Читать книгу Exodus - Ben B. Black, D.J. Franzen - Страница 3
Kapitel II
ОглавлениеGinkenbach ist überall
Das tiefe Brummen wurde immer lauter. Zwei Lichtfinger versuchten, das dichte Schneetreiben zu durchdringen, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg. Schließlich schälte sich die Kontur eines Busses aus der wirbelnden Wand. Am Steuer saß ein Mann, der Ende vierzig, Anfang fünfzig sein mochte. Sein graues Haar trug er kurzgeschnitten, darunter saßen zwei Augen, die von Willensstärke und wacher Intelligenz kündeten, im Moment aber in höchster Konzentration leicht zusammengekniffen waren. Der Oberkörper des Mannes wirkte kräftig, und im Sitzen sah man ihm seine Größe von fast einsfünfundneunzig nicht an.
»Es ist eine gottverdammte Scheiße mit diesem Wetter!« Roland stand im Begriff, seine Faust auf das Lenkrad des Busses zu donnern, hielt sich aber im letzten Moment zurück, weil ihm einfiel, dass das bereits das letzte Mal zu Diskussionen geführt hatte, und dafür besaß er im Moment nicht die Nerven.
»Soll ich noch mal übernehmen?« Gregor sah seinen Freund mit Sorge im Blick an. »Du hast schon ganz rote Augen.«
»Weil deine ja besser aussehen …« Roland schüttelte entschieden den Kopf. »Wir brauchen dringend eine Pause, und zwar wir alle!«
»Wenn wir eingeschneit werden, sitzen wir womöglich den Rest des Winters fest, und das war es dann.«
»Und wenn wir den Bus schrotten, dann sitzen wir nicht nur den Winter über fest, sondern vielleicht für immer«, gab Martin zu bedenken, der dem Gespräch der beiden Freunde bislang schweigend gefolgt war.
»Ja, genau so habe ich mir das vorgestellt.« Rolands Miene verfinsterte sich immer weiter. »Wir können uns also zwischen Pest und Cholera entscheiden, ganz so wie zu den Zeiten, als wir noch als Wahlvieh an die Urnen gehen durften, um unser Kreuzchen an einer Stelle zu machen, wo es sowieso nichts bewirkt.«
»Wie kommst du denn jetzt darauf?«, wunderte sich Gregor. »Ich finde nicht, dass sich unsere jetzige Situation …«
»Boar, Mann! Kannst du nicht einmal deine Klugscheißereien für dich behalten?« Roland funkelte den anderen wütend an. »Ich weiß selbst, dass das nicht zu vergleichen ist, okay? Was würde ich drum geben, jetzt gemütlich in eine Wahlkabine schlurfen zu dürfen, gefolgt von einem gepflegten Kneipenbesuch mit Weißwurst und Brezel. Manno!«
»Vorsicht!«
Martins Schrei gellte durch den Bus. Gleichzeitig griff Gregor beherzt ins Lenkrad und zwang das Fahrzeug, der leichten Rechtskurve zu folgen. Vor Schreck kuppelte Roland instinktiv aus. Der Bus rutschte noch ein wenig, dann stand er still.
»Gerade noch mal Glück gehabt.« Gregor zog bleich und zitternd seine Hände vom Lenkrad zurück.
Etwa einen Meter vom Bus entfernt fiel die Böschung steil ab. Soweit es sich bei den schlechten Sichtverhältnissen erkennen ließ, ging es dort fast zehn Meter in die Tiefe.
»Die … die Leitplanke hätte uns doch gehalten, oder nicht?«, stotterte Martin.
»Träum weiter!«, brummte Roland in einem Ton, als sei nichts gewesen, aber er war ebenfalls aschfahl im Gesicht geworden.
