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Ruud van der Boek umgreift mit festem Griff das Lenkrad seines geliebten silbergrauen Lieferwagens. Er hatte ihm bereits häufig gute Dienste geleistet. Egal bei welchem Wetter und auf welchen Straßen. Immerzu brachte er ihm Glück und er war stets angekommen, wohin er auch gerade fuhr. Auch heute hofft er auf seinen Transporter, während außerhalb des Fahrzeugs ein Orkan die Fichtenwälder entlang der Landstraße zum Biegen bringt. Dessen Böen lehnen sich immer wieder gegen den Wagen. Dicke Tropfen prasseln auf die Scheiben nieder, während die Scheibenwischer quietschend versuchen, das gesammelte Wasser beiseite zu wischen.

Das Pfeifen der Waldgeister dröhnt in Ruuds Ohren, während er konzentriert auf die vom Regen überspülte Straße blickt. Hier kennt er jede Kurve, hier kann ihn nichts überraschen, denn er nimmt immer genau diesen Weg, immer dieselbe Route, immer im Schutze der Nacht.

Die Glut seiner Zigarette saugt sich ihren Weg zum Filter, während ihr Rauch in Ruuds Augen brennt. Der Gilb setzt sich in seinem schütteren, grau melierten Schnurrbart ab.

Die in der Lüftung tanzende Asche legt sich auf dem bedeckten Armaturenbrett nieder und paart sich dort mit dem Staub der letzten Fahrten.

Nach einem tiefen Zug drückt Ruud die Zigarette in den überfüllten Aschenbecher und greift nervös nach seinem Handy in der Hemdtasche.

Ein kurzer Blick reicht, um zu sehen, dass er bislang keine Nachricht erhalten hat, die ihn zum Umkehren bringen würde.

Leichte Zweige werden über die Straße geweht, während er das Telefon in die Ablage der Mittelkonsole legt. Dorthin, wo er ein Aufleuchten schnell mitbekommt, auch wenn das Klingeln im Rauschen der Wälder untergehen würde.

Im aufgedrehten Radio läuft deutsche Popmusik, irgendeiner von den immer gleich klingenden deutschen Singersongwritern, die Ruud nicht auseinanderhalten kann. Er ist kein Freund von deutschem Radio, lieber hört er die internationale Rockmusik, die er früher noch in seinem Club aufgelegt hatte. Doch er braucht das deutsche Radio, denn gerade bei einem solchen Sturm muss er den Verkehrsfunk hören.

Jeder Umweg würde seine Fahrt und ihn selbst gefährden. Das kann er sich nicht erlauben, viel zu viel hängt an seiner Verlässlichkeit, die so selten geworden ist in diesem Geschäft.

Das Ruckeln der Räder sticht immer wieder in seinen schmerzenden Rücken, doch an eine Rast ist nicht zu denken. Nicht hier in diesem Bereich und auch nicht innerhalb der nächsten drei Stunden. Das schlechte Wetter hat ihn bereits Zeit gekostet, die er auch nicht mehr aufholen würde. Wenigstens braucht er sich nicht an Lenkzeiten zu halten wie die Lasterfahrer. Er kann immer fahren und so lange wie er will. Genug Arbeit gibt es zum Glück auch für ihn. Er könnte jeden Tag fahren, aber dafür fühlt er sich mit Ende Fünfzig zu alt. Mehr als drei Mal die Woche will er nicht mehr unterwegs sein und sonntags fährt er generell nicht.

Auch wenn die Schulden aus der Pleite seines Clubs drängen, was sollte man ihm schon antun. Zumindest solange er verlässlich seine Arbeit erledigt, würde man ihm sein Bemühen anerkennen. Immerhin dürfte er seine Schulden schon erheblich getilgt haben in den letzten Monaten. Zumindest hofft er es, denn einen richtigen Überblick hat er nicht mehr. Zu unklar sind die Ansprüche seiner Geldgeber, die ihm im rechten Moment zur Seite standen, als die Banken nur noch die Insolvenz für ihn und seinen Club sahen. Den Club musste er am Ende doch aufgeben. Seine Geldgeber übernahmen die Konzession und erließen ihm einen Teil seiner Schulden. Den Job als Fahrer boten sie ihm ebenfalls an, um die Schulden tilgen zu können. In seinem Club sollte er nicht mehr arbeiten. Das Publikum hatte sich nach dem erfolgten Umbau wesentlich geändert. Die Leute waren jünger geworden, aggressiver, Ruuds Stammgäste blieben fern, es war nicht mehr der richtige Ort für ihn gewesen. Auch wenn die Zinsen und Schulden bei den Leuten hoch blieben, irgendwann werden sie getilgt sein und dann würde er sich noch einmal mit einem kleinen Bistro oder Kiosk versuchen. Nichts für Reichtümer, aber das will er auch gar nicht mehr. Einfach selbstständig seinen Lebensunterhalt verdienen können und niemandem mehr Rechenschaft schuldig sein. Diesem ständigen Druck weichen, nichts mehr tun müssen, was man nicht will, sondern nur von dem leben, was am Abend in der Kasse ist und nie wieder Schulden machen. Einen Fehler darf man immer nur einmal machen, das hatte sein Vater ihm schon immer eingetrichtert und diesem Ziel will er in Zukunft Folge leisten.

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«Am besten Sie suchen sich ein schönes Hobby und genießen ihre arbeitsfreie Zeit. Machen Sie doch mal eine schöne Reise, Herr Dehling.» Die Schlussworte der Rede der jungen Kriminaldirektorin, die auf dem Fest erschien, ohne hierzu eingeladen gewesen zu sein, klingen Gerhard Sehling, den alle nur Gerd nennen, noch immer in den Ohren.

Die Feier war eigentlich so gelaufen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Diejenigen, die er bei seiner Feier zur verdienten Pensionierung bei sich haben wollte, die waren eingeladen und auch in seinem Dorf kurz vor Hamburg erschienen. Dazu gehört Frau Baake mit Sicherheit nicht. Das schien die Dame des höheren Dienstes jedoch nicht davon abzuhalten, in ihrem viel zu großen Hosenanzug zu erscheinen und sich dann noch in den Mittelpunkt seiner eigenen Feier zu stellen. Hätte sie sich wenigstens mal vor oder nach ihrer geschwollenen Rede zur Mannschaft gesetzt und sich mal gehörig einen hinter ihre breit gebundene Krawatte gegossen. Aber stattdessen dackelte sie nach einem kräftigen Händedruck wieder davon und ließ Gerd in seinem Groll zurück. Nicht nur, dass sie seine zweite freiwillige Verlängerung der Dienstzeit ablehnt hatte, um «jüngeren, hungrigen Kollegen» den Weg freizumachen. Nun erschien sie auch noch auf seinem eigenen Stück Land, um ihm die Urkunde des Abschieds in die Hand zu drücken und so das Ende von fünfundvierzig gelebten und geliebten Dienstjahren zu besiegeln.

Die ehemaligen Kollegen verhalfen ihm wenigstens ein bisschen zur Aufheiterung. Sie, die ihm alle am Herzen liegen, hatten ihm aus Schnapsgläsern eine Harley-Davidson gebastelt, den Tank mit Währungen aus aller Welt gefüllt und einen guten Tropfen für einsame Stunden aus einer österreichischen Destillerie als Zylinder in das Gebilde integriert. Sie wissen ihn zu nehmen, wie er ist und kennen seine Vorlieben. Ein wenig ruppig ist er, gerade wenn es mal wieder nicht so läuft, wie er es sich vorstellt, aber immer mit dem Herz am rechten Fleck. Ein Typ halt, den man in so einer verrückten Truppe brauchte, um die jungen und wilden Nachwuchsfahnder zusammenzuhalten und ihnen die alten Werte nahezubringen, damit der ganze Laden läuft. Gerd ist nicht mehr der Schnellste, weder im Kopf, noch auf den Beinen, aber er war immer mit Leib und Seele für jeden da, der ihn brauchte und stand mit seiner Erfahrung stets dort, wo er gebraucht wurde.

Zwei Tage lang hatte Gerd seinen Garten geschmückt mit Dekoration, die ihm Dörte, seine Ehefrau, besorgt hatte. Er hatte das Essen vorbereitet, Getränke herangeschafft und die Biergarnitur der Freiwilligen Feuerwehr aufgebaut. Es waren 60 geladene Gäste, die ihm zugesagt hatten. Alte und aktuelle Wegbegleiter, längst pensionierte Ausbilder, Vorgesetzte und liebgewonnene Auszubildende, die zum Teil schon selbst im mittleren Alter angelangt sind. Und zuletzt dann wider Erwarten der Drachen der Abteilung, bei dem jeder Mitarbeiter eine Nummer ist, die es nach Leistungsbereitschaft auszutauschen gilt.

Am liebsten hätte er sie in den Boden gerammt. Doch er ist ruhiger geworden in seinen letzten Jahren. So machte sie sich nach ihrer undurchdachten und unpersönlichen Pensionsrede, die sie auch auf jeder anderen Feier hätte halten können, unbeschadet von dannen, während Gerd ihr zähneknirschend nachblickte. Zischend murmelte er dabei «Ich heiße Sehling, merken Sie sich das!», in seinen struppigen Bart.

Nachdem Direktorin Baake das Gelände verlassen hatte, kam die Stimmung der Gäste wieder aus dem Froster. Die Feier nahm wieder Fahrt auf und ging bei Livemusik der "Drug Inspectors" mit Discofox auf der großen Holzterrasse bis in die späte Nacht.

Inzwischen sitzt Gerd alleine in seinem Partykeller. Draußen zieht von Westen her ein Unwetter auf. Die letzten Gäste hatten ihm noch schnell beim Aufräumen geholfen, bevor sie sich auf ihre mitgebrachten Luftmatratzen fallen ließen oder sich in ihre Wohnmobile zurückzogen.

Alleine sitzt er nun auf seinem Fernsehsessel mit dem guten Tropfen für einsame Stunden, den er immer wieder in ein kleines Schnapsglas füllt und mit leichtem Schnalzen die Kehle hinab brennen lässt.

Neben der Flasche auf dem antiken Edelholztisch liegt seine Pensionsurkunde und sein verloren gemeldeter Dienstausweis, den er beim besten Willen nicht hätte abgeben können.

Schon bei seinen übrigen Ausrüstungsgegenständen tat er sich schwer, verteilte sie der Tradition entsprechend an geschätzte Kollegen, aber sein letztes Stück Polizei wollte er nicht verlieren. Und wem sollte er schon damit schaden. Mit der Verlustmeldung wurden der Chipkarte sämtliche Berechtigungen entzogen. Sie war nicht mehr als eine weiße Telefonkarte mit Polizeiaufdruck, seinem Foto, Namen und seinem Dienstgrad des Kriminalhauptkommissars. Nicht einmal zum Telefonieren in einer Telefonzelle hätte man die Karte noch gebrauchen können. Es war nicht mehr als eine Erinnerung, ein Andenken an die alten Zeiten, die so nicht wiederkehren würden.

«Allein' trink'n mach'einsam, Gerd», hört er seine traurige raue Stimme zu sich selbst sagen. Er füllt das Glas wieder und betrachtet sich dabei im Johnny Walker-Spiegel an der mit Holzplanken vertäfelten Kellerwand. Er schaut sich in die kleinen Augen, die direkt an der großen knolligen Nase ansetzen. Seine halblangen Haare sind zurückgekämmt. Der Bart kaschiert den leichten Doppelkinnansatz und lässt ihn jünger wirken, als er ist.

«Alt biss'u gewodden, mien Jung', such Dir mal 'n Hobby, dass 'ich jung hält», ruft er, prostet seinem eigenen Antlitz zu. Er kippt das letzte Glas des Abends in sich hinein, bevor er in die weichen Polster des Sessels fällt und seine verquollenen Augen schließt.

3

Schummriges Licht fällt auf die Tische des Café International e.V. in der Wilstorfer Straße in Hamburg-Harburg. Trotz später Stunde in der Nacht ist das Café noch gut besucht. Südländische Männer sitzen auf einfachen Holzstühlen an mehreren im Café verteilten Tischen. Manche trinken miteinander Tee, sprechen über Politik, Alltag und Geschäfte, andere spielen Karten oder mit dominoähnlichen Steinchen.

