhl in der Fensterecke unter dem schwarzen Radio, der Goebbelsharfe, hat Susanne den Überblick. Mittags wird der Kinderstuhl an den Tisch gerollt. Essen gibt es für Susanne, für die Mutter, Rosie, Frau Landmann und die zweite Verkäuferin, für die beiden Hofarbeiter und eine Tochter vom ehemaligen Hofarbeiter Mikoleit, den man entlassen musste. Doch was können die Kinder für den Vater. Deswegen sitzt eine Tochter Mikoleit mit am Tisch. Die einen werden in Susannes Geschichten etwas mehr zu tun kriegen, die anderen weniger. Der Mikoleit-Vater bekommt eine Rolle im Hintergrund. Doch bis er seine Rolle in Susannes Leben spielt, vergehen noch Jahre.
Die frühesten Erinnerungen hängen mit dem Essen zusammen. Mit Susannes Ungeschick, sie stößt die Tasse Kakao an, die fällt um, der Kakao ergießt sich über die Wachstuchdecke der breiten Spielfläche ihres heruntergeklappten Kinderstuhls. Kopfnüsse setzt es. Und weil das gar nichts nützt und Susanne nun auch noch mit der falschen Hand zuzugreifen beginnt, geht die Mutter ins Lager. Susanne hört etwas rasseln, hört, die Mutter nimmt etwas Schweres vom Haken.
Es ist ein Ochsenziemer, eine Peitsche mit vielen dünnen Lederriemchen. So, damitte weeßt, was in Zukunft passiert, das is kee Spaß, denke das nich! Die Mutter hebt den Arm. Die Lederriemen fallen auf Susanne herunter, erst mal nur sacht.
Mit dem Essen hat auch die andere Erinnerung zu tun, und zwar mit Susannes Unvermögen aufzuessen. Ein Löffel für Vadi! Der Vati ist im Krieg, der soll bekommen. Ein Löffel für Oma. Die liegt immer im Bett, soll auch bekommen. Ein Löffel für Rosie! Soll auch die ihren Löffel abhaben. Ein Löffel für Frau Landmann. Der schönen Frau Landmann kann Susanne nichts abschlagen, obwohl der Grießbrei in ihrem Mund quillt, mehr wird statt weniger. Einen Löffel für Muddi! Susanne brüllt, will auch von der zweiten Verkäuferin nichts wissen und von den Hofarbeitern nicht und der Mikoleit-Tochter nicht. Susanne brüllt, die Mutter stopft. Was aufn Teller kommt, wird aufgegessen, wo gibs'n so was. Annere Leute hungern! Susanne wird gleich allen Brei wieder herausbringen. Sie ist ganz sicher, sie kann nicht mehr, schiebt den Teller mit Gewalt von sich. Wuch, unten liegt er, liegt auf dem Boden, wo er hingehört. Oho! Ich sperr dich innen Keller! Susanne denkt: abwarten! Lassen Sie doch das Kind! Frau Landmann mischt sich ein. Da wird die Mutter erst richtig wütend. Einfach den Teller runterschmeißn mitm gudn Essen? Das soll icher durchgehn lassn? Die Mutter zerrt sie am Kragen aus der Küche, die halbe Treppe hinunter. Susanne wehrt sich, klammert sich an jede Geländerstange. Die Mieter aus dem Haus schauen die Treppe hinunter. Die Mutter muss sich gegen zwei Parteien verteidigen, gegen das Kind und gegen die Hausbewohner. Sie hat was zu beweisen. Sie ist die Besitzerin. Bei jeder Gelegenheit demonstriert die Tochter eines Bauchwarenhändlers ihre Macht. Eine "gute" ist Burkard-Gerda nicht, ihre Mutter, jetzt bettlägerig, war erst recht keine "gute", und selbst von Tante Else, der 17 Jahre älteren Schwester der Mutter, wird ihr später nichts von Gutherzigkeit berichtet. Dass de ja nich denkst, du kommst innen Lattenkeller, sagt die Mutter, innen Kohlenkeller kommste. Susanne zuckt zusammen. Im Kohlenkeller ist es mitten am Tag schwarzdunkle Nacht. Und schwarzdunkle Nacht hat man zu fürchten mehr als alles sonst. Geht die Mutter abends mit Susanne, sagt sie: Da langt ja gleich eener ausm Hinterhalt. Oder: Da denkt mer doch, glei kommt eener hinterm Boom vor! Die Mutter fürchtet sich und lehrt Susanne das Fürchten. Susanne hat eine Vorstellung von dem, der ihnen überall auflauert. Ein Mann ist es, zieht einen mit einem Würgegriff für immer hinein in die Dunkelheit, macht, dass man aufhört zu sehen, aufhört zu hören. Susanne will sich losreißen. Die Mutter packt sie, wirft sie von sich wie eine Katze, holt schnell die Tür heran, schließt sie ab. Susanne trommelt gegen die Bretter. Bald ist es aus mit ihr. Hörte sie ihre Stimme nicht, würde sich ihr Körper in der Nacht vielleicht auflösen. Kaum bekommt sie Luft. Aber schreien, schreien muss sie. Stimmen, miteinander streitende Stimmen, nähern sich. Susanne nimmt dies als Nebengeräusch zur Kenntnis, als sei Rettung nicht mehr möglich. Die Tür wird aufgeschlossen. Danke, danke! Susanne fällt vor der Mutter auf die Knie. Ich will mich bessern, ich will mich ja bessern, verspricht sie, streichelt ihre Erlöserin. Machste das noch mal? Nein! Immer wird Susanne alles aufessen! Hand in Hand gehen Mutter und Tochter zurück in die Wohnung. Alles ist gut, denkt Susanne. Den nächsten Teller Grießbrei am nächsten Tag oder zur nächsten Mahlzeit wird sie essen, wenn sie auch schon gar nicht mehr kann.
Etwas geschieht, das Susanne außer Fassung bringt: Die Mutter setzt ihr gleich einen Teller mit Brei vor, begeht damit in Susannes Augen Verrat. Stumm sitzt Susanne vor ihrem Teller. Die Mutter räumt das Essen ab, geht ins Lager. Susanne hört, dass sie etwas Schweres vom Haken nimmt, hat sich das Geräusch eingeprägt. Aller Widerstand bricht zusammen. Nich beesen, nich beesen!, ruft sie. Noch einmal lässt es die Mutter bei einer Drohgebärde bewenden, lacht über das sich ängstigende Kind, wird es später immer wieder erzählen. Susanne braucht sie es nicht zu erzählen. Die erinnert sich gut, weiß, was sie in dieser Stunde entdeckte: In der ganzen Wohnung ist es unruhig, überall sind Menschen. Plötzlich fürchtet sie die Menschen, die hin und her durch die Wohnung laufen. Ein dauerhaftes Gefühl davon, nirgendwo ein Zuhause, eine Zuflucht zu haben, bemächtigt sich ihrer. Auf der Suche nach einer Zuflucht findet sie endlich eine Tür im Kontor, gerät in ein Zimmer, das sie noch nicht kennt: die Gute Stube. Stundenlang sitzt sie unter dem Schreibtisch, mucksmäuschenstill. Oder sie verkriecht sich im Lager, wo man sie kaum findet. Da hat es sie schon immer hingezogen. Sie steigt in die Kisten, Kasten, schläft manchmal in der dämmrigen Ruhe ein. Spätabends wundern sich die Erwachsenen, weil das Kind gar nicht wieder auftaucht. Sie gehen das Lager ab, die Regale, stoßen manchmal in großer Höhe auf das schlafende Mädchen. Wie isse da bloß naufgekommen?, wundern sich die Erwachsenen. Eine bemerkenswerte Leistung, meinen sie. Die Mutter ist stolz.
Bald geschieht etwas noch Bemerkenswerteres. Warum die Dreijährige losgezogen ist, darum macht sich die Mutter keine Gedanken, da sie ja mit militärischen Ehren zurückgebracht wurde. Susanne erkundet zum ersten Mal Fluchtmöglichkeiten. Einen Plan hat sie nicht. Sie will sich lediglich der Mutter entziehen, geht zur Hoftür hinaus und immer weiter durch Euba hindurch. Langt an der Ortsgrenze der Kleinstadt an, was ein ganzes Stück Weg bedeutet für ein kleines Mädchen, das sich mit dem Laufenlernen viel Zeit nimmt. Ein Bauer fährt mit seinem Wagen an ihr vorbei. Wo willst'n hin?, fragt er. Mit einem Mal fällt Susanne ein, dass sie mit der Mutter hinüber in den anderen Ort gefahren ist. Die Mutter zeigte ihr das Haus, in dem sie früher mit der Oma gewohnt hatte. Zur Oma!, sagt Susanne schlau und glaubhaft. Der Bauer lässt das Kind auf den Kutschbock hinauf, liefert sie im Kilometer entfernten Dorf vor dem Haus der Oma ab. Susanne läuft hierhin, dahin, verkringelt sich, weiß nicht mehr, wo sie ist. Was sie nicht ängstigt. Ein großes Gut sieht sie, spaziert hinein, weiß nun, sie befindet sich im Rittergut. Dort ist Kavallerie einquartiert. Die Soldaten lachen. Einer erzählt es den anderen: Die Burkard-Nanne! Die Tochter von Boehm & Burkard. Susanne hat ihre Erwartungen. Manchmal kutschiert die Tochter vom Gutsbesitzer mit ihrem Kutschwägelchen nach Euba hinüber. Jungsschnitt und Jungssachen trägt sie, weil der Vater lieber einen Sohn gehabt hätte. Vielleicht bringt das Mädchen sie mit ihrem Wägelchen nach Hause. Der Herr Major erscheint. So klein Susanne ist, mit Rangabzeichen kennt sie sich aus. Der Herr Major lässt die Kavallerie antreten, Reiter samt Pferden. Susannes Begeisterung beginnt. Und keine Grenzen kennt diese mehr, als der Major aufsitzt und Susanne zu ihm aufs Pferd gehoben wird. Die Kavallerie reitet aus. An der Spitze der Major mit dem einzigen Schimmel, auf dem Sattel vor ihm Susanne. Hoch zu Ross hält sie mit dem Major Einzug in Euba. Man hat das Jahr 1941. In Euba herrschen quasi noch Friedenszeiten. Die Eubener staunen: Die Tochter vom Boehm & Burkard, die Burkard-Nanne, nei, so ein Mädel! Am Bahnhofsvorplatz im Laden der Mutter werden die Leute schließlich ebenfalls aufmerksam. Frau Beem un Purgert, guckn Se doch mal, wer da kommt! Die Mutter hat ihre Augen bei den Waren, bei den Kunden, kann weiß Gott nicht nach draußen schauen, obwohl die großen Schaufenster einen Blick bieten. Nun aber sieht sie auf. Ach de Kafallerie vom Rittergut, sagt sie. Dann erst bemerkt sie das kleine Mädchen hoch zu Ross, und noch einen Augenblick später erkennt sie in ihm ihre Tochter. Die Kavallerie hält auf dem Bahnhofsvorplatz an. Ein Soldat sitzt ab, hebt Susanne vom Schimmel. Mit der wern Se noch was erlehm, ei nee, son intelligendes Kind! Die Leute können sich nicht genug tun, Susanne zu bewundern und die Mutter zu beglückwünschen. Susannes Abenteuer hat ein Ende. Es wiederholt sich nicht, so sehr Susanne sich auch bemüht. Der Weg zum Rittergut bleibt unauffindbar.
De Fallsucht hat se, seufzt die Mutter, meint die Hinfallsucht ihrer Tochter. Beschwerlich ist Susanne das Laufen. Am liebsten lässt sie sich deshalb fahren, das ist auch den jungen Mädchen, die sich mit Kinderhüten ein wenig Geld verdienen, bequem. Sie schieben Susanne mit ihrem eng gewordenen Sportwagen in die nahen Anlagen, die Grünanlagen des Bahnhofsvorplatzes. In den Zwanzigerjahren war hier noch freies Gelände. Dem Boehm-Otto, seinem Schwager, verdankt der Vater den billigen Grundstückskauf im heutigen Zentrum der Stadt. Boehm-Otto hatte seine Quellen im Schützenverein. Mit dem Bau des Bahnhofs wollten sich die Eubener nicht lumpen lassen. Baufreiheit war. Und so hat man als Bahnhofsvorplatz einen kleinen Park angelegt mit Trauerweiden, einer Allee Rotdorn, Pappeln, Linden, Eichen wachsen im Park sowie eine Rotbuche. Man hat Rondells geschaffen und um die Parkbänke Rabatten angelegt mit Primeln, Rosen, Tulpen. Auf den Rasenflächen Rhododendron. Der Bahnhofsvorplatz ist Schauplatz von Susannes Kinderleben. Froh ist sie, lässt die Beine aus dem Wagen baumeln, lauscht den Unterhaltungen der Mädchen, die sich hier treffen. Mit zu hütenden Kindern und ohne Kinder. Die Halbwüchsigen sitzen auf den Bänken, ruckeln die Kinderwagen, nehmen auch mal ein Kind auf den Schoß. Die Blätter rauschen. So gefällt es Susanne. Oder Tante Martha muss sich bequemen und Susanne herumfahren. Bei einer solchen Fahrt tut Susanne einen Ausspruch, der noch einmal ihre Umgebung meinen lässt, das Kind gäbe zu schönsten Hoffnungen Anlass. Er wird deshalb in die Familienlegende eingewebt. Tante Martha, eine feine, hübsche Person - ihr kleiner Buckel ist kaum zu merken -, hat Umgang mit besseren Herrschaften. Das Kind im Wagen wird sie an ihrer Gewohnheit, sich mit ihnen in längere Gespräche zu vertiefen, nicht hindern. Susanne drängt es vorwärts. Doch Tante Martha bleibt stehen, redet mit diesem, mit jenem. Nun lange, lange mit einem Herrn. Mitten in der Silberröhre, dem Tunnel, der unter den Gleisanlagen des Bahnhofs auf die andere Ortsseite hinüber führt. In der Silberröhre gibt es wahrhaftig nichts zu sehen, weshalb es Susanne langweilig wird. Tante Martha!, sagt Susanne. Ja, Kind!, antwortet Tante Martha und redet weiter. Tante Martha! Noch etwas nachdrücklicher Susannes Ermahnung. Ja, Kind, antwortet Tante Martha erneut. Der Herr redet weiter mit ihr und sie mit ihm. Die beiden können sich nicht losreißen. Ha!, denkt Susanne, lässt sich etwas einfallen. Tante Martha!, sagt Susanne zum dritten Mal. Ja, Kind, antwortet Tante Martha zum dritten Mal, setzt ihr Gespräch fort, bis es ein jähes Ende findet. Tante Martha, ich muss mal seeschen!, sagt Susanne im ordinärsten Sächsisch, wie sie es von den Mädchen aufgeschnappt hat. Tante Martha und der Herr fahren auseinander und Tante Martha eiligst mit Susanne nach Hause, wo sie berichtet, nun schon lachend. Die Frauen erfassen sofort, was Susanne zu dem sonst nicht gebrauchten Wort veranlasste. Die Freude der Verkäuferinnen und aller sonst anwesenden Personen ist groß: Die weeß sich zu helfn, Frau Purgert, um das Mädel brauchn Se sich keene Sorchn zu machn! Die Mutter teilt das Urteil der Frauen. In der harten Wirklichkeit muss man sich zu helfen, zu wehren wissen. Je zeitiger man es lernt, umso besser. Für ihre Bestimmung als Geschäftserbin hat Susanne somit alle Voraussetzungen. Warum nur verdirbt die arme Frau diese schönen Anlagen? Warum schlägt sie das Kind für Nichtigkeiten halbtot, obwohl sie Susanne liebt? Bei niemandem besteht daran ein Zweifel.
Alles kann Susanne von der Mutter haben. Wünscht sie eine Umkleidekabine im Freibad an der Euba, so wird die Mutter Susannes Wunsch respektieren und mit hineingehen in diese dunkle, nach nassem Holz riechende Zelle. Susanne und die Mutter treten aus der Kabine. Susanne trägt eine wunderbare rote Gummibademütze aus früheren Zeiten, schlappt in viel zu großen Badelatschen. Die Mutter in einem geblümten, modernen Badeanzug, sehr schick. Groß und schlank ist die Mutter. Die krausen dunklen Haare stecken jetzt unter einer Badekappe, sodass man erst recht sieht, was für ein niedliches, feines Gesicht sie hat. Wie eines in Modejournalen. Tante Else kommt aus ihrer Kabine. Susanne muss lachen, in welch komischen schwarzen Badeanzug sich ihr dicker Weiberkörper zwängt, weiß abgesetzt an den Rändern, vorn ein Schößchen, die Beinlinge reichen bis an die Knie heran. Und eine lange Nase hat sie. Tante Else ist nicht sehr alt, aber viel älter als die Mutter, fast eher schon die Mutter als ihre Schwester. Die beiden Frauen platzieren sich auf einer Decke unter dem von der Tante mitgebrachten japanischen Sonnenschirm, halten ein Picknick, essen Kartoffelsalat. Susanne zieht es ans Wasser. Sie stolpert mit ihren Badelatschen zum Becken für die Kleinen, lässt die Latschen am Rande stehen. Einen Gummiring von Tante Else um den Bauch statt der aufgeblasenen Schwimmbetteln sonst, strampelt von Pfahl zu Pfahl, ruht sich an einem vom Strand entfernten aus. Ein großer Junge erhebt sich neben ihr aus dem Wasser, ein Kerl, schon ausgewachsen, lässt sie nicht aus den Augen, feixt gemein. Drückt sie mit einer Hand durch den Gummiring hindurch ins Wasser hinein, auf die Holzbretter hinunter, mit denen das Planschbecken ausgelegt ist. Jedes Mal, wenn Susanne aufzustehen versucht, drückt der Junge sie auf die Bretter zurück. In ihrem Kopf verschwimmt es. Da reißt sie jemand nach oben. Geschrei gibt es. Die Mutter rennt ins Wasser. Jemand bringt den Ring an, den lebensrettenden, der schon ein Stück weit den Fluss hinunter getrieben war, der der Mutter signalisierte, die Tochter ist fort. Susanne hustet, spuckt aus, sieht trotz ihrer eigenen Angst die Angst der Mutter, wie sehr erschrocken sie ist, wie komische Augen sie hat. Bleich ist sie, zerrt und zieht an Susanne herum. Nie mehr gehmer hierher, nie mehr, hörschte, Nannchen! Auch mitn Mädels wirschte ni hierhergehn, haste verstandn? Susanne hat verstanden. Am Flussbad lauern Mörderbuben. Was denkt die Mutter? Denkt sie, man gönnt ihr die Tochter nicht, nicht diese Tochter? Oder glaubt sie an einen Zufall? Susanne hat bisher Feindschaft nicht gespürt. Nun aber bekommt sie Ohren, Augen. Wie die Leute sie anschauen, wie versteckt sie reden. Was ist an ihr. Warum sind die Leute wie fremd zu Mutter und ihr, als gehörten sie nicht dazu? Viel Gutes tut die Mutter, schreibt den Leuten an. Na, nächste Woche, Frau Sowieso, sagt sie. Gedankt wird ihr nicht. Auch dass sich der Laden von Boehm & Burkard im Zentrum von Handel und Wandel in der Stadt befindet, trägt ihr nicht die Achtung ein, die sie verlangen könnte. Warum nur?
Schon immer gehen sie zu Schöllers. Das Grundstück liegt am Steilhang, an der Dresden-Chemnitzer Landstraße. Auf der unteren Hälfte sind Obstbäume gepflanzt. In Höhe des Hauses beginnt der Teil des Gartens, in dem Gemüse angebaut, Blumen gezogen werden, Sträucher wachsen. Dort, auf einem schmalen Streifen Wiese, die Laube. Setzt euch nur, setzt euch, sagt Oma Schöller, kocht Kaffee, bringt auch Saft für das Kind in die Laube, muss weiter schaffen, hackt, jätet, pflanzt, schleppt Eimer, arbeitet schwer am Hang, die hagere Frau, Brille auf der Nase, Kopfweh, Kittelschürze, anders kennt Susanne sie nicht. Susanne, Susannes Mutter und Schöller-Mariechen sitzen in schönstem Frieden, genießen den Blick von hier oben in die Flussauenlandschaft der Euba und der Zschopau, die nahe der Stadt zusammenfließen, schauen auf die Häuser im Tal und hinüber in die Wälder, zur Struth hin. Bei guter Sicht kann man die Augustusburg erkennen. Immer muss die Mutter schaffen. Wie Oma Schöller. Doch für einen schönen Ausblick hat sie einen Sinn. Susanne rupft Gras vom Hangrand, hält es einem der Schafe hin, die zwischen den Obstbäumen und weiter unten am Hang weiden, hört, wie Schöller-Mariechen: Ach, das Kind!, sagt und die Mutter, nicht unzufrieden, einschränkt: Wenn se nur nich so wilde war!
Einmal war der Vater zum ersten Mal da gewesen. Sich an ihrem Kinderwagen festhaltend, war sie über den Hof gelaufen, dennoch hingefallen. Geschrien hatte sie nicht. Das Kind brüllt ja gar nich, sagte man. Hingefallen, aufgestanden, vorwärts und wieder hingefallen. Da hob ein Mann sie hoch, bis auf seine Schultern hinauf: der Vater. Er roch anders als die Mutter, seine Wangen kratzten. Er lief mit Susanne über den Hof, zum Garten, setzte sie ab, ließ sie laufen, schob mit ihr den Kinderwagen, der große Mann, beugte sich zu ihr, spazierte mit ihr herum, hockte sie sich wieder auf die Schultern, öffnete das Türchen zum kleinen Garten, ging zum Kirschbaum, hielt mit der einen Hand Susanne fest, mit der anderen holte er einen Zweig heran mit vielen Kirschen. Na, na, nimm nur, nimm mal!, sagte er. Es sind die ersten Worte ihres Vaters, an die sich Susanne erinnert. Na, na, nimm nur, nimm mal! Susanne pflückte die Herzkirschen, immer zwei, drei auf einmal, Zwillings-, Drillingskirschen. Na, na, nimm nur, nimm mal! Hoch oben saß Susanne, wohlbehütet von dem Arm des Vaters. Seitdem hört die Sehnsucht nicht mehr auf.
Über Sahnebonbons hinaus gibt es für Susanne keinen Begriff an Köstlichem. Durch halb Euba muss Rosie, damit Susanne diese Sahnebonbons bekommt. Rosie schiebt Susanne im Korbwagen, das ist einfacher, als mit ihr zu laufen. Wie sie an der Drogerie anlangt, sieht Susanne hinter den Glasscheiben Frauen in weißen Kitteln. Ein Schrecken befällt Susanne, sie weiß nicht warum, brüllt los, als wolle man sie am Spieß rösten. Rosie lässt sich nicht abhalten, geht in den Laden. Susanne steigt aus dem Wagen, flieht vor den weißen Kitteln, läuft, den Wagen vor sich her rollend. Zu langsam geht das, sie stößt den Wagen von sich, soll der wegrollen, wenn sie selbst schon nicht schnell genug laufen kann. An der Tür eine Verkäuferin. Sie lockt Susanne. Doch die brüllt weiter. Brüllt auch, als das feine junge Fräulein Paris im Geschäft ihres Vaters plötzlich in weißem Kittel erscheint. Die Aussicht auf ein Kettchen vermag nichts gegen die Angst, die der weiße Kittel in ihr auslöst. Was se bloß hat?, fragt die Mutter, erinnert sich, dass Susanne schon immer empfindlich war. Die Schwester von der Fürsorge, die Susanne im ersten Jahr zu begutachten hatte, und der Arzt, hatten damals nachgegeben, ihre Kittel ausgezogen. Son Unsinn, Susanne, sagt die Mutter. Nu wirschte dir das aber mal abgewöhn. Susanne läuft aus dem Laden, als sei ein Gespenst hinter ihr her. Wer weiß! Tante Martha lässt sich von der Mutter berichten. Sie hat doch was, Gerda, sagt sie über Susanne wie über ein Tier, bei dem man auch nur vermuten kann, wo der Schmerz liegt. Susanne ist Tante Martha dankbar. Nichts mehr weiß sie von den Schwestern im Heim, die sie bis zur Adoption betreuten. Und weiß es doch.
Ein Bild kehrt in Susannes Kindheitsträumen wieder, das sie sich ebenso wenig erklären kann wie die Furcht vor weißen Kitteln. Sie träumt von einem sandigen Weg, von Sonne beschienen. Birken stehen rechts und links des Wegs. Grün ist es und in der Nähe Wasser. Und dann findet sie dieses Traumbild in Wirklichkeit. Sie ist Studentin, hat die Adresse aufgesucht, die ihr die Mutter gesagt hat. Dresden, Moritzburger Straße. Eben lernte sie die Frau kennen, die ihre leibliche Mutter sein soll, war ein wenig enttäuscht. Denn sie kannte sie schon, ist ihr in Euba manchmal begegnet, in frühen Zeiten mit deren Mutter. Ein bebrilltes grünäugiges Fräulein, eine alte Frau, Haar genauso aussehend mit einer kleinen runden Brille, nur eben schon alt. Da hat Susanne mit der Burkard-Mutter mehr Ähnlichkeit! Die beiden Brüder der Mutter sind dunkel, kommen nach dem Vater. Da könnte man sich schon was denken. Aber auch Susannes Erzeuger ist dunkel und Susanne ihm nicht ganz unähnlich. Wenn Muttel und ich nach Augustusburg fuhren, hat die Frau gesagt, haben wir immer in Euba Station gemacht, um nach dir zu sehen. Sie hat erzählt, wie sie Susanne aufgespürt hat. Im Ermelerhaus hab ich dich zur Welt gebracht, sagte sie. Täglich hab ich dich besucht. Wenn das Wetter es nur irgend zuließ, bin ich mit dir durch Moritzburg spazieren gefahren. Susanne geht durch die Umgebung des Schlosses Moritzburg, findet sich plötzlich auf jenem Birkenweg wieder. Für Augenblicke geht ihr der Atem aus. Dieses Bild also hat ihr Gedächtnis aus ihren ersten Lebensmonaten bewahrt!
Der Torpfosten ist Susannes Lieblingsausguck auf die Straße. Sie erklettert ihn um eine bestimmte Zeit am Nachmittag, bevor die Schüler in ihren grünen und roten Schirmmützen aus der Berufsschule kommen, begrüßt die Jungen, Rosies Filmschlager aus Kriegs- und Friedenszeiten schmetternd: An-einem-Tag-im-Frühling-klopft-das-Glück-an-deine-Tür! Schöön-wie-der-junge-Frühling! Höörst-du-mein-heimliches-Rufen?? Ja-jetzt-seh-ich's-bald-selber-ein-das-kann-nicht-Liebe-sein! Die Berufsschüler lachen, belohnen den kleinen Clown, beschenken ihn mit Glaskugeln, auch mal mit einem Bonbon. Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder, das ist zu schön, um wahr zu sein! Wien und der Wein, Wien und der Wein!, schmettert Susanne zum Dank.
Rückwärts kutschiert der Jauche-Bauer seine Pferde auf den Hof. Schaum läuft ihnen von der Trense, ehe sie stehen, wo sie sollen, nämlich neben der Klärgrube. Der Bauer gönnt sich und den Pferden eine Verschnaufpause. Mit einem Haken nimmt er dann die Eisenplatte der ersten Klärgrube ab, schaut hinein, zieht die lange Stange mit der Schöpfkelle vom Wagen, öffnet den Deckel vom Jauchefass, einer Tonne, lang wie der Wagen. Susanne ist vom Küchenfenster nicht mehr wegzukriegen. Der Gestank von Grube und Fass dringt bis an ihre Nase. Fliegen umsurren die Pferde. Schwärme von Fliegen. Die arm Pferde! - Nee, nee, du bleibst schön hier! Die Mutter weiß, wohin es Susanne zieht. Aber e bissel Zucker könnten ihnn schon gehm! Die Mutter bleibt bei ihrem Nein, geht in den Laden. Das Fell der Pferde zuckt, bisweilen schütteln sie ihre Mähne. Die Fliegenschwärme lassen nicht von ihnen. Die arm Pferde!, sagt Susanne, nun zu Rosie. Ach, die arm Pferde! Rosie hat ihre Anweisung. Susanne verlässt ihren Fensterplatz, steht Rosie nun recht im Wege, dass die zu keiner Arbeit kommt, und redet die ganze Zeit von den armen Pferden. Rosie weiß bald nicht aus noch ein. Die Arbeit muss gemacht werden, sonst wird ihre Dienstherrin ihr allerhand erzählen. Aber die Anweisungen wegen des Kindes sind auch zu beachten. In ihrer Not ruft sie Susannes Mutter. - Na ja, zwee Stücken Zucker for jedes Pferd, aber mehr nich! - Susanne nimmt die Zuckerstücken aus der Dose, hopst davon. Un dass de nich zu nah annen Waachn kommst, du weeßt schon, ruft Rosie ihr hinterher. Der Bauer schöpft mit seiner Kelle aus der Grube, füllt in das Fass ein. Es kleckert und stinkt. Kann ichn bissel Zucker gehm?, fragt Susanne. Ja, ja, die kenn dich doch schon!, sagt der Bauer. Mit flacher Hand reicht Susanne den Pferden den Zucker. Die nehmen ihn mit warmen, beweglichen Lippen auf. Rosie sieht über der Scheibengardine des Küchenfensters nach Susanne. Die rührt sich nicht von der Stelle. Rosie lässt sich beruhigen. Nach einiger Zeit weiß Susanne sich vor Rosies Blicken in Sicherheit. Sie erhält vom Bauern die Erlaubnis, sich auf seinen Kutschbock zu setzen, ist von herrlichsten Gerüchen umgeben, unter ihr die Decke stinkt nach Pferdeschweiß und Undefinierbarem, hinter ihrem Rücken steigt der Jauchegeruch empor. Der Bauer schraubt den Deckel des Fasses zu. Doch Susanne hat noch lange nicht genug. Ihr fällt ein, sie könne doch mitfahren. Wenn de unbedingt willst, sagt der gutmütige Jauche-Bauer. Aber offm Bock gehts ni, da is kee Platz! Der Bauer kann keine Gefahr für ein Kind sehen. Ihm ist seine Arbeit eine wie jede andere. Ob man im Salon frisiert oder Jauche fährt, jeder tut, was er muss. Susanne setzt sich hinter den Bauern auf das Jauchefass. Beim Holpern über das Kopfsteinpflaster macht sich die leichte Schräglage des Fasses bemerkbar. Susanne umklammert mit ihren Beinen die Tonne, wagt nicht, den Bauern bei den Schulter zu fassen, rutscht reitend rückwärts, dem Deckel zu, wo alles schlierig ist, verkleckert. Da sitzt sie nun, als der Bauer vor dem nächsten Hof anhält. Ach, Gott nee, was nu!, sagt der Bauer, hebt sie herunter. Na, hast's ja selber gewollt, nu geh man schön nach Haus! Mit dieser Bemerkung hat sich der Bauer des Problems entledigt, das für Susanne erst beginnt. Die Leute auf der Straße halten sich die Nase zu. Da wird sich deine Mutter aber freuen!, sagen sie, lachen. Eine Frau will Susanne nicht ganz ihrem Schicksal überlassen. Man weiß ja, wie hart Frau Boehm & Burkard mit dem Kind verfährt. Die Frau geht in großem Abstand vor Susanne her. Die Leute im Laden schauen, überlegen, letzte Düfte vom Jauche-Bauern stehen noch im Laden. Sie kombinieren und informieren die Mutter. Diese tritt aus dem Laden, vor Susanne hin, hält sich die Hand vor das Gesicht, nimmt sich vor den Leuten zusammen. Sonne Schweinerei, was mach mer bloß? - Lässt sich doch abwaschen, geht doch noch, versuchen die Leute zu besänftigen. Aber wie denn, wie denn?, barmt die Mutter. Mer kann se nich mal riechn, geschweiche denn anfassn! Die schöne Frau Landmann reicht einen Metallstab, wie man ihn im Laden benutzt, auf der einen Seite eine Greifhand, auf der anderen einen Drücker. Sie spaßt, zwickt ein bisschen an Susanne herum. Noch bezwingt Susanne ihre Tränen. Dass de mir ja nich ins Haus kommst!, sagt die Mutter. Da beginnt Susanne zu heulen. Wohin soll sie denn gehen. Sie sieht keinen Ausweg mehr. Die gute Rosie greift ein, ruft durch die Menge im Laden: Am besten, wir machns glei im Waschhaus! Unter dem Gelächter der Leute tritt Susanne ab, geht in den Hof. Rosie macht auf dem elektrischen Herd in der Küche warmes Wasser. Vor Schreck kann sich Susanne nicht bewegen, sodass Rosie sie tatsächlich mit dem Zwicker auszieht, sie mit einem Eimer warmen Wassers übergießt. Susanne wird mit Kernseife abgeschrubbt, die Haare werden gewaschen. Die schöne Frau Landmann trägt Susanne in einem großen Frotteetuch ins Haus. Susanne sieht, wie die Mutter sie beobachtet. Manchmal nutzt sie die Rivalität zwischen den beiden Frauen aus. Doch heute ist ihr angst und bang vor dem Strafgericht. Für viel weniger hatte sie schon büßen müssen. Die Mutter zetert. Susanne hört nicht auf zu heulen. Ihre Schutzengel bleiben nicht nur bis zwanzig Uhr, so lange dauert der Arbeitstag, denn nach Geschäftsschluss ist noch lange nicht Feierabend. Sie harren aus. Das Kind geht nicht früher ins Bett als alle. Zweiundzwanzig Uhr wird Susanne ins Bett geschickt. Sie ist gerettet.
Trotz aller Angst, die Susanne ausgestanden hat, in den Sudel bei dem Bauern auf dem Hof latscht sie weiter. Allerdings wird sie sich von keinem Bauern mehr mitnehmen lassen.
Im Vollmond blinkender Schnee, gibt eine große Helligkeit, knirschelt unter den Füßen der Mutter, den Schlittenkufen. Ach, ach, das Stück durch de Aue bin ich noch nie gern gegangen, jammert die Mutter. Schon als Kind nich! Susanne, im Schlitten mit gebogener Rückenlehne eingemummelt, hohe Zipfelmütze aus Stoff auf dem Kopf, steif wie eine Narrenkappe, hört der Mutter zu, die von ihren Liefertouren als Mädchen erzählt, gegen ihre Angst vor dem einsamen Weg entlang des Grabens. Und deshalb hat sie Susanne wohl auch dick eingepackt, in den Schlitten gesetzt und mitgenommen. Sie will nicht allein sein. Und ganz gewiss hat sie auch schreckliche Angst vor Männern, seitdem sie als junges Mädchen brutal vergewaltigt wurde, sodass man sie operieren musste, weshalb sie keine Kinder bekommen kann. Schon damals ging sie mit dem Burkard-Walter. Schmöker lieferte die Mutter bis zu entlegen wohnenden Kunden, denn die Oma, die Mutter der Mutter, besaß eine Leihbücherei mit einem Zeitschriftenvertrieb. Der Vater ging mit einem Bauchladen herum. Handelte mit Spielwaren, Scherzartikeln, Tabakwaren, Trödel. Von dem Erlös sah seine Familie nicht viel, denn er spielte. Noch vor dem ersten Weltkrieg begann die Mutter zu liefern. Sieben Jahre war sie, trug eine schwere Ledertasche rechts, eine links, die Riemen über Kreuz über die Schultern, lief bis 20 Kilometer. Wenn ich kassiern musste, das war's Schlimmste, sagt die Mutter. Wie oft bin ich bei manchn umsonst gegangn, die nich bezahln konntn. Un kam ich heeme unds fehlte die Abrechnung, kriecht ich obendrein noch Dresche! Nichts Böses will die Mutter der Oma nachsagen. So entschuldigt sie sogleich. Se hats oo so schwer gehabt. Wo solltses Geld denn hernehm? Die Mutter läuft die Tour von einst. Arme Schlucker wohnten damals dort, arme Schlucker sind ihre Kinder heute. Susanne lernt zu unterscheiden zwischen armen Bauern, zwischen Bauern, die sich etwas leisten können, und denen, die sich noch mehr leisten können. Der wohlhabendste Mittelbauer hat höchstens 20 Kühe im Stall stehen. Bei den wirklich reichen Bauern klopft die Mutter gar nicht erst an. Einen rätselhaften Spruch gebraucht sie: Bei den is nie was umsonst! Fügt hinzu, dass diese Bauern in Chemnitz kaufen und sonst wo und ihre Beziehungen hätten. In die Beziehungen schließt sie das Parteivolk ein. Wenn sie sich auch hütet, die beim Namen zu nennen, die in den neu gebauten Einfamilienhäusern wohnen oder neue Besitzer älterer Villen sind. Mit all jenen hat die Mutter nichts vor. Es zieht sie zu denen, deren Eltern sie schon als Kind belieferte. Redet sie mit den Leuten, bietet ihnen aus dem Laden Schreibwaren an, Kram, den sie brauchen können, lacht sie, ist gesprächig. Nicht nur, weil sie verkaufen will. Sie gilt bei diesen Leuten etwas, ist Frau Boehm & Burkard, hat es zu etwas gebracht. Wiederum fühlt sich bei den Leuten unter ihresgleichen. Vielleicht nimmt sie die ganze Beschwer des Lieferns nur deshalb auf sich, um mit diesen Leuten zu reden. Sie lehrt Susanne: Hier sind wir eigentlich zu Hause. Im Frühjahr wird sie Susanne am Sonntagnachmittag in den Wagen setzen, diese Touren ablaufen. Susannes Ausflüge mit der Mutter sind nützlich, nicht übermäßig aus dem Alltag herausgehoben, ein Erlebnis der Landschaft. Ob im Winter, ob im Frühjahr oder Sommer. Im Winter erlebt sie den hohen Schnee des Vorgebirges, in dem sich Berge und das Tal klar voneinander abheben. Ist Frühjahr, Sommer, so schaut sie auf die reichen Auwiesen, in Gruppen blühen Blumen dieser und jener Art, sieht Hänge und Berge in der Pracht ihres Baumschmuckes.
Kohlen werden knapp. Als seien Diebe, Lumpen daran schuld, heißt es: Der "Kohlenklau" geht um. Ein Sägespäneofen wird für den Laden angeschafft. Ein blecherner, langer Zylinder wie ein Badeofen. Ein Einsatz darin zum Abziehen der Gase. Um diesen Einsatz herum werden mit einem Stampfer aus Holz die Sägespäne festgestampft. Ein Rohr, das auch noch Wärme abgibt, läuft durch den ganzen Laden zum Schornstein. Das Heizmaterial bezieht die Mutter von Tischler Neubert am Güggelsberg. Leute vom Tischler Neubert sagen im Laden Bescheid, wenn sich genügend Sägespäne angesammelt haben. Oder die Mutter fragt, ob es nicht bald wieder so weit wäre.
Mai. Immer noch wird geheizt, denn im Vorgebirge bleibt es lange kühl. Und der Tischler arbeitet sowieso, ob in der kalten oder warmen Jahreszeit, also fallen Sägespäne an. Die Mutter schickt drei Frauen mit dem Plattenwagen zum Güggelsberg, Rosie, die schöne Frau Landmann und Tante Martha. Das Kind wird auf den Wagen gesetzt. Über die Wiesen geht es, über eine kleine Brücke zur Querung des Hochwasserdamms, über die eigentliche Brücke, die auf Betonpfeilern ruht. Darunter die Euba, die hier ihre größte Ausdehnung hat. Wenig später wird sie in die Zschopau münden, de Zschop. Die Brücke über die Euba ist schmal. Man bezeichnet sie deshalb als Steg. Den ganzen Weg über die Wiesen, die Euba nennt man den Steg. Er ist der kürzeste Weg vom Bahnhof zur Dresdener Landstraße und den Fabriken dort. Die Frauen haben Erfahrung, bugsieren den Plattenwagen über den Steg. Endlos lang der Güggelsberg. Oben wohnt der Tischler Neubert. Jaja, Se könn einladn! Tischler Neubert zeigt, wo er die Sägespäne gelagert hat. Susanne kann sich nicht genug tun am harzigen, frischen Holzgeruch. Sie wird in die aufgefüllten Säcke gehoben, trampelt die Sägespäne nieder, dass immer noch mehr in die Säcke passt. Eine kleine Katze pfötelt über den Hof, schwarz mit weißen Pfoten und einem weißen Fleck unter dem Hals. Ach nee, nee, ne Katz, ne kleene Miez!, ruft Susanne. Ihr Herz hüpft. Der Tischler lacht. Na, wenn das Kind se ham will! Ich schenk se dir. Susanne läuft der kleinen Katze nach, nimmt sie in den Arm, lässt sie nicht mehr los. Die Frauen kichern, gickern, heben Susanne samt Katze auf die sechs Sägespänesäcke. Nun geht es den langen Güggelsberg hinunter. Frau Landmann und Rosie stemmen sich vorn gegen die breite Deichsel, Tante Martha gegen den Plattenwagen selbst. Noch läuft der Wagen gemächlich. Die Frauen kommen wieder ins Lachen, haben einen Augenblick nicht achtgegeben. Der Wagen gewinnt Fahrt, saust ihnen ins Kreuz. Aufzuhalten ist er nicht mehr. Die Frauen können nur rennen, rennen wie die Dummen und lenken. Susanne oben auf den Säcken lacht sich halbtot. Erst sind die Frauen vor dem Wagen hergerannt und haben ihn nicht halten können. Dann bringen sie ihn nicht mehr voran. Die Frauen vorn zerren, Tante Martha hinten schiebt. Gibt es eine Senke, springt sie zur Deichsel. Die Frauen legen Pausen ein, verlieren nicht ihre gute Laune. Nur Tante Martha hat Sorgen. Ach, mein Kind, mein Kind, seufzt sie bei jeder Pause. Gern wird deine Mutter das mit der Katz ja nicht sehen! Darauf antwortet Susanne jedes Mal: Das weeß ich ja, das weeß ich ja. Aber ich will se doch so gerne. Dann wieder die Tante: Na, wenn du sie doch so gern hast, dann musst du ihr immer wieder sagen, dass du sie so gern hast. Tante Martha ist eine feine Frau und spricht alles so fein und deutlich, mehr noch als die schöne Frau Landmann, die nicht aus der Gegend kommt. In der Mittagspause langen sie zu Hause an. Die Mutter kommt heraus, will beim Abladen helfen, erkennt sofort die Unregelmäßigkeit. Ich hab's dir schon immer gesacht, bring mir nich noch Viehzeuch angeschleppt, ereifert sie sich, bezieht sich auf Susannes Sammeltick. Alles, was sie auf der Straße findet, Steine, Federn, Schrauben, Kugellagerkügelchen, hebt sie auf, bringt es nach Hause. Die Mutter hat schon geahnt, bei Gegenständen würde es nicht bleiben, hat sich gegen Eindringlinge gewappnet. Na, wenn sie doch aber sone Liebe zum Tier hat! Tante Martha legt sich für Susanne ins Zeug. - Un wer solls versorchen? Un bei dem bissel Milch? Darauf weiß nun Rosie zu antworten. Ich habn Neubert glei gefracht, sagt sie, de Katz soll bloß Wasser saufn, de Alte isses oo so gewohnt! - Tante Martha setzt nach: Und die paar Krümel fallen doch allemal ab! - Nochn Fresser mehr im Haus! Die Mutter gibt sich noch nicht geschlagen. Sollch vielleicht de Mikoleit-Tochter nach Hause schickn oder ihr bloß ne Viertelportion gehm? - Die paar Krümel für die Katz, sagt Tante Martha. Gerda, gib dir'n Ruck! Die Mutter gibt sich einen Ruck, macht ein Gesicht zwischen Weinen und Lachen, dass sie sich von der Frauenverschwörung hat rumkriegen lassen.
Die Katz wird Susannes ständige Begleiterin. Überallhin muss sie mit. Größer geworden, legt sie sich Susanne als schwarzer Pelzkragen um den Hals, oder sie folgt ihr wie ein kleiner Hund. Sie schläft abends unter Susannes Decke, bis die Nacht sie ruft und sie durch das Fenster springt. Getreulich bringt sie ihre Jagdbeute heim. Erwacht Susanne, findet sie neben sich auf dem blutbeschmierten Kopfkissen ein Schwänzlein oder Knöchlein. Oder die Katz spielt noch mit der Maus, es quietscht jämmerlich, der Mutter graust es. Hach, die Nacht war ja wieder schrecklich, sagt sie am nächsten Morgen, bedauert die arme Maus, droht, die Katze aus dem Haus zu jagen. Un dich glei mit!, sagt sie. Susanne hat zu schmeicheln gelernt. Nie wird die Mutter die Katze weggeben. Als die Katze Junge bekommt, werden diese im Ort verteilt. Susanne und die Mutter machen unter einem Vorwand Kontrollbesuche bei den Abnehmern, vergewissern sich, dass es den Jungen gut geht.
Ein freundliches Kind vor der Tür schadet nicht, wird die Mutter denken und lässt es zu, dass Susanne oft auf der Treppe zum Laden ihr Abendbrot einnimmt, neben sich Teller und Tasse und die Katz. Sie sieht über den Bahnhofsvorplatz und in die Hauptstraße hinein. Sie meint, der ganze Ort leiste ihr beim Abendbrot Gesellschaft. Steigt ein Kunde die Treppe hinauf, wird Susanne Gudn Ahmd, Frau Sowieso, Gudn Ahmd, Herr Sowieso sagen. Wünschen die Leute mit ihr zu sprechen, redet sie, gibt bereitwillig Auskunft. Susanne ist der Boehm & Burkard'sche Sarotti-Mohr. Der Mohr von Sarotti, Riesenturban, Pluderhosen, lacht in den Schaufenstern, nickt. Auf und ab geht der Kopf. Susanne läuft durch den Ort, grüßt, dienert. Fragt sie jemand nach ihrem Namen, schnurrt sie herunter: Boehm & Burkard Spielwaren-Galanteriewaren-Schreibwaren- Tabakhandel-Leihbücherei-Puppenklinik. Dann kommt ein Sprüchlein hinterher, das in den Laden passt, auf die Straße nicht so recht. Bald wieder!, sagt Susanne. Und weil die Leute lachen, wird sie immer dieses Sprüchlein anbringen. Bald wieder! Jaja, du sorchst für Lebn im Geschäft!, sagen die Leute, womit sie wohl zweierlei meinen: Geschäftsbelebung und Verwirrung, Belustigung.
Puppeln soll Susanne. Doch sie hasst die Porzellan-Greten, wie Boehm-Otto seine Patientinnen nennt, die Greten. Deren durchsichtige Kleidchen mit gestickter Kante, ihr ganzer Aufputz, sind ein Vorwurf an Susanne. Keine solche Grete mag Susanne haben. Die einzige Puppe, die ihr die Mutter dennoch aufschwatzt, fällt und zerspringt, dass Boehm-Otto sie nicht mehr reparieren kann. Eine Negerpuppe würde sich Susanne wünschen. Aber die is doch braun?! Die Mutter kann keinen Sinn im Spiel mit einer Puppe von einer anderen als blassen Hautfarbe erkennen. Sind sie denn in Afrika? Ein ganzes Puppenhaus möchte die Mutter Susanne schenken. Auch dagegen wehrt sich Susanne, bekommt wenigstens eine Puppenstube und kleine Zelluloidpüppchen dazu. Was sollch nu spielen?, fragt Susanne. Na, Vater-Mutter-Kind, schlägt die Mutter vor. Dazu fällt Susanne nichts ein. Wie auch? Sie hält sich an die Küche, stellt ein Teelicht in die Röhre des Kochherdes. Die Kochplatten werden warm und das Wasser in den kleinen Aluminiumtöpfen auch, sie schüttet Graupen hinein, Grieß, füttert Vater-Mutter- Kind damit ab. Sich selbst versorgt sie aus dem Kaufmannsladen, den sie ansonsten verachtet. Ein altmodisches Ding. Was soll sie mit einem Laden aus der Kindheit der Mutter spielen, wo sie doch einen echten modernen besitzt. Aber gut ist er, um an die von der Mutter sonst versagten Süßigkeiten heranzukommen. Sie darf die Kästchen, Schübe mit Zucker, Sago, Liebesperlen füllen, lässt sich von derjenigen Angestellten der Mutter bedienen, die gerade Zeit hat. Auf einer der beiden kupfernen Waagschalen winzige Gewichte, auf der anderen die Ware. Susanne bekommt für ihr Spielgeld, bedient sich ungehemmt weiter, wird die Angestellte zu anderer Arbeit gerufen.
Lange dagegen kann sich Susanne mit dem Bauernhof beschäftigen. Sie stellt zweidimensionale, bunt lackierte Hähne, Hühner, Kühe, Pferde, Schafe auf. Das Holz und der Lack haben einen bestimmten scharfen Geruch, den sie mag. Sie umgibt die Tiere mit Gatter. Sollen die Pferde, die Kühe, die Hühner sich auslaufen, die Schafe hinziehen, wohin sie wollen.
Im Haus leben Kinder, in der Straße wohnen Kinder. Unter ihnen ist Susanne so bekannt wie im ganzen Ort. Alles aus dem Laden kann Susanne haben, wenn sie auch keinen Gebrauch davon macht. Warum, wenn die Kinder Susanne kennen und Susanne das schönste Spielzeug haben könnte, besuchen diese Kinder sie nicht? Warum laden sie Susanne nie zu Kindergeburtstagen ein? Nicht einmal zu Susannes Geburtstag wollen sie kommen, obwohl es Kakao und Kuchen gibt. Die Mutter muss es erst sehr dringend bei den Leuten machen, ehe die ihre Kinder schicken. Die Kinder verhalten sich merkwürdig. Die Erwachsenen ebenfalls, wenn sich dieses Verhalten auch anders als bei den Kindern zeigt. Sie sind zu freundlich.
Mit einem Kind darf Susanne allerdings spielen, sogar mit einem, an das sonst kein anderes heran darf: Pape-Lieselotte. Lieselotte ist nicht ganz richtig, aber spielen kann man mit ihr. Susanne geht fürsorglich mit der kleinen Lieselotte um. Das sieht Frau Pape und duldet Susanne bei ihrer Tochter. Und dann besucht doch einmal ein Kind Susanne. Nach einer Weile sagt es: Gib mir das und das, ich will's haben. Susanne wagt nicht abzulehnen. Vielleicht kommt das Kind wieder. Und eines Tages, wer weiß, wird Susanne zum Geburtstag eingeladen. Ein großes Mädchen will Susanne nicht mehr sehen. Sie hat ihr zwei Zelluloidpüppchen gestohlen, die Susanne liebt. Dass de offpasst, dass dir nischt geklaut wird!, hat die Mutter gesagt. Un verschenken tuste mir oo nischt mehr, sonst setztes was! Rosie ist in den Laden gegangen und hat Susanne zwei neue Zelluloidpüppchen besorgt und etwas auf sich genommen für Susanne. Das große Mädchen lässt Susanne nicht in Ruhe. Susanne sitzt in ihrem Korbstühlchen in der Sonne draußen, vor sich ein kleiner Tisch mit Spielsachen, als das Mädchen sich wieder an sie heranmacht. Eilig schiebt Susanne die Spielsachen zusammen, passt höllisch auf die flinken Hände des großen Mädchens auf. Nein, nein, mit dir spiele ich nich!, sagt sie, weigert sich standhaft. Das Mädchen gibt nicht nach. Susanne hat eine ganze Weile geschwiegen. Nun platzt sie heraus: Du willst ja doch bloß wieder klauen! Das Mädchen verzieht höhnisch das Gesicht. Kannstes ja ruhich deine Muddi erzähln, sagt sie. Das is sowieso nich deine Muddi. Du hast nämlich gar keene! Susanne brüllt los, Blut schießt ihr aus der Nase. Sie rennt ins Haus, um sich zu verbergen. Die Mutter beruhigt sie. Susanne will vergessen, vergisst. Vielleicht ein Jahr später, da ist sie fünf, wiederholt sich die Szene haargenau so. Susanne erinnert sich, brüllt. Die Kinder wissen nun, wie man Susanne außer Gefecht setzt. Man vermutet, sie sei von der Kirchenschwelle aufgelesen worden oder der Esel habe sie im Galopp verloren. Das sind noch freundlichere Überlegungen. Susanne wird vor Entsetzen stumm oder schlägt wie wild um sich. Beides entzückt die Kinder.
Jemand rennt laut heulend das Treppenhaus hinunter. Ehe die Haustür aufgerissen wird, klappt eine Autotür, fährt ein Wagen davon. Susanne rast in den Flur. Die Mutter ist hinter ihr her, kracht die noch offenstehende Tür zu. Doch Susanne hat schon gesehen: Frau Pape ist in den Hof gerannt. Und dann hört sie sie schreien. Meine Lieselotte, meine Lieselottel, schreit sie. Ihr könnt sie mir doch nicht wegnehmen!
Man hat den Sommer 42. Wochen ist es her, seit die kleine Lieselotte abgeholt wurde. Susanne spielt im Sandkasten des kleinen Hausgartens, gibt feuchten Sand in Formen, kippt die Formen um. Herzen, Fische stehen eine Weile im Sand, ehe sie in der Sonne austrocknen und zerfallen. Wieder rennt Frau Pape aus dem Haus, schreit auf dem Hof, dass alle es hören können, die im Haus, die in der Nachbarschaft. Sie haben sie umgebracht, schreit sie. Sie haben sie umgebracht! Die Mutter ist mit ein paar Sätzen auf dem Hof, im Garten, packt Susanne, zerrt sie, kommt nicht vorwärts. Denn Susanne weiß nicht, warum sie sich beeilen, warum sie ins Haus soll. Und sie hat Kräfte, ein Gewicht. Frau Pape wird auf sie und die Mutter aufmerksam. Sie schaut die Mutter an. Die Mutter schaut zurück. Susanne erschrickt, denn der Ausdruck im Gesicht von Frau Pape wandelt sich. Traurig war er. Nun ist er voller Feindseligkeit. Sie gibt den Blick der Mutter zurück. Susanne kann sich nicht erklären, warum sich die Frauen mit einem Mal so anschauen. Geh, bleib mir fern, wehe du kommst mir zu nahe, sagt die Mutter mit ihren Augen, als fürchte sie eine Ansteckung. Und du, dass du dich nicht schämst, antwortet Frau Pape, ohne den Mund zu öffnen. Viel später wird Susanne erst darauf kommen, dass die Mutter dachte, kann man ein krankes Kind wegnehmen, kann man vielleicht auch eines wie Susanne abholen. Nach einer merkwürdigen Logik hasste sie für diese Furcht diejenige, die diese Furcht auslöste, nicht weniger als die, die sie verursachten.
NIE WIEDER KRIEG. NIE WIEDER FASCHISMUS. NIE, NIEWIEDER!
Noch immer Sommer. Susanne ist mit der Mutter nach Warschau gefahren, den Vater zu besuchen. Sie haben viel Zeit, denn die Mutter darf nur zu bestimmten Stunden den Vater treffen. Dann halten sich die beiden in der Nähe der Kaserne auf. Die Mutter geht mit Susanne am Weichselufer spazieren. Am Fluss liegen offene, flache Kähne. Auf zwei langen Brettern balancieren die Frauen vom Ufer zu ihren Kähnen und von den Kähnen zum Ufer. Nur Frauen halten sich auf den Kähnen auf. Sie tragen schwere Röcke und unter ihren Blusen nichts weiter als Hemden, ob sie schlank sind oder füllig. Ihre Kopftücher haben sie tief ins Gesicht gezogen. Sie waschen in großen Holzbottichen Wäsche, die Röcke geschürzt, die Blusen hochgekrempelt, dennoch nass. Sie rubbeln auf ihren Waschbrettern, schlagen mit Bleueln, Holzkeulen, die Wäsche, wringen sie aus, indem sie mit großer Geschwindigkeit die Wäsche zu dicken Seilen werfen, drehen. Seifenlachen ziehen weißlich von den Kähnen in das Flusswasser. Susanne kann von den Frauen auf den Kähnen nicht mehr lassen. Die Mutter versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Doch die werfen unfreundliche Blicke oder reagieren überhaupt nicht. Sie tuscheln miteinander. Susanne drängt. Am nächsten Tag machen sie sich wieder zu den Kähnen auf. Die Mutter kauft in der Nähe ihrer Pension ein Blumensträußchen, überlegt dann. Das geb ich dem Vati!, sagt sie, geht nochmal zurück in die Pension, packt dort ein Stück Seife, etwas Brot in zwei kleine Päckchen. Die Mutter sagt, wie Susanne es anfangen soll, zu den Frauen auf die Kähne zu gelangen. Susanne geht die Böschung hinunter, schaut nach rechts oder links, ob nicht etwa Feldgendarmerie oder eine Wehrmachtspatrouille kommt, läuft über die Bretter zu einem der Kähne, streckt die Arme aus, hält einer Frau die beiden Päckchen hin. Die Frau schaut sich kurz um. Eine andere ruft etwas. Die Frau lässt das Päckchen in der Weite ihres Rockes verschwinden. Die Frauen erscheinen auf ihren Kähnen, die, dann die, dann die, sie nicken der Mutter zu oder sehen sie nur an. Jeden Tag geht Susanne nun zu den Polinnen auf die Weichsel. Manchmal bringt die Mutter ihnen eine Kleinigkeit mit. Manchmal lässt sie Susanne bei den Frauen, während sie den Vater besucht. Nimmt die Mutter Susanne zum Vater mit, wird Susanne nichts über ihre Besuche bei den Polinnen sagen. Sie wird mit der Verschwörung groß. Verschweigen ist ihr selbstverständlich. Das eine ist, was man sieht, was man tut. Das andere ist, worüber man redet. Wovon der Vater nicht weiß, dafür kann er nicht.
VOLKSFEINDE. IN ISOLATION ZU HALTEN, DENN UNVERBESSERLICH. MULDEN IM EICHENWALD, KUHHERDEN WURDEN UEBER DIE GELOCKERTE ERDE GETRIEBEN. DASS SIE DENEN DARUNTER NICHT ZU LEICHT WERDE, DENEN DARUEBER DAS VERGESSEN ERLEICHTERE.
Unvermeidlich der Abschied von den Frauen auf den Kähnen. Susanne heult jämmerlich, will nie, nie wieder von diesen Frauen, aus dieser Gemeinschaft weg.
Tante Martha von der Mittwejd'schen Verwandtschaft der Mutter mit hübschem Gesichtel, kaum sichtbarer Buckel, lebt von Vermögen, bewohnt die ganze untere Etage eines herrschaftlichen Hauses, die Wohnung ihres Onkels, den sie gepflegt und beerbt hat. Parkettfußböden, Glasschiebetüren zwischen den Räumen, die Decken stuckverziert, überall Glühlampen, sodass die Decke wie ein Sternenhimmel erstrahlt, schaltet man die Glühlampen ein. Tante Martha spielt auf dem Flügel des Onkels und geht der Wohltätigkeit nach. Sie strickt Socken für Soldaten, ist in der Frauenschaft eine Nummer, denn sie betreut eine Gruppe BDM-Mädchen. Mit ihnen sammelt sie Brombeerblätter, Lindenblüten. Die Blätter von Maulbeersträuchern, die rings um Euba wachsen, sind für die Seidenraupenzucht in der Berufsschule bestimmt. Ein höchst lächerliches Unternehmen, meint Susanne. Was haben die hässlichen, vor sich hin fressenden Raupen mit den hauchdünnen Nahtstrümpfen zu tun, mit den buntblusigen Stoffen, Tüchern, die ein Windhauch davonträgt! Appelle finden auf dem Schulhof statt, militärisch-zackig, was Susanne immer begeistern kann, die Mädchen dann nicht in gewöhnlichen Arbeitssachen, sondern in der Tracht, graublaue Blusen, Schlips, schwarze Röcke. Die Mädchen ziehen sich um, stürzen sich in schwarze Turnhosen, weiße Hemden, in der Mitte das Emblem. Ab geht es zur Turnhalle. Gymnastik, Übungen an Leitern, die, schräg gestellt, als Rutsche dienen. Susanne klettert Sprossen hinauf, lässt sich breitbeinig heruntergleiten, und die Mädchen fangen sie auf. Die Mädchen wollen Susanne als Tante Marthas Maskottchen überall dabeihaben. Den Rundlauf veranstalten sie eigens für sie: In der Mitte der Turnhalle hängt ein Metallkranz, an ihm Strickleitern. Die werden heruntergelassen. Jedes Mädchen stellt sich vor einer auf. Nach einem Kommando ergreifen sie mit einer Hand die Strickleiter, rennen los, der Kranz beginnt sich zu drehen. Ist genug Fahrt, springen die Mädchen auf die Leiter. Das kräftigste greift Susanne, hält sie am Schlafittchen, sodass sie nun mit an der Leiter hängt, sich wie auf einem Karussell drehen lässt.
Kommt Feldpost, muss jemand anderer den Laden versorgen. Die Mutter rennt in die Küche, um den Brief zu lesen. Susanne rennt mit, wartet darauf, dass die Mutter ihr vorliest, was am Ende jedes Briefes steht: UND VIELE KÜSSE FÜR MEIN BUTZEMÄNNCHEN! Nie wird der Vater sein Butzemännchen, Susanne, vergessen. Ach, ach, die arm Menschen!, seufzt die Mutter beim Brieflesen, klagt über fremdes Elend. In Russland ist der Vater nun unterwegs. Kischinjow, Dnepropetrowsk, Minsk, die Ukraine sind Namen, mit denen Susanne im Laufe der nächsten Monate vertraut werden wird. Der Vater schreibt zweimal in der Woche. Wird die Post regelmäßig befördert, hört Susanne zweimal in der Woche: Und viele Küsse für mein Butzemännchen! An den Nachmittagen, nachdem es Feldpost gegeben hat, wird die Mutter keine Lust haben zu schimpfen, zu prügeln.
Nie hat der Vater Sonderurlaub bekommen wie andere Soldaten und selten Heimaturlaub. Kaum ist er in Russland, darf er nach Euba fahren! Wunderbare Herbsttage beginnen. Zu Bett will Susanne nun gar nicht mehr. Es achtet auch niemand auf sie. Die Mutter und der Vater sitzen miteinander auf der Ofenbank im Kontor, reden. Susanne hockt unter dem Tisch, hört zu, versteht mal ganze Sätze, mal Wortfetzen, mal überhaupt nichts. Warm ist es draußen, warm drinnen. Susanne schlummert weg, schreckt hoch. Ihren Namen hat sie gehört: Butzemännchen. Ja!, sagt sie, kriecht verschlafen unter dem Tisch hervor, begierig zu erfahren, was man von ihr wolle. Doch die Eltern wollen nichts von ihr. Im Gegenteil, sie fahren zusammen, sind nicht darauf gefasst, dass Susanne da ist. Aber ihr habt mich doch gerufen!, sagt Susanne. Die Eltern bestreiten es. Die Mutter bringt Susanne zu Bett. Susanne wird unsicher. Von wem haben die Eltern gesprochen? Warum sind sie so durcheinander? Aber ich bin doch euer Butzemännchen, sagt sie. Na klar, du bist unser Butzemännchen, bestätigt die Mutter. Susanne schläft wieder ein, hat jedoch am nächsten Morgen nichts vergessen. Was is denn nu mit Butzemännchen? Ich bin doch Butzemännchen! Sie gibt nicht nach, bis der Vater ihr erklärt. Das isn kleener Junge, der kommt immer zu uns, wenn der Wirt-Paule Wache hat! - Was isn das fürn kleener Junge? Susanne weiß noch lange nicht genug. Ein Junge, der ihren Namen trägt! Das isn kleener Junge, der hat keene Eltern mehr! - Ein Russki? Susanne kennt sich aus. In Russland wohnen Russkis. Nee, e Russki isser nich. Der Vater mag seine kleine Tochter nicht anlügen. Susanne wird noch neugieriger. Ein anderes Butzemännchen, das kein Russki ist, wo der Vater doch in Russland ist, wo Russkis leben? Sie sprechen ja dauernd von Russkis. Na ja, da gibt's verschiedene! Der Vater weicht aus. Mehr wird Susanne aus ihm nicht herausbekommen. So nimmt sie sich die Mutter vor, die auf Dauer Susannes Terror nicht gewachsen ist. Dass de mir ja den Mund hältst!, meint sie. Susanne hat schon Proben ihrer verschwörerischen Eignung geliefert. Sie wird niemandem etwas sagen, nicht der Rosie, nicht mal der Oma im Zimmer oben. Das is oo e Butzemännchen!, sagt sie. Susanne ist klug wie zuvor. Die Mutter muss weitersprechen: Das isn Junge mitm gelben Stern! Oje. Nun weiß Susanne, was los ist. Doch dann kriegt sie wieder das Grübeln: Warum hat die Mutter gesagt, das sei auch ein Butzemännchen? Was sind Butzemännchen? Warum nennt der Vater sie mein Butzemännchen, und warum hat er den kleinen Jungen genauso genannt?
DER HOBEL GLEITET GLÄTTEND ÜBER DAS HOLZ. WIE ANDERS IST EINE BLANKE FLÄCHE ZU BEKOMMEN ALS MIT DEM MESSER, IN DEN HOBEL EINGELASSEN, UM ÜBERFLÜSSIGES WEGZUSCHNEIDEN. ÜBERFLÜSSIGES HOLZ. IM UMFORMPROZESS ÜBERFLÜSSIGE MENSCHEN. VERSEHEN KÖNNEN PASSIEREN. UNFÄLLE SOZUSAGEN, DENN: WO GEHOBELT WIRD, FALLEN SPÄNE. SPAN UM SPAN. NIMM DICH IN ACHT, VATER! DEIN BUTZEMÄNNCHEN.
Manche Sonntagnachmittage unternehmen Boehm-Otto und Tante Else Ausflüge gemeinsam mit Susanne und ihrer Mutter. Boehm-Otto bestimmt die Routen. Susannes Durchhaltevermögen wird durch die Aussicht auf Schiwecker bestärkt, Käse mit angeblich schiefen Ecken, dazu trinkt Susanne Limonade, die Frauen bestellen sich Malzbier, der Onkel helles Bier. Als er besonders gut gelaunt ist, gibt er Susanne zu kosten. Hach nee, du erziehst se noch zum Suffi, kreischen die Frauen. Susanne schüttelt sich. Die Aussicht auf Schiwecker hilft nicht, als die Strecke gar zu lang wird. Boehm-Otto macht Susanne auf Kartoffelsalat mit Würstchen Hoffnung, die hat sie doch früher mal bekommen. Susanne schleppt sich mit dem begehrlichen Innenblick auf einen Teller herrlichen Kartoffelsalats mit knackigen Wienern. Am Ziel lacht sich Boehm-Otto halbtot. Angeführt hat er Susanne! Er wusste ganz gut, dass so etwas heutzutage nicht zu haben ist. Einmal hat er Susanne angeführt, ein zweites Mal wird das nicht gelingen.
In den Gaststätten gesellt sich Susanne gern zu den Leuten. Sie geht von Tisch zu Tisch, fragt, ob sie sich dazusetzen darf. Sie möchte teilhaben am Vergnügen dieser Menschen, die sicher alle ganz glücklich sind. Na, so e Kind, na, so e Kind! Manche Leute lachen über Susannes Zutraulichkeit. Manche mögen Susanne auch nicht bei sich haben. Wer das Kind ist, spricht sich schnell im Saal herum, denn irgendjemand kennt Boehm & Burkard immer. Das ist ein Grund, warum es Susanne zu den Leuten zieht. Ein Gezischel hebt an. Ach, das is doch die Kleene, na, du weeßt schon! Aber wie auch Susanne die Ohren spitzt, mehr sagen die Leute nicht. Und wiederum geschieht es, dass Susanne partout nicht in die Gaststätte hineinzubekommen ist. Plötzlich ist ihr der Gedanke ganz unerträglich, dass die Leute sie gleich anstarren werden. Heiß wird ihr vor Angst und Scham, als sei an ihr etwas Unreines, Schmutziges. Na, gibt's denn so was! Boehm-Otto tobt. Die Mutter zerrt. Tante Else redet Susanne gut zu. Nichts zu machen. Das Kind bleibt draußen. Was würden die Leute dazu sagen, wenn sie ein heulendes Kind in die Gaststätte schleifen! Un ne Limo kriechste oo ni, sagt die Mutter in der Hoffnung, Susanne besänne sich.
Blaue, grüne, weiße, durchsichtige, rote Glasperlen fädelt Susanne zu Ketten, mit denen sie sich schmückt. Die roten Glasperlen die schönsten wie immer brennendes Feuer. Doch ein Schock Perlen enthält gerade drei davon. Na, warts ab, sagt die Mutter. Ich nehm dich mit nach Chemnitz zum Grossisten, denn kannste Rolltreppe fahrn, denn gehmer zu Wullwords un Diez, Sie sagt zwei Namen, die sie laut nicht mehr nennen darf. Einmal wöchentlich fährt die Mutter zum Grossisten, kauft beim Verlag Erhard Neubert Karten ein und besorgt auch sonst viel. Susanne fährt das erste Mal mit nach Chemnitz und dann weitere Male. Sie lernt die versprochenen Rolltreppen kennen, amüsiert sich königlich, als die Mutter mit ihr zur Korsettjule geht. Sie spaziert von Kabine zu Kabine, lüftet die Vorhänge, schaut, wie die halb nackten Frauen ihre "guten Figuren" probieren. Sie läuft kreuz und quer mit der Mutter durch die Stadt. Als sie müde wird, setzt die Mutter sie auf einer Bank am Museum in Bahnhofsnähe ab. Susanne hat viel zu sehen, nämlich den Steinernen Wald. Steine interessieren Susanne. Und nun befindet sie sich vor einem Wald ganz und gar aus Stein, sie muss ihn sich genau ansehen, steht deshalb auf. Dann hat sie genug betrachtet, setzt sich wieder. Ein alter Mann hat auf der Bank Platz genommen. Langweilig ist es Susanne nicht. Sie kann ja immer rüber schauen zum Steinernen Wald. Erschrocken ist sie, wie die Mutter mit einem Mal angerannt kommt, sie von der Bank herunterreißt und mit ihr losläuft, als sei der Teufel hinter ihr her. Wie traurig ist der alte Mann geworden. Auch mit der Mutter hat Susanne Mitleid. Denn der ist angst und bang, obwohl es doch nur ein Versehen war, dass Susanne auf einer Judenbank mit einem Mann mit gelbem Stern gesessen hat. Deswegen wird Susanne doch nicht ein Judenkind!
Wieder einmal wollen Susanne und die Mutter nach Chemnitz. Es ist früh am Morgen. Das Licht milchig-herbstlich, nass die Steine. Sie in Eile wie immer, stürzen die Bahnhofstreppen hinunter, zum Bahnsteig hinauf. Susanne fällt wie üblich, die Mutter zieht Susanne mit sich. Gott sei Dank, der Zug ist noch nicht eingefahren. Sie gehen den Bahnsteig entlang bis zur Bahnaufsicht. Zwei Männer stehen dort in schwarzen Uniformen, Stahlhelm, geschulterte Knarre. Die Männer nehmen Susannes ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Erst später sieht sie: Auf dem Boden liegt ein Mann, breit gestreift Jacke und Hose. Die Mutter zupft an Susanne. Sie beugt den ganzen Körper in Richtung der Gleise, verrenkt ihren Kopf, um ja zu sehen, ob der Zug nun ankommt. Immer wieder von Neuem. Schaukelt wie eine Ente hin und her. Primitives Täuschungsmanöver. Susanne muss lachen, wird es nicht vergessen, wie die Mutter hin und her schaukelnd signalisiert: Nur auf den Zug wartet sie, nur der interessiert sie. Der Zug läuft ein. Susanne wird in den Waggon gehoben, sieht vom Fenster aus hinunter auf den Mann im gestreiften Anzug, wird bis ins Innerste von dem getroffen, was sie sieht: Die schwarz Uniformierten heben den Mann auf wie ein schweres Paket, ein Bündel, werfen ihn in den Packwagen. Mit Schwung hinein die Last.
MIT SCHWUNG HINEIN. DAS BLUT RANN ÜBER SEIN GESICHT. VIEL BLUT, JEDE MENGE IST GEFLOSSSEN. DENNOCH KANN ICH NICHT VERWINDEN: DAS BLUT IM GESICHT DES VATERS. DIE BEINE KNICKTEN IHM WEG. SIE WARFEN IHN IN DEN LKW MIT SCHWUNG. HINEIN MIT DER LAST
Die Mutter reißt Susanne vom Fenster. Der Zug setzt sich in Bewegung. Der Mann, der da laach!, sagt Susanne. Die Mutter fährt dazwischen, redet schnell. Unsinniges Zeug redet sie, lächelt die Leute an wie dumm. Schweigt dann, sagt bis Chemnitz kein Wort mehr. Verschwörung: Man sieht, man weiß. Doch bei Strafe des Lebens, reden darf man nicht!
Der Briefträger kommt. Wieder ein Freudentag. Post vom Vater! Die Mutter geht mit dem Feldpostbrief in die Küche, Susanne ihr nach. Ein winziges Foto fällt aus ausgefaltetem Blatt. Die Mutter fängt es auf, schaut es sich an, beginnt zu lesen. Butzemännchen is dot, sagt sie zu Susanne, zeigt ihr heulend das Foto: ein kleiner Junge mit gelbem Stern neben dem riesenlangen Vater in Uniform. Das war oo e Butzemännchen, sagt die Mutter. Ein zweites und letztes Mal dieses Rätselhafte auch, dieser Bezug zu Susanne. Isser gestorm?, will Susanne wissen. Nee, se ham ihn erschossn, sagt die Mutter. Aber nich der Vaddi, fügt sie schnell hinzu. Mit einem Mal fragt sie: Erinnerste dich an de kleene Lieselotte? Natürlich erinnert sich Susanne. Wie sollte sie die kleine Pape- Lieselotte vergessen und was mit ihr passiert ist. Was die machn, was die machn, sagt die Mutter, weint weiter, läuft über Tage wie krank herum. Susanne muss immer in ihrer Nähe sein, als könne sie ihr verloren gehen, sogar nachts beordert die Mutter sie neben sich ins Bett des Vaters.
Die Geschäfte bekommen die Anweisung, die Schaufenster bis zu einer bestimmten Höhe mit Farbe zu bestreichen. Was soll man sehen, was nicht ist. Mangel zu betrachten, kann zu Gedanken Anlass geben. Auf den obersten Borden stellt die Mutter aus, was sie noch hat. Wenig genug, das meiste Attrappe. Susanne gefallen die leeren Schaufensterkästen als Aufenthaltsort ungemein. Sie richtet sich in dem zum Bahnhof hin gelegenen ein Lager ein, hört, was die Leute draußen reden. Ei gucke doch mal, ach das dort! Während die Leute so reden, schiebt sich Susanne die weiße Glaswand immer höher hinauf. Plötzlich erscheint ein Fratzen schneidendes Gesicht über den Leuten. Hach! Ein Aufschrei unter den Frauen. Die einen lachen nach ihrem ersten Schreck, die anderen schimpfen, beschweren sich. Susanne kriegt verboten, Schabernack mit den Leuten zu treiben. Doch ihr Lager behält sie, denn sie erklärt der Mutter, es sei nützlich, den Leuten zuzuhören und von ihnen zu erfahren, was sie so übers Geschäft denken. Susanne kratzt sich ein kleines Loch in die Farbe, hat nun einen Ausguck. Steht jemand vor der Scheibe, der schlecht redet oder Susanne missfällt, wartet sie eine Weile. Dann presst sie ihr Auge an das Loch, sodass es draußen so groß erscheint, wie es ist. Oder sie schiebt ihren Finger über den Farbrand. Hach! Entsetzen wie gewünscht. Unerwünschte Ohrfeigen. Sie muss ihren Schaufensterplatz räumen. Susanne macht es sich im Eckregal unten im Verkaufsraum bequem. Die Leute können sie kaum sehen, aber sie die Leute. Bequem liegt sie auf einer alten Matratze mit Kopfkissen. Manchmal kitzelt sie die Frauen am Bein. Aber so wenig, dass die nur zucken, nicht wissen, warum es sie kitzelt. Aus der unteren Perspektive hat sie merkwürdige Ausblicke unter Röcke, Kleider. Erzählt der Mutter, was die Frauen tragen, Einfaches, Schlabbriges, Gestopftes, Feines auch. Manche stinken so, sagt sie. Komisch. Sonst merkt mer doch nischt. Das sind private Erkundungen. Auch als Spion, als Detektiv für das Geschäft betätigt sich Susanne, macht lange Ohren. Was die Mutter nicht hören kann, wenn sie gerade mit Kunden verhandelt, hört Susanne. Sie wird auf Ladendiebe angesetzt, gut bekannte Kunden, die wertloses Zeug mitnehmen. Ist wenig Kundschaft, geben die Verkäuferinnen selbst Acht. Alarm gibt es, betritt Frau Tierarzt Dr. Hempel den Laden. Geschickt stellt sie es an, lässt sich dies und das zeigen, Kartons um Kartons werden ausgepackt, denn Frau Tierarzt muss ja sehen, ob die Puppensachen die entsprechende Größe haben und gefallen. Noch immer überlegt Frau Tierarzt, hebt dieses hoch, jenes, prüft, ein Kundenstau entsteht, die Verkäuferin gerät in Bedrängnis, nickt Susanne in ihrem Versteck zu, fragt die nächste Frau nach ihren Wünschen. Endlich hat Frau Tierarzt sich entschlossen. Die Mutter oder die Verkäuferin schaut auf Susanne. Die macht Zeichen, konturiert an ihrem Körper eine Bluse, ein Kleid, deutet auf ihre Schuhe, zeigt, wohin das Betreffende gelangte, in die rechte, die linke Manteltasche, die Einkaufstasche. Aach, Frau Tierarzt Dr. Hembel, sagt die Mutter mit hoher Stimme, es passte woll das Kleidchen? Oder: Das Kleidchen passte woll nich? Oder: Hattn Se sich nich vorhin noch was vonnen Schuhchen zeichn lassn? Frau Tierarzt fällt vor Erstaunen über ihre Vergesslichkeit aus allen Wolken. Ach ja! Wie'n Sieb der Kopf. Nein, ist mir das peinlich, aber nein, so was aber auch. Die Zeiten sind's, die Zeiten! Worauf die Mutter Frau Tierarzt selbstverständlich recht gibt. Jaja, es passiert zu viel auf der Welt, sagt sie. Frau Tierarzt Dr. Hempel bezahlt. Die Mutter hat ihre Genugtuung. Interessant ist der Laden allemal. Man kann sich einbilden, er sei der Mittelpunkt der Eubener Welt und Susanne befände sich inmitten des Mittelpunktes. Frau Tierarzt kauft ein, Frau Apotheker. Die quittegelb wie krank von der Höhensonne, unter der sie sich zweimal in der Woche hinlegt, splitterfasernackt die kleine Dicke, und der spindeldürre, lange Mann legt sich dazu. Je auffälliger jemand ist, umso größer der Erlebniswert für Susanne.
Die Straße auf und ab ist sie gelaufen nach dem Strumpfband, dem elenden Gummi. Findste doch ni mehr, haben die Leute gesagt, als Susanne zum soundsovielten Mal den Weg absuchte. Wird schon nich so schlimm sein. Bloß e Strumpfband, na! Was wissen die Leute. Der Mutter ist gleichgültig, ob es ein Knopf ist, ein Strumpfband oder etwas wirklich Wertvolles. Verlust kann sie nicht ertragen. Unerhört sind für sie Beschädigungen an der Kleidung. Da muss sie den Ochsenziemer nehmen, da setzt es Schläge auf den Blanken, da muss sie losschlagen mit aller Kraft, dass Striemen zurückbleiben. In der Schulzeit wird Susanne froh sein, wenn die Striemen so liegen, dass sie nicht unter der Turnkleidung herausschauen. Die schlimmsten Schläge aber erhält sie, warum bloß, im Kleinkindalter, mit zwei, drei, vier Jahren. Susanne ist es leid. Sie wird die Strafe nicht auf sich nehmen, eine Wut ist in ihr, sie fasst einen Entschluss. Fein anziehen wird sie sich und weggehen. Sie nimmt ihr blaues Mäntelchen mit dem weißen Kragen von der Garderobe, setzt ihr Käppchen auf, blau mit weißroten Streifen, ein Gummiband hält es unter dem Kinn fest, packt in ihr Kinderrucksäckchen frisch eingekaufte Vorräte ein, die noch in den Keller gebracht werden sollen, Mohrrüben, Mohn, nicht viel. Schlüpft aus dem Haus, aus dem Hof, läuft den Ort hinaus. Marschiert. Hat die Tour der Mutter Richtung Falkenau im Kopf. Zur reichen Marschall-Bäuerin will sie, die wird sie schon nehmen. Die Marschall-Bäuerin hat keine Kinder. Weil sie gern welche hätte, ist sie zu Kindern freundlich. Susanne hat eine lange Wegstrecke vor sich. Von Zeit zu Zeit schaut sie sich um. Zu Hause wird Susannes Verschwinden bemerkt. Rosie gibt eine Arbeit vor. Nie wird sie Susanne heimholen. Soll es die machen, vor der Susanne wegläuft. Andere Angestellte werden ausgeschickt. Die sich auch nicht mühen, Susanne zu finden. Die Mutter ist es, die Susanne einholt. Dieses erste Mal, als Susanne ausrückt. Jedes spätere Mal wieder. Susanne erblickt die Mutter, beginnt zu rennen, wie man es einem Fallsuchtkind gar nicht zutraut. Die Angst macht ihr Beine. Die wilde Entschlossenheit, sich nicht fangen zu lassen. Die Mutter erschöpft sich hinter dem wetzenden Kind. Hat sie das nötig? Sie sucht sich Helfer. Jungs, fangt mir mal das Kind ein!, ruft sie am Hang tollenden Jungen zu. Ja, Frau Boehm & Burkard!, schreien die, sind wie nichts den Hang herunter, ergreifen die Ausreißerin. Die lässt sich - fassungslos über so viel Gewalt - schlappe Arme, schlappe Beine, zur Mutter führen. Was solln das Deader?, sagt die Mutter. Das sin mir ja scheene Unartn. Na komm mer nur nach Hause, du undankpoares Kind! Die Jungen feixen. Die Mutter wendet sich den Jungen zu. Ich zeich mich schon erkenntlich, sagt sie. Du bist doch der und der und du der? Sie nennt die richtigen Namen. Das macht eine Geschäftsfrau aus, dass man möglichst schon die Kinder mit Namen kennt. Die Mutter läuft, dass Susanne kaum nachkommt. Die Jungen geben Geleitschutz. Solln mer Ihn helfen, Frau Boehm & Burkard? Nee, nee, geht ner, geht ner! Durch den Ort zu gehen, ist kein Vergnügen. Alles Kunden, die ihnen begegnen. Gudn Tach, Frau Sowieso, Gudn Tach, Herr Sowieso, grüßt die Mutter nach rechts, nach links. Weil offensichtlich ist, dass sie mit ihrer Tochter während der Ladenöffnungszeit nicht einfach spazieren geht, fügt sie eine Erklärung hinzu. Se hat mal wieder ihrn Rappel, de Nanne, kee Vater nich da, wie soll mer fertich wern mit dem Kind. Zu Hause hat sich Rosie was ausgedacht, um Susanne der Strafe zu entziehen. Frau Purgert, Se müssn glei noch mit de Babier-Fabrik telefoniern!, ruft sie. Geschäft geht vor. Susanne bekommt Ohrfeigen, dass ihr Hören und Sehen vergeht, doch der Ochsenziemer bleibt ihr erspart.
Das Ausrücken wird zur Gewohnheit. Mal muss es Susanne doch schaffen, bis zur Marschall-Bäuerin zu kommen!
Wieder einmal hat sich Susanne auf den Weg gemacht, wieder einmal hat die Mutter sie zurückgeholt. In den Lattenkeller sperrt sie Susanne. Nie mehr in den Kohlenkeller. Hat sie Mitleid? Ist es wegen des Protests der Hausbewohner? Die Mutter lässt das Vorhängeschloss schnappen, schließt ab. Susanne sieht in den Holzspänen neben dem Hackklotz ein Beil blinken. Sie nimmt es auf, lässt die Mutter ein Stück weit den Kellergang laufen, ehe sie den Arm aus dem Lattenkeller streckt und das Beil wirft. Treffen will sie nicht. Aber ein Zeichen setzen! Alles lässt sie sich nicht gefallen. Das Beil fällt auf den Boden. Die Mutter bleibt stehen. Hm, hm, macht sie. Geht weiter, schließt oben die Kellertür zu, dass kein Hausbewohner mehr hineinkommt. Stunden lässt sie Susanne im Keller. Ist das Wort Heim schon einmal gefallen? Als die Mutter gar nicht aufschließt, hat Susanne jedenfalls den Gedanken, die Mutter überlege jetzt, ob sie Susanne in ein Heim gibt. Als Tochter ihrer Mutter. Noch hat Susanne keine Zweifel, hat verdrängt, vergessen. Wird man mit Kindern nicht fertig, kann man sie in ein
Heim stecken. Endlich schließt die Mutter die Kellertür oben, den Lattenkeller unten auf. Denn gib mich doch glei innen Heim!, sagt Susanne. Hier willch sowieso nich mehr bleim! Friedlich sagt sie es und bitter. Sie will nicht mehr von der Gnade der Mutter leben. Die Mutter antwortet nicht. Offener Krieg ist von nun an. Die Mutter kann Susanne schlagen, einsperren. Susanne kann sagen: Na, da gibste mich ehmd innen Heim. Na, da machstes ehmd. Die Mutter wird dann still. Doch berechnen lässt sich nichts. Einmal kann die Mutter den Mund aufmachen und sagen, dass sie genau das tun wird. Susanne hängt sich an andere Erwachsene ihrer Umgebung. An die schöne Frau Landmann. An Rosie. Solange Rosie im Haus ist, hat Susanne immer Beistand, weiß, sie ist im Recht. Mach dir nischt draus, Nannchen, sagt Rosie. Deine Mutter is keene gude. Se is genau wie deine Oma war. Das war oo keene gude. Nach dem Krieg ist niemand mehr, an den sich Susanne halten kann.
Der Lattenkeller, nun auch Luftschutzkeller, verliert an Schrecken. Nach jedem dritten Mittagessen etwa landet Susanne dort, denn das Essen bleibt ein Hauptstreitpunkt.
Der Lattenkeller ist mit Stühlen, einem Sessel, einem Kackstuhl ausgestattet. Bekommt Susanne im Laufe des Nachmittags Hunger, ist durch Rosie gesorgt. Rosie hat im Löschsand - sorgsam in Papier eingewickelt - Mohrrüben, etwas Brot versteckt. Und dann holt sich Susanne Gesellschaft. Das Fenster steht einen Spalt breit offen. Susanne schiebt den Kackstuhl ans Fenster, steigt hoch, erwischt den Riegel, öffnet das Fenster, könnte aussteigen, aber was brächte das schon. Mucki! Mucki! Der Laden liegt auf der Straßenseite, der Lattenkeller zur Hofseite hin. So kann man im Laden ihre leisen Rufe nicht hören. Mucki! Mucki! Die Katze ist abgefüttert und auf den Hof gelassen worden. Mucki pfötelt, Susanne lockt mit vorgekautem Brot. Die Katze springt in den Keller. Susanne muss sie bei Laune halten. Ist ihr langweilig, wird sie dem Verließ wieder entspringen. Susanne raschelt mit Holzwolle. Eine Maus! Eine Maus! Wo is die Maus? Die Katze starr, setzt zum Sprung an, wird getäuscht. Der Finger ist immer schneller. Die Katze wird müde. Susanne macht sich's mit ihr im Kackstuhl bequem, isst ihre Möhren. Was will sie noch! Die Mutter wundert sich: Fünf Uhr am Abend und noch kein Gebrüll. Einmal findet sie beide, Susanne eingeschlafen auf ihrem Thron und in ihrem Schoß die Katz. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Aber Strafe muss sein. Rosie, Sie sind mir verantwortlich, sagt sie. Arme Rosie. Muss gehorchen. Muss dafür sorgen, dass das Kind keine Katz in den Keller kriegt.
Der Krieg nimmt überhand, die Arbeit auch. Schier unmöglich ist es, genügend Ware heranzuschaffen, schwer ist es, ausreichend Nahrung zu besorgen. Man kann sich nicht mehr um Susanne kümmern. Nanne, nu musste aber innen Kinnergardn, heißt es. In der Straße, in der sie wohnen, befindet sich ein moderner Kindergarten, eingerichtet mit einfachen, stabilen Holzmöbeln, kleinen Holztischen, an denen die Kinder sitzen, einer Spielecke. Der Führer schaut herab von seinem Bild auf Erzieherinnen und Kinder. Susanne brüllt, wird nach Stunden wieder zu Hause abgeliefert. Aber so, wie es war, ist es zu Hause nicht mehr. Nun bemerkt Susanne: Der Krieg hat alle Fröhlichkeit mit sich fortgenommen. Die Frauen sprechen kaum mehr miteinander, haben ihre Arbeit im Kopf, ihre Sorgen. Selbst Rosie lacht nicht mehr mit ihr. Susanne steht den Frauen im Wege. Einige Wochen geht das so. Dann gibt sich die Mutter einen Stoß. Jetz musste innen Kinnergardn, sagt sie. Wenn de in de Schule kommst, musste oo mit annern Kinnern zusammen sein! Susanne bekommt eine neue Umhängetasche und alles in sie hineingesteckt, was sie gern isst: Möhren, Kommissbrot. Ach, wirscht schon een finden, tröstet Rosie. Jetz sin viele Kinner von unsrer Ecke dort. Der Hembel-Dieter zum Beispiel, der Sohn von Tierarzt Dr. Hembel! Susanne hat den Jungen manchmal gesehen. Leichtes Blut hätte er, sagt man, von seiner Mutter. Leichtes Blut heißt, er hat etwas übrig für Unsinn. Hembel-Dieter könnte Susanne also gefallen. Und er gefällt. Im Kindergarten treffen sie aufeinander, werden im Augenblick Freunde. Hempel-Dieter unterweist Susanne, wie sie umgehen kann, den roten Lebertran zu schlucken, in dem noch Fäden schwimmen. Regelmäßig erscheint Dr. Richter, untersucht die Kinder, lässt sie dann in einer Reihe antreten und gibt Lebertran aus. Mir stelln uns vorne als erschte an, sagt Hempel-Dieter. Das Zeuch schluckste ne, das brauchste ne. Machstn Mund auf, behälst es im Mund. Wenn die sagt: nu schluck, machste wie'n Pferd, was wiehern dut, mit der Nase nach ohm, aber schluckste ne runter! Susanne und Hempel-Dieter stellen sich vorn an, bekommen ihren Löffel verabreicht, treten aus der Reihe heraus, gehen hinter einen Pfeiler, schauen nach rechts, nach links, sprühen den Lebertran aus dem Mund, jeder in eine andere Richtung. Erwischt werden sie nie. Susanne erwacht morgens voll Leichtigkeit, denkt an den Kindergarten. Sie wird weggehen von der Mutter, den Sorgen, wird zu den Kindern gehen.
Auf dem Nachhauseweg hat sie noch ein Sondervergnügen. Sie bleibt vor dem Truthahnverschlag eines Nachbarn stehen, besieht das urtümliche Vieh. Eines Tages steckt sie den Finger durch den Maschendraht, erprobt, welche Geräusche den Truthahn am meisten aufregen. Der Truthahn plustert sich, wird immer wilder, kollert, rast gegen den Maschendraht, der unter der Wucht seines Aufpralls nachgibt. Der Truthahn, der kostbare Truthahn läuft auf die Straße, rüber, nüber, rüber. Die Erwachsenen werden alarmiert, rennen ihm nach, packen ihn endlich. Wer hat den Truthahn geärgert? Na, wer wohl? De Burkard-Nanne! Wo kommt das bei dir bloß her? Gutmütig und ratlos sehen die Leute Susanne an, fragen sie, als könne sie wirklich eine Erklärung für ihr Verhalten liefern.
Die Langes, Rosies Familie, bewohnen ein halbes Haus der Eisenbahnersiedlung. Die Häuser dieser Siedlung werden in Ordnung gehalten, obwohl drinnen für große Familien kaum Platz ist. Wären alle Langes auf einmal da, die beiden Eltern, die sieben Jungen, die vier Mädchen, sie würden nicht um den Tisch der Wohnküche passen. Aber nie sind alle da. Die Fotos der Ältesten hängen an der Wand. Einer ist Flieger, einer bei der Marine, einer bei den Stoppelhopsern. Von den Jungen, die zu Hause sind, ist der zwölfjährige Gottfried der Älteste. Er verdient sich bei Bauern mit Kühe hüten sein Geld. Die Mädchen - außer Rosie noch Schulmädchen - gehen als Kindermädchen oder Haushaltshilfen. Taucht Rosie mit Susanne bei ihren Eltern auf, sind immer genügend Kinder vorhanden, um auf dem Küchentisch Mikado, "Mensch ärgere dich nicht", Quartett zu spielen oder zu würfeln. Zum Essen treffen alle zu Hause wohnenden Kinder ein. So eng ist es dann um den Tisch, dass man die Tür zum kleinen Treppenvorhaus nicht mehr schließen kann. Es gibt Berge duftender Bratkartoffeln zu essen oder Makkaroni, Nudelsuppe von der allerbesten oder Graupensuppe. Susanne langt zu. Die gutmütige Frau Lange unterscheidet nicht zwischen ihr und den eigenen Kindern. Sie ist es, die die Familie zusammenhält. Sie hätte das Mutterverdienstkreuz verliehen bekommen, hat es aber nicht angenommen. Langes sind Sozis. Auf seine Art meint es auch Vater Lange gut mit den Kindern, obwohl man großen Respekt hat.
Die Lichter sind angezündet. Die auf dem Teller der Weihnachtspyramide versammelte Gesellschaft dreht sich nicht, wie sie soll. Susanne pustet, stößt mit den Fingern, die Pyramide stockt. Wart nur, sagt die Mutter, vielleicht kriecht der Vadi Urlaub. Se müssn ihm doch mal wieder welchn gehm! Sie geben ihm welchen. Der Vater repariert die Pyramide, die rennt, holt alle verlorene Zeit ein. Und sie haben ein Weihnachten zu dritt mit Bescherung unter dem lamettageschmückten Weihnachtsbaum, mit Kartoffelsalat und Würstchen. Ein ganzer Film wird verknipst. Susanne mit dem Vater, Susanne mit der Mutter, Susanne allein, Kerzen auspustend. Hellbraune Löckchen hat sie, Pausbacken von der Stopfkur der Mutter. Hach, wenn ich da bloß nich hinmüsst! Der Wech fällt mer schwer!, sagt der Vater am ersten Feiertag, ist niedergedrückt, die Mutter nicht minder. Der Vater huckt Susanne auf seine Schultern, unter einem Arm hat er ein Paket für Frau Major, die Frau seines Majors. Was ist in dem Paket, dass es dem Vater so schwerfällt zum Opelhaus-Kleinert zu gehen? Es ist vielleicht nicht das erste Paket, das der Vater auf seinem Heimaturlaub der Frau des Herrn Major bringt. Auf jeden Fall nicht das einzige. Susanne ist es später, als sei der Vater schon hin und wieder für einen Tag nach Hause gekommen. Die Besuche hätten sich ihr nur nicht eingeprägt, da er für seine Familie kaum Zeit hatte. Denn er war als Kurier des Herrn Major unterwegs, lieferte im Opelhaus-Kleinert ab. Ein letztes Paket bleibt im Burkard-Haus liegen, bis sich die Mutter nach der ersten oder zweiten Haussuchung 45 durch die Russen erinnert. Sie geht in die Gute Stube, durchstöbert den Schreibtisch. Ach, Gott, nee, das is ja noch da!, sagt sie zu Susanne. Wenn die das findn, dann ... Die Mutter wagt nicht auszusprechen, was dann ... Susanne, siebenjährig und wie erwachsen, öffnet das Paket. Fotoalben befinden sich darin. Einer Leidenschaft ging der Herr Major nach: Peinlich genau, geradezu wissenschaftlich, war sein Interesse an Kriegstoten. Die Alben sind gefüllt mit Fotos von Erhängten, Erschossenen. Susanne sieht sich die Fotos sehr genau an, ehe sie die Seiten herausreißt und ins schnell entfachte Ofenfeuer wirft.
RITZUNGEN IM EICHENSTAMM. RITZUNGEN WIE STRICHE AUF BIERDECKELN. AUGE UM AUGE. ZAHN UM ZAHN.
Die Franzosen beim Quandt-Bauern lachen, singen, rauchen, werfen freche Blicke, spucken hinter dem Rücken des Bauern aus, machen in ihrer Sprache Bemerkungen, von denen man sich schon denken kann, wie sie gemeint sind. Werden später die Scheune anstecken, in der sie wohnen. Werden auch ihre Scheune beim Pommsel-Bauern in Brand setzen. Die Franzosen bleiben für sich. Kümmern sich auch nicht um Gottfried, Rosies Bruder, der beim Quandt-Bauern Kühe hütet. Die Polen und Tschechen sind in einer anderen Scheune vom Quandt-Bauern untergebracht. Ihnen geht es viel schlechter. Am schlechtesten geht es den Russen. Verhungert sehen sie aus. Manchmal begleitet Susanne Gottfried zum Quandt-Bauern. Das Gehöft befindet sich in der Flussniederung. Der Quandt-Bauer hat das Burkard-Gut von Susannes Großvater übernommen, wo jetzt die Franzosen wohnen, hat sich dadurch vergrößert und besitzt eine ansehnliche Landwirtschaft. Susanne hilft Gottfried, was man so helfen nennt, läuft wie ein kleiner Hund neben Gottfried und dem Russen Alex her, wenn die beiden die Kühe hinaus auf die Weide treiben. Sind sie draußen, schneiden sie Weidenruten ab, schnitzen in die Rinde schönste Muster, schenken sie sich gegenseitig. Susanne beobachtet dies und wird mit niemandem darüber reden. Hast du ne Ziechrette?, fragt Gottfried Susanne. Boehm-Otto raucht bloß Stumpen. Doch sie kann in dieser Angelegenheit die Mutter bitten. Geht die Mutter einmal zu Besorgungen selbst aus dem Haus, hat sie Bestimmtes im Sinn, trägt Zigaretten bei sich, kleine Packungen Briefpapier, Briefmarken. Ob beim Bäcker, in großen Geschäften, im Haushalt kleiner Fabrikanten oder auf dem Bahnhof, überall weiß sie Menschen, Fremdarbeiter, Frauen, Männer, denen sie eine Freude machen kann. Die Mutter redet. Redet die Leute besoffen, geht in Küchen, in Lager, entwickelt große Schläue, Geschicklichkeit, ihrem Schützling, von der Herrschaft unbemerkt, etwas zuzustecken. Mit Alena, einer polnischen Küchenfrau in der Bahnhofswirtschaft, ist sie besonders befreundet. Die Mutter geht mit Susanne zum Quandt-Bauern, nimmt ihm etwas mit, was schwer zu bekommen ist, rückt dann mit ihrer Bitte heraus. De Nanne würd so gern mal aufm Gaul sitzen, sagt sie. Kann se nich mal aufm reiten, wenn der Russe ihn ausschirrt? Der Quandt-Bauer hat nichts dagegen. Susanne reitet in den Stall, steckt Alex schnell zwei Zigaretten zu. Augen, liebe Augen hat der Alex. Aber er redet nicht, als sei er stumm. Die Mutter sagt Susanne, wie sie es in Zukunft anstellen soll, dem Alex was zukommen zu lassen. Susanne hält sich daran, klettert auf den Kutschbock, tut, als ließe sie aus Versehen ein, zwei Zigaretten liegen. Wenn niemand auf Susanne und Alex achtet, schaut sie den Russen eindringlich an, blinzelt zum Kutschbock hin. Armer Alex, welcher Empfang wird ihm bei seiner Rückkehr in seine Heimat zuteil werden!
Mittags geht die Verkäuferin aus dem Ort nach Hause zum Essen. Doch den Laden schließen möchte die Mutter nicht. Immer kann noch ein Geschäft zu machen sein. Und da bimmelt wieder mal um diese Zeit die Ladenglocke. Die Mutter steht vom Essen auf. Kommt gar nicht zurück. Susanne steht auch auf, will nachsehen. Eine Susanne unbekannte Frau spricht mit der Mutter. Weinend. Fährt zusammen, als Susanne neben der Mutter auftaucht, schaut Susanne entsetzt an. Vor ihr brauchn Se keene Angst zu ham, beruhigt die Mutter leise. Meine Susanne hält dicht! Susanne erfährt, dass der Mann im Lager ist, im KZ. Erscht habch gar nich gewusst, wo er is, sagt die Frau. Abgeholt ham sen ja glei dreiundreißch. Na ja, meint die Mutter, Se warn ja schon immer Gommunisdn. Ja, schon mei Großvater war Sozi, erwidert die Frau, un alle meine Brüder oo. Mei Mann hat Zuchthaus gekriecht. Un denn isser nich entlassn worn. In Stößen kommen die Tränen aus der Frau heraus, sodass sie zunächst nicht weitersprechen kann. Mer kann's nich fassn, sagt die Mutter. Ich weeß ja, was draußn in Plaue inner Fabrik passiert! Susanne fühlt, es ist wichtig, dass die Mutter sagt, sie glaube der Frau. Eine andere möchte vielleicht ihre Ohren verschließen und die Frau mit ihrem Kummer allein lassen. In de Maschin treibn se se! Die Frau schreit fast, so aufgeregt und durcheinander ist sie. Susanne sieht das Bild von Menschen vor sich, die in Maschinen zerquetscht werden. Ihr wird schlecht, sie rennt aus dem Laden, sich schlagartig erinnernd, wie sie mit Gottfried auf dem Golfplatz war, dem Platz hoch oben in den Eubener Wäldern. Die Kinder lieben ihn, suchen nach weißen Bällen, vergnügen sich auch sonst. Gottfried kletterte auf einen Baum. Vielleicht wusste er schon, was er zu sehen bekommen würde. Zog Susanne zu sich hoch. Sie schauten in den Hof der Spinnerei am Fuß des Berges: Männer in gestreiften Jacken und Hosen blockweise angetreten. SS-Leute in schwarzen Uniformen. Hunde. Einer der Häftlinge mit entblößtem Oberkörper über einem Holzbock liegend. Riemen eines Ochsenziemers sausten auf seinen Rücken. Die Hunde schlugen an. Gottfried glaubte sich entdeckt. Blitzschnell ließen er und Susanne sich vom Baum herunter. Nachts sind die Wachtürme rings um die Spinnerei erleuchtet, das Zeichen, dass man sich nicht zu dicht heranwagen darf. Am Tag spähen die Wachmannschaften noch viel besser als in der Nacht die Umgebung aus! Susanne und Gottfried rutschten in Panik die Felsen hinunter, rannten über die drei Gleispaare, die ständig von Personen-, von Güterzügen und Rangierloks befahren werden. Zudem ist dieses Gelände nahe am Bahnhof auch von Polizisten bewacht. Susanne bekam stechende Bauchschmerzen, konnte nicht mehr weiter. Gottfried trug sie, setzte sie in einem Gebüsch ab, stierte vor sich hin, während er darauf wartete, dass es Susanne besser wurde, spuckte aus, spuckte. Es war nicht das erste Mal, dass sie Häftlinge sahen. Doch das erste Mal sahen sie, was mit ihnen gemacht wurde.
Wie die Mutter so verschieden sein kann, darüber denkt Susanne nicht nach. Sie ist so und so, das erlebt Susanne täglich. Da gibt es die strenge, hoffärtige Hausbesitzerin und die teilnahmsvolle Frau, die sich mit den Armen einlässt, denen, für die keiner ein Ohr, ein Auge haben will. Fühlt sich eben nur bei denen wohl, die Leid erlebten, wie sie Leid erlebt hatte.
Die Straße teilen sich zwei Banden. Die eine geführt von Klemm-Ockel und seinem Bruder, gefürchtete Schläger, die andere von Suss. Susannes Haus gehört noch in Suss' Bereich. Von der Post bis zum Bahnhof haben Klemm-Ockel und sein älterer Bruder ihr Revier.
Susanne kümmert sich nicht um Zugehörigkeiten. Balanciert über Stangen und Pfosten der Raseneinfassung auf dem Bahnhofsvorplatz. Tagtäglich beinahe. Wieder einmal trainiert sie ihren Gleichgewichtssinn, als sie von hinten angerempelt, heruntergestoßen wird. Sie schaut sich um: Klemm-Ockel steht hinter ihr, der kleine, knubblige Kerl, o-beinig, zwei, drei Jahre älter als sie. Susanne in Blickweite vom Laden der Mutter fühlt sich sicher. Und da sind ja auch ständig Leute, die zum Bahnhof, zur Post wollen oder von dort kommen. So einfach will sie sich nicht vom Bahnhofsvorplatz vertreiben lassen. Sie steigt wieder auf die Stange. Klemm-Ockel will das nicht. Und so liegen sie bald ineinander verknäult auf dem Rasen, teilen Püffe, Schläge aus, sowie sie einen Arm frei haben. Dabei sagt Klemm-Ockel etwas, das Susanne rasend macht vor Wut, denn noch nie hat sie eine derartige Beschimpfung gehört. Sie geht über das hinaus, was ihr sonst Kinder sagen. Drecksau, Judensau. Tintenklau-Kohlenklau-Judensau. Monoton wiederholt er die Beschimpfungen. Die Wut verleiht Susanne fast unheimliche Kräfte. Sie will die Worte aus Klemm-Ockel herausprügeln. Leute haben sich um sie versammelt. Holt doch eener Frau Purgerd, sagt jemand. Doch niemand holt die Mutter, niemand geht dazwischen. Susanne kriegt eine herumliegende Zaunlatte in ihre Finger, will gerade Klemm-Ockel eins über den Deez hauen, da reißt Rosie sie hoch. Die Leute machen schweigend Platz. Susanne blutet aus der Nase. Dich erwisch ich noch!, schreit Klemm-Ockel. Susanne schaut sich um. Wie sie Klemm-Ockels wutverzerrtes, blutverschmiertes Gesicht sieht, weiß sie, niemals darf er sie noch einmal zu fassen bekommen! Da plötzlich steht Suss neben Ockel. Und seine ganze Bande mit ihm. Suss, zwölfjährig, fast erwachsen, raucht, nimmt die Zigarettenkippe aus dem Mund, spuckt Ockel an, schnipst ihm die glühende Kippe ins Gesicht, grinst Susanne an.
Dass de dich auf so was einlässt!, sagt die Mutter, will sich nicht anhören, was Susanne zu ihrer Entschuldigung vorbringt, ist vielleicht selbst ratlos. Warum kann das Kind nicht sein wie andere Kinder? Warum kann es ihr nicht nur Freude machen? Sie nimmt den Ochsenziemer, schlägt auf Susanne ein, als hätte die nicht schon genug Schläge bekommen und als würden Schläge wirklich etwas nützen. Tintenklau-Kohlenklau-Judensau! Susanne hallt es in den Ohren. Sie erfährt, zu Hause bekommt sie keine Unterstützung gegen das Unrecht draußen. Es wird sogar noch vergrößert, indem Prügel, Prügel nach sich ziehen. Das wird nun immer so sein, wenn sie sich verteidigt. Denn die Beleidigungen anderer Kinder, auf die sie bis dahin nicht achtete, überhört sie jetzt nicht mehr. Obwohl sie ahnt, sie verschafft den Kindern Vergnügen, wenn sie auf sie losgeht. Oder einen Vorteil, weil man sie immer ganz unverhofft trifft. Die Kinder wollen nur sehen, wie es Susanne plötzlich die Sprache verschlägt, wie sie von ihnen wegschleicht, als hätte man ihr eins mit der Peitsche übergezogen.
Der Schwarze Weg, der Schotterweg durch die Schrebergärten, dann ist man an der Kurve. Der Fluss biegt dort rechter Hand ab, umfließt in weitem Bogen die Stadt, die seinen Namen trägt. Die Strömung an der Kurve ist stark, bei Frühjahrshochwasser besonders. Susanne treibt es nach draußen. Weg will sie, nur weg von zu Hause. Heraus aus der Unruhe des Geschäftshaushalts. Selbst abends und an den Wochenenden hält sie es zu Hause nicht aus. Susanne läuft zum Hochwasserdamm, schaut ins leise strudelnde Wasser, schaut über die Schrebergärten hin. Entdeckt eine kleine Horde Kinder. Jetzt müsste ich rennen, denkt sie, vom Wasser wegrennen. Aber dann schätzt sie ein, Flucht hat keinen Sinn. Die Kinder werden gerade dann Lust bekommen, sie zu jagen. Und sie werden schneller sein. Vielleicht ist einer dabei, der sagt: Lasst se doch loofn! Die Kinder holen Susanne ein, bilden einen halben Ring um sie. Keiner dabei, der sagt: Lasst se doch loofn! Keiner, der sich mit Susannes Angst begnügt, dem genug ist, dass er Susannes Angst gesehen hat. Die Kinder schieben, schubsen Susanne an den Rand der Böschung. Susanne wehrt sich, hält sich in ihrer Not an einem Kind fest, bekommt einen starken Stoß, verliert das Gleichgewicht, fällt den Damm hinunter in den Fluss. Eiskalt ist das Wasser, zieht sie in die Tiefe. Sie taucht wieder auf, paddelt wie ein Hund, schwimmen kann sie noch nicht, nur mit aufgeblasenen Schwimmbetteln, die sie rechts und links am Körper halten. Sie paddelt, strampelt, um nur ja oben zu bleiben oder wieder hochzukommen, wenn sie untergeht. Die Strömung nimmt sie mit, trägt sie an eine seichte Stelle, eine Furt. Sie hat Grund unter den Füßen, steht. Die Kinder sind oben auf dem Damm mitgelaufen, haben dem Schauspiel zugesehen, ob sie ersauft oder nicht. Ihre Neugier hat sich noch nicht gelegt. Sie warten, was Susanne nun tun wird.
Versuchte Susanne, an einer Furt auf die andere Seite des Flusses zu gelangen, wäre sie die Kinder los. Doch wie soll sie dann später wieder hinüber? In ihren nassen Sachen bis zum Steg zu kommen, gelingt ihr nicht mehr. Sie ist so erschöpft, dass sie kaum noch laufen kann.
Susanne fasst sich ein Herz, wankt aus dem Fluss auf die Kinder zu. Das Wasser strömt an ihr herab, quietschend ihre Schuhe bei jedem Schritt. Die Kinder lassen sie vorbei. Sie spürt im Rücken ihre Blicke. Nur nicht schneller laufen, nur nicht Angst zeigen, denkt sie. Die Wiese vor der Bahnersiedlung menschenleer.
Als Susanne das Haus von Langes sieht, Rosies Eltern, überwältigt sie ihr Fluchtinstinkt. Sie beginnt zu rennen. Heult mit einem Mal. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Die Meute rast auf sie zu, kreist sie ein, sudelt. Dich ham se sowieso bloß gefundn. E Hurenbaich biste, off der Kirchenschwelle abgelecht! Susanne vergisst Kälte, Nässe, Müdigkeit, greift den an, der zuletzt gesprochen hat, wälzt sich mit ihm auf dem Boden.
Ein Mann, ein Nachbar von Langes, stürzt aus der Siedlung. Lasst ihr das Mädel in Ruhe, schreit er. Ich erschlach euch alle!
Die Kinder lassen von Susanne ab. Die richtet sich auf, nass, dreckverschmiert, immer weiter heulend. Der Nachbar bringt sie zu Langes. Mutter Lange zieht Susanne aus, wickelt sie in ein Frotteetuch, wäscht die Sachen aus, so gut sie kann, hängt sie an den Ofen, legt sie über die Kacheln. Eines der Mädchen wird zu Susannes Mutter geschickt, damit die sich nicht beunruhigt über Susannes Wegbleiben.
Mutter Lange bügelt das Kleidchen über, das blaue Mäntelchen mit dem weißen Kragen, dem man am meisten die Unglücksspuren ansieht.
Bange macht sich Susanne auf den Weg nach Hause. Aber was ist das für ein Zuhause, wo sie dafür geprügelt wird, dass die Kinder sie ersäufen wollten. Gerade mal ist sie noch aus dem Fluss gekommen, dem durch das Frühjahrshochwasser gefährlich angeschwollenen, strudelnden. Da wäre eine andere Mutter nur noch froh. Nicht Susannes. Ich hab's dir schon hundertmal gesacht, sagt sie, mit son Dreckvolk gibste dich nich ab. Aber du kannst ja nich hörn. Die Mutter greift nach dem Ochsenziemer.
Nicht totzukriegen ist die Burkard-Nanne, ersoff nicht in der Euba, holte sich in ihren nassen Klamotten nicht den Tod, hat vielleicht sieben Leben. Die Kinder wollen sehen, ob sie wirklich sieben Katzenleben hat, reizen sie zu Mutproben. E, das trauste dir ja doch ni, sagen sie. Schon traut sich Burkard-Nanne. Ein Schlagbaum trennt das Bahngelände oben am Berg von dem umliegenden Land, den Gärten ab. Zwischen den Gleisen, in der Nähe des Schlagbaums, der Flachbau des Postdepots. Mehrmals am Tag fahren die Postler mit der Eidechse zwischen Bahnhof und Depot hin und her, fahren manchmal auch direkt an die Züge heran. Die Eidechse ein grauer Elektrokarren. Breitbeinig steht der Fahrer vorn auf der Plattform, lenkt, bremst, gibt Fahrt. Hinter ihm ein großer Drahtkorb, bis zu seinem Kopf hinauf reichend. Hinten am Elektrokarren ein Trittbrett für einen zweiten Postler. Wann eine Eidechse zu erwarten ist, wissen die in Gärten und Wiesen herumstromernden Kinder ungefähr. Zu diesen Zeiten rotten sie sich zusammen. Ist das Trittbrett hinten frei, rasen sie auf die Eidechse zu, laufen hinter ihr her, springen - eine halbe Drehung vollführend, den Hintern voran - auf das Trittbrett. Wer dort sitzt, ist Sieger, lacht die zwischen den Rangiergleisen Zurückbleibenden aus. Einmal und immer mal wieder gelingt Susanne der Aufsprung. Doch die Kinder verziehen ihr Gesicht, als wäre es nichts, dass Susanne den Aufsprung geschafft hat. E, de Burkard-Nanne, ätsch!, rufen sie. Susanne überlegt, was an ihr anders ist als an anderen Kindern, dass man sie abschätzig behandelt, beleidigt, zu ihr Hurenbalg sagen darf und noch Schlimmeres, dass, was sie tut, nicht so gilt. Sie muss beweisen, dass sie genauso mutig ist wie andere Kinder. E, das trauste dir ja doch ni! Eine Lok rangiert, fährt hin und her auf den Gleisen zwischen Triebwagenhallen hinter dem Depot. Ist die Lok ganz dicht heran, dann hin zum Gleis, ein Geldstück auf die Schiene gelegt, es könnte die Hand kosten, den Kopf. Platt gewalzt wird das Geldstück, dünner von Mal zu Mal. Erst als eine Bewachung am Schlagbaum aufgestellt wird, lassen die Kinder von ihrem Spiel.
Sonntagnachmittag. Zum Löbn müssen sie. Eine der älteren Schwestern des Vaters hat dort das Kommando. Die Hanni wirtschaftet mit ihr, die Tochter, eine Person mit riesigen Zähnen. Die Schwester des Vaters hat der Mutter früher das Leben schwergemacht. Weil die Mutter schön war und die Hanni eben nicht. Dann hat die Hanni doch geheiratet. Das Geld bescherte ihr einen Adligen zum Mann, einen Offizier. Einen von Dahlen. Zwei erwachsene Söhne hatte die Hanni. Der eine war bei der Waffen-SS, auf den waren sie stolz. Der ist ganz jung gefallen. Der andere ist nicht schön und durchtrieben. Doch weist er alle Rassemerkmale auf, sodass man ihn dazu ausersehen hat, viele deutsche Kinder zu zeugen. Ein Zuchthengst ist er, man spricht verächtlich von ihm. Susannes Mutter liebt ihre reiche Verwandtschaft nicht. Hach, wenn mir bloß nich dahin brauchtn!, jammert sie. Da sin mir doch bloß de Dreckbutteln! Susanne ist am Nachdenken, warum die Mutter sich noch heute alles gefallen lässt von der Verwandtschaft. Sie bezieht die Unwürdigkeit auf sich. Vielleicht schämt sich die Mutter für Susanne und lässt sich ihretwegen zum Dreckputtel machen? Verwandtschaft ist Verwandtschaft. Man muss hin, muss sich gut stellen. Die Mutter geht nach der Begrüßung gleich in die Küche, bindet sich die Schürze um, macht das Dreckputtel. Susanne sieht, wie sie sich vergnügt, reißt vor der Schwester des Vaters aus, die ständig Kopfnüsse verteilt, hält sich an deren Mann, den Mardin. Martin führt Susanne ins Vereinszimmer, steckt Blechmarken in die Spielautomaten. Susanne kann Pferderennen veranstalten, oder sie hebelt, um eine Metallkugel in eine der Gewinnlöcher zu bekommen. In Friedenszeiten würde das Geld rasseln. Stattdessen spendiert Martin. Ein blecherner Hahn hat sowieso immer eine Überraschung für Susanne bereit. Wieder braucht Martin eine Blechmarke, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen. Der Hahn beginnt zu krähen. Und - oh Wunder - trotz männlichen Geschreis legt er ein Ei, sehr groß, lilagolden. Darin sind kleine Ostereier. Das Ei darf Susanne mitnehmen. Hat sie die kleinen Ostereier aufgegessen, bringt sie das große Ei zurück. Der Hahn wird wieder krähen und wieder - oh Wunder - ein neues Ei gebären. Der Mardin is wie e Kindl, tadelt seine Frau. Das ist Susanne schon lustig, dass Martin ein Kind sein soll, wo er gar nicht so aussieht. Einen Schnauzer trägt er, die Haare hat er kurzgeschoren. Das Schicksal hat für seine böse Frau, die ältere Schwester des Vaters, eine Strafe parat. Ungeduldig, wie sie nun einmal ist, hat sie in die laufende Waschmaschine gegriffen. Die Trommel drehte sich, erfasste ihren Arm. Der halbe rechte Arm ist hin. Der Arm, mit dem sie Schellen austeilt. Ein Stummel ist er nur. Das nennt Susanne Gerechtigkeit.
Erst weinte Rosie viel. Nun weint sie nicht mehr. Ihr Verlobter ist ins Frankenberger Lazarett verlegt. Frankenberg ist Garnisonsstadt, Militär liegt dort. Man könnte auch sagen, es sitzt, steht, läuft. Doch im Lazarett liegt es zumeist. Susanne hat eine wunderbare Vorstellung von Lazarett, dort sind Soldaten zur Erholung, werden umsorgt, trinken Tee, von Mädchen um Tante Martha gesammelt. Die wunderbare Vorstellung verwandelt sich in eine andere, als Rosie sie eines Tages ins Lazarett mitnimmt. Nach Äther riecht es. Die Soldaten liegen mit Verbänden in den Betten, manche stöhnen. Das ist dann doch keine so schöne Erholung. Sprachlos schaut Susanne zu den Indern, was die für braune Haut, schwarze Augen und Haare haben. Wie kommen diese Menschen nach Deutschland? Susanne lässt die Verlobten allein, geht von Bett zu Bett, beneidet die Soldaten trotz ihrer Verwundung. Im Augenblick sind sie wohl krank. Doch werden sie wieder gesund, ziehen wieder in den Krieg und erleben etwas. Und was dagegen erlebt Susanne! Sie probiert die Uniformen der Soldaten an, setzt sich die Mützen auf. Die Soldaten lachen, schenken ihr Bonbons, Vollmilchdrops, einer sogar eine kleine Mundharmonika. Was Susanne am liebsten von ihnen hätte, dürfen sie nicht wegschenken: ihre Orden.
Unbedingt muss Susanne seither Orden und Ehrenzeichen haben. Aber wie, wenn sie kein eigenes Geld besitzt? Du hast alles, du brauchst nischt, sagt die Mutter immer. Wenn de was ham willst, kannstes saachn. Un wenn's denn nich geht, geht's nich. Jeden Tag kauft Susanne beim Bäcker ein und kommt an der Auslage eines kleinen Ladens vorbei. Auf Kissen sind Schulterklappen der Luftwaffe angeheftet und alle möglichen Orden und Ehrenzeichen. Susanne hat keine Ruhe mehr. Sie spricht mit Rosie. Kannste nich saachn, die Jacke von deim Werner is weg, un nu musste neue Abzeichn koofn? Rosie geht auf diesen Vorschlag nicht ein. Susanne drückt sich die Nase an der Auslage platt, geht auch in den Laden hinein, lässt sich zeigen. Schließlich sagt die Besitzerin: Du hast es gestern gesehn un vorgestern un vorchte Woche warste da. Un vorm Ladn stehste oo jeden Tach. Nu kennste alles. Nu brauchste hier nich mehr zu stehen. Die Besitzerin spricht mit der Mutter. Die Mutter spricht mit Susanne. Die nimmt nicht Vernunft an, wie sie soll. Dann scheint es Abhilfe zu geben. Vom Winterhilfswerk werden Märchenfiguren als Porzellan-Anstecker angeboten, Froschkönig, tapferes Schneiderlein, Dornröschen und so weiter. Boehm-Otto kauft eine ganze Karte, die Mutter nur zwei Anhänger. Ach, mer tun genuch forn Kriech, sagt sie, bezieht sich darauf, dass sie im Kränzchen Socken für die Soldaten strickt. Boehm-Otto ermahnt daraufhin die Mutter. Gerta, sieh dich vor, mir sin Geschäftsleute! Susanne stolziert herum, sämtliche Porzellananstecker des Onkels am Mantel. Doch weil sie rennt, klettert, fällt, entflieht ihr die Pracht schnell, macht sich aus dem Staub beziehungsweise fällt in denselben. Wieder steht Susanne zum Missvergnügen der Besitzerin vor dem Laden, betrachtet das Glitzerzeug. Mit den Alarmen, der Verdunkelung kommt Leuchtschmuck auf, der auch ganz schön ist, denn er strahlt mitten in der Dunkelheit. Erst Jahre nach dem Krieg kann Susannes Sucht nach Orden, Medaillen befriedigt werden. Als Schülerin, Junger Pionier, dann Thälmannpionier erfüllt sie die Bedingungen für jeweilige Abzeichen, für Gutes Wissen, für die jährlich vergebenen Sportabzeichen, in Gold und Silber für Wintersport, Leichtathletik. Ihre Jacke ist linksseitig bedeckt mit Klimperkram, rechts die Abzeichen vereinzelt.
Tiere erregen immer Susannes Interesse. So auch die Ziegen, die am Tetzel'schen Hang weiden, insbesondere der Ziegenbock. Prächtig seine Hörner. Geht Susanne zu Tetzels, Ziegenmilch zu holen, besucht sie die Ziegen. Sie stellt ihre Milchkanne ab, läuft Hang aufwärts, streichelt das feste kurze Haar der Tiere. Ruhig geht sie auf den Bock los. Der guckt blöd, bös, steht still, der Strick zum Pflock straff gespannt. Plötzlich senkt er seine Hörner, greift an. Susanne setzt es auf den Hintern. Sie steht auf. Kampflustig. Nimmt die beiden Hörner des Ziegenbocks, stößt den Bock zurück. Der senkt wieder die Hörner, stößt ins Leere. Susanne packt erneut seine Hörner, schubst ihn, dass er zu Boden geht. Vor und zurück, auf und nieder. Endlich hat Susanne den Gegner, den sie fassen kann. Einen gleichwertigen, solange der Strick hält, der Pflock fest im Boden ist. Nachbarn beobachten den Kampf zwischen Kind und Bock, informieren die alte Tetzel, die auf krummen Beinen angehutscht kommt. Aber Nanne, Kind, das mache doch nich, das is doch gefährlich!, ruft sie. Geh weg vom Bock, nu gehe schon! Susanne bekommt ihre Milch, einen Viertelliter die Woche. Den Ziegenbock kann Susanne nicht in Ruhe lassen, muss ihn bei den Hörnern nehmen, sobald sie ihn sieht, egal, was es für blaue Flecken, für Dresche nachher gibt, wenn er ihr die Kleidung zerreißt. Und dabei gewöhnt sie sich nicht an die Schmerzen, die Demütigung des Auspeitschens. Was isses bloß, dass de nich gehorchen kannst, sagt die Mutter. Selbst mit elf, zwölf Jahren kommt sie nicht so ohne weiteres an dem Ziegenbock vorbei, kämpft mit ihm, kann sie Augenzeugenschaft ausschließen.
Hoch aufgeschossen der hellblaue Rittersporn, die dunkelblauvioletten Hütchen schaukeln am Stängel des Eisenhuts, Clematis -weit offen die blauen Blüten- ranken sich die Gitterstäbe hinauf, Kletterrosen erklimmen Sprossen. Die Schrebergärten im Schmuck des Frühsommers. Susanne springt den Schwarzen Weg entlang, den Schotterweg: Der Vater ist zu Hause. Fronturlaub hat er. Nicht nur zwei, drei Tage, nein, mehr als eine Woche. Alle Verwandten wollen den Burkard-Walter sehen, die Mittwejd'schen drängen, die Gelenauer, die Frankenberger. Jeden Tag könnte der Vater woanders verbringen. Am liebsten wird ich nach Langenberg fahrn, sagt der Vater. Auch die Mutter und Susanne würden am liebsten nach Langenberg fahren. Bis Hohenstein-Ernstthal gibt es eine Bahnverbindung. Von da an verkehrte früher ein Bus. Der Vater telefoniert. Ach, der Walder! Großes Hallo am anderen Ende der Leitung. An dem und dem Tach wolltn mer komm, sagt der Vater. Wie isn das mitm Bus zu euch? Das wissen die Langenberger im Augenblick nicht. Na, da holt uns man schön mitm Landauer ab! Der Vater lacht. Er könnte auch gleich einen Vierspänner bestellen. Großspurige Reden wie großartige Gesten gehören zur guten Laune hierzulande, und die hat der Vater.
Wie sie in Huhnsteen aus dem Zug steigen, sehen sie am Gitter neben dem Bahnhof die Langenberger winken. Der Fritz ist auch dabei. Die ham woll keene Arbeit mehr aufn Hof! Der Vater schüttelt den Kopf. Sie gehen durch die Unterführung, die enge, dunkle Röhre, passieren die Sperre. Im Bahnhofsgebäude beißender Uringeruch. Na, wo sin se denn?, sagt der Vater. Ehmd ham mer se doch noch gesehn! Keine Spur von den Langenbergern.
Walder!, kreischt die Mutter. Walder, gucke mal! Was steht, abseits geparkt? Ein schwarzer Landauer, das Verdeck heruntergelassen. Nur ein Pferd davor. Sie laufen auf die Kutsche zu, lachen, umarmen sich. Mensch, sagt der Vater, ihr seid woll verrückt! Ich hab doch bloß Spaß gemacht! Nee, nee, antwortet Marga, das musste sein! Der Fritz hat sich eene Mühe gegehm mit der Deichsel. Weil doch immer zweje angeschirrt wern müssn. Aber so geht's och. Nu steigt mal ein! Lasste Nanne ja nich offn Kutschbock! Doch Susanne will gar nicht auf den Kutschbock. Sie will beim Vater in der Kutsche sitzen. Ach, wie schön ist es! Der Gaul trabt bergab, zockelt bergauf, die Hufe klappern auf dem Pflaster. Der Landauer schuckelt, ruckelt. Nee, so ne altmodsche Scheese! Wie die wackelt, sagt die Mutter. Fritz schwingt die Peitsche, lässt sie knallen. Huhu!, schreit der Mittsechziger, als wolle er Räuber vertreiben. Wald säumt die Straße, ein Blick tut sich auf ins Tal, auf Wiesen, Felder, wieder Wald. Gehöfte am Hang:
Wohnhaus-Scheunen-Bauerngarten, das letzte Eckchen zum Anbau von Obst, Gemüse genutzt, Cosmea, Fingerhut blühen. Hinauf, hinab wechselnde Ansichten. Susanne hält die Hand des Vaters. Hopp hopp hopp, Pferdchen lauf Galopp! Nahe der Langenberger Kirche eine große, Duft nebelnde Linde. Dort halten sie.
Die Langenberger haben einen Gasthof, zu dem auch eine große Landwirtschaft gehört. Reich sind die Langenberger, zu tun gibt's immer, gefeiert wird auch. Wunderbare Tage bei den Langenbergern. Wie in Friedenszeiten!, seufzen die Erwachsenen, sind alle miteinander glücklich, Großvater Ernst, Großmutter Frieda, die Tochter Marga, der Schwiegersohn Ernst, der Sohn Fritz, die Enkelinnen Magda und Traudl, Burkard-Walter und Burkard-Gerda und Nanne, das Kind. Susannes Vater geht mit hinaus auf das Feld, die Mutter hilft in der Küche. Susanne wird der Großmutter zugeteilt. Ich bin die Hexe-kau-kau! Kichernd locke die alte Frau Susanne in den Garten. Langsam geht Susanne der Alten nach. Die greift nach einem Rechen, holt sich einen Zweig mit grünen Augustern herunter, beißt mit ihrem Kuchenzahn in einen hinein, schneidet eine Grimasse, wirft den Apfel weg. Susanne wird mutiger, folgt der Alten zurück in den Hof. Aus der Mauer fließt Wasser, sprudelt in einen Trog. Die alte Frau kichert wieder, winkt Susanne heran, krempelt die Ärmel hoch, greift ins Wasser, fischt darin herum, hebt einen zappelnden Karpfen heraus. Schon schreit aus der Küche Tante Marga, die Tochter. Mutter, wird's woll!, schreit sie, weiß, die alte Frau ist den Silvesterkarpfen wieder zu nahe gekommen. Nichts als Unsinn hat die Großmutter im Kopf! Susanne lacht. Alte Menschen schrumpfen nicht nur auf Kindergröße, auch im Kopf werden sie wie Kinder. Das Futterholen mit Fritz eine Spazierfahrt. Abends spielen die Männer Billard in der Gaststube, ein elektrisches Klavier klimpert. Traudl versteht sich auf ein richtiges Klavier, hilft dem Kantor aus, begleitet die Gemeinde sonntags beim Gesang auf der Orgel. Sie hätte Musik studieren können, sagt man, ist aber auf dem Hof geblieben. Die schönsten Tage in Susannes Leben sind die in Langenberg. Deshalb will sie Bauer werden. Die Eubener schlafen im Aprikosenzimmer. Es befindet sich in der Nähe des Bodens, wo das Obst lagert. Von dem Geruch der Aprikosen ist das ganze Zimmer getränkt. Die ganze Zeit über atmen sie den süßen Geruch ein.
Einstmals fiel ein riesiger Stein vom Himmel herab mitten ins Dorf. Inzwischen ist er bemoost, Gehölz umwächst ihn. Die Eltern und Susanne stehen davor, legen ihren Kopf in den Nacken, sehen in den Himmel, bekommen eine Ahnung von Unendlichkeit. Von dort irgendwo is der nu hierher gekomm, sagt der Vater staunend zur Mutter. Manche sin ganz un gar aus Eisen, wenn se hier ankomm, sagt die Mutter. Sie kennt sich in Himmelserscheinungen aus. In ihrer Kindheit hat sie oft den Sternenhimmel über sich gehabt, wenn sie über die Dörfer wanderte. Sie hat sich gefürchtet und sich an die Lichter am Himmel gehalten.
Na, Gerta, da wer ich dir mal son schön Pelz koofn, damit de was Neues hast!, sagt der Vater. Ach nee, nee, meint die Mutter. Sie will nie etwas Neues haben. Dir gefalln doch auch die Iltisse von Muddi! Der Vater sucht Unterstützung bei Susanne. Die vier Iltisse, die sich die Mutter bisweilen um den Hals schlingt, gefallen Susanne außerordentlich, wenn sie noch dazu das blaue Plauener Spitzenkleid mit dem rot schimmernden Taft darunter trägt. Na, geh mer!, sagt der Vater. Wohin? Wo will der Vater Iltisfelle kaufen? Sie laufen Dorf auswärts. Vor einer abgesperrten Wiese bleiben sie stehen. Ein Bächlein führt vorbei. Auf der Wiese Drahtgehege bis hin zum Bach. In jedem Käfig eine Hundehütte mit einem Loch. Plötzlich sieht Susanne: Viecher. Wie große Bisamratten kommen sie ihr vor, die sie vom Fluss kennt. Nutrias sind es. Die Tiere verharren still in ihrem Käfig, sind scheu, manche flitzen plötzlich hinaus, verschwinden unter Wasser. Nee, Walder, sagt die Mutter. Da will ich keen von ham! Der Vater lacht, hat die Mutter angeführt. Ich wollte doch bloß der Nanne zeichn, was es alles gibt für Tiere!
Weeßte noch, Walder? Die Mutter schaut versonnen, erzählt von der Hochzeitsreise, wie sie die Iltisse gekauft haben, was sie alles zu sehen gekriegt haben. Wo simmer überall gewesn!, sagt die Mutter. In Berchtesgadn, off der Zuchspitze! Ja bloß, dass mer uns mit der Hanni ham breitschlagn lassn!, meint der Vater.
Die Mutter empört sich. Wer macht'n so was, die Nichte auf de eichne Hochzeitsreise mitnehm. Un wie konnt se deine Nichte sein, wo se grad 'n Jahr jünger is wie du! Der Vater, der jüngste von fünf Geschwistern, hat sich gegen die älteren Schwestern nie wehren können. Und so hat man ihm zur Hochzeitsreise die gleichaltrige, raffzähnige Nichte aufgeschwatzt, die heutige von Dahlen, damit die auch mal rauskommt, was sieht. Das wird die Mutter der Hanni von Dahlen ein Leben lang nicht vergessen können, dass sie als Aufsichtsperson auf ihrer Hochzeitsreise mitgefahren ist. Wenn die Sprache auf die hochnäsige Verwandtschaft aus dem Löbn kommt, wird sie sagen: So blöd simmer gewesn, ham Hanni auf de eichne Hochzeit mitgenomm! Heute aber ärgert sie sich nicht weiter. Wie im Frieden ist es hier in Langenberg. Man hat die Hoffnung, eines Tages, mag dieser Tag noch so weit entfernt sein, wird alles wieder gut und schön. Sie werden einmal eine Reise machen. Ohne Hanni. Nur Susanne, ihr Kind, wird dabei sein.
AUFGERISSEN DER ANEMONENTEPPICH. GRÄBEN SCHAUFELT MAN HINDURCH. GESTÖRT DER FRIEDEN IM EICHENWALD VON FÜNFEICHEN. GRÄBEN DURCH DIE MULDEN LEGEN KÖPFE FREI. GEBISSE FEHLERHAFT. GEBEINE UNTER ANEMONEN, EICHEN. LOCKER DER BODEN: LAUBWALDBODEN. LAUB VERMODERT. VERERDET. VON ERDE BIST DU GENOMMEN, ZU ERDE SOLLST DU WERDEN.
Was mach ich bloß? Was mach ich bloß mit dem Balch?! Die Mutter fragt die Leute im Laden. Die lachen. Susanne gefällt es, den Leuten im Laden zuzuhören, wenn die es nicht merken. Denn ist ein Kind dabei, reden sie anders. Susanne meinte, ein gutes Versteck gefunden zu haben: den Sägespäneofen. Der Schub für die Sägespäne ist zur Reparatur herausgenommen. Sie kletterte mit dem Badeanzug hinein, hat den Deckel über sich geschlossen. Die Arme dicht am Körper, horchte sie. Bis es ihr zu langweilig wurde. Da hat sie den Deckel sacht angehoben. Das Rumoren im Ofen machte die Leute unruhig. Sie sahen, wie sich Susannes Gesicht aus dem Ofen schob; der Ofendeckel schwebte ein Stück weit über dem Ofen, von Susannes ausgestreckten Armen gehalten. Die Leute kreischten vor Vergnügen. Rosie!, schrie die Mutter, stürzte auf den Ofen zu, hievte gemeinsam mit Rosie Susanne aus der Röhre. Susanne Ruß bedeckt, schmierig. Der schöne Badeanzug: Was mach ich bloß? Was mach ich bloß mit dem Balch? Der Mutter ist ganz und gar nicht zum Lachen zumute, aber den Leuten. De Purgert-Nanne, nee, off was for Ideen die kommt, der reinste Schung! Dass die Leute sich amüsieren, bewahrt Susanne zunächst vor dem Ochsenziemer. Doch noch kann Susanne nicht aufatmen. Eine winzige Ungeschicklichkeit, die Mutter wartet nur darauf, das Strafinstrument zu holen. Spätestens am Abend, wenn niemand mehr Zeuge ist, wird Susanne ihre Prügel beziehen. Sie wünscht sich einen Fliegeralarm, solche Angst hat sie. Warum aber treibt es sie immer zu Schabernack, wenn die Prügel doch vorausberechenbar sind? Am Abend gibt es Fliegeralarm. Susannes Wunsch ist erhört. Sie flüchtet sich zur dicken Frau aus dem Rheinland, eine der Evakuierten. Seit Wochen wohnen Evakuierte in den Eubener Häusern, Leute aus Hamburg, aus dem Ruhrpott. Bei Boehm-Otto und Tante Else leben zwei Kinder von entfernt Bekannten, dreizehn- und vierzehnjährig. Jede Nacht muss Tante Else die Laken vom Horscht, dem großen Jungen, wechseln. Da haben sie es mit der dicken Frau aus dem Rheinland gut getroffen. Ruhig sitzt sie bei den Angriffen. Wie voller Verachtung für den Krieg. Ich weeß nich, was de an der findest, sagt die Mutter jedes Mal, wenn Susanne der Rheinländerin zustrebt, sich von der Mutter entfernt. Susanne weiß es: Ruhig wird sie bei dieser Frau.