Gregor drehte sich nach hinten. »Bei euch alles in Ordnung, Kinder?«
»Ich … ich denke schon.« Tom, der immer noch als eine Art Sprecher oder Anführer der Kinder fungierte, nickte unsicher. »Wir haben uns erst erschrocken, als Martin geschrien hat, aber es ist ja alles noch einmal gut gegangen.«
»So kann man das natürlich auch sehen.« Rolands Gesicht gewann langsam die Farbe zurück, während seine Miene noch grimmiger wurde, obwohl das kaum noch möglich zu sein schien. »Ich hätte uns gerade beinahe umgebracht, denn das Leitplänkelchen da vorne hat der Masse des Busses nicht das Geringste entgegenzusetzen. Was bin ich doch für ein leichtsinniger Hornochse!«
»Ich hätte dich nicht anquatschen sollen«, widersprach Gregor gepresst. »Dann wärst du nicht abgelenkt gewesen.«
»Und ich habe ebenfalls mein Teil dazu beigetragen«, sagte Martin. »Aber nach Schuld zu suchen bringt uns jetzt auch nicht weiter. Wir sind alle unverletzt, der Bus ist ebenfalls noch in Ordnung. Also lasst uns lieber über eine Lösung nachdenken.«
»Da gibt es nicht viel nachzudenken«, knurrte Roland. »Mitten in der Pampa stehen bleiben können wir auf keinen Fall, und weiterfahren ist ebenfalls äußerst riskant. Wie ich schon sagte: Pest oder Cholera, sucht euch was aus.«
»Dann lass uns wenigstens versuchen, den nächsten Parkplatz zu erreichen«, schlug Gregor vor. »Dort können wir zwei Stunden pennen und anschließend weiterfahren. Vielleicht lässt bis dahin auch das Schneetreiben ein wenig nach.«
»Wobei wir über kurz oder lang vermutlich ein anderes Problem bekommen werden.« Nun war es an Martin, eine finstere Miene zu zeigen. »Wenn es noch ein paar Stunden so weiterschneit, werden irgendwann alle Straßen unpassierbar sein, weil sich derzeit keine Sau mehr um den Winterdienst kümmert.«
»Tjaja, da fragt man sich in der Tat, wofür man eigentlich Steuern bezahlt«. Während er sprach, betrachtete Gregor intensiv seine Fingernägel, als ob es dort irgendetwas Interessantes zu sehen gäbe.
»Als ob du die letzten Monate auch nur einen Cent Steuern bezahlt hättest.« Rolands Miene hellte sich auf, und sein Mund zeigte den Ansatz eines Grinsens. Offenbar hatte die Witzelei seines Freundes genau seinen Humor getroffen. »Aber mal Spaß beiseite: Mit den Schneeketten sind wir relativ gut gerüstet. Wir müssen nur aufpassen, dass wir nicht in eine größere Schneeverwehung reindonnern, dann kann eigentlich fast nichts schiefgehen.«
»Deine Zuversicht möchte ich haben.« Martin schüttelte ungläubig den Kopf.
»Musst du gar nicht.« Rolands Mund verzog sich nun zu einem richtigen Grinsen. »Die Rolle als Bedenkenträger steht dir viel besser zu Gesicht.«
»Ha, ha, sehr witzig. Ich lache später.«
»Deine Sache, aber vielleicht nicht gerade, wenn Gregor und ich unser Nickerchen halten.«
»Dann findest du meinen Vorschlag also gut?«, erkundigte sich Gregor.
»Nein, keineswegs. Aber haben wir eine andere Wahl?«
***
Tatsächlich fanden die Pilger nur wenige Kilometer hinter der Stelle, wo der Bus beinahe von der Straße abgekommen wäre, einen Parkplatz, der sogar über ein Toilettenhäuschen verfügte.
»Hah!«, freute sich Gregor. »Die Zivilisation hat uns wieder. Endlich mal wieder ein richtiges Klo!«
»Freu dich bloß nicht zu früh«, mahnte Roland. »Ich kann mir irgendwie vorstellen, wie es dort drin aussieht. Da geh ich zum Kacken lieber in den Wald und pfeife auf den Sitzkomfort einer Porzellanschüssel.«
»Ist das eure einzige Sorge?« Martin blickte entgeistert drein.
»Ich will dir mal was sagen, mein Freund.« Roland sah den anderen leutselig an. »Ich dachte zwar, du seist inzwischen von alleine darauf gekommen, aber ich erkläre es die gerne auch ein wenig ausführlicher. Der Mensch braucht genau drei Dinge, um zu überleben: Nahrung, Wasser und einen trockenen, warmen Platz zum Schlafen. Alles, was darüber hinausgeht, ist Luxus. Gregor und ich reden also gerade über Luxus. Willst du uns dieses kleine Vergnügen jetzt auch noch nehmen?«
»Das meine ich doch gar nicht.« Auf Martins Stirn bildete sich eine Unmutsfalte. »Meinetwegen könnt ihr euch bis an den Sankt-Nimmerleinstag Scheißhausgeschichten erzählen. Aber hat einer der Herren vielleicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass sich dort vielleicht Knirscher ›niedergelassen‹ haben könnten?«
Statt einer Antwort wandte sich Roland den Kindern im hinteren Teil des Busses zu. »Tom?«
»Keine Knirscher im näheren Umkreis. Und ich müsste dann auch mal Pipi.«
»Tut, was ihr nicht lassen könnt.« Martin verdrehte schicksalsergeben die Augen. »Eine Welt, in der sich alles um Fäkalien dreht, welch ein erstrebenswerter Zustand!«
***
Nachdem die diversen körperlichen Bedürfnisse befriedigt waren, machten die Pilger es sich im Bus leidlich bequem. Als der letzte von draußen zurückgekehrt war, stellte Roland den Motor ab, um Treibstoff zu sparen. So gut es ging, mummelte sich jeder in eine Decke und rutschte so dicht wie möglich an seinen Nachbarn heran.
Es dauerte nicht lange, bis in dem Fahrzeug Stille einkehrte, die nur vom gleichmäßigen Atmen der Schläfer und gelegentlichen Schnarchern unterbrochen wurde. Immer wieder zappelte eines der Kinder im Traum, beruhigte sich dann aber schnell wieder, wenn es die Nähe eines Gefährten spürte.
Auf diese Weise vergingen fast fünf Stunden – ein sicheres Zeichen dafür, wie nötig alle den Schlaf gehabt hatten.
Martin wachte als erster auf. Gähnend rieb er sich den Schlaf aus den Augen. Sein Blick fiel nach draußen, und er war mit einem Mal hellwach.
Das Schneetreiben hatte aufgehört, und die weiße Pracht glitzerte in der Wintersonne wie in einem Werbeprospekt für Skiurlaub in den Alpen. Die Kraft der Sonnenstrahlen reichte sogar aus, um das Innere des Busses ein wenig zu wärmen, sodass es sich hier im Moment gut aushalten ließ.
Jetzt noch ein frisches Bad gefolgt von einem reichhaltigen und leckeren Essen, dann ist alles in Butter, ging es Martin durch den Kopf. Bei diesem Anblick könnte man fast vergessen, was mit dieser Welt nicht in Ordnung ist.
Ein Geräusch auf der anderen Seite des Ganges zog Martins Aufmerksamkeit auf sich.
Gregor erwachte ebenfalls und blinzelte. »Mann, ist das hell hier!« Er rieb sich noch eine Weile die Augen, dann starrte er mit offenem Mund nach draußen. »Geil!«
»Nicht so laut!«, flüsterte Martin. »Du weckst sonst die anderen.«
»Wenn gleich der Motor losrumpelt, werden die ohnehin wach«, gab Gregor gut gelaunt zurück. »Das da draußen ist so etwas wie Kaiserwetter, das müssen wir ausnutzen.« Sprach’s und begann, an der Schulter seines Freundes zu rütteln. »Los, Kutscher, erhebe er sich! Die Sonne scheint, wir können endlich weiter!«
Roland grunzte erst unwillig, sah dann jedoch ebenfalls hinaus. Mit einem Ruck setzte er sich kerzengerade auf. »Wieso habt ihr mich nicht früher geweckt? Wir müssen das schöne Wetter ausnutzen, und so weit nach Süden fahren, wie es irgend geht.«
»Witzbold.« Martin feixte. »Wir sind selbst gerade erst aufgewacht, wie hätten wir dich also früher wecken können, hm?«
»Stimmt.« Roland nickte. »Zimmerservice haben wir ja keinen an Bord. Also los, dann mal frisch voran! Gregor, es war eine gute Idee, hier ein Päuschen einzulegen. Ich fühle mich, als könnte ich Bäume ausreißen.«
***
Konzentriert aber dennoch entspannt so gut es ging, lenkte Roland den Bus über die verschneite Landstraße. Ein allzu hohes Tempo konnte er dabei nicht anschlagen, das verboten schon allein die Schneeketten. Außerdem musste er den Zustand der Straße genauestens im Auge behalten. Trotzdem kamen die Pilger im Vergleich zu den letzten Tagen gut voran.
»Ich hoffe, dieses Eden liegt direkt am Mittelmeer«, sinnierte Gregor. »Ein bisschen mediterranes Klima hat nämlich noch niemandem geschadet.«
»Du träumst wohl schon vom Dolce Vita in Bella Italia, wie?« Roland grinste. »Oder darf es gar Südfrankreich sein?«
»Die Details sind mir nicht so wichtig, Hauptsache aus dieser Kälte raus und mal wieder einen leckeren Vino.«
»Da sagst du was, mein Freund, da sagst du was …«
Eine Weile schwiegen die Männer. Jeder hing seinen Gedanken nach und malte sich Eden in den schönsten Farben aus.
Gregor schreckte aus seinen Träumereien auf, als Roland unvermittelt bremste. »Was ist?«
»Da vorne, das sieht nicht gut aus.« Roland brachte das Fahrzeug vollends zum Stehen und deutete etwa zehn Meter voraus auf die Straße. »Da kommen wir so nicht durch.«
Vor ihnen türmte sich der Schnee über einen Meter hoch auf. Da würde der Bus selbst mit Schneeketten nicht durchkommen, das Hindernis war einfach zu hoch.
»Dann müssen wir wohl schippen.« Gregor seufzte schicksalsergeben. »Zum Glück habe ich ein paar Spaten eingepackt. Wenn wir alle mit anfassen, sollte es kein allzu großes Problem sein.«
»Wie, schippen?« Martin sah den anderen verwundert an.
»Na, die Schneeverwehung wegschippen, damit wir weiterfahren können. Was denn sonst?«
»Ja, gute Frage«, stimmte Roland seinem Freund zu. »Was denn sonst? Die einzige Alternative ist umkehren, und das will, glaube ich, keiner von uns.«
Gregor blickte zu den Kindern, doch Martin schüttelte den Kopf. »Zu anstregend«, flüsterte er.
Gregor seufzte und holte die Spaten aus dem Stauraum des Busses hervor. Mit unglaublicher »Begeisterung« machten sich die drei Männer an die Arbeit. Zum Glück war der Schnee nicht gefroren, sodass es ihnen keine große Mühe bereitete, ihn zur Seite zu schaufeln.
Dann passierte es. Roland stach seinen Spaten mit Schwung in die weiße Masse, als dieser plötzlich auf etwas Hartes traf. Da Roland nicht mit Widerstand gerechnet hatte, wäre ihm das Werkzeug durch den Ruck beinahe aus der Hand gerutscht.
»Holla!«, machte er überrascht. »Was war denn das?«
»Das klang nicht gut«, sagte Gregor, und dunkle Wolken begannen, über sein eben noch entspanntes Gesicht zu ziehen. »Wenn es das ist, was ich glaube, dass es ist, dann haben wir ein Problem.«
»Von was redest du?« Martin sah ihn fragend an.
»Davon, dass das vermutlich keine einfache Schneeverwehung ist«, erklärte Roland, dessen Gesicht sich ebenfalls verfinsterte. »Wenn es dumm läuft, liegt unter dem Schneehaufen ein umgestürzter Baum, und für den haben wir kein passendes Werkzeug dabei, oder, Gregor?«
»Nein, haben wir nicht.« Der Angesprochene schüttelte bedauernd den Kopf. »Eine ordentliche Säge war in der Fahrbereitschaft des Bunkers nicht aufzutreiben, und die Feuerwehraxt mag für verklemmte Türen ganz prima sein, aber Bäume, deren Holz noch feucht und zäh ist, hackt man damit nicht durch. Einmal ganz davon abgesehen, dass wir den Stamm in mehrere kleine Stücke zerlegen müssten, weil sie sonst zu schwer sind, um sie von Hand zu bewegen.«
»Wollen wir nicht erst einmal nachschauen, ob es sich wirklich so verhält, wie ihr vermutet?« Martin schien nicht bereit zu sein, einfach aufzugeben.
»Klar machen wir das«, brummte Roland. »Alles andere wäre wohl auch ziemlich töricht. Aber wenn Gregor recht behält – und das tut er meistens –, dann ist unsere Fahrt in dieser Richtung zu Ende.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schippte der große Mann weiter. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein dicker Baumstamm zum Vorschein kam, der quer über der Straße lag.
»Sag ich doch«, knurrte Roland. »Gregor irrt sich bei so etwas äußerst selten.«
»Und wenn wir versuchen, das Ding mit dem Bus wegzuziehen?«, fragte Martin. »Vielleicht können wir den Baum so weit bewegen, dass wir daran vorbei kommen.«
»Das kannst du vergessen.« Gregor schüttelte entschieden den Kopf. »Alleine, um den Baum freizulegen, schippen wir garantiert mindestens noch einen halben Tag. Dann wird es so sein, dass er mit den Wurzeln auf der einen und mit der Krone auf der anderen Seite festhängt. Wenn wir da einfach so dran zerren, riskieren wir nur, dass irgendetwas kaputtgeht.«
»Außerdem reicht die Bodenhaftung bei Weitem nicht aus«, stimmte Roland seinem Freund zu. »Die Schneeketten sind zum Fahren zwar okay, aber für so eine Aktion ist das Ganze viel zu rutschig. Mit den Pneus direkt auf einer trockenen Straße hätten wir vielleicht eine Chance. Aber so?«
»Also doch umdrehen.« Martin hob schicksalsergeben die Arme. »Dabei hatte der Tag so gut angefangen …«
***
Roland ließ den Bus langsam rückwärtsfahren. An ein Umdrehen an der Stelle, wo der umgestürzte Baum lag, war nicht zu denken gewesen, also blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich im Schneckentempo den Weg zurückzutasten, den sie gekommen waren.
»Ich glaube, da vorne könnte es gehen!« Gregor kniete auf der hintersten Bank des Busses, starrte von dort auf die Straße und gab seinem Freund Anweisungen, damit dieser den Bus nicht versehentlich in den Graben lenkte. »Ein wenig links einschlagen, ein wenig mehr, jetzt wieder geradeaus. Ja, gut, noch ein Stück. Und anhalten!«
Gregor hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da wieselte er auch schon nach vorne. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass hier ein Feldweg abzweigt. Unter all dem Schnee ist es zwar kaum zu erkennen, trotzdem denke ich, dass es passen müsste.«
»Und auf dein Gefühl hin riskieren wir jetzt, den Bus in den Graben zu setzen?« Martin machte große Augen.
»Wo denkst du hin?« Gregor lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Natürlich überprüfen wir das zuerst, was hast du denn gedacht? Hier, dein Spaten.«
»Da hätte ich ja gleich zur Straßenmeisterei gehen können«, maulte Martin, beeilte sich dann aber, den Freunden nach draußen zu folgen.
»Versuch du an dieser Stelle dein Glück«, wies Gregor ihn an. »Roland schaut dort, ich da hinten.«
»Und was genau soll ich tun?«
»Einfach mit dem Spaten im Schnee stochern und schauen, ob hier ein Graben ist. Wenn wir das ein wenig systematisch machen, sehen wir gleich, ob Roland den Bus zum Umdrehen hier reinfahren kann.«
»Okay, verstanden.« Martin nickte.
Schweigend machten sich die drei Männer an die Arbeit.
Gut eine Viertelstunde später verkündete Gregor die frohe Kunde, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Hier zweigte tatsächlich ein befestigter Weg ab, und Roland konnte endlich den Bus wenden, um wieder vorwärts fahren zu können.
»Uff«, seufzte Martin, als sie wieder im Inneren des Fahrzeugs saßen und erneut mit akzeptabler Reisegeschwindigkeit unterwegs waren. »Oft möchte ich das nicht mehr machen müssen, das geht ganz schön auf die Knochen.«
»Körperliche Arbeit ist nicht so deins, was?« Gregor grinste ihn an. »Aber ich gebe zu, dass es auch für mich einen ganzen Stall voll Sachen gibt, die mir deutlich mehr Spaß machen, als im Schnee zu wühlen.«
»Ein Glück.« Martin grinste ebenfalls. »Ich war nämlich schon dabei, mir irgendwie blöd vorzukommen.«
***
An der nächsten größeren Kreuzung bog Roland links ab. Sie befanden sich immer noch in einer Region, zu der sie keine Straßenkarte besaßen, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er die richtige Entscheidung traf.
»Es können ja schließlich nicht alle Straßen durch umgestürzte Bäume blockiert sein«, gab sich Gregor zuversichtlich. »Das war früher auch die Ausnahme, warum sollte das jetzt anders sein?«
»Vielleicht, weil jetzt alles anders ist?«, unkte Martin. »Selbst das Wetter hat sich drastisch verändert, ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, die letzten Jahre irgendwann einmal so viel Schnee auf einem Haufen gesehen zu haben.«
»Strenge Winter hat es zu allen Zeiten gegeben.«
»Ja, vor allem in der Eiszeit, ich weiß.« Martin winkte ab. »Aber gut, ich will den Teufel nicht an die Wand malen. Hoffen wir einfach, dass wir auf dieser Straße weiter kommen als auf der letzten.«
Während Martin sprach, kam Tom nach vorne zu den Männern. Er stupste Roland vorsichtig an und sagte: »Roland, halt bitte an.«
»Warum? Musst du schon wieder Pipi?«
»Nein, das ist es nicht.« Tom presste kurz die Lippen aufeinander, bevor er weitersprach. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass es dort, wo die Straße hinführt, nur so von Knirschern wimmelt.«
»Was?« Rolands Augen wurden groß, während er gleichzeitig das Fahrzeug zum Stehen brachte. »Wie weit sind die noch von uns weg?«
»Das können wir nicht so genau sagen.« Tom machte eine entschuldigende Geste. »Einen Kilometer, vielleicht auch zwei.«
»Dann haben wir noch eine kleine Chance.«
»Was meinst du?« Martin wurde hellhörig. »Ich denke nicht, dass die Stinker uns schon bemerkt haben. Von was für einer Chance redest du also?«
»Davon, dass ich nicht schon wieder umkehren möchte.«
»Sondern?«
»Wir fahren vorsichtig weiter. Vielleicht haben wir Glück, und es gibt noch mal eine Abzweigung, die wir nehmen können, ohne zu dicht an die Zombies zu kommen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, nuschelte Gregor. »Oder wer auch immer sich dafür zuständig fühlt, seine Hand schützend über uns zu halten.«
***
Mit angespannter Miene stand Tom neben dem Fahrersitz und hielt sich mit einer Hand daran fest. So leise es mit einem Diesel möglich war, ließ Roland den Bus immer weiter nach vorne rollen, während Martin und Gregor nach einer Abzweigung Ausschau hielten.
»Immer noch nichts?«, fragte Roland nun bestimmt schon das zehnte Mal. »Da muss doch was kommen, das gibt es doch nicht!«
»Ich habe die Knirscher überdeutlich in meinem Kopf«, erklärte Tom. »Es müssen Hunderte sein.«
»Also kommen wir denen besser nicht zu nahe«, stellte Gregor fest. »Wie weit sind sie noch weg?«
»Das kann ich immer noch nicht genau sagen. Ich denke aber, dass wir jeden Moment den ersten von ihnen sehen müssten.«
Der Junge hatte noch nicht recht zu Ende gesprochen, als Roland einen Fluch zwischen den Zähnen zerbiss und das Fahrzeug anhielt.
Jetzt sahen es auch die anderen: Knapp einen Kilometer voraus befand sich die gesuchte Abzweigung. Genauer gesagt handelte es sich dabei um eine Kreuzung, über die ein schier endlos scheinender Strom von Zombies dahinwankte.
»Scheiße!« Gregor schüttelte ungläubig den Kopf. »Wo wollen die denn alle hin?«
»Südwesten«, knurrte Roland. »Sie gehen nach Südwesten, also genau dorthin, wo wir auch hinwollten.«
»Eden?« Martins Augen weiteten sich. »Meinst du, sie gehen ebenfalls nach Eden?«
»Vorhin sagtest du noch, dass du den Teufel nicht an die Wand malen willst«, erinnerte Gregor ihn an seine Worte. »Hat nicht lang gehalten, dieser Vorsatz, wie?«
»Aber was könnte denn sonst dahinterstecken?« Martin fuchtelte mit den Händen. »Bisher sind die Stinker doch überwiegend blöd in der Gegend herumgestanden, solange sie nichts zum Fressen gewittert haben, und auf einmal machen sie einen auf Zugvögel? Da steckt doch irgendwas dahinter!«
»Was auch immer das sein mag«, erwiderte Roland, »auf jeden Fall kommen wir hier nicht weiter.«
»Seht doch!«, rief Tom und deutete auf eine Stelle in der Zombiehorde, an der soeben Unruhe entstand.
Einer der Untoten war unvermittelt stehengeblieben, so als sei seine Batterie leer. Der Zombie, der direkt hinter ihm ging, stieß zuerst gegen seinen Artgenossen, dann schien er zu begreifen, was mit diesem los war und grub augenblicklich seine Zähne in dessen Fleisch.
Als sei das ein Startsignal gewesen, stürzten sich alle Zombies im näheren Umkreis auf den jetzt bewegungslosen, zerrissen ihn in Windeseile und schlangen das kalte Fleisch gierig hinab.
»Piranhas sind ein Scheiß gegen diese Brut!« Gregors Stimme war seine Abscheu mehr als deutlich anzuhören.
»Und der Strom will kein Ende nehmen.« Martin klang verzweifelt. »Und jetzt?«
»Umdrehen, was sonst?« Roland legte entschlossen den Rückwärtsgang ein. »Ich habe nämlich keine Lust, darauf zu warten, bis einer von denen mitbekommt, dass hier frisches Dosenfutter für sie steht.«
***
Gegen Abend war die Stimmung auch beim letzten der Pilger endgültig auf einem Tiefpunkt angelangt. Jeder weitere Weg, den sie genommen hatten, stellte sich am Ende als Sackgasse heraus. Entweder war die Straße blockiert, der Bus zu groß oder sie trafen erneut auf Zombies, die alle ebenfalls grob in Richtung Süden unterwegs waren.
»Lange geht das nicht mehr gut«, erklärte Roland mit Blick auf die Tankuhr. »Wir fahren wie die Bekloppten und kommen trotzdem nicht vom Fleck. Verdammter Bockmist!«
»Fahr dort vorne mal links«, schlug Gregor vor, dessen scharfe Augen erneut eine Abzweigung vor den anderen entdeckt hatten.
»Was soll das bringen? Bis jetzt mussten wir immer irgendwann umdrehen.«
»Kommt euch die Gegend nicht bekannt vor?«, wunderte sich Martin. »Ich meine, wir seien schon einmal hier gewesen.«
»Schwer zu sagen.« Gregor tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze. »Im verschneiten Zustand sieht doch eine Straße wie die nächste aus.«
»Also gut, dann eben links«, brummte Roland. »Ein Weg ist doch so gut oder schlecht wie der andere, wir können also nur gewinnen.«
Im Inneren des Busses kehrte erneut Schweigen ein, das nur vom tiefen Brummen des Motors unterlegt wurde. Mehrfach musste Roland sich zusammenreißen, um nicht am Steuer einzuschlafen.
»Und ich hatte doch recht!«, riss Martins Stimme ihn schließlich aus seinem Tran. »Hier waren wir schon einmal.«
Gregor horchte ebenfalls auf. »Willst du etwa sagen, wir seien im Kreis gefahren?«
In diesem Moment verließ der Bus das Waldstück, durch das sie bis eben gefahren waren, und vor den Pilgern lag eine kleine Ortschaft.
»Scheiße, er hat recht!« Roland wurde bleich. »Wenn das nicht Ginkenbach ist, fress’ ich ’nen Besen.«
»Toll!« Gregor war mehr als deutlich anzuhören, dass er das genaue Gegenteil meinte. »Und was machen wir jetzt? Die letzten Tage waren somit wohl voll für’n Arsch.«
»Ja, in der Tat. Scheiße!« Roland hieb nun doch mit der Faust aufs Lenkrad, dann hellte sich seine Miene aber überraschend auf. »Vielleicht doch nicht! Man könnte es auch als einen Wink des Schicksals betrachten.«
»Das uns was damit sagen will?« Gregor glotzte seinen Freund leicht dümmlich an. »Am besten ist es nur daheim, oder so?«
»So ähnlich.« Roland nickte bedächtig. »Fassen wir mal zusammen: Im Moment ist einfach kein Durchkommen, zumindest nicht mit so einem Ungetüm wie diesem Bus. Also ist es wohl das Beste, hier zumindest so lange zu warten, bis sich der Schnee halbwegs zurückgezogen hat. Vielleicht schaffen wir es ja auch irgendwie, an geländegängige Fahrzeuge zu kommen. Aber wie auch immer, wir sind alle am Ende unserer Kräfte, wir müssen unseren Versuch, Eden auf diesem Weg zu erreichen, erst einmal als gescheitert betrachten.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, stellte Gregor mit Entschlossenheit fest. »Ich denke, du hast recht. Martin, wie siehst du das?«
»Es wird wohl wirklich das Beste sein, ja. Nachdem es in Ginkenbach keine Knirscher mehr gibt, sind wir hier einigermaßen sicher. Lasst uns wieder dieses Gemeindehaus beziehen, das war bereits das letzte Mal nicht die schlechteste Lösung.«
Wie schon einige Tage zuvor parkte Roland den Bus mitten auf dem Marktplatz. Ein Knöllchen würde er dafür sicher nicht bekommen, und falls je doch, zog er ernsthaft in Erwägung, es einfach nicht zu bezahlen.
Das Gemeindezentrum präsentierte sich noch im gleichen Zustand, in dem die Pilger es zurückgelassen hatten. Rasch brachten sie alles an Decken und Nahrung aus dem Bus ins Innere des Gebäudes, dann verrammelte Gregor die Tür. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, alles Weitere musste bis morgen warten.
***
Am nächsten Tag überraschte der Wettergott die Pilger erneut mit strahlendem Sonnenschein. Hoffnung darauf, dass der Schnee rasch schmelzen würde, bestand trotzdem keine, denn es war bitterkalt.
So warm wie möglich eingepackt durchstreiften die drei Männer die Ortschaft auf der Suche nach Brauchbarem. Sie hatten sich aufgeteilt, und jeder von ihnen befand sich in Begleitung zweier Kinder, damit sie nicht von Untoten überrascht werden konnten. Es war nämlich nicht auszuschließen, dass eine Gruppe der »Zugvögel« auf ihrem Marsch auch durch Ginkenbach kommen würde.
Immer wieder stießen sie dabei auf Heizmaterial, Konserven, Decken oder Kleidungsstücke. Alles, was noch halbwegs tauglich war, brachten sie in das Gemeindehaus und lagerten es ordentlich sortiert im dortigen Keller ein.
Dann machte Roland eine Entdeckung, die den Pilgern wieder neue Hoffnung gab. In einem der Häuser am Ortsrand fand er mehrere Funkgeräte, die von Batterien und dem Stromnetz unabhängig waren. Stattdessen verfügten sie über Solarzellen oder Kurbeln, mit denen ihr Akku aufgeladen werden konnte. Die Geräte mochten vielleicht nicht sonderlich leistungsfähig sein, dafür waren sie mobil und ermöglichten es den Pilgern, untereinander in Verbindung zu bleiben, auch wenn sie sich nicht in Sicht- oder Rufweite befanden.
»Super Sache!«, meinte Gregor strahlend, nachdem er und Roland die Funkgeräte getestet und die anderen in ihre Bedienung eingewiesen hatten. »Ein Hoch auf den Amateurfunker, der da seinen Basteltrieb ausgelebt hat. Auf diese Weise sollte es kein Problem mehr sein, es bis zum Frühjahr hier auszuhalten, ohne den Verstand zu verlieren. Mit ein wenig Vorbereitung können wir damit auch im nahen Wald jagen gehen, damit endlich auch mal wieder etwas anderes als der ewige Dosenfraß auf den Tisch kommt.«
»Solange keiner von uns dabei unfreiwillig zum Snack wird, ist alles in Ordnung«, witzelte Martin. »In diesem Sinne also: Horrido!«