An jedem Tisch wird geraucht, der Qualm steht in der Luft und verschleiert zusätzlich den spärlich beleuchteten Raum. Die Luft atmet sich schwer und stickig. Ein wenig Licht fällt von den Straßenlaternen der gut befahrenen Straße durch die großflächig mit Milchglasfolie beklebten Fensterscheiben. Doch es verleiht dem Raum kaum mehr Freundlichkeit. Ebenso wenig wie die bunt blinkenden Spielautomaten im hinteren Bereich, wo stets jemand sitzt, von ungeahnten Gewinnsummen träumend sein letztes Geld verspielt.

Vor dem Café parken mehrere hochmotorisierte Luxuswagen auf dem Gehweg, doch ein Ticket wegen falschen Parkens, hatte hier schon lange niemand mehr erhalten.

Ein älterer Kurde bedient die Kundschaft, soweit er nicht gerade anders beschäftigt ist. Es springen ihm offenbar zugehörige Personen zur Seite und bedienen die Anwesenden.

Gelegentlich betreten kleine Gruppen hintere Räumlichkeiten. Einzelne verlassen die Lokalität kurzzeitig, um sich dann wieder mit Anderen an einen Tisch zu setzen.

Es wird überwiegend lautstark und gestenreich kommuniziert, manchmal aber auch wortkarg und leise, fast flüsternd.

Es ist Türkisch, Kurdisch und Albanisch zu hören, gelegentlich wird auch untereinander in gebrochenem Deutsch gesprochen.

Personen, die den Laden betreten, werden beobachtet, begutachtet und verlieren sogleich wieder die Aufmerksamkeit, sobald sie der Kundschaft zugerechnet werden. Einige Wenige, die sich hier eher zufällig hin verirren, werden freundlich rauskomplimentiert und an passendere Lokalitäten verwiesen.

Die Geräusche der verschiedenen Sprachen und die Lautstärke ihrer Redner, die klimpernden Teetassen, die ratschenden Karten und klackernden Spielsteine gepaart mit der düsteren Beleuchtung geben dem Café seine Atmosphäre. In jeder Ecke sitzen Männer, die hierhergehören und hier sein wollen, jeder aus eigenen Gründen.

An einem der Tische sitzen Cemal und Faruk. Sie sind heute einfach nur hier. Sie spielen keine Karten oder trinken Tee, lachen oder diskutieren. Sie sitzen beharrlich auf ihren Stühlen und schauen durch den Raum. Gelegentlich zündet sich einer von ihnen eine Zigarette an und bläst den Rauch durch Nase und Mund in den vor ihnen wabernden, dunstigen Schleier. Sie sitzen alleine an ihrem Tisch. Niemand setzt sich einfach zu ihnen, ohne hierzu aufgefordert zu werden. Beide wirken innerlich angespannt, trotz der zur Schau gestellten Ruhe.

Während Faruk ungläubig Perle für Perle an seiner Gebetskette weiter schiebt und einen Zahnstocher zwischen seinen Backenzähnen zerkaut, schaut und schreibt Cemal immer wieder auf seinem dunklen Smartphone, welches er im Anschluss sofort wieder im Innern seiner Jackentasche verschwinden lässt.

Faruk sucht nach jeder Nachricht den kurzen Blickkontakt zu Cemal. Dann fährt er sich wieder mit der verbleibenden Hand durch die langen nach hinten gegelten Haare. Anschließend streicht er den Vollbart von der Wange bis zum Kinn, wo er mehrfach den Bart in die Länge zieht und zwischen den Fingern zwirbelt.

Cemal bleibt ruhig sitzen, scheint seine Aufmerksamkeit zu bündeln und zeigt keinerlei Reaktion. Die breiten Augenbrauen unter der blanken Glatze verleihen seinen dunklen Augen etwas gewollt Düsteres. Daran ändert auch das weiße Hemd nichts, welches er unter seiner dunklen Lederjacke trägt.

Erneut vibriert das Smartphone in seiner Jacke. Er nimmt es aus der Tasche und liest die erhaltene Nachricht, nachdem er das gewohnte Passwort in die digitale Tastatur eingegeben hat. Seine Augen flackern über den Bildschirm, während sich in seinem Gesicht keinerlei Mimik abzeichnet. Er blickt einmal zu Faruk, seine Augen verengen sich unmerklich und er beginnt wieder auf der Tastatur zu schreiben.

Faruk steckt seine Kette in die Hose, nimmt seine glimmende Zigarette zwischen die trockenen Lippen, streicht sich mit beiden Händen über den Bart und zwirbelt die Spitze, während er sich langsam von seinem Stuhl erhebt und in Richtung Ausgang schlendert. Die goldene Panzerkette um seinen Hals schlägt von links nach rechts, während sie immer wieder unter der leicht geöffneten roten Trainingsjacke aufblitzt. Seine rote Hose fällt leicht auf die teuren, hellen Sneaker, die mit jedem Schritt auf dem klebrigen Boden schnalzen.

Im Gang befindliche Personen weichen ohne ihn anzublicken spürbar zur Seite. Er selber schenkt niemanden Beachtung und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Er passiert die geöffnete Tür und bewegt sich aufreizend langsam zu seiner vor der Tür stehenden matt-schwarzen Limousine. Mehrfach blickt er die Straße entlang, doch in der Stille der Nacht hatte sich der Verkehr bereits eingestellt. Keinerlei Fahrzeuge passierten den dunklen Asphalt. Seine Zentralverriegelung blinkt auf, während er noch einmal einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nimmt. Er blickt zu den umliegenden Parkbuchten, doch in der unmittelbaren Nähe parken nur ihm bekannte Fahrzeuge. Den Rest der Zigarette schnippt er auf die Fahrbahn, während er gemächlich mit der anderen Hand die Fahrertür öffnet. Er hält die Tür an der Scheibe fest, atmet den Rauch aus und lässt sich in seinen hellen Ledersitz fallen. Nachdem er die Zündung betätigt, ertönt deutsche Rapmusik mit tiefen Bässen aus seinen Boxen. Mit aufheulendem Motor fährt er in Richtung Wilstorf davon und taucht in das Dunkel der Nacht.

4

Auf dem Nachttisch beginnt das Diensthandy kurzzeitig zu vibrieren und hierzu erklingt ein bewundernder Pfiff aus dessen Lautsprecher. Auf dem Display blinkt fortan kaum merklich ein blaues LED als Zeichen der erhaltenen SMS-Nachricht.

Tim Dombrowski zeigt keinerlei Regung auf das pfeifende Geräusch. Sein Kopf liegt direkt auf der Matratze und drückt die vom Dreitagebart gezierte Wange in Richtung Nase, während das Kopfkissen unter dem Bauch liegt und den Hintern gen Decke schiebt. Sein Mund ist leicht geöffnet und präsentiert die leicht schiefen, aber dennoch gepflegten Schneidezähne.

Der draußen aufkommende Orkan pfeift durch den Schornstein und Regen prasselt immer stärker gegen die Fensterscheiben.

Wieder ertönt das Pfeifen des Handys und das surrende Geräusch der Vibration.

Es ist noch immer dunkel im Zimmer. Beim zweiten Pfeifen öffnet Dombrowski kurzzeitig die Augen. Das rote Licht des Radioweckers erscheint verschwommen vor den müden Augen des Kriminalkommissars. Diese schließen sich sogleich wieder, ohne Erkennbares registriert zu haben.

Erneut pfeift und brummt das Handy und Dombrowski öffnet kurzweilig das rechte Auge, welches von den davor fallenden Haaren verdeckt wird, so dass er auch das zweite Auge öffnet, um den Grund der Störung zu lokalisieren. Der Blick auf den Radiowecker klärt sich und dieser zeigt 04:52 Uhr. Dombrowski sieht keinerlei Grund sich um diese Zeit aus dem Bett zu bewegen und schließt erneut die Augen.

Das Bier von Gerds Pensionsfeier zeigt noch leichte Nachwirkung beim aufwachenden Verstand, der sich zunehmend den Grund der Störung erarbeitet. Hatte er sich nicht wegen einer Rufbereitschaft nach Hause bringen lassen?

Noch vor dem nächsten Pfeifen drückt sich Dombrowski ruckartig aus der waagerechten und ergreift mit der zweiten Hand das leuchtende Diensthandy, dessen Klingelton er nun trotz kurzer Nachtruhe und dezentem Kater zuordnen kann.

Wenn es sich um diese Zeit meldet, dann kann es sich nur um etwas Wichtiges handeln.

Mehrfach reibt er sich die Augen, um den erhaltenen Text endlich entziffern zu können. Als die verschwommenen Wörter eine Einheit bilden, wird ihm die Bedeutung sofort klar. Er schwingt die Füße aus dem Bett und läuft mit dem Handy zunächst ins Badezimmer, wo er sich mit kaltem Wasser die restliche Müdigkeit aus dem Gesicht spült.

Adrenalin macht sich in seinem Körper breit und während er schnellstmöglich seine Zähne putzt, sucht er in seinen Kontaktdaten nach der Rufnummer von seinem Observationsgruppenführer und wählt diesen an.

Auf Lautsprecher hört er das Klingelzeichen und spült sich zugleich den weißen Schaum aus dem Mund.

Immer wieder klingelt es, bis letztendlich abgenommen wird.

«Dumbo, watt willst Du?», tönt es aus der Leitung.

«Fred, er ist da! Er kommt! Wach auf und ruf die Anderen an. Ich melde mich in 15 Minuten mit Näherem», antwortet Dombrowski mit immer schneller werdenden Worten und Nachdruck in der Stimme, der kaum eine Widerrede zu dulden scheint.

«Hab's verstanden. Aber gib mir bitte 30 Minuten. Ich versuche alles, aber ich kann nichts versprechen. Ich melde mich bei Dir», zeigt sich Fred einsichtig.

Dombrowski springt unter die kalte Dusche, um auch die letzten ruhenden Zellen zu reaktivieren, rubbelt sich gleich wieder trocken und läuft ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank.

Auf dem Weg dorthin startet er schon einmal das Dienstlaptop, welches ohnehin ein paar Minuten zum Hochfahren der Systeme benötigt.

Mit Jeans und T-Shirt bekleidet sowie einem Sockenknäuel in der Hand begibt er sich zu seinem Küchentisch, wo er das startende Laptop kurzzeitig betrachtet. Es lässt ihm offenbar noch ausreichend Zeit, um sich ein Müsli zuzubereiten und einen Kakao anzurühren.

Eigentlich wäre wohl ein starker Kaffee zur Erweckung der Lebensgeister angebracht, jedoch konnte Dombrowski sich noch nie für das dunkle Heißgetränk erwärmen.

Die Außenrollos klappern im Sturm, während die Eingangsmelodie zum Betriebssystem blechern aus den Lautsprechern des Notebooks ertönt. Dombrowski setzt sich an den Küchentisch und aktiviert einen verschlüsselten Kanal über den er sich ins Polizeinetz einwählen kann.

Er öffnet das Programm mit dem er die Telefone überwacht und wählt die Rufnummer aus, dessen Alarmierung seine Nachtruhe vor kurzem beendet hatte. «Bist Du also endlich nach Deutschland eingereist. Mal schauen wo Du bist», spricht Dombrowski zu sich selbst, während er in dem Programm herumklickt.

Ein roter, sich fortbewegender Kreis erscheint auf dem Display, der sich erstmalig an diesem Tag um 04:42 Uhr auf der A280 kurz vor Bunde an der deutsch-niederländischen Grenze eingewählt hat.

«Noch zweieinhalb Stunden, mein Freund, dann haben wir dich.» Dombrowski grinst und nimmt einen genüsslichen Schluck aus seiner Becher.

5

Der silberne Transporter von Ruud van der Boek fährt inzwischen auf der Autobahn zwischen Oldenburg und Bremen und hat den grenznahen Bereich verlassen. An der Autobahn wechseln sich die vielen braunen Äcker, auf denen sich im Sommer immer endlos gelbe Rapsfelder befinden, kurzzeitig mit grauen Industriegebieten ab. Der Verkehr ist noch sehr überschaubar. Wenige Lastkraftwagen befinden sich bereits wieder auf dem Weg zu ihrem Ziel. Gelegentlich zischen Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit, trotz der widrigen Umstände, auf der linken Fahrbahn der zweispurigen Autobahn an Ruud vorbei. Die meisten scheinen jedoch, das schlechte Wetter zu meiden und sich noch nicht auf die Schnellstraße zu begeben.

Ruud versucht, sich gerade Kaffee aus seiner silbernen Thermoskanne in einen großen Pappbecher zu gießen, der perfekt in den Getränkehalter seines Transporters passt.

Aus seinem Rucksack zieht er zusätzlich eine Tüte mit zwei backfrischen Buttercroissants heraus, die er vor jeder Fahrt bei seinem Kumpel Luuk an der Hintertür von dessen Bäckerei in Groningen rausholt. Ruud liebt es, ein Frühstück einzunehmen, sobald er auf der deutschen Autobahn angekommen ist. Mit ruhiger Geschwindigkeit begibt er sich dann auf den rechten Fahrstreifen, trinkt seinen zu Hause noch selbst gebrauten Kaffee aus Guatemala und reißt sich Stück für Stück vom Croissant ab.

Hierbei gerät er nie in Eile, denn er weiß um die bevorstehenden zweieinhalb Stunden Restzeit, die es noch mit Unterhaltung zu füllen gilt. Er hatte es ab diesem Zeitpunkt auch mal mit Hörbüchern versucht, aber das stört seine Konzentration zu sehr und macht ihn deutlich nervöser, als dass es die Aufregung vertreibt. Während sich die ersten Krümel des Croissants in seinem Schnurrbart verfangen, greift Ruud zu seinem einfachen Tastentelefon und schreibt eine Nachricht an den darin abgespeicherten Kontakt "Aaa" mit dem Inhalt "2,5h".

Er legt das Telefon wieder zurück und trinkt einen kurzen Schluck Kaffee, der ihm noch ein wenig zu heiß ist, schaut in den Spiegel und lächelt sich selbst zufrieden zu.

Zum vollendeten Glück fehlt ihm nur noch der Sonnenaufgang im Osten, der den Himmel über dem flachen, grünen Niedersachsen bis zum Horizont in die schönsten orange-roten Töne taucht. Vor allem, wenn leichte Wolken am Himmel stehen und sich von weiß in zartes rosa färben, dann fühlt er sich dem Paradies näher denn je.

Heute soll ihm der Sonnenaufgang jedoch nicht vergönnt sein. Mit peitschenden Hieben schlagen die Böen mit Regenwasser gegen seine Frontscheibe. Der Wind drückt auch weiterhin gegen seinen großflächigen Transporter, so dass er sich voll auf die Fahrt konzentrieren muss und das Frühstück eher nebenbei einnimmt.

Zusätzlich brummt und piept nun sein Handy in der Ablage. Ruud überlegt kurz, erst nach seiner Frühstückszeremonie nachzuschauen, aber er zögert lieber nicht.

Aaa hat ihm "ok" geschrieben. Mehr braucht es in diesem Moment auch nicht und so legt er das Handy zurück an seinen Platz, schnippt die Krümel von seiner hellen Discounterjeans und beißt herzhaft ins Croissant, so dass die nächsten Krümel fliegen.

Zufrieden schaut er auf den dunklen Asphalt, denn trotz des Wetters bleibt Ruud zuverlässig wie gewohnt.

Gedankenverloren träumt er von seiner ruhigen Zukunft in Ruud's Bistro, trinkt seinen geliebten Kaffee und isst genüsslich seine Croissants. Hierbei vernimmt er nicht die im Radio gemeldeten aktuellen Verkehrsmeldungen für den Großraum Hamburg.

6

Mitten in Dalldorf kurz vor Hamburg steht ein weißes Haus, mit einem großen Garten, in dem bis in die Nacht noch gefeiert wurde. Inzwischen hat der Sturm mit Regen das Sagen übernommen. In den Straßen des kleinen Dorfes, in dem sich ein jeder kennt, ist kein Mensch zu solch früher Uhrzeit unterwegs.

Vor dem Haus stehen drei Wohnmobile, die im Wind geschaukelt werden. Die mühsam aufgehängte Dekoration der Feier fliegt über die Straße und verfängt sich in den gepflegten Hecken und Gärten der Umgebung. Der im Boden verankerte Pavillon kämpft mit aller Kraft gegen den Wind und kann sich bislang dessen erwehren.

Über eine kleine Treppe gelangt man aus dem Vorgarten in das Haus, aus dessen gefliesten Flur eine Steintreppe in den Keller führt. An den Wänden des Treppenhauses hängen auf Leinwand gedruckte Fotos von Nordlichtern und verschneiten Landschaften. Im Keller angekommen beginnen großflächige, graue Steinfliesen, die dem Keller ein edles Ambiente verleihen. An der Wand befinden sich Plaketten und Abzeichen verschiedener Polizeidienststellen sowie mehrere Filmplakate von Filmklassikern. Durch eine Holztür gelangt man in den größten Raum des Kellers, in dem sich der Steinboden fortsetzt. Der Raum teilt sich auf in einen Schankbereich mit Tresen, drei Barhockern, einem großen, amerikanischen Kühlschrank mit Eiswürfelspender sowie einer bunten Jukebox mit alten Schallplatten der 60er- und 70er-Jahre. Auf der anderen Seite befindet sich ein gemütlicher Fernsehbereich mit Couch, Sessel, einem großen Fernseher sowie einem Hochflorteppich zwischen den Möbeln.

Laut schnarchend liegt Gerd noch immer in seinem Fernsehsessel. Er hält das Schnapsglas des letzten Schluckes in der Hand, zumindest liegt es noch auf seiner Handfläche. Gelegentlich läuft ein Tropfen Amarillenschnaps aus dem Glas über seine kräftigen Finger und fällt von der Spitze des kleinen Fingers auf das blaue Velours des Sessels.

Durch den Sturm ist es draußen erheblich abgekühlt, was sich auch auf den Keller niederschlägt, dessen Fenster auf Kipp stehen und der frischen Luft Zugang gewähren.

Gerd liegt in seinem Sessel noch mit kurzer Cargohose und seinem auf der Feier erhaltenen schwarzen T-Shirt, auf dem in weißen Lettern "Ich war Bulle" geschrieben steht.

Die Größe XL ist knapp gewählt und so grüßt ein wenig vom behaarten Bauch zwischen Hosenbund und T-Shirt.

Die sonst so exakt nach hinten gekämmten Haare fallen langsam zur Seite, weil auch der Kopf sich seitlich gelegt hat und sich passend zur Schlafakkustik auf und ab bewegt.

Plötzlich rührt sich nichts mehr bei Gerd. Der Brustkorb bewegt sich weder auf noch nieder, es sind auch keine Atemgeräusche mehr zu vernehmen.

Letzte körperliche Anspannung entzieht sich aus Gerds Fingern, wodurch auch das Schnapsglas leicht abwärts rollt. Der Kopf sinkt tiefer gen Brust, die Wangen erschlaffen zunehmend.

Leichtes Gurgeln, als würde ein letzter Tropfen Orangensaft von einem Kind mit dem Strohhalm aus einem Glas gesogen werden, ist zu hören. Stille.

Das Schnapsglas rollt aus den Fingern und zerspringt am Steinfußboden. Mit einem erschreckend lauten Schnarcher weckt Gerd sich selbst und saugt die frische Herbstluft in seine Lungen, während er sich langsam aufrichtet.

Mit der rechten Hand greift er sich an den überdehnten Nacken, während er sich wortlos mit der Linken aus seinem Fernsehsessel drückt und im Anschluss den Dienstausweis in seine Hosentasche steckt.

Mit schleppenden Schritten bewegt er sich zur Kellertreppe und schleicht die Stufen hinauf. Sein Kopf pulsiert unter den zugefügten Promillen und schreit nach frischem Wasser. Er ignoriert die Rufe und steigt willenlos in das Obergeschoss, wo er bereits von dem Schnarchen seiner Dörte in Empfang genommen wird. Heute stört es ihn nicht. Er ist froh, dass er sie hat und legt sich zu ihr ins Bett, wo er direkt wieder einschläft.

7

In der Winsener Straße im beschaulichen Hamburg-Wilstorf beginnt langsam der erste Berufsverkehr. Kastenwagen von Handwerksbetrieben, Klein- und Mittelklassewagen bewegen sich im schleichenden Tempo stadteinwärts in Richtung Hamburg.

In Harburg bezeichnet sich niemand als Hamburger. Man fährt höchstens nach Hamburg oder in die Stadt. Ebenso geht es den Hamburgern, die alles südlich der Elbe nicht mehr als Hansestadt anerkennen.

Harburg besitzt ein eigenes Stadtzentrum, ein eigenes Rathaus und Gericht, ein Einkaufszentrum und ein großes Erlebnisbad.

Viele Hamburger sind auf Grund der Hamburger Mieten allerdings inzwischen gezwungen in die Randgebiete und somit auch nach Wilstorf zu ziehen.

Mitten im Berufsverkehr ertönt das laute Grollen der tiefliegenden Sportlimousine von Faruk Simsek. Er fährt allerdings stadtauswärts und somit den meisten Berufspendlern entgegen. Auf seiner Straßenseite fahren kaum Fahrzeuge. Mal gibt er Gas und lässt den Motor schwer aufstöhnen und jede Pferdestärke in die Fahrbahn greifen, um dann wieder das Tempo zu reduzieren, kurzzeitig vor einer Ampel in eine Parklücke zu biegen, um so den nachfließenden Verkehr zu beobachten.

Sobald die Ampel auf Rot springt, fährt er noch über die Haltelinie und biegt ohne zu blinken direkt ab. Zumeist blickt er in den Rückspiegel, während er wie von Sinnen mit Vollgas durch das angrenzende Wohngebiet fährt, mehrfach abbiegt und dann wieder abbremst und in einer Parklücke in einer verkehrsberuhigten Zone zum Stehen kommt.

Er schaltet den Motor aus und steigt aus dem Fahrzeug. Faruk zündet sich eine Zigarette an und zieht mehrfach stark am Filter, so dass die Glut an ihrem Ende stark aufglüht. Der Blick wandert immer wieder zu der Richtung aus der er kam. Der Wind zerrt an seiner Kleidung und der immer stärker werdende Regen treibt ihn zurück in sein Fahrzeug.

Den Rest seiner Zigarette lässt er noch auf den Gehweg fallen, wo sie in eine Pfütze fällt und erlischt.

Faruk startet wieder den Motor und die weißlich-blaue Beleuchtung seines Armaturenbretts hüllt sein Gesicht in einen leichten Schimmer.

Mit aufbrausendem Motor und quietschenden Reifen setzt er sein Fahrzeug wieder in Bewegung, so dass einzelne Anwohner aus ihren Fenstern schauen, was dort draußen vor sich hergeht. Die mattschwarze Limousine ist zu diesem Zeitpunkt jedoch längst in die nächstliegende Straße abgebogen.

Faruk nimmt das Gelb der Ampel gerade noch mit und biegt links auf die kreuzende Hauptstraße, wo er zunächst drei Autos auf der linken Fahrspur überholt, um sogleich mit Vollgas eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen zu nutzen und auf die Auffahrt zur Bundesstraße zu fahren.

Der Fahrer des riskant geschnittenen Kleinwagens bedient vehement die Hupe. Er pöbelt dem dunklen Gefährt und dessen Fahrer mit rüdem Fahrverhalten nach, doch das nimmt Faruk nicht wahr. Er treibt sein Fahrzeug auf immer höhere Geschwindigkeiten und reduziert diese erst wieder auf eine normale Geschwindigkeit, als er auf die Wlhelmsburger Reichsstraße gelangt. Zu oft wurde er hier bereits geblitzt und verursachte dem Halter seines Autos immer wieder Probleme bei eingehenden Bußgeldbescheiden.

Der wird dafür ausreichend entlohnt, sich nicht zum Fahrer zu äußern. Faruk selber dürfte gar kein Auto besitzen, weil die Sozialbehörde ihm ansonsten seine Bezüge kürzen oder gar streichen würde, wenn sie davon wüssten, dass er ein solches Fahrzeug erworben hat. Über den Halter läuft auch die Finanzierung. Er hat einen Job und konnte als Geselle in einem Handwerksbetrieb die Bonitätsprüfung der Bank ohne Beanstandung überstehen. Hierfür bekommt er jeden Monat die Rate in bar und ein wenig zum Feiern und Chillen. Es war praktisch eine Win-Win-Win-Situation für Faruk, seinen Halter und den Verkäufer von der Luxuslimousine, denn alle hatten, was sie wollten.

Selbst wenn Faruk seine Wohnung nicht vom Amt bezahlen lassen würde, wäre es problematisch, wenn er das Fahrzeug auf seinen Namen anmeldet, denn so kämen die Bullen ja auf ihn als Fahrer im Abgleich mit den zahlreichen Blitzerfotos und wenn er einen Führerschein hätte, dann wäre dieser sicherlich schon längst in Flensburg.

So spart er sich diese Sorgen und fährt gleich ohne Führerschein munter mit seinem matt-schwarzen Sportboliden durch Hamburg, ohne sich Sorgen zu machen, dass ihm oder seinem Auto was passieren könnte.

Und wenn er doch mal wegen Fahren ohne Führerschein erwischt werden sollte, dann zahlt er halt die paar hundert Euro an die Staatskasse. Als Sozialhilfeempfänger liegt der Tagessatz sowieso nur bei fünf Euro pro Tag und von Bekannten weiß er, dass bei den ersten Malen nur Geldstrafen verhängt werden. Und wann wird man heutzutage schon von den Bullen kontrolliert, die haben ganz andere Sorgen, als sich um ihn zu kümmern.

Die niedrige Geschwindigkeit auf der Wilhelmsburger Reichsstraße veranlasst Faruk sein Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen und seine Freundin Charleen anzurufen. Zumal er gerade mitten durch ihren Stadtteil fährt.

Faruk sucht nach dem Namen "Canim" in seinen Kontakten und wählt den Anruf. Es klingelt mehrfach, bis ein leichtes Klicken in der Leitung zu vernehmen ist.

Müdes Schnaufen ist zu hören. Charleen stöhnt leicht auf und säuselt ein gequältes „Schatz“ in die Leitung.

«Baby, was machst Du?», fragt Faruk irritiert.

«Schlafen….», antwortet Charleen nüchtern ehrlich.

«Was ist los mit Dir? Du hörst Dich total fertig an.»

«Schatz, ich schlafe noch. Was willst Du?», antwortet Charleen.

«Baby, wie redest Du mit mir?», regt sich Faruk auf. «Ich wollte deine Stimme hören, dies das, und du kommst mir so, Baby.»

«Schatz, ich bin noch müde. Es ist mitten in der Nacht, Schatz. Was machst Du?»

«Scheiß mal drauf, Baby. Leg Dich hin und penn' weiter, Baby, statt mit mir zu sprechen. Tss», schnalzt Faruk, während er kräftig die Nase hochzieht. Seine Augen treten vor Wut hervor, während er verächtlich auf das Display seines Telefons blickt.

«Was ist denn? Was habe ich denn getan, Schatz. Was machst Du?», fragt Charleen irritiert, aber Faruk schreit nur noch «Halt's Maul, du dreckige Schlampe. Den ganzen Tag stalkst Du mich mit deinen Anrufen und jetzt willst Du lieber pennen, wenn ich anrufe, digger. Ich hab' zu tun. Vergiss es. Tschüss!» Er beendet das Gespräch und streicht sich anschließend mit der Hand durch die Haare und beginnt seinen Bart nach vorne zu streichen.

Charleen liegt im Bett ihrer Einzimmerwohnung im zwölften Stock eines Mehrfamilienhauses im Karl-Arnold-Ring in Hamburg-Kirchdorf. Sie versteht nicht, warum sie Faruk schon wieder so provozieren musste, dass er sein Temperament nicht mehr im Griff haben kann, aber sie nimmt sich fest vor, dass sie das nächste Mal besser gelaunt ans Telefon gehen würde, um ihn nicht wieder zu verärgern. Nun will sie sich aber noch einmal hinlegen, denn in einer Stunde muss sie aufstehen, um sich für die Arbeit in einer nahe gelegenen Kindertagesstätte fertig zu machen. Dort hat sie vor kurzem ein Ausbildung begonnen. Eventuell meldet sie sich aber auch krank, falls Faruk anruft und sich mit ihr treffen will.

Faruk selbst hat das Telefonat bereits wieder vergessen und fährt von der Wilhelmsburger Reichsstraße direkt auf die A1, um sich langsam dem eigentlichen Ziel der Fahrt zu nähern.

Er hat aber noch Zeit, viel Zeit bis zu dem Treffen, für das er vor Ort sein muss. Er beobachtet aufmerksam den Verkehr hinter sich. Seit Wilhelmsburg befindet sich ein grauer Familienwagen hinter ihm, der stets den gleichbleibenden Abstand zu ihm hält, immer ein, zwei Autos zwischen sich und der Limousine von Faruk lässt. Faruk reduziert seine Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde und beobachtet den Mittelklassewagen, während er sich langsam der nächsten Autobahnabfahrt nähert. Auf einer blauen Tafel steht sie mit 2000 Metern angeschlagen.

Der Verfolger reduziert zunächst die Geschwindigkeit, fährt jedoch weiterhin schneller als Faruk und der zwischen ihnen befindliche silberne Kleinwagen und wechselt auf die linke Spur. Faruk beobachtet abwechselnd den grauen Wagen und die näherkommende Abfahrt.

Als das verfolgende Fahrzeug auf seine Höhe kommt, blickt Faruk zu dem Fahrer des grauen Familienwagens hinüber. Er hat braune Haare und einen klar gekämmten Scheitel zur linken Seite. Er trägt ein Hemd und darüber eine Allwetterjacke in schwarz. Während er an dem Fahrzeug von Faruk vorbeifährt, würdigt er der auffälligen schwarz-matten Limousine keines Blickes, sondern konzentriert sich auf die nasse Fahrbahn und den seitlichen Sturm, der die Fahrzeuge immer wieder mit seinen Böen leicht aus der Spur drängt.

Im letzten Moment vor dem Ende der Ausfahrt zieht Faruk seine Limousine auf die rechte Spur der Abfahrt und schaut gleich wieder zu dem Fahrer hinüber, der dem riskanten Manöver sichtlich irritiert nachsieht, bevor er sich wieder auf die eigene Fahrbahn konzentriert.

«Hab ich dich, du Arschloch», freut sich Faruk lautstark zu seinem gelungenen Manöver, um den leidigen Verfolger los zu werden. «Dreckiger Bullenbastard!», schimpft er, streicht sich mit der rechten Hand über den Bart und beginnt ihn an der Spitze zu zwirbeln. Zufrieden und mit selbstherrlicher Miene fährt er weiter auf die Ringstraße, die ihn über den Horner Kreisel wieder auf die A24 bringen soll. um sich ohne hartnäckige Verfolger dem eigentlichen Ziel zu nähern.

8

Der Sturm peitscht mit scharfen Böen durch die Straßen in Hamburg. Die Bäume im Eichtalpark biegen sich im Wind und niemand nutzt die frühen Morgenstunden, um sich durch Walken oder Jogging körperlich zu ertüchtigen. Die Wege sind vom starken Regen aufgeweicht und in jeder Mulde sammelt sich das herabfallende Wasser zu großen Pfützen. Selbst die Enten haben sich zurückgezogen und kauern unter Bäumen und Büschen in der Hoffnung auf baldige Verbesserung der Wetterlage. Sie stecken den Kopf einfach in ihr Gefieder.

In einer Dreizimmerwohnung mit Blick auf den Eichtalpark sitzt vor einer leeren Müslischale, einer leeren Tasse und seinem dienstlichen Laptop der Kriminalkommissar Tim Dombrowski. Er verfolgt gebannt die Bewegung der überwachten Rufnummer auf dem Bildschirm.

Der Nutzer befindet sich inzwischen schon hinter Oldenburg in Richtung Delmenhorst und wird bald Bremen erreichen, wo er auf die A1 in Richtung Hamburg fahren dürfte.

Dombrowski wollte eigentlich schon längst ins Büro aufbrechen, aber noch lauert er auf den Rückruf von Fred, der ihm die Unterstützung seiner Gruppe zusagen muss.

Ohne unterstützende Kräfte braucht er gar nicht ins Büro fahren, sondern kann den Laptop gleich wieder zuklappen, denn er weiß bislang weder, wer der Nutzer ist, noch was er für ein Auto fährt.

Eine erste Weg-Zeit-Berechnung der Geschwindigkeit ergab, dass der Nutzer der Rufnummer zwischen 110 und 120 Kilometer pro Stunde fahren dürfte. Einen Lastkraftwagen konnte er somit bereits als genutztes Fahrzeug ausschließen. Ansonsten ist alles möglich.

Mehrfach nahm Dombrowski bereits sein Smartphone in die Hand und suchte in der Rufliste den Kontakt von Fred raus, aber er zügelt stets seine Ungeduld und beachtet die von Fred gewünschte Frist.

Er legt gerade wieder sein Smartphone auf den Tisch zurück, nachdem er geschaut hat, wie lange das letzte Telefonat her ist.

Vor 25 Minuten hatten die beiden miteinander telefoniert. In fünf Minuten würde er also Fred ohne schlechtes Gewissen anrufen und nachhaken können.

Er hätte schon längst die Kollegen seiner Dienststelle alarmiert. Aber die liegen vermutlich noch alle mit dickem Kopf nach dem großen Fest von Gerd am Vorabend in ihren Betten und schlafen ihren Rausch aus.

Bei dem Gedanken an Gerds Pensionierung wird Dombrowski gleich nachdenklich. Sie werden einen solchen Typen schwer an ihrer Dienststelle ersetzen können. So wie er kann man nicht werden. So ist man oder ist es eben meistens nicht.

Die Warterei macht Dombrowski wahnsinnig. Er verwirft schnellstmöglich die sentimentalen Gedanken, klemmt das Laptop halb geöffnet unter den Arm, schnappt sich seine Jacke und die Autoschlüssel und läuft die drei Etagen hinab bis in den Keller. Durch den Keller kommt er auf die Rückseite des Hauses, wo sein Wagen geparkt steht.

Dombrowski beugt sich vor das Laptop, um es nicht dem Wetter auszusetzen und rennt zu seinem Fahrzeug, wo er es auf dem Beifahrersitz stellt und schnellstmöglich auf der Fahrerseite von seinem kleinen Zweisitzer einsteigt.

«So ein Dreckswetter», flucht er noch, bevor er den Motor startet und rückwärts aus seiner Parklücke hinausfährt.

Er gibt Vollgas und der kleine Wagen röhrt die Walddörferstraße hinab in Richtung Hamburger Ringstraße, über die er schnellstmöglich zum Präsidium gelangen will.

In diesem Moment klingelt sein Telefon. Endlich der ersehnte Anruf von Fred. Auf dem Display erscheint dessen Name und Dombrowski streicht über die grünen Pfeile, um den Anruf entgegen zu nehmen.

«Fred, mein liebster Freund, ich akzeptiere nur gute Nachrichten», begrüßt er frohlockend seinen Hoffnungsträger.

«Ja, das habe ich nicht anders erwartet. Ich konnte bereits sechs Leute mobilisieren, vielleicht kommen noch ein, zwei hinzu, die ich bislang nicht erreichen konnte. Es kann also losgehen. Wo ist denn unser unbekannter Freund gerade?», antwortet ein spürbar motivierter Fahnder.

Dombrowski verlangsamt seine Geschwindigkeit und aktualisiert seine Übersicht auf dem Laptop. Das Handy stellt er auf Lautsprecher und steckt es in seine Schublade unterhalb des Radios.

«Er ist im Moment ungefähr 20 Kilometer vor Delmenhorst. Die bisherige Strecke ist er mit 110 bis 120 Stundenkilometern gefahren.

Ich bin in 15 Minuten im Büro und komme dann zu euch auf den Kanal. Ich rechne gleich nochmal nach, ob er die Geschwindigkeit inzwischen geändert hat. Auf gutes Gelingen, mein Bester!»

«Hör auf mir zu schmeicheln. Wir fahren ihm entgegen soweit wir kommen und versuchen dann die Nadel im Heuhaufen zu finden. Bis gleich dann.»

Fred beendet das Gespräch und Dombrowski konzentriert sich wieder voll auf die Fahrt zu seinem Arbeitsplatz.

Die Baustellen auf den Straßen in Hamburg verengen die Wege, aber um halb sechs sind sie zum Glück auch ausreichend frei. Dombrowski kommt schnell zum Polizeipräsidium durch, wo er direkt davor einen Parkplatz findet und mit dem Laptop unterm Arm in das sternförmige Gebäude rennt.

Der Polizeistern ist ein eindrucksvolles Gebäude mit seinen zehn Fingern, die von einem runden Mittelbau strahlenförmig in alle Himmelsrichtungen abgehen.

Innen drin ist das fünfstöckige Gebäude jedoch häufig eine Baustelle. Schnell merkte man, dass es eigentlich zu wenig Platz hat und die eine oder andere Sache einfach beim Bau nicht berücksichtigt wurde. Es ist ein klassischer Bau der öffentlichen Hand, nur mit dem Allernötigsten bedacht und dafür im Ergebnis wiederum viel zu teuer.

Mit seinem Dienstausweis gelangt Dombrowski schnell durch die Eingangsschleuse und zu seinem Bürotrakt des Rauschgiftdezernats.

Wie immer um diese frühe Zeit brennt nur in einem einzigen Büro auf dem Flur das Licht. Otto Kuhnert sitzt mal wieder an seinem Platz und starrt in seinen Bildschirm. Früher, als in den Büros noch geraucht werden durfte, hätte man ihn vor blauem Dunst kaum erkennen können in seinem Zimmer. Das hat sich mittlerweile jedoch geändert und so nutzt er stündlich den Gang in die offene Tiefgarage, um seinem Laster zu frönen. Seine übrigen Nahrungsmittel lauten Kekse und Kaffee und so sieht er auch aus. Mit wachem Blick und leichtem Bauchvorsprung tippt er wie wild in seinen Computer und nutzt die ruhigen Stunden des frühen Vogels, um die ersten Eintreffenden mit Ermittlungsergebnissen zu überraschen.

Erschrocken blickt Otto aus seinem Büro, als ihm gegenüber plötzlich das Licht angeht.

«Dumbo, watt willst Du denn schon hier? Aus'm Bett gefallen oder was ist da los?», begrüßt er in gewohnt freundlicher Manier den als Langschläfer verschrienen Dombrowski.

«Ich richte mich halt nach unserem Gegenüber und nicht nach meiner senilen Bettflucht», antwortet Dombrowski.

«Arschloch!», erwidert Otto fast liebevoll mit einem Grinsen auf den Lippen.

«Wir hatten doch diesen anonymen Hinweis auf einen Lieferanten von großen Mengen Kokain und Marihuana aus den Niederlanden nach Hamburg. Er soll unbeschriebene Personen als Rauschgiftkuriere nutzen, um die Betäubungsmittel hierher zu transportieren. Die vom Hinweisgeber genannte Rufnummer des Lieferanten wurde leider nicht mehr von ihm genutzt. Das hat unsere Telefonüberwachung bereits ergeben. Die Rufnummer von dem Lieferanten ist auf einen nicht real existenten Anschlussinhaber angemeldet. Somit brachten uns diese Daten nicht weiter. Aber wir haben durch einen Beschluss des Amtsgerichts die bisherigen Verkehrsdaten der Rufnummer erhalten. Der frühere Nutzer der Rufnummer hat mit zwei niederländischen Rufnummern in den vergangenen Monaten telefoniert, die ja durchaus den Rauschgiftkurieren gehören könnten. Wir konnten letzte Woche über den Staatsanwalt Beschlüsse zur Überwachung dieser Rufnummern beim Amtsgericht erwirken. Bislang lief über die Nummern nichts. Sie waren zwar eingeschaltet, aber im Ausland aufhältig. Vor gut 50 Minuten wurde ich von dem Bereichsalarm geweckt, dass die Nummer nach Deutschland eingereist ist.

Fred fährt dem Nutzer der Rufnummer gerade entgegen und dann suchen wir mit den Geodaten aus der Handyüberwachung nach dem Fahrzeug, dass im Bereich des Handys fährt.»

«Klingt doch schon einmal nach 'nem Plan. Und was wollt ihr dann machen?», fragt Otto wissbegierig, während er sich mehrfach mit der Zunge über die Lippe fährt und anschließend langsam mit der Hand über den Mund streicht.

«Erstmal müssen wir ihn finden und dann schauen wir mal, was möglich ist. Wir haben bislang keine Ahnung, wer es ist oder womit er fährt», resümiert Dombrowski. Er geht zurück in sein Büro und startet den Rechner, während er die Nummer von Fred wählt.

9

Am Dreieck Stuhr biegt ein silberner Kastenwagen auf die A1 in Richtung Hamburg. Auf seinen Seiten trägt er keinerlei Werbung oder Aufschriften, die einen Hinweis auf seine Herkunft oder den Besitzer zulassen. Lediglich die gelben Kennzeichen mit schwarzer Schrift geben Rückschluss darauf, dass der Halter aus den Niederlanden stammen dürfte.

Das Fahrzeug befindet sich in einem astreinen Zustand, es wirkt gar so, als wenn es extra vor der Fahrt und trotz des angekündigten Unwetters gewaschen wurde. Der Lack des Transporters blitzt und blinkt, wenn vorbeifahrende Fahrzeuge, die ihn auf der linken Spur überholen, mit ihren Scheinwerfern kurzzeitig anleuchten.

Der Regen ist ein bisschen weniger geworden und so schaffen es inzwischen auch die Scheibenwischer wieder, das gesamte Regenwasser mühelos von den Scheiben zu wischen. Sie müssen nicht einmal mehr in voller Geschwindigkeit agieren und die Böen sind auch nicht mehr so stark, dass der Fahrer stets Sorge haben muss, in die Böschung der Fahrbahn gedrückt zu werden.

Ruud van der Boek hat inzwischen sein Frühstück abgeschlossen und fährt wieder mit 130 Stundenkilometern, die er auch in den Niederlanden gewohnt ist zu fahren. Eine höhere Geschwindigkeit findet er nicht zweckfördernd, denn ein Kastenwagen mit hoher Geschwindigkeit empfindet er persönlich immer als auffällig. Zudem würde er nur wesentlich mehr Benzin verbrauchen und dieses Geld muss er von seinem Lohn selber tragen. Ebenso den Unterhalt für das Fahrzeug und die eingebauten Besonderheiten, die er für seinen Job benötigt.

Außerdem will er nicht vor der Zeit am altgedienten Umschlagplatz erscheinen. Er müsste dann sowieso auf den Empfänger warten. Die sind erfahrungsgemäß sowieso nie pünktlich. Sie beklagen immer nur, wenn die Fahrer nicht rechtzeitig kommen, aber wenn die Fahrer warten müssen und dadurch unnötiges Risiko eingehen, das ist denen immer egal.

Ruud liebt es zu fahren. Rumstehen hingegen, mag er gar nicht, aber wenn er im gleichmäßigen Tempo auf einer Autobahn fährt, die Landschaften an ihm vorbeifliegen und er kurzzeitige Einblicke bei anderen Wegbegleitern erhält, dann fühlt er sich rundum wohl.

Manchmal überholen ihn Familien, die früh morgens mit ihrem Kombi an ihm vorbeiziehen und den Kofferraum voll mit Gepäck haben, teilweise sogar mehrere Fahrräder auf dem Dach oder auf der Anhängerkupplung mit sich führen. Dann gerät er immer in Erinnerungen, wie er mit seiner Familie mit dem Auto nach Südfrankreich oder Dänemark aufbrach, um einen wundervollen Urlaub vom Alltagsstress zu erhalten. Als Selbstständiger war es zwar schwer möglich den Club alleine zu lassen, aber es fanden sich immer Wege. Damals hatte er auch noch gute Mitarbeiter, die alles in seinem Sinne fortführten, während er mit seinen beiden Söhnen Jan und Jeroen sowie seiner Frau Britt in den Sommerferien mehrere Wochen ausspannte.

Ruud liebt seine Erinnerungen an die schönen Tage in seinem Leben. Sowieso tut er das alles nur, um seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Er weiß, dass er ein großes Risiko eingeht, aber er sieht seine einzige Chance darin, der Familie auch weiterhin den gewohnten Lebensstandard zu ermöglichen.

Sein Arbeitseifer für den Club hatte damals seine Beziehung zu Britt stark strapaziert. Er kämpfte Tag und Nacht für den Club, auch für den Lebensstandard der Familie und vergaß dabei total, dass sie auf diese Weise nichts von ihm hatte. Sie entfernten sich zunehmend voneinander bis er die Reißleine zog und den Club abgab.

Durch den neuen Job hatte er wieder viel mehr Zeit mit seiner Familie, hatte auch weiterhin gutes Geld zur Verfügung und konnte den verbleibenden Rest nutzen, um zumindest die Zinsen seiner Schulden zu zahlen. In guten Tagen oder wenn er mal wieder mehr Touren fuhr, als er sich eigentlich im Sinne der Familie vornahm, tilgte er auch mal größere Beträge bei seinen Gläubigern.

Doch so richtig bewegt es nichts an seiner Restschuld. Es gab immer wieder unvereinbarte Strafzinsen für Zahlungsverzug oder Unstimmigkeiten zwischen der eigenen Vorstellung der Restschuld und der Vorstellung derjenigen, die ihm sofort deutlich machten, dass ihre Vorstellung die richtige Einschätzung ist.

Manchmal glaubt Ruud, dass er ewig für Sie fahren müsste, um die Schulden bezahlen zu können oder aber so viel fahren und zahlen könnte wie er will, die Schulden aber dennoch bleiben würden. Aber sie lassen ihn leben. Gut leben sogar. Er verdient mehr als zu den guten Zeiten seines Clubs und das mit wesentlich weniger Arbeit. Und fahren mag er ja sowieso gerne.

Ruud unterbricht die vielen Gedankenspiele und Träumereien, denn mit einem Jingle werden im Radio die Verkehrsmeldungen angekündigt.

«A1 - Bremen in Richtung Hamburg, zwischen dem Maschener Kreuz und Hamburg-Harburg ist durch den Orkan Axel ein Tanklaster umgekippt und vollständig ausgebrannt. Es wird gebeten, den Unfallort weiträumig zu umfahren.»

Das gute Gefühl des Morgens ist umgehend bei Ruud verflogen. Genau dort muss er lang, um an seinen Zielort zu gelangen.

Er verschafft sich kurz Luft zum klaren Denken, indem er lautstark auf Niederländisch flucht und mit der Hand mehrfach auf sein Lenkrad schlägt.

Ruud beginnt sofort krampfhaft zu überlegen, wie er fahren könnte. Über die A7 will er nicht fahren, dann müsste er durch das gesamte Hamburger Stadtgebiet, was er tunlichst vermeiden möchte. Ebenso wenig will er über die Wilhelmsburger Reichsstraße zu seinem Ziel gelangen. Bis er dort eintrifft, würde der gesamte Hamburger Berufsverkehr feststecken. Er könnte Stunden im Stau stehen und den Termin somit nicht einhalten.

Mehr Strecken fallen ihm auf Anhieb nicht ein. Er wird erst einmal anhalten, um auf einen Straßenplan zu schauen. In diesem Moment hasst er sich dafür, dass er kein Smartphone mehr hat, dass ihm die schnellsten Wege aufzeigen könnte. Auch sein Transporter ist zwar noch gut in Schuss für sein Alter, aber verfügt ebenfalls nicht über ein Navigationsgerät.

Er beschließt an der Raststätte Grundbergsee erst einmal abzufahren und ein wenig Geld für einen Straßenatlas zu investieren. Den kann man immer mal gebrauchen, wenn so etwas wieder passiert und früher ist er auch mit Straßenkarten an jeden Urlaubsort gekommen, egal ob am Mittelmeer oder an der Nordsee.

10

In der Wilstorfer Straße beginnt langsam wieder das Leben auf den Straßen. Erste Mitarbeiter, der im Phönix Center liegenden Geschäfte, kommen zur Arbeit. Dick eingehüllt in regenfester Kleidung oder mit Regenschirm, der jedoch auf Grund der Böen mit beiden Händen festgehalten werden muss.

Auch im Café International leeren sich langsam die Tische. Durch den Wind und die offene Eingangstür verzieht sich der blaue Dunst aus der Lokalität.

Das Gemurmel im Raum hat nachgelassen und die Geräusche der piependen Spielautomaten übernimmt die akustische Kulisse des Cafés.

An Cemals Tisch sitzt inzwischen ein junger Deutscher, vielleicht Mitte zwanzig mit strohblondem Haar und dunkelbraunen Augen. Er ist braungebrannt und sein Körper konnte seine Form unmöglich nur von Hanteln und hartem Training haben. Er hat Arme wie andere Beine haben, die vom Handgelenk bis zum T-Shirtärmel mit dunklen Skeletten, Totenschädeln und Kreuzen tätowiert sind. Auf seinem Hals prangen drei große Sechsen, die zusammen die Zahl des Teufels ergeben und umfasst sind von rotäugigen Köpfen.

Das Haar ist an den Seiten wegrasiert und die verbleibende Haarinsel auf dem Kopf ist streng nach hinten zu einem kleinen Zopf gebunden. Er trägt einen relativ kurz geschnittenen Vollbart. Lediglich oberhalb der Lippe ist er glattrasiert.

Cemal und diese Gestalt stecken die Köpfe eng zusammen und bereden etwas miteinander, wobei Cemal eindeutig bestimmend ist und die Kontaktperson fragend wirkt.

Man redet leise miteinander, so dass niemand im Raum lauschen könnte, was dort besprochen wird. Cemal lässt immer wieder die Augen durch den Raum wandern und beobachtet die anwesenden Leute, während er dem lauscht, was der Deutsche ihm mitzuteilen hat. Wenn er antwortet, dann starrt er seinem Gegenüber direkt und nachdrücklich in die Augen.

Am Schluss des Gesprächs nicken beide sich gegenseitig zu und schlagen die Hände ineinander, als würde man versuchen, die eigenen Vorstellungen im Armdrücken durchzusetzen. Doch bevor es dazu kommt, zieht man sich aneinander, gibt sich links und rechts einen Kuss an der Wange vorbei in die Luft und löst die Hände voneinander.

Der Deutsche verlässt das Cafe International direkt im Anschluss und besteigt einen vor der Tür abgestellten schwarzen Ford Mustang GT. Das blecherne Aufbrummen des PS-starken Motors ist bis an den Tisch von Cemal zu hören, der schon wieder sein schwarzes Smartphone aus der Jackentasche entnommen hat, um eine Nachricht zu schreiben.

Nachdem er es wieder weggesteckt hat, steht er auf und begibt sich langsamen Schrittes aus dem Laden.

Fast zeitgleich erhebt sich ein gedrungener, dicklicher Südländer von einem Stuhl an einem anderen Tisch, der Cemal bereits den gesamten Abend gegenübersitzt.

Sein Blick ist starr auf Cemal gerichtet, der ihm keinerlei Beachtung schenkt und über den klebrigen, nassen Boden langsam aus dem Café International hinausgeht.

Vor der Tür geht Cemal durch stürmischen Regen auf eine weiße, breitspurige Geländelimousine zu, die ebenfalls unmittelbar vor der Lokalität geparkt steht. Der Südländer geht direkt hinter ihm her und kommt langsam dichter an ihn heran. Die Hände trägt er tief in seinen Jackentaschen vergraben, das Cap ist in seine Stirn hineingezogen. Der Kragen der schwarzen AlphaIndustries-Bomberjacke ist aufgestellt, so dass von seinem Gesicht kaum mehr als die auffällig große Nase und die schiefe, unrasierte Mundpartie zu erkennen ist. Einzelne Fahrzeuge fahren durch die Wilstorfer Straße und lassen die Gischt der Pfützen auf die Gehwege spritzen.

Cemal kommt dichter an den Geländewagen heran und sein Verfolger ist bereits fast auf seiner Höhe. Aus seiner rechten Jackentasche zieht er einen schwarzen Gegenstand, den er in seiner geballten Faust verbirgt. Stärker werdender Regen fällt auf sie nieder und das Licht der Laternen wirft sich annähernde Schatten beider Personen auf die hellgrauen Waschbetonplatten. Kurz bevor Cemal sein Fahrzeug erreicht, erhebt die Person den Gegenstand in seine Richtung, drückt drauf und öffnet damit die Zentralverriegelung des Fahrzeugs.

Cemal steigt auf der Beifahrerseite ein, während der Südländer den Fahrersitz besteigt. Nach kurzer Zeit setzt sich das Fahrzeug in Bewegung und biegt direkt ab in die Tiefen des angrenzenden Phönixviertels, wo es im Schatten der Häuser und der einsetzenden Morgendämmerung entschwindet.

11

Mitten durch Hamburg-Horn dröhnt eine schwarz-matte Limousine mit wummernden Bässen über die Hauptstraßen. Nachrichten oder Verkehrsmeldungen wären in normaler Lautstärke in der getunten Limousine aufgrund der brummend-scheppernden Motorengeräusche sowieso nicht richtig zu verstehen gewesen. Daher ist es für Faruk auch keine Frage, dass er seine deutsche Gangsterrapmusik den örtlichen Radiosendern vorzieht. Zumal er sich eigentlich noch nie für Nachrichten jeglicher Art interessiert hat.

Er verinnerlicht lieber mit Inbrunst die egomanischen Texte, die das Leben als Straßenkriminelle heroisieren. Teilweise rappt er die ihm bekannten und verständlichen Passagen lautstark mit, streckt Daumen und kleinen Finger von der halb geballten Faust ab und klopft den Rhythmus der Bässe mit den mittleren Fingern auf das Lenkrad. Dabei wippt und nickt er mit dem Kopf, zieht die Oberlippe einseitig zur Nase und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine tiefe Falte.

In seiner roten Trainingshose vibriert sein Smartphone. Er hat es immer nur auf Vibration eingestellt, doch aktuell hätte er das Piepen für die empfangene Nachricht sowieso nicht vernommen.

Faruk löst die Faust und greift in die Tasche, während er auf die Auffahrt am Horner Kreisel zur A 24 fährt. Langsam zieht er das Telefon heraus und gibt Gas, wodurch er stark beschleunigt und in seinen weißen Ledersitz gedrückt wird.

Nachdem er den Standstreifen verlassen und auf die linke Spur gewechselt ist, schaut er auf das Display. Er sieht, dass er von Cemal eine Nachricht erhalten hat.

Er streift über das Display und gibt das Passwort in die kleine Tastatur ein. Hierbei blickt er mehrfach auf, um die nasse Autobahn im Blick zu behalten und nicht versehentlich in die Leitplanke zu fahren.

Die Kombination aus großen und kleinen Buchstaben sowie Sonderzeichen und Zahlen hat er mühevoll auswendig gelernt und kann sie inzwischen fast blind eingeben. Nirgendwo hat er dieses Passwort aufgeschrieben oder gespeichert und niemand würde es schaffen diesen Zugang zu knacken und somit an die Inhalte seines Handys gelangen. Lediglich zehn Versuche hat derjenige, der sich daran probieren würde, dann löscht sich das gesamte Mobiltelefon von alleine ohne eine Chance auf Wiederherstellung. Aber dieses Telefon würde er ohnehin niemandem in die Hände kommen lassen. Er führt es immer bei sich. Nur wenn er schläft, legt er es neben sich ab.

Mit einem Vibrieren öffnet sich das Betriebssystem und er kann im verschlüsselten Messenger die Nachricht von Cemal öffnen.

“ 5 Hasen für Viking, wie immer - 13 Uhr nicht später”

Faruk antwortet mit “ok” und aktiviert wieder den passwortgeschützten Sperrbildschirm. Das Handy lässt er mit zwei Fingern in seine Hosentasche gleiten, drückt noch einmal nach, dass es auch sicher sitzt und nicht rausrutschen kann und beginnt wieder im Rhythmus der Bässe auf sein Lenkrad zu Klopfen.

Die Strecke fliegt unter den breiten Reifen seiner Limousine dahin. An der Ausfahrt HH-Jenfeld setzt er den Blinker rechts, um von der Autobahn wieder abzufahren. Im Rückspiegel beobachtet er, ob es ihm jemand gleichtut. Der silberne Sportwagen direkt hinter ihm reagiert sofort und setzt den Blinker links, wechselt die Seite und überholt Faruk auf der linken Spur.

Der dahinterfahrende Van wird weder langsamer noch schneller. Er setzt keinen Blinker oder fährt dichter an den langsamer werdenden matt-schwarzen Wagen heran, den Faruk nun auf die Abfahrtsspur steuert. Auf der linken Fahrbahn kann Faruk eine silberfarbene Limousine erkennen, die zunächst auf die rechte Spur wechselt, den Blinker beibehält und mit ihm zusammen im Anschluss auf die Abfahrtsspur hinabfährt. In dem Fahrzeug kann er auf Grund der besser werdenden Lichtverhältnisse erkennen, dass sich darin ein Fahrer und eine Beifahrerin mit längeren Haaren befinden. Der Regen auf der eigenen Heckscheibe und der noch bestehende Abstand verhindern jedoch, dass Faruk die Personen genauer betrachten kann.

Am Ende der Abfahrt angekommen, setzt Faruk rechtzeitig den linken Blinker und hält an der roten Ampel an. Die ganze Zeit beobachtet er das Pärchen in seinem Rückspiegel. Nachdem er den Blinker gesetzt hat, beginnt auch die silberne Limousine nach links zu blinken und ihm in die linke Abbiegespur in Richtung Billstedt zu folgen. Sie kommt langsam und leise an sein Fahrzeug herangerollt und steht nun direkt hinter Faruk an der Ampel.

Die rote Ampel scheint grell in das Gesicht von Faruk, aber dessen Augen blicken nur in den Spiegel. Der Schein reicht ihm schon, um zu wissen, dass er noch nicht losfahren muss.

Unruhig betrachtet er das Pärchen im Fahrzeug hinter sich. Die Limousine ist klassisch von der Stange gekauft. Keine Extras, keine besondere Innenausstattung, eine Standardlackierung in Silber. Die Beifahrerin schätzt Faruk auf Ende zwanzig. Blonde Haare fallen unter einer dunklen Mütze heraus auf ihre Schultern. Das Gesicht wirkt attraktiv, ist durch Schminke zurechtgemacht. Sie schaut immer wieder zu ihm nach vorne. Manchmal hat er das Gefühl, dass sie direkt zu ihm in den Spiegel schaut. Anschließend sagt sie etwas zu ihrem Fahrer, ohne diesen hierbei anzuschauen. Der Fahrer hingegen ist ein grauhaariger Typ in den fünfziger Jahren. Vom Alter her könnte es ihr Vater sein, aber was machen die Beiden um diese Uhrzeit hier an dieser Stelle zusammen, wenn sie nicht wegen Faruk hier sind?

Der Fahrer schaut durchweg desinteressiert aus seiner Seitenscheibe die Straße hinab. Auch wenn die Frau zu ihm spricht, schaut er nicht zu ihr hinüber. Er scheint nicht einmal zu antworten. Hinter der silbernen Limousine hat sich inzwischen ein grauer Familienwagen platziert. Mehr kann Faruk nicht erkennen. Er wird durch den BMW komplett verdeckt. Nur das Dach kann er erkennen, aber mehr ist nicht zu sehen.

Der Fahrer schaut noch immer aus dem Seitenfenster hinaus, zeigt keine Regung, während die Beifahrerin Faruk direkt über den Spiegel in die Augen schaut. Nachdem sie Faruks aufmerksamen Blick bemerkt, starrt sie abrupt aus ihrem Seitenfenster. Beobachtet sie ihn oder will sie gar mit ihm flirten? Schaut der Fahrer vielleicht nur auf die Bäume und Büsche an der Straße, die von den Böen hin und her gewogen werden oder spielt er ihm das Desinteresse an Faruk und seinem auffälligen Wagen nur vor. Faruk ist irritiert, aber er glaubt nicht an Zufälle in solchen Situationen. Er macht lieber das, was er an dieser Stelle immer zu tun pflegt. Das rote Licht scheint noch immer auf sein Gesicht. Er konzentriert sich nur noch auf die Ampel. Er hat gesehen, was er sehen wollte, mehr braucht er nicht, um sich innerlich bestätigt zu fühlen. In dem Moment, wo auch das gelbe Licht auf sein Gesicht fällt, drückt er auf das Gaspedal, reißt den Lenker zum U-Turn herum und fährt mit quietschenden Reifen direkt wieder auf die Autobahnauffahrt zur A 24 hinauf. Hierbei schaut er genau auf die hinter ihm fahrenden Fahrzeuge und versucht sich die Insassen und Fahrzeuge so gut es geht zu merken, für den Fall, dass sie ihm heute nochmals begegnen oder auffallen sollten.

Jetzt folgt ihm keines der Fahrzeuge. Er kann noch in seinem Rückspiegel sehen, wie sie beide langsam in Richtung Billstedt abbiegen, während er zur Autobahn hinauffährt. Er beschleunigt sein Fahrzeug mit aller Kraft auf 150 Stundenkilometer und fährt nun wieder gen Norden, zu seinem eigentlichen Ziel.

Die rappenden Gangster treten in seinem Ohr langsam wieder in den Vordergrund. Bis eben hatte er sie gar nicht mehr gehört, viel zu sehr hatte er sich auf das konzentriert, was seine Augen wahrgenommen hatten. Sein Puls schlägt ihm bis zum Hals. Er erhöht an seinem Lenkrad noch einmal die Lautstärke, streicht sich über die langen Haare. Seinen Blick richtet er auf den vor Feuchtigkeit dunklen Asphalt, über dem die Tropfen vorbeifahrender Fahrzeuge ständig wie ein feuchter Nebel schweben.

12

Vor dem Polizeistern in Alsterdorf scheint gerade die Welt unterzugehen. Starkregen und Hagel wechseln sich ab. Fingernagelgroße Hagelkörner landen auf dem Fenstervorsprung des zweiten Stockwerks eines Gebäudetrakts. Sie werden geistig abwesend von Dombrowski beobachtet, wie sie dort tanzen und springen.

Er hält noch immer den Telefonhörer ans Ohr und wartet darauf, dass sich Fred am anderen Ende der Leitung endlich meldet. Das Freizeichen ertönte bereits diverse Male und Dombrowski spielt mit dem Gedanken wieder aufzulegen, um es kurze Zeit später nochmals zu versuchen, als sich Fred endlich meldet.

«Diese verfluchte Freisprecheinrichtung... Hallo... hörst Du mich?»

«Klar und deutlich, mein Freund!», erwidert Dombrowski erleichtert.

«Wo ist er denn aktuell?», kommt Fred gleich zur Sache. Das System bei Dombrowski ist noch nicht ganz hochgefahren. Da hatte er wohl ein wenig voreilig angerufen.

«Wo seid ihr denn so gerade?», stellt er die Gegenfrage.

«Kuno kommt ja aus Hollenstedt. Der wohnt praktisch auf der Autobahn, daher ist er bereits kurz vor Bremen. Der schläft ja auch immer auf seinem Telefon und wartet geradezu nur darauf, endlich wieder sein Heim verlassen zu dürfen. Die Anderen sind alle auf dem Weg in Richtung Bremen. Ich hoffe, du hast Neuigkeiten. Hat er schon einmal telefoniert?», fragt Fred.

«Bislang noch nichts, kein Telefonat, keine SMS-Nachricht. Er hat auch keinerlei Internetverbindung. Die individuelle Gerätenummer von dem überwachten Telefon habe ich abgefragt. Sie steht für ein Billigtelefon, daher ist auch weder von Internettelefonie noch von irgendwelchen verschlüsselten Messengern auszugehen. Wäre natürlich super, wenn er sein Telefon noch einmal nutzen würde», erwidert Dombrowski, während er sich schnellstmöglich durch die Anmeldeprogramme klickt. Das Überwachungsprogramm der Telekommunikation öffnet sich und für Dombrowski ist sofort ersichtlich, dass er nicht übertrieben hatte. Der Nutzer hat keinerlei Telefonate oder Internetverbindungen geführt. Auch gibt es keine SMS-Nachrichten zu verzeichnen. «Die Geo-Daten befinden sich genau in Höhe der Anschlussstelle Bremen-Hemelingen. Seine aktuelle Geschwindigkeit werde ich jetzt noch einmal berechnen und dann melde ich mich wieder bei Dir.»

«Okay, dann sage ich Kuno, dass er sich beim Rastplatz Oyten platzieren soll. Von dort an werden wir versuchen, alle Rastplätze und Tankstellen abzudecken und herauszufinden, welche Autos mit den Geodaten des Handys an uns so vorbeirauschen. Dann rollen wir das Feld von hinten auf. Vielleicht fällt uns ja ein Holländer auf, der ins Bild passt.»

«Einverstanden, ich melde mich dann gleich wieder, sobald er kurz vor Oyten ist.»

«Bis gleich.»

Es klickt in der Leitung und Dombrowski legt den Hörer auf.

Otto steht bei Dombrowski im Türrahmen, hält seine Kaffeetasse in der Hand, zieht die Luft lautstark durch die Nase ein und fragt beim schweren Ausatmen: «Na, wie schaut’s aus?»

Dombrowski versucht derweil in Abgleich mit einer Navigationsapp Distanzen auf der Autobahn zu ermitteln und diese mit der hierfür benötigten Zeit abzugleichen.

«130», murmelt er vor sich hin.

«Watt murmelst Du da?», fragt Otto irritiert.

«Der Holländer kommt mit 130 Sachen auf der A1 nach Hamburg, warte ich muss Fred anrufen, der ist schon in knapp sieben Minuten in Höhe Oyten», antwortet Dombrowski und drückt auf seinem Telefon die Wahlwiederholung ohne den Hörer abzunehmen.

«Na!», erklingt Fred aus dem Lautsprecher.

«In fünf bis sieben Minuten dürfte er bei euch durchs Bild fahren. Falls Kuno einen Holländer erblickt, dann soll er sich locker ran hängen.»

«Jo. Er geht einfach in vier bis fünf Minuten bei mäßiger Geschwindigkeit auf die Bahn und lässt sich von dem Kerl überholen. Vielleicht sieht er ihn ja», schlägt Fred vor. Bei ihm ist der laute Motor seines Dienstfahrzeuges deutlich zu hören. Zusätzlich rauscht der aufs Dach prasselnde Regen und die Scheibenwischer quietschen um die Wette.

Dombrowski kratzt sich am Dreitagebart und blickt auf den Bildschirm. «Ja, einverstanden. Klingt gut.».

Das Gespräch wird wieder abgebrochen. «Ich bin im Keller Luft schnappen, falls Du mich brauchst», schnauft Otto und verlässt den Türrahmen.

Langsam lehnt sich Dombrowski in seinem Bürostuhl zurück und fährt sich mit der Hand durch die halblangen Haare. Er kann aktuell kaum unterstützen, nur darauf hoffen, dass die Observationskräfte ein gutes Auge und glückliches Händchen haben. Dombrowski geht in den Technikraum und holt sich ein Funkgerät, um die aktuellen Standorte direkt an alle Observanten mitteilen zu können. Ein paar Minuten hat er noch, dann ist es soweit.

Auf dem Rastplatz in Oyten steht ein dunkler Kombi. Das Fahrerfenster ist halb geöffnet, trotz des unaufhörlichen Regens. Das Licht des Fahrzeugs ist an, der Motor läuft. Immer wieder sieht man eine helle Glut aus dem Fahrerfenster aschen.

In dem Fahrzeug sitzt Kuno. Kuno ist sein Arbeitsname in der Gruppe. Er ist bereits so lange dabei, dass er seinen richtigen Namen beinahe vergessen hat. Freunde außerhalb der Arbeit hat er sowieso keine. Er liebt seine Tätigkeit und ist fest davon überzeugt, dass er hierfür bestimmt ist. Kuno ist ein ehrlicher Arbeiter. Er hat keine Ambitionen, eine Führungsfunktion zu ergreifen. Er will lediglich die Bösen dabei beobachten, wie sie verbotene Sachen machen, um sie dann auf frischer Tat zu erwischen.

Er ist inzwischen 48 Jahre alt. Die Haare werden langsam grau, aber auf der Straße ist er auch weiterhin hellwach bei der Sache. Jedes vorbeifahrende Auto verfolgt er mit seinen Augen, auch wenn er weiß, dass er noch zwei oder drei Minuten warten muss, bis er losfahren soll. Dombrowski weiß was er sagt. Schon häufig hat er mit ihm zusammengearbeitet und meistens hat er Recht behalten. Kuno versteht nicht woher er das nimmt, denn mit Ermittlungen hat er nichts am Hut. Aber wenn er was gesagt bekommt, dann folgt er dem, was ihm gesagt wird und passt auf. Das ist sein Job, nicht mehr aber auch auf keinen Fall weniger. Er weiß, dass der Erfolg der Ermittlungen am Ende davon abhängt, was er sieht und dann den entscheidenden Personen mitteilt.

Er nimmt einen letzten Zug an seiner Zigarette und lässt sie aus dem Fenster fallen. Den Aschenbecher benutzt er nie in seinen Dienstfahrzeugen, denn Rauchen ist darin nicht gestattet. Den letzten Rauch pustet er durch den zufahrenden Spalt des Fensters.

Noch eine Minute bis er losfahren wird. Zunächst will er sich gemächlich seinen Platz auf dem rechten Fahrstreifen suchen, vielleicht auch auf der mittleren Spur und etwas schneller als die Lastkraftwagen unterwegs sein, um seinen unauffälligen, dauerhaften Aufenthalt auf der mittleren Spur zu rechtfertigen.

Die Digitaluhr im Armaturenbrett springt auf 06:28 Uhr. Es ist an der Zeit sich in Bewegung zu setzen und loszufahren, genau nach Plan. Kuno fädelt sich in den fließenden Verkehr ein.

Über Funk meldet sich Dombrowski und teilt mit, dass sich das Handy nun im Bereich des Rastplatzes Oyten befindet. Kuno weiß, dass diese Standorte gerade auf Autobahnen ungenau sind. Die Sendemasten reichen weit hier auf dem platten Land, aber eine Chance ist da. Gerade, wenn der Holländer einen Mietwagen oder ein Fahrzeug mit niederländischer Zulassung nutzt. Aber die nötige Portion Glück wird man brauchen.

Auf der Autobahn ist inzwischen ordentlicher Verkehr. Viele Lastkraftwagen füllen die rechte Spur, so dass die mittlere Spur kontinuierlich mit Tempo 110 an ihnen vorbeizieht.

Die linke Spur ist nach erster Einschätzung noch einmal dreißig oder vierzig Stundenkilometer schneller. Fahrzeuge mit Kennzeichen aus Bremen oder Rothenburg an der Wümme passieren Kuno, doch die verlieren sofort wieder seine Aufmerksamkeit. Unwahrscheinlich ist es, dass sie die konkreten Zielfahrzeuge sein könnten.

«Lemming ist nun an der Raststätte Grundbergsee», kommt es aus dem Funk.

«Kuno ist auf der Bahn und passiert gerade die Anschlussstelle Oyten. Bislang habe ich kein passendes Fahrzeug feststellen können», antwortet Kuno.

«Sehr gut, Lemming, dann teil dich mit Klatsche und Pascho auf dem Rastplatz auf. Einer bleibt vor Ort, die anderen beiden fahren alle fünf Minuten ab und suchen den fliegenden Holländer», ordnet Fred per Funk an.

«Pascho startet um 06:30 Uhr vom Rastplatz.»

«Klatsche hat gute Sicht auf die Tankstelle und Zufahrt. Ich würde hier verbleiben bis das Handy eindeutig vorbeigezogen ist.»

«Okay, dann fährt Lemming um 06:35 Uhr auf die Bahn. Gutes Gelingen!»

«JayJay bleibt in Bockel am Autohof und klingt sich ein, sobald das Handy in seine Richtung kommt.»

Kuno hat alle Positionen zur Kenntnis genommen und weiß genau, wer wo steht und ihn unterstützen kann, wenn er Feststellungen macht. Gespannt blickt er voller Erwartung in seinen Rückspiegel. Eine schwarze Luxuslimousine mit gelben Kennzeichen rollt in hoher Geschwindigkeit auf der linken Spur heran. Sie fährt dicht auf einen braunen Bremer Mittelklassewagen auf, der gerade im Begriff war, das Auto von Kuno zu überholen, aber nun lieber zurückzieht und den drängenden Raser gewähren lässt. Der schwarze Wagen nahm zuvor keine Rücksicht und behielt die Geschwindigkeit bei. Mit mehr als 200 Stundenkilometern zischt er an Kunos Wagen vorbei. Der Fahrtwind drückt seinen Wagen leicht nach außen. Ein Kennzeichen konnte Kuno trotz voller Konzentration nicht erkennen. Lediglich Fragmente.

«Mich hat gerade ein schwarzer Mercedes mit niederländischer Platte überholt. Deutlich über 200 Stundenkilometer, ich denke den können wir vernachlässigen», meldet er trotzdem.

Die nächsten Fahrzeuge rollen heran, die zum Überholen ansetzen, aber bislang kein weiteres niederländisches Kennzeichen.

Auf einem blauen Schild wird die Abfahrt Posthausen in 2.000 Metern angekündigt.

Die weißen Begrenzungspoller fliegen an dem Passat von Kuno vorüber. In Fahrtrichtung wird er immer wieder von Limousinen und Familienfahrzeugen überholt. Zumeist Alleinfahrer, die sich offenbar auf den Weg zur Arbeit begeben und nach Hamburg pendeln müssen, denn die meisten Fahrzeuge stammen aus dem Großraum Bremen gemäß ihrer Zulassung.

«Ich bin jetzt Höhe Anschlussstelle Posthausen», meldet Kuno weiter an Dombrowski, der umgehend erwidert, dass das überwachte Mobiltelefon direkt in seinem Umfeld sein muss und bei gleicher Geschwindigkeit mit Kuno mitzieht.

Kuno drosselt ein wenig die Geschwindigkeit. Lieber lässt er sich hinter das Handy fallen und nimmt dann die Verfolgung wieder auf. Langsam genug fährt der Nutzer der Rufnummer ja offenbar.

Im Außenspiegel kann er nun einen silbernen Transporter erblicken, der offenbar gelbe Kennzeichen führt. Er drosselt weiter die Geschwindigkeit, denn der Transporter fährt nicht annähernd so schnell wie der vorherige Mercedes. Drei Fahrzeuge hinter ihm schert er in die mittlere Spur.

«Drei Fahrzeuge hinter mir fährt ein niederländischer Transporter. Den genauen Typ konnte ich nicht erkennen. Sieht nach einem älteren Kastenwagen aus. Das Fahrzeug hat eine silberne Lackierung. Er hat seine Geschwindigkeit verringert und bleibt derzeit hinter mir auf der mittleren Spur», teilt Kuno mit und spürt, dass sie auf der richtigen Spur sind. Die Geschwindigkeit passt auf jeden Fall und der Zeitpunkt ebenfalls. Dennoch beobachtet er weiterhin auch die auf der linken Spur heraneilenden Fahrzeuge, die jedoch bislang keine besondere Bedeutung in seinen Augen haben.

«Noch 1.000 Meter bis Grundbergsee. Weiterhin drei Fahrzeuge zwischen uns. Ich kann das Fahrzeug nicht weiter beschreiben», berichtet Kuno und bleibt auf seiner mittleren Spur.

«Das Mobiltelefon ist weiterhin genau bei Dir Kuno. Der Transporter könnte es also sein. Halt aber auch weiterhin die Augen nach weiteren Fahrzeugen offen», ermuntert Dombrowski.

Kuno nimmt den Funkspruch zur Kenntnis. Er mag es nicht gerne, wenn man ihm sagt, wie er seine Arbeit machen soll. Er weiß zwar, dass es nicht so gemeint ist, dennoch mag er es nicht.

In diesem Moment sieht er, dass der Transporter zwischen zwei Lastkraftwagen auf die rechte Fahrspur zieht und den Blinker beibehält.

Die Neugier will Kuno dazu veranlassen, dass er es ihm gleichtut, doch er weiß, dass Neugier in seinem Geschäft kein guter Berater ist. Dem Fahrer könnte seine Handlung auffallen und ein Auffallen will Kuno auf keinen Fall riskieren. Er ahnt, dass der Transporter nun abfahren wird und meldet: «Achtung, der Transporter wechselt auf den rechten Fahrstreifen. Aktuell keine Sicht mehr. Er befindet sich zwischen einem weißen und einem gelben Lastkraftwagen und hatte bis eben noch geblinkt. Eventuell fährt er bei Euch ab. Ich bleibe auf meiner Spur und fahre weiter.»

Zu gerne würde Kuno jetzt auf dem Rastplatz stehen und sehen, was der Transporter dort macht, so er denn abfährt. Aber genauso bleibt er aufmerksam und wartet auf weitere Fahrzeuge, die ihn mit passenden Kennzeichen passieren könnten.

In der ARAL-Tankstelle Grundbergsee steht an einem kleinen Stehtresen am Fenster ein schlaksiger Mann mit lockigem Haar, das er zu einem kleinen Zopf am Hinterkopf zusammengebunden hat. Er nippt immer wieder an einem Pappbecher mit heißem Kaffee und verzieht dabei das Gesicht. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, aber seine tiefblauen Augen starren aus dem Fenster, als würde er auf etwas warten. Das Gesicht zeigt keinerlei Regung, keinerlei Emotion. Alleine steht er dort und scheint den Moment zu verinnerlichen.

Plötzlich ist ein Aufblitzen in seinem Blick zu erkennen. Er reckt den Hals und schaut gezielt auf ein Fahrzeug, das auf die Raststätte fährt. Es ist ein silberner Transporter, der direkt an eine der blauen Zapfsäulen heranfährt und hält.

Der Fahrer steigt aus, öffnet den Tankdeckel und steckt den Stutzen in den Tank hinein. Hierbei blickt er immer wieder auf die laufende Anzeige.

«Der silberne Transporter steht aktuell an Zapfsäule 3 und der Fahrer betankt sein Fahrzeug. Ich habe aktuell keine direkte Sicht auf die Person. Er ist dunkel gekleidet und hat sich vor dem Verlassen seine Kapuze über den Kopf gezogen. Er hat kurze Haare oder Glatze und eine normale Figur», spricht der Beobachter zu seinem Kaffeebecher.

Dombrowski aktualisiert immer wieder seine Übersicht. Jetzt kommt es auf ihn an. Er muss melden, sobald sich das Handy weiterbewegt und sich nicht mehr im Bereich der beobachteten Person befindet. Wenn es bei ihr bleibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie an der richtigen Person dran sind.

«Das Handy ist noch immer bei euch», meldet er und spürt wie die Spannung in ihm ansteigt. Er genießt das aufsteigende Kribbeln in der Magengrube, denn das ist immer ein gutes Zeichen. Sein Bauch weiß immer zuerst Bescheid, bevor sein Verstand versucht Einfluss zu nehmen.

Patsche bleibt auf seiner Position. Sobald die Person zahlen geht, wird er sie besser zu Gesicht bekommen. Er will aber auch kein Risiko eingehen. Sobald sie die Sicherheit haben, dass es das richtige Fahrzeug ist, werden sie sich nur noch darauf konzentrieren müssen. Da ist es ihm erst einmal egal, wie der Typ aussieht, den sie dann weiterverfolgen würden.

Kuno spürt, dass er der Musik davonfährt. Kein Fahrzeug überholt ihn, dass aus seiner Sicht in Betracht kommt. «Ich bin 500 Meter vor Stuckenborstel», meldet er weiter und begibt sich dabei bereits auf die Abbiegespur. Wenn das Handy weitergefahren wäre, dann hätte Dumbo das längst gemeldet, denkt er sich. Er kann sich geradezu vorstellen, wie der lauernd auf seinem Bürostuhl hockt und in den Bildschirm glotzt, voller Erwartung, ob sich der kleine Kreis auf der Landkarte weiterbewegt.

Mit der Abfahrt behält er sich alle Möglichkeiten, wieder einzugreifen, entweder wenn es für den Transporter weitergeht oder aber die Verfolgung aufzunehmen, falls sich das Handy vorzeitig weiterbegeben sollte - ohne den von ihm entdeckten Transporter.

Langsam fährt er die Abfahrt hinauf, harrt auf eine weitere Meldung und behält dabei die passierenden Fahrzeuge stets im Auge.

«Das Handy ist noch immer in Höhe Grundbergsee», ertönt aus den Lautsprechern des Fahrzeugs und Kuno fühlt sich bereits jetzt mal wieder in seiner Beobachtung und seiner Entscheidung bestätigt. Ein leichtes Grinsen huscht ihm über das Gesicht und er fährt endgültig in Stuckenborstel ab.

Der Fahrer des Transporters zieht den Reißverschluss seiner dicken Jacke zu und vergräbt sein Kinn in das wärmende Futter der Jacke. Die Wollmütze zieht er noch ein Stück tiefer in die Stirn, so dass von ihm kaum etwas zu erkennen ist. Lediglich ein heller Schnurrbart und eine auffällig große Nase schauen aus der verbleibenden Öffnung hervor.

Er zieht den Tankrüssel heraus, nachdem die Verankerung geklickt hat und steckt ihn zurück in die Zapfsäule. Nachdem er den Schraubverschluss des Tanks eingedreht hat, begibt er sich zügigen Schrittes in die Tankstelle. Der Wind und der Nieselregen scheinen ihm nicht sonderlich zu behagen.

Patsche kann einen kurzen Blick auf die Person erhaschen, aber gleichzeitig bleibt ein jüngeres Paar vor ihm stehen und versperrt ihm die freie Sicht auf die Person, die sich nun in seinem Rücken im Kassenbereich befindet.

«Der Fahrer hat die Tankstelle betreten. Er trägt eine dunkle Mütze und eine dunkle Jacke. Vermutlich hat er einen Bart.»

Patsche verlässt seinen Platz am Fenster und wirft nochmals einen Blick auf die Person, die mit dem Rücken zu ihm steht und die Zeitschriften vor der Kasse betrachtet. Mehr wird er hier nicht feststellen können, also entschließt er sich, zu seinem Auto zu gehen. Was interessiert ihn schon, ob der Typ sich noch eine Packung Kaugummis oder ein Brötchen kauft. Das ist hier aus seiner Sicht nicht mehr von Bedeutung.

«Patsche gibt seine Position auf und geht zurück zu seinem Fahrzeug», meldet er und geht aus der Tankstelle hinaus.

«Jo, ich habe direkten Blick auf das Fahrzeug», teilt Lemming mit.

Ruhe kehrt ein auf dem Funkkanal. Alle warten darauf, dass die Abfahrt des Fahrzeuges gemeldet wird und konzentrieren sich auf diesen einen Moment, den keiner verpassen will.

«Das Handy befindet sich immer noch bei Euch. Ich denke wir können uns langsam festlegen, dass es unser Mann ist», spricht Dombrowski in die Stille hinein «Wir bleiben an ihm dran und schauen, ob sich das Handy mit uns bewegt. Falls das der Fall ist, dann ziehen wir ihn raus.»

«So soll es sein», bestätigt Fred im Namen der Gruppe. Und wieder kehrt Stille ein in froher Erwartung auf die Dinge, die da kommen werden.

13

Mitten durch Kirchdorf-Süd schlängelt sich der Karl-Arnold-Ring. Hier reihen sich die Betonsünden aus den 70er Jahren aneinander und bieten vielen Familien Platz zum Leben. Das Leben ist hier anders als in vielen anderen Stadtteilen. Wer hier geboren wurde, der bleibt auch meistens genau hier.

Doch das gemeinsame Leben schafft auch einen großen Zusammenhalt zwischen den Leuten, die hier aufgewachsen sind. Die Häuser werden teilweise saniert. Wenn man allerdings in die Hausflure kommt, dann fühlt man sich 40 Jahre zurückversetzt. Briefkästen sind von den Wänden gerissen. Es riecht nach Knoblauch, Urin und Gewürzen aller Regionen der Welt. Laute Musik dröhnt aus den Wohnungen, Schmierereien befinden sich an den Wänden und zeichnen nieder, wer hier das Sagen hat.

Beachtung erhält, wer sich Statussymbole leisten kann. Es bedarf keiner eigenen Wohnung in einem Nobelstadtviertel Hamburgs oder eines besonders gut bezahlten Jobs nach einer erfolgreichen Ausbildung oder einem Studium.

Man bleibt hier im Viertel, lebt das Viertel, aber fährt einen auffälligen, teuren Wagen, im Idealfall mit einer besonderen Lackierung, lautem Motor und edlem Interieur. Die nächste Generation schenkt einem eine besondere Beachtung, wenn man mit einem solchen Wagen durch die Straßen fährt. Die eigene Generation zollt einem Respekt und die Meinungen der arbeitenden Älteren interessieren einen nicht.

Auf diesen Straßen lässt sich Cemal von seinem Fahrer zur Anschrift seiner Mutter fahren. Dorthin, wo er auch heute noch schläft, wenn er nicht weiß, wo er übernachten soll. Doch dies ist selten der Fall. Genug Mädchen wollen, dass er bei ihnen bleibt. Sie biedern sich seiner an, locken ihn mit ihren Reizen und kämpfen um seine Gunst. Diese Frauen haben für ihn aber nur geringe Bedeutung. Sie sind ein Spielzeug für ihn oder ein Schmuckstück mit dem er sich ziert, wenn er durch die Blocks fährt und sich präsentiert. Ansonsten interessiert ihn nur Geld und sein Ansehen.

Die Kinder auf den Straßen, die aufblicken und seiner weißen Geländelimousine mit offenem Mund nachblicken, wenn sie ihn sehen, geben ihm das Gefühl eines Königs, dessen Untertanen sich niederknien, wenn er sie passiert.

Der weiße Wagen hält mit seinen extra breiten Reifen vor einem der größten Wohnblocks im Viertel. Hier wohnt seine Mutter im 13. Stock mit vier jüngeren Brüdern auf drei Zimmern. Wenn Cemal hier schläft, nutzt er die Couch im Wohnzimmer. Dann wird ihm von der Mutter und den Brüdern das Zimmer zur Verfügung gestellt. Hier wird er nicht gestört, wenn er sich die Ehre gibt. Zum Balkon hat nur er den Schlüssel. Kein Mitglied der Familie würde es wagen dort hinauszutreten, auch wenn er ihnen den Schlüssel lassen würde. Er hat es ihnen nie verboten, aber sie alle wissen, dass es sein Balkon ist und nur er sich dort aufhalten darf.

Cemal steigt aus dem Geländewagen aus und geht in Richtung Hauseingang. Sein Fahrer bleibt sitzen und verharrt an gleicher Stelle bis zu Cemals Wiederkehr. