Читать книгу In diesem Buch stirbt jeder - Beka Adamaschwili - Страница 11
Entschuldigung, auf Sie wartet der Tod!
ОглавлениеSpoiler #1: Ernest Hemingway ist ein Mörder
»Schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, Ihnen würde die Superkraft verliehen, einen Menschen aus der Weltgeschichte verschwinden lassen zu können. Wer wäre Ihrer Meinung nach derjenige, dessen Nichtexistenz die Geschichte am radikalsten verändern würde?« Professor Arno holte die Brille aus der Hemdtasche und legte sie, statt sie sich auf die Nase zu setzen, auf den Tisch. »Normalerweise würde Ihnen als Erster Adolf Hitler in den Sinn kommen … Wenn Sie andere Kandidaten haben, können wir darüber durchaus diskutieren.«
Es gab andere Kandidaten. Den Wunsch, sich zu Wort zu melden, allerdings nicht. Daraus schloss Professor Arno, die Mehrheit der Hörerschaft teile offenbar seine Ansicht, und fuhr etwas forscher mit der Vorlesung fort: »Interessant wäre zu ergründen, warum Hitler zu einer Marke in der Weltgeschichte geworden ist. Doch sicher nicht wegen seines markanten Schnurrbarts? Oder wegen jener berüchtigten Geste, mit der man heutzutage nur noch Taxis anhält? Vielleicht ist das Hakenkreuz das perfekte Logo? Ist nur sein Charisma an allem schuld, welches erst einen Wind des Wandels in Deutschland aufkommen und dann einen Sturm von Kämpfen über Europa fegen ließ …«
»Vielleicht, weil er viele Menschen umgebracht hat, Herr Professor?«, schlug ein Alleswisser aus den Tiefen des Saales vor.
»Fakt ist, dass es nicht so ist. Wenn Ruhm an der Anzahl der Opfer gemessen wird, dann müsste das Denkmal von Mao Zedong auf einem Sockel stehen, der höher ist als der Himalaja. Seinem Regime fielen fünfzig Millionen mehr Menschen zum Opfer. Allerdings kann ich mich kaum an Diskussionen darüber erinnern, wie sich die Weltgeschichte verändert hätte, wenn ein Zeitreisender in ein kleines chinesisches Dorf gekommen und den neugeborenen Mao umgebracht hätte«, Professor Arno nahm die Brille vom Tisch, und weil er es für ein sinnloses In-die-Länge-Ziehen einer Erzählung hielt, die Handlungen von Figuren zwischen ihren Sätzen zu beschreiben, beschloss er, bis zum Ende der Vorlesung unbeweglich stehen zu bleiben, »während hingegen über Hitler allerlei Geschichten verfasst worden sind. Zum Beispiel, dass ein jüdischer Wissenschaftler, der den Holocaust überlebt hat, eine Zeitmaschine erfindet, um den kleinen Adolf umzubringen. Oder der schon erwachsene Hitler wird umgebracht, aber der an seine Stelle getretene neue Führer erobert ganz Europa. Oder der Sieg des Führers schreibt die Geschichte neu. Oder Hitler vermasselt einfach nicht die Aufnahmeprüfung an der Kunsthochschule, was bedeutet, dass er den Rest seines Lebens mittelmäßige Gemälde auf Leinwand zeichnet und keine Ausrottungsszenarien.«
»Und im Falle der Nichtgeburt Hitlers wäre der Krieg trotzdem ausgebrochen? Heißt das, die Geschichte wird eher von äußeren Faktoren beeinflusst als von konkreten Menschen?«, fragte ein Mann mit Che-Guevara-Shirt in der ersten Reihe.
»Über dieses Thema ist viel gesprochen und geschrieben worden.« Professor Arno machte eine Pause und setzte sich die Brille auf die Nase. »Nun, sagen wir es so: Falls der Führer eben nur ein Mensch war, der einfach zur rechten Zeit am rechten Ort auftauchte, warum ist es dann so, dass, wenn man in Büchern über Hitler und zum Beispiel Franz Ferdinand 7 und Gavrilo Princip 8 schreibt, nur für die beiden Letzteren eine Fußnote nötig ist? Inwiefern sind Princips und Franz Ferdinands freiwillige beziehungsweise unfreiwillige Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs denn weniger bedeutend? Auf den ersten Blick ist es nicht so. Doch der Unterschied liegt genau in den ›äußeren Faktoren‹ und den ›konkreten Menschen‹. Im Falle der Nichtgeburt Gavrilo Princips hätte mit Sicherheit jemand anderes Franz Ferdinand umgebracht – oder denjenigen, der anstatt Franz Ferdinand geboren worden wäre … Das heißt, ausgehend von der in Europa herrschenden Atmosphäre war der Erste Weltkrieg schon eine Sache des Prinzips und wäre auch ohne Princip unausweichlich gewesen. Der Zweite Weltkrieg kommt mir jedoch, ehrlich gesagt, ohne Hitler recht unrealistisch vor. In Sachen Änderung der Weltgeschichte ist seine Rolle als ›konkreter Mensch‹ fast unabdingbar …«
Arno selbst, der laut Pass eigentlich Arnold hieß, hatte seit seiner Kindheit das Ziel gehabt, die Geschichte zu verändern. Am Ende war jedoch das Einzige, was er verändert hatte, sein Ziel gewesen. Als Berufsfeld wählte er die Archäologie und widmete seine ganze Jugend der Jagd nach Schädeln. Speziell die vom Homo Irgendwas-icus. Mit Resten von Zähnen hier und da und nicht sehr attraktivem Gerippe. Zwanzig Jahre lang hatte er unermüdlich gegraben, doch das Bedeutsamste, was er entdeckt hatte, war, dass alles Bedeutsame schon entdeckt worden war. Dann hatte er seine Träume tief in der Erde begraben und sein restliches Leben der Suche nach alternativen Wegen gewidmet, die Geschichte zu ändern. Um es klar zu sagen: In die Geschichte einzugehen, war zu seiner fixen Idee geworden.
»In Wirklichkeit können Menschen die Geschichte nicht ändern. Menschen machen sie. Um die Geschichte ändern zu können, müsste man Historiker sein«, Professor Arno rückte die Brille zurecht und erinnerte sich an die Worte irgendeines französischen Schriftstellers, »oder mit einer Zeitmaschine zurückreisen und zum Beispiel Hitler dazu zwingen, seinen Kampf aufzugeben.«
»Ja, aber«, konnte sich einer nicht zurückhalten und war, weil er schon »Ja, aber« gesagt hatte, gezwungen, den Satz fortzuführen, »Wissenschaftler haben doch bewiesen, dass eine Reise in die Vergangenheit physikalisch unmöglich ist.«
»Nun, ich kann gleich hier beweisen, dass jeder beliebige Wissenschaftler sich irren kann.« Professor Arno wusste nicht mehr, welche nicht abgedroschene Handlung er mit seiner Brille noch ausführen könnte; er hatte die Nase voll vom Suchen nach seltenen Verben. »Die Jahre werden vergehen, und den Menschen wird es unmöglich sein, sich auch nur vorzustellen, was für sie unmöglich sein könnte.«
Aus eigener Erfahrung wusste Professor Arno, dass dieses und ähnlich abgenutzte Wortspiele – »Mich beunruhigt, dass mich nichts beunruhigt«, »Entschuldigung, aber ich entschuldige mich selten«, »Mich ängstigt nur mein Mut« und dergleichen mehr – eine simple Methode war, um scharfsinnig zu wirken. Daher ließ er sich keine Chance entgehen, darauf zurückzugreifen.
»Und überhaupt, seid ihr davon überzeugt, dass jene Zeit, in der wir uns gerade befinden … also, dass diese öffentliche Vorlesung nicht für irgendjemanden schon Geschichte ist? Wisst ihr mit Sicherheit, dass wir die Ersten in diesem Raum-Zeit-Kontinuum sind? Dass es vor uns niemanden gab und dass ›morgen‹ noch nicht angebrochen ist?«
Jemand zuckte unbewusst mit den Schultern. Aber das hatte niemand bemerkt. Noch nicht mal derjenige selbst.
»Stellen wir uns vor, wir hätten eine Zeitmaschine erfunden und wären zum Beispiel zu van Gogh gereist …«
Als ein Mädchen in der dritten Reihe den Namen van Gogh hörte, lächelte sie süß, und in ihren übernächtigten Augen funkelten Sterne.
»Nun, da steht also der mit Farbe bekleckerte Vincent in seinem Zimmer, malt Sonnenblumen und glaubt ernsthaft, dass das, was dort passiert, die Gegenwart ist, dass jenseits jenes Tages noch nichts ist, dass das einundzwanzigste Jahrhundert noch genauso fern ist wie sein Ruhm … Wir jedoch, die Leute in zweihundert Jahren Entfernung, könnten ihn einfach vom Gegenteil überzeugen. Er wird uns bestimmt nicht sein Ohr leihen und uns für verrückt halten, aber …«
»Der Doctor würde ihn in die TARDIS 9 setzen und in eine Ausstellung mit seinen Gemälden bringen!«
»Doktor wer?«, fragte Professor Arno und dachte, dass er gleich nach dem Ende der Vorlesung diese »Trandis« googeln sollte. Er fühlte sich immer völlig unfähig, wenn jemand etwas wusste, von dem er selbst nicht mal den Hauch einer Ahnung hatte. »Außerdem, was tut das zur Sache … Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass es möglich ist, dass in diesem Moment im Abstand von zwei Jahrhunderten ein Mensch eine Vorlesung hält, der genau jetzt sagt, dass nicht ausgeschlossen sei, dass vor zwei Jahrhunderten irgendein betagter Professor hier gestanden und über den vor vier Jahrhunderten lebenden van Gogh gesprochen hat.«
Im Hörsaal beschlossen einige Leute, Professor Arno sei der klügste Mensch, den sie je getroffen hatten. Im Allgemeinen sahen das auch viele in der Stadt so, was den Professor außerordentlich wunderte. Hinter seinen öffentlichen Vorlesungen stand doch nicht einmal eine tiefere Philosophie und auch keine höhere Kompetenz. Trotzdem – oder möglicherweise genau deswegen – konnte er sich über mangelnden Zulauf an Zuhörern nicht beschweren. Im Gegenteil: Im Anschluss an die Veranstaltungen bezahlten ihm manche sogar ein Honorar dafür, dass er zum tausendundersten Mal das wiederholt hatte, was er vorher schon tausendmal kostenlos gesagt hatte.
»Die Existenz einer Zeitmaschine würde einfach einen riesigen Kollaps der Geschichte auslösen …«
… nach legalen Wegen, in diese einzugehen, hatte Professor Arno im Laufe der letzten zehn Jahre vergeblich gesucht. Krieg hatte er von Anfang an ausgeschlossen – zum Armeekommandeur war er nicht geboren, kollektiv in die Geschichte einzugehen jedoch (»berühmte Kriegshelden«, »300 Spartaner«), war auch nicht besonders hilfreich; den Plan, irgendeine große Kirche niederzubrennen, legte er alsbald ad acta. Erstens stand einem Wissenschaftler ein Plagiat nicht gerade gut zu Gesicht, und zweitens würde ihn dieser Weg eher in eine Gefängniszelle führen als in die Geschichte. Er versuchte es auch mit Politik, aber bevor er etwas ändern konnte, hatten ihn die Wähler abgewählt. Am Ende ging ihm die Fantasie aus, und er beschloss, inspirierende letzte Worte vor dem Tode zu finden und auf diesem Weg seinen Namen für immer ins Bewusstsein der Nachwelt einzuprägen. Oder, bildhafter ausgedrückt, seine Sterbensworte unsterblich zu machen …
»Könnten Sie uns das Prinzip der Zeitmaschine in einfachen Worten erklären?«
»Auf diese Frage werden wir etwas später zurückkommen«, Professor Arno griff auf eine gern genutzte Methode zurück, Gespräche über Themen zu vermeiden, von denen er nicht die geringste Ahnung hatte, »aber eines kann ich Ihnen genau erklären: Wahrscheinlich kommt Ihnen Zeitreise jetzt wie ein Wunder vor, aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass ›Wunder‹ nur ein Synonym für ›Perspektive‹ ist. Heutzutage bringt man weder mit einer Skizze eines U-Bootes jemanden zum Staunen noch mit der Verwandlung von Wasser in Wein. Das Verfallsdatum von Wundern ist überschritten – wenn sie nicht auf Foto oder Video festgehalten sind, glaubt keiner daran. Und selbst wenn sie festgehalten sind, werden sie nicht Wunder genannt, sondern gute Montagen …«
… in Professor Arnos Leben war nie ein Wunder geschehen. Nicht eine einzige Begebenheit, die dafür getaugt hätte, sie später den Enkeln zu erzählen. Außerdem hatte er nicht mal Enkel, die eine Existenz solcher Begebenheiten notwendig gemacht hätten. Die Welt hatte also alles perfekt ausbalanciert. Die Hauptsache war, dass im Rahmen der Weltbalance alle von ihm zu Lebzeiten nicht ausgesprochenen Sätze in perfekte letzte Worte vor dem Tod verwandelt würden. Sie sollten kurz und präzise sein und zu Herzen gehen. So wie diese: Zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen. Oder, bildlicher ausgedrückt, wollte er den einen, alles zusammenfassenden Slogan seines Lebens kreieren …
»Haben Sie gewusst, dass die gesamte uns bekannte jahrtausendealte Geschichte im Voraus verfasst wurde?«
Professor Arno kam gerade aus der Universität, als er eine fremde Stimme hörte. Der Unbekannte trug ein Shirt mit Che-Guevara-Aufdruck, und seine Augen hatten beide die gleiche Farbe10 – braungrau.
»Ja, alles ist Fiktion. Wir hingegen sind einfach nur Teile des Experiments, bei dem Sie möglicherweise der Tod erwartet.«
Professor Arno wusste natürlich, dass ihn der Tod irgendwann einmal ereilen würde, aber ganz so früh hatte er nicht damit gerechnet. Er war so verwirrt, dass ihm als Antwort nur die allereinfachsten Anwärter auf seine letzten Worte einfielen: »Ich habe keine Angst vor dem Tod, da ich bezweifle, dass sich die Hölle als schlimmer herausstellen kann als die Erde.«
Spoiler #2: Professor Arno wird von einer Reklametafel gepackt
Matthäus reichte es nicht, im Augenblick zu verweilen. Er wollte die gesamte Zeit einfrieren. Alle Zeiger. Alle Ziffernblätter. Sekundenzeiger. Kalender. Wecker. Sogar die Kuckucke. Ja, Matthäus war nicht Rick Sanchez, Doktor Faust oder jemand noch Intellektuelleres … zum Beispiel Josua, der Sohn Nuns11. Dennoch, es war an der Zeit, dass sich jemand ernsthaft darum kümmerte, der Zeit in dieser Welt habhaft zu werden.
Matthäus’ Methoden waren allerdings noch nicht perfekt: Anfangs hatte er beschlossen, spät einzuschlafen und früh aufzuwachen. Er gewann mindestens fünf Stunden pro Tag, bis er aussah wie einer der Schauspieler aus den Massenszenen von »The Walking Dead« und er gezwungen war, sich geeignetere Wege zu suchen, um an sein Ziel zu kommen. Zur selben Zeit entledigte er sich auch sämtlicher Uhren und Wecker in seinem Haus, denn sie waren wie eine direkte Deklaration der verfliegenden Zeit, er merkte aber schnell, dass es überall weiterhin Uhren gab. Die Stadt verlor nie Zeit mit Fragen nach der Uhrzeit. Er versuchte sogar, den Erwartungseffekt zu verstärken: Gleich nach der Lotterieauslosung füllte er neue Tippscheine aus, damit sich die Zeit des Wartens auf die potenziellen Millionen unerträglich ausdehnte. Eine Million konnte er natürlich nicht gewinnen. Zeit dafür umso mehr. Letztendlich beschloss er, bei seiner Bank einen langjährigen Kredit aufzunehmen – denn ein Kredit folgte einem paradoxen Prinzip: Die Tage vergingen schnell von Monat zu Monat, zogen sich aber von Jahr zu Jahr schmerzlich hin. Auch das für umsonst. Obwohl Zeit Geld ist, war Geld nicht Zeit, und Matthäus merkte, dass er die meiste Zeit auf das Nachdenken übers Zeitsparen verschwendet hatte, deshalb ging er, solange noch Zeit war, zu anderen Ideen über. Ideen hatte er schließlich mehr als Zeit:
•Er wollte ein Handelszentrum namens »Judas Iskariot« mit dem Slogan »Wir verkaufen nur das Beste!« eröffnen.
•Er wollte mehrere identische Gemälde anfertigen, die sich untereinander nur durch ihre Titel unterschieden.
Müder Pollock
Drei Flugzeuge
Stirn. Alter
Logans Slogan
•Er wollte ein Reisebüro namens »FAST FOOD«12 gründen, das seine reichen Kunden, welche es nicht schafften, vor Beginn des Fastens eine gute leckere Mahlzeit zu sich zu nehmen, in eine zurückliegende Zeitzone befördern würde.
•Er wollte eine ungewöhnliche Kreuzworträtselzeitschrift herausgeben, eine, die statt eines Titels leere Kästchen auf dem Cover hat – darüber eine Frage. Die Antwort auf diese Frage ergäbe den Titel der Zeitschrift und änderte sich bei jeder Ausgabe in Abhängigkeit von der Frage.
•Er wollte die Nichtregierungsorganisation »Uroboros«13 gründen, welche Spenden nur einwürbe, um sich selbst zu helfen.
•Er wollte, dass die Bevölkerung des ganzen Landes zu Millionären wird, und hatte sich dafür schon ein absolut simples Modell überlegt: Wenn jeden Monat eine Million Menschen je einen Dollar sparen und einem von ihnen geben würden, dann würde dieser eine automatisch Millionär werden. Im zweiten Monat würde der Zweite Millionär, im dritten Monat der Dritte und so weiter – bis zur Million. Der einzige Fehler des Modells bestand darin, dass das Land auf diesem Wege pro Jahr nur um zwölf Millionäre reicher würde und einige Menschen – konkret drei Millionen neunhundertsiebzehntausendachthundertzweiundzwanzig – im Laufe ihres Lebens fast keine Chance mehr haben würden, Millionär zu werden. Natürlich nur, falls nicht irgendeiner von ihnen in jener Lotterie gewinnen würde, die nicht für Matthäus gemacht zu sein schien …
… letztendlich beschloss er, Privatdetektiv zu werden. Zuerst suchte er nach einem Fall, dann suchte er nach Wegen, ihn zu untersuchen. Und da er keinen Veteranen des Anglo-Afghanischen Kriegs als Mitbewohner hatte, musste er die Details eines Falles eben für die kommenden Generationen selbst beschreiben.
Gleich der erste Fall (»Der verschwundene Sendemast vom Mtazminda14«) stellte sich als nebulös heraus. Allerdings hatte sich der Nebel auf dem Mtazminda verzogen, und alles – unter anderem auch der Mast – befand sich wieder an seinem Platz, bevor Matthäus die Gründe für einen möglichen Diebstahl des Sendemasts durchdacht hatte. Auf sein erfolgreiches Debüt folgte ein weiterer Fall – diesmal musste Matthäus eine Katze anstatt eines begrabenen Hundes finden (»Tot oder lebendig«). Die Katze namens Schrödinger kam zwar aus freien Stücken zurück nach Hause, aber keiner konnte die Tatsache leugnen, dass Matthäus diese Rückkehr schon zwei Stunden vorher unfehlbar vorausgesagt hatte. Dann gab es den geheimnisumwobenen Fall des nackten Mannes im Haus gegenüber, der zwischen Fensterscheibe und Vorhang feststeckte (»Die nackte Wahrheit«). Aber der Ehemann der Nachbarin war so schnell verschwunden, dass er nicht mal versuchte, hinter den Vorhang zu schauen, um die Wahrheit zu sehen. Seinerseits beschloss Matthäus großherzig, die intimen Details dieses erotischen Falls nur in seinen Aufzeichnungen festzuhalten und die Geschichte des ans Fenster gedrückten Arsches außerhalb seiner Annalen unerwähnt zu lassen.
Natürlich war sich Matthäus vollständig darüber im Klaren, dass die ganze Serie von Ermittlungen nur ein Kinderspiel war und ihm jene Zeit vertrieb, die er bis dahin vergeblich versucht hatte anzuhalten. Nach einigen erfolgreichen Ermittlungen – »Lord of the Fries« (viel Lärm ums nichts bei McDonald’s), »Der verschluckte Schlucker« (die mystische Geschichte eines aus einer Spelunke des Viertels verschwundenen Säufers), »Wer die Nachtigall stört« (ein Streit, der sich darüber entsponnen hatte, dass Schrödinger für die Tötung eines Vogels bestraft worden war) – war er allmählich von seinen Fähigkeiten überzeugt und beschloss, zu echten Morden überzugehen. Genau in diesem Moment sprach er seinen berühmten Satz: »Im Westen ist Sherlock Holmes, im Osten bin ich!«, und weil er es überaus primitiv fand, Holmes zu imitieren, plante er dessen Antipode zu werden – er rauchte E-Zigarette, spielte Vuvuzela und versuchte, induktiv zu denken.
»Eine Vitrine ohne Scheibe. Eine leere Ausstellungsfläche. Gelbes Polizeiabsperrband drumherum … tja …«, Matthäus neigte ein wenig den Kopf, legte den abgespreizten Daumen der geballten linken Faust unters Kinn, presste die übrigen Finger an Lippen und Nase, fragte sich, ob die Leser seine Bewegungen nachahmen würden, wenn er eine Romanfigur wäre und jemand seine Bewegungen so beschriebe, und zog nach einigen lyrischen Wendungen eine unbezweifelbare induktive Schlussfolgerung – es musste sich um einen Diebstahl handeln.
»Ja. Nur ein Dieb, Gauner und Bastard würde hier hereinkommen, aber Besucher? Nein!« Der Sicherheitsmitarbeiter des Museums wedelte mit der Hand, was eher wie ein Winken wirkte. »Schulkinder werden ab und zu auf Exkursion hierhergeschleppt, und das war’s … Das hab ich ja schon immer gesagt, wir interessieren uns für Museen nur im Ausland. Wir brauchen nur irgendwohin zu reisen, und schon landen wir schnurstracks in einem Museum. Aber hier ist das Museum der letzte Ort, wo wir hingehen möchten. Was will man da? Wir sind zwar stolz auf unsere Sehenswürdigkeiten, besichtigen aber trotzdem lieber die von anderen. Vielleicht, weil wir denken, sie sind ja gleich um die Ecke, in zwei Schritten Entfernung, wir können ja hingehen, wann wir wollen. Und der Louvre erscheint uns irgendwie weit weg.«
»Oder weil hier keine ›Mona Lisa‹ und keine ›Venus von Milo‹ ausgestellt sind«, brachte Matthäus seine eigene Version ins Spiel und schämte sich ein bisschen, dass er aus der großen Sammlung des Louvre nur diese beiden Exponate kannte.
»Pah, ›Mona Lisa‹, wenn die überhaupt ein Original ist«, der Sicherheitsdienstmitarbeiter ging, warum auch immer, zum Flüstern über, »im Internet stand, dass das, was im Louvre ausgestellt ist, in Wirklichkeit nicht das ist, was dieser … äh … Typ zu seiner Zeit gemalt hat. Das Original ist irgendwo im Depot versteckt. Und das, was die Leute sich angucken, weißt du, was das ist? So was wie die Schokoladenattrappen, die früher in den Schaufenstern standen und die wir für echt gehalten haben! Und selbst wenn sie echt wäre, ich hasse trotzdem diese mit tausenderlei Krimskrams vollgestopften Museen. Um echte Kunst zu zeigen, braucht man nur ein oder zwei Gemälde, denn nach zehn Minuten sinnlosen Rumlaufens ist einem piepegal, ob das Gemälde in dem Saal da von Pablo Picasso oder von Pablo Escobar ist.«
»Was das verschwundene Exponat angeht …« Matthäus wollte endlich seine Ermittlungskunst zeigen.
»Ach ja! Ich liebe ja die Regel, dass man ein Foto machen darf. Ich bin ja nicht in vielen Museen im Ausland gewesen, aber über die, in denen ich war, kann ich mir ein Urteil erlauben … In manchen ist Fotografieren ja verboten. Als ob das kein anderer sehen soll, oder was weiß ich, warum, aber trotzdem: Ein Foto zu machen, schaffst du überall … Man knipst es. Es kommt einer angestürmt. Macht mit dem Finger du-du-du. Man antwortet: ›Ixkjuhsmii, das hab ich nicht gewusst, ich tu’s nie wieder, Mister‹, aber immerhin, es bleibt einem dieses eine Foto … Eine Erinnerungsaufnahme aus dem gesamten Museum. Deswegen hängt alles von der richtigen Auswahl dieses einen Fotos ab.«
»Was ist also verloren gegangen?« Matthäus verlor gleichzeitig Zeit und die Geduld.
»Die Museumskultur ist verloren gegangen, der Respekt vor sich selbst ist verloren gegangen … Hm, was noch?«
»Ich hab das Exponat gemei…«
»Ich hab auch das Exponat gemeint«, unterbrach ihn der Sicherheitsdienstmitarbeiter, »früher zum Beispiel …«
Der Fall stellte sich also folgendermaßen dar: Im Seidenmuseum, einem zweistöckigen, prunkvollen Gebäude aus roten Ziegelsteinen an einem ruhigen und grünen Park, war das Hauptexponat – ein Seidenpantoffel der legendären Königin Tamar – unbemerkt verschwunden. Keinerlei Spuren. Keinerlei verdächtige Geräusche. Keinerlei irgendwas. Tür und Fenster waren von innen verschlossen gewesen. Weder die Polizei konnte den Fall lösen noch – was noch viel verwunderlicher ist – die Journalisten. Der Sicherheitsdienstmitarbeiter jedoch, der bestimmt viel leichter den Dieb im Zaum hätte halten können als seine Zunge, schwieg zu diesem Vorfall verdächtig. Es war zwar nicht Matthäus’ Traumkriminalfall (das wäre eher der Mord an diesem Sicherheitsdienstmitarbeiter), aber zumindest könnte er sich so endlich einen seidenen Ruhmesmantel umhängen. Genau deshalb war er, sobald er im Fernsehen von dem Diebstahl gehört hatte, hier aufgetaucht.
»Der Fall ist über alle Maßen kompliziert, Watson!«, seufzte Matthäus und grübelte.
Nun, in Wirklichkeit war der Fall völlig simpel und wurde nur durch die Anwendung der induktiven Methode verkompliziert. Erstens konnte Matthäus Induktion nicht richtig von Deduktion unterscheiden und war ständig auf der Hut, nicht die Methode des eingebildeten Londoners anzuwenden. Zweitens war die Untersuchung des Falles mittels Induktion fast dasselbe wie Kaffee in den Zucker zu schütten. Na gut, vielleicht nicht dasselbe, aber wie gesagt, Matthäus konnte Induktion nicht richtig von Deduktion unterscheiden …
»Nun, wenn ich nicht mit Induktion angefangen hätte, wäre ich leicht zu dem Schluss gekommen, dass sich der Sicherheitsdienstmitarbeiter eher um die lauen Besucherzahlen des Museums sorgt als um das Verschwinden von Königin Tamars Pantoffel. Außerdem wird Königin Tamar in der Geschichte viel öfter barfuß erwähnt als mit Pantoffeln.« Matthäus machte im Geiste eine Pause, die zur Schärfung seines Geistes beitragen sollte. »In Wirklichkeit …«
»… existiert keinerlei Pantoffel, und es ist einfach ein Marketingschachzug des Museums«, vollendete ein Mann, der aus dem Nichts im Raum aufgetaucht war, Matthäus’ Satz. Der Unbekannte hatte einen kurzen Bart und kurzes Haar, was man von dem Mann auf seinem Shirt wirklich nicht behaupten konnte.
»Was existiert nicht?« Der Sicherheitsdienstmitarbeiter schien beleidigt. »Seit Jahren steh ich hier, um den zu bewachen!«
»Sie bewachen ihn, aber die Hauptsache ist doch, quis custodiet ipsos custodes?15«, antwortete der Unbekannte auf Latein, um eine Wortwiederholung zu vermeiden, und wandte sich, bevor der Sicherheitsdienstmitarbeiter, weil er nicht die Superkraft besaß, die Fußnoten dieses Buches zu lesen, in Verunsicherung verfiel, an Matthäus: »Es ist Zeit, sich ernsthafteren Dingen zuzuwenden.«
»Ich halte nur Morde für ernsthafte Dinge!«
»Genau der Meinung bin ich auch. Die Sache ist nur die: Es ist noch kein Mord passiert …«
Matthäus wusste nicht, wer zum Teufel dieser Mann war, er wusste nicht, wie er einen noch nicht geschehenen Mord untersuchen sollte, er wusste nicht, ob er den laufenden Fall »Seidenstraße« nennen sollte oder »Seidensackgasse«, er kannte nicht Sokrates’ berühmtestes Zitat, die Identität Jon Snows und die erforderlichen Umweltbedingungen für die Vermehrung von Chlamydomonas, er wusste weder, was Chlamydomonas sind, noch, warum er einem Menschen vertraute, über den er nichts wusste, aber er willigte trotzdem bedingungslos ein, den Fall zu untersuchen, denn trotz des großen Unwissens wusste er zumindest eines: »Lehne nie etwas ab, wenn deine Zustimmung nichts kaputtmacht!«
Spoiler #3: Virginia ist Sylvias Geliebte
»Warum ist es oft so, dass wir die lieben, die uns nicht einmal mögen, und warum lieben uns die, die wir nicht einmal mögen?«, grübelte Lea und legte »Bestseller«16 in ihren Koffer. Und da ihr niemand anderes auf ihre Gedanken antwortete, fuhr sie innerlich fort: »Wahrscheinlich deshalb, weil es die perfekte Welt nur im Märchen gibt und sich das Leben irgendwie vom Märchen unterscheiden muss. Das ist sein wahrer Sinn – immerwährender Kampf, denn ein märchenhaftes Leben, wie wundervoll auch immer, ist am Ende trotzdem eintönig und langweilig … Ja, es ist dumm, nur dafür zu kämpfen, dass dein ganzes restliches Leben in einer Floskel wie ›und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage‹ zusammengefasst werden kann.«
Lea selbst hatte nie davon geträumt, Prinzessin zu sein. Mehr noch, für sie war ein Frosch nur ein mäßig sympathischer Vertreter der Familie der schwanzlosen Amphibien, und der einzige Prinz, den sie von ganzem Herzen treffen wollte, lebte leider auf einem völlig anderen Planeten namens B 612. Deshalb hatte Lea auch ein unmärchenhaftes Leben, in dem sie alles in Stichpunkte unterteilte, von denen sie nur vier mochte:
1.Endlose Gedanken: Lea dachte oft, dass Worte in Gedanken viel besser klangen, als wenn sie ausgesprochen wurden. Sie stellte die Worte blitzschnell im Kopf zusammen und konnte so innerhalb einer Stunde ein literarisches Meisterwerk verfassen, vor Millionen Menschen eine hochemotionale Rede halten, Fachdiskussionen über die praktische Anwendung von Sinus- und Kosinussatz im alltäglichen Leben gewinnen, beim Flirt einen Dialog exakt so führen, wie sie ihn sich ausgemalt hatte … Aber genau dann, wenn sie den Mund aufmachte, geriet ihre Wortreihenfolge durcheinander. Sie verbuchselte die Wechstaben. Aus dem Nichts tauchten Scharen von »Ähms« und »Na jas« und »Eigentlichs« auf. Die Hälfte der verbalen Einheiten weigerte sich strikt, sich auch nur einen Millimeter auf ihrer Zunge zu bewegen. Lea verglich sie deshalb mit einem Sprungbrett, das nur etwas für ganz gewagte Wörter war. Doch ab und zu, wenn sie etwas sehr Unpassendes sagte, glich ihre Zunge einer über Bord ragenden verhängnisvollen Planke auf einem Piratenschiff … Und zwar immer dann, wenn Lea frei über alles Mögliche auf der Welt nachdenken konnte, zum Beispiel darüber, warum Frauen in der Werbung immer ihr Lieblingswaschpulver in der Tasche trugen oder ob die Liebe zur lateinischen Sprache als Nekrophilie gelten sollte, oder darüber, woher Schriftsteller wussten, worüber ihre Romanfiguren nachdachten.
2.Kampf gegen leere Sprachhülsen: Lea hasste abgenutzte Vergleiche wie die Pest. Metaphern ebenso. Oder Hyperbeln. Und all die anderen literarischen Tricks, deren Namen sie oft vergaß. Wie zum Beispiel jetzt. Deshalb war Lea ständig auf der Suche nach einzigartigen Formen, was schwieriger war als Houellebecqs Nachnamen gleich beim ersten Mal fehlerfrei zu schreiben oder ein vor Monaten beiseitegelegtes Buch weiterzulesen, ohne die schon gelesenen Seiten noch mal zu überfliegen.
3.Die Prinzessin der Tiere: Katzen waren der helle, fluffige Fluchtpunkt in Leas Leben. Sie liebte alle, die mit Katzen auch nur die geringste Verbindung hatten, von Halle Berry bis Andrew Lloyd Webber. Aufgrund ihrer Begeisterung für Katzen konnte Lea selbst Katzenjammer und Katzenwäsche etwas Positives abgewinnen. Aus demselben Grund hatte sie immer einen großen Vorrat an kaltem Brei zu Hause. Natürlich hatte sie selbst auch eine Katze. Eine schwarze. Mit dem eigenartigen Namen Eyed Peas.
4.WJOZAFOT (Weltjugendorganisation für Zukunft, Arthouse-Filme und obdachlose Tiere): So hieß die NGO, deren starkes und unabhängiges Zentrum Lea darstellte. Die Hauptmission der Organisation war, herauszufinden, was genau sie eigentlich tun. Leas Job hier war etwas seltsam: Sie sollte aufmerksam sein und auf jegliche Anzeichen von Sexismus im Alltag achten. Ehrlich gesagt erschloss sich Lea das Wesentliche des Feminismus nicht so recht, aber obwohl sie keine größeren kulinarischen Kenntnisse vorweisen konnte, war sie dagegen, alle Männer in einen Topf zu werfen.
Trotzdem: Warum ist es oft so, dass wir die lieben, die uns nicht einmal mögen, und warum lieben uns die, die wir nicht einmal mögen? Über diese Formulierung grübelte Lea nach, und ihr war, als ob jemandes unsichtbare, ein wenig faule Hand ihren Gedanken vom Kapitelanfang mittels Copy and Paste in den siebten Absatz des Kapitels übernommen hatte. Sie hatte über solche Ungerechtigkeiten des Lebens bislang noch nie nachgedacht – bis eine Figur aus dem Roman »Bestseller« sie ins Grübeln gebracht hatte. Irgendwie ähnelte sie ihr. Nichts und niemand gefiel ihr – vielleicht war es das. Sie zog in Erwägung, dem Autor selbst zu schreiben, um eine Antwort zu bekommen, fand das dann aber doch zu gewagt: Erstens bestand die Möglichkeit, dass der Adressat sie falsch verstehen und die Frage als Vorwand auffassen könnte, ein Gespräch anzufangen, und zweitens wäre es lächerlich, dem Autor zu sagen, sie halte sich für seine Romanfigur.
Deshalb beschloss sie, sich die Frage ohne seine Hilfe zu beantworten: »Wenn jeder jeden mögen würde, verlöre die Liebe ihren Wert, aber Gott scheint absolut kein Sozialist zu sein … Wow!« Lea war mächtig stolz auf ihre Aussage – »Gott« und »Sozialist« kamen in ein und demselben Satz vor. Lea selbst hatte bei persönlichen Beziehungen weniger hohe Ansprüche. Das Einzige, was sie vom potenziellen Auserwählten erwartete, war Perfektion. Angeblich sei das typisch für Mädchen …
»Warum nur für Mädchen?«, regte sich Lea auf. »Das ist sexistisch!«
… Na gut. Angeblich sei es typisch für Menschen, den perfekten Partner zu suchen, wenn sie selbst weit von der Perfektion entfernt waren. Und genau so war Lea. Entweder gefiel ihr das Profil nicht oder das Profilbild, manche Männer schrieben anstatt »Was machst du so?« »Was machstnso?« (bei solchen zusammengezogenen Wörtern kam Lea immer Frida Kahlo in den Sinn), manche luden beim ersten Date zu McDonald’s ein (und sie zum Hamburgermenü), manche mochten eher Van Damme als van Gogh, manche wussten nichts von Kierkegaard17 (die existenziellen Sorgen des Philosophen verstand auch Lea nicht richtig, aber ein perfekter Mann ist ja deshalb perfekt, weil er etwas über Kierkegaard – zumindest den Vornamen – weiß), manche schrieben mit mehr Emojis als mit lateinischem Alphabet, manche konnten nicht einmal das, manche assoziierten x nur mit Wettbüros statt mit Mathematik, manche waren von den häufigen Selfies angeödet, manche hatten zwar nichts gegen Fotos, standen aber mit einem derart erstarrtem Gesicht da, als würde statt eines Vögelchens der Rote Baron18 aus dem Objektiv fliegen … Und Lea war es leid, die besten Jahre ihres Lebens auf die Suche nach dem perfekten Mann zu verschwenden. Deshalb beschloss sie: Wenn Liebe blind ist, könnte sie doch vor ein paar Kleinigkeiten die Augen verschließen und sich keine Gedanken mehr machen. Und genau in diesem entscheidenden Moment tauchte der Mann auf …
Sie lernten einander bei einer Demo vor einem Café kennen. Dort protestierten sie gegen die Angewohnheit mancher Kellner, die Rechnung geradewegs immer dem Mann zu bringen, wenn der zusammen mit einer Frau im Café saß. Nach der Demo schlug ihr neuer Bekannter vor, das Ganze gleich in der Praxis zu testen, und lud Lea in ebendieses Café ein, um den potenziell sexistischen Kellnern zusammen eine Lektion zu erteilen.
Das Shirt des Mannes zeigte einen verstrubbelten Revolutionär mit sehr kurzem Namen und sehr langem Haar. Der Besitzer des Shirts selbst sah nicht aus wie ein Einheimischer. Er hatte eine etwas westeuropäische Ausstrahlung, blasse Wangen und attraktive Jochbeine.
»Es gibt keine Liebe auf den ersten Blick … es gibt keine Liebe auf den ersten Blick … es gibt keine Liebe auf den ersten Blick«, wiederholte Lea mantraartig und dachte zugleich, dass, wenn der Mann sie freundlich bäte, sie ihm bis an das Ende des Universums folgen würde, wenn nicht sogar per Anhalter durch die Galaxis, und zwar mit dem ersten und einzigen Auto, das mit David Bowies Musik um den Planeten driftete.
»Mit Vergnügen würde ich mit dir zusammen herumreisen«, schlug der Unbekannte unvermittelt vor, fast, als könnte er Leas Gedanken lesen. Nun, nicht fast – er konnte sie tatsächlich lesen. Und nicht nur er. Leas Gedanken konnte jeder lesen, der dieses Buch auf einer passenden Seite aufschlug. Lea war das nicht klar, und sie schrieb den ersehnten Vorschlag nur den magischen Eigenschaften der zwischen ihnen entstandenen Verbindung zu …
»Ich hab schon immer vom Reisen geträumt«, antwortete Lea mechanisch, kam aber bald durch die Autosuggestion ihres »Es gibt keine Liebe auf den ersten Blick«-Mantras zur Besinnung, »ich hab nur gerade keine Zeit …«
»Mach dir keine Sorgen wegen der Zeit. Auf dieser Reise kannst du alles verlieren – außer Zeit.«
Lea dachte eine Weile darüber nach. Weder wollte sie Zeit noch ihren Kopf verlieren.
»Angenommen, ich bin mit deinem Vorschlag einverstanden. Wohin fahren wir dann?«
Die Frage war doppeldeutig – sie betraf sowohl Zeit als auch Raum.
»Das sag ich dir heute Abend.« Der Mann benutzte die abgedroschene Methode des Spannungsaufbaus und fuhr fort: »Außerdem besteht der Reiz des Reisens nicht darin, wohin man reist, sondern mit wem.«
»Warum ich?« Lea hoffte als Antwort auf diese Frage zu hören, sie sei perfekter als die Perle im Ohrring des Mädchens von Vermeer oder so interessant wie der Fakt, dass die Eisoberfläche der Antarktis ungefähr drei Prozent Pinguin-Urin enthält, dass in ihrem zukünftigen Haus sieben Katzen, eine Spinne namens Sleipnir19 und drei Kinder herumrennen würden, von denen das erste Lucy heißen würde oder Emil und so weiter und so fort … Aber ach!
»Das ist eine wichtige Expedition«, sagte der Mann im Flüsterton. Seiner Meinung nach verlieh Flüstern jeder beliebigen Geschichte mehr Charme. »Dazu braucht es allerdings den Sinn und Verstand einer Frau.«
»Hm. Wenn das mal nicht sexistisch ist?!«, dachte Lea enttäuscht. »Ich werde nirgends mit ihm hingehen. Zur Hölle soll er fahren, und zwar ohne mich. Basta!«
Der Koffer stand so majestätisch in der Mitte des Zimmers, als wolle er eine Thronrede über seine königlichen Träume an Tausende seiner Mitkoffer richten. Der versprochene »Abend« hätte schon vor drei Stunden beginnen sollen. Der Mann hatte ihr gesagt, er werde sie bald abholen, aber die Bedeutung von »bald« war bei den Einheimischen überaus breitgefächert – von zwei Minuten bis zwei Stunden. Die Adresse ihrer Wohnung hatte sie ihm gleich im Café gegeben – Straße soundso. Block soundso. Eingang soundso. Dritter Stock. Rechter Hand eine Stahltür. Darauf ein Gigi-Buffon-Aufkleber. Die Buffon-Aufkleber-Idee stammte von einer Freundin. Sie hatte ihn bei ihrem Einzug in die neue Wohnung an die Tür geklebt: »Der beschützt dich besser als jedes Heiligenbildchen«, hatte sie gesagt. Lea gefiel das. Aber eher Gigi als die Idee des Beschützens, und jedes Mal, wenn sie jemandem die Adresse sagte, ergänzte sie voller Stolz: »Eine Stahltür. Mit einem Gigi-Buffon-Aufkleber darauf.«
»Es wäre besser gewesen, wenn ich von Anfang an erfahren hätte, wo wir hinfahren!« Der Grad von Leas Verärgerung wuchs proportional zur vergehenden Zeit. Und als hätte jemand ihre Worte gehört, vernahm sie ein Klopfen an der Tür.
Ein paar Sekunden später traten drei völlig verschiedene Männer ins Zimmer. Einer davon war natürlich er, der sexistische, unpünktliche Blödmann. Der zweite war ein großer Mann mittleren Alters mit kurz geschnittenem weißem Bart und schlecht sitzender Brille. Der dritte kam Lea irgendwie bekannt vor – sein Aussehen war eines, das nicht in der Erinnerung haften blieb. Eines, an das man sich, hatte man ihn im kleinen Kreis beim Trinken kennengelernt, eine Woche später im Bus nicht mehr erinnern konnte …
»Am Ende wird sich alles klären«, unterbrach der sexistische, unpünktliche und jetzt auch noch unhöfliche Blödmann ihre Überlegungen, weswegen Lea zum zweiten Mal das Gefühl hatte, er könne ihre Gedanken lesen. »Hauptsache, wir haben uns alle zusammengefunden, und da es im Buch keine weiteren Hauptfiguren gibt, können wir jetzt zur Sache kommen.«
Lea war verwirrt. Sie verstand nicht, was ein Buch damit zu tun haben sollte … Und falls es doch etwas damit zu tun hatte, wäre es schon schön, wenn der Autor eine bessere Vorstellungskraft hätte.
»Nun ja … Dort, wo wir hinfahren, braucht man keine Koffer. Unsere Kleidung ist schon anachronistisch genug.«
»Ich denke, es ist Zeit, uns endlich zu erklären, was los ist. Euretwegen habe ich schon einige Stunden verloren«, protestierte der weißhaarige Mann, und Lea vermutete, dass erstens sie nicht die Einzige war, die den Elefanten im Nebel ritt, und zweitens die ständige Suche nach originellen Metaphern manchmal im Desaster endete.
»Wenn ihr versucht auszurechnen, wie viel Zeit ihr fürs Nichtstun verschwendet, werdet ihr nicht nur Zeit verlieren, sondern auch die Lust zu rechnen«, ergänzte der junge Mann mit dem nicht erinnerbaren Äußeren und beschloss beim Blick in die Gesichter der Zuhörer umgehend, so lange nichts mehr zu sagen, bis seine Worte bedeutungsvoller klängen als sein Schweigen.
Lea rollte den Koffer an die Wand und setzte sich aufs Sofa.
»Besser, ihr setzt euch auch. Ich brauche eventuell eine ganze Weile, um alles zu erklären.« Der Mann strich sich mit der rechten Hand fest übers Gesicht, fasste dann mit Daumen und Zeigefinger den Kinnbart, als wäre seine Hand ein Filmheld, der vom Rand einer Klippe hängt, und fing an zu erzählen: »Als ich eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand ich heraus, dass ich eine Romanfigur war und mir über mich selbst nur drei Dinge einfielen …«
7Franz Ferdinand – Erzherzog Österreich-Ungarns, dessen Ermordung durch den serbischen Studenten Gavrilo Princip zum Vorwand für den Beginn des Ersten Weltkriegs wurde.
8Gavrilo Princip – serbischer Student, dessen tödliches Attentat auf den Erzherzog Österreich-Ungarns, Franz Ferdinand, zum Vorwand für den Beginn des Ersten Weltkriegs wurde.
9TARDIS – Doctor Who’s telefonzellenförmige Zeitmaschine. Sie tauchte erstmals am 23. November 1963 bei der BBC auf, genau einen Tag nach der Ermordung John F. Kennedys. Nun ja, falls sie einen Tag früher aufgetaucht wäre, hätte das an Kennedys Tod auch nichts ändern können.
10seine Augen hatten beide die gleiche Farbe – diese Anspielung auf »Der Meister und Margarita« ist unwichtig, aber sie zeigt uns, dass der Teufel wirklich im Detail steckt.
11Josua, der Sohn Nuns – Anführer des jüdischen Volkes und einfach ein guter Mensch. Im Kampf gegen die Kanaaner bat er Gott darum, die Sonne anzuhalten, damit er den Kampf vollenden konnte, und Gott erfüllte die Bitte problemlos. Also, wenn man niemanden hat, der für einen da ist, kriegt man im Leben sowieso nichts auf die Reihe.
12FAST FOOD – der Name der Firma entspringt einem Wortspiel, da das Wort fast »schnell« und »fasten« bedeutet, welche die zwei Hauptkomponenten der nicht existenten Dienstleistung der nicht existenten Firma sind (Anm. d. nicht ex. Übers.).
13Uroboros –
14Mtazminda – der »heilige Berg« im Zentrum von Tbilissi. Auf ihm befindet sich ein Sendemast, der von überall in der Stadt zu sehen ist – außer vom Sendemast aus.
15Quis custodiet ipsos custodes? – (lat.) »Wer wird die Bewacher bewachen?« Das war die erste und letzte lateinische Phrase, die euch in diesem Buch begegnen soll. Promitto – (lat.) »Ich verspreche es euch.«
16Bestseller – Buchtitel. Stammt aus der Tastatur des Autors, der diese Fußnote schreibt.
17Kierkegaard – Søren, dänischer Philosoph und noch vieles mehr. Hat keine grundlegende Bedeutung für die Erzählung.
18statt eines Vögelchens der Rote Baron aus dem Objektiv fliegen – diesen Vergleich machte der einzige Mann, der Kierkegaard kannte und ihr gleich erklärte, dass der Rote Baron der erfolgreichste Kampfpilot der Deutschen im Ersten Weltkrieg war.
19Sleipnir – Antwort auf eine Rätselfrage – Odins achtbeiniges Pferd. Acht Buchstaben. Der fünfte ein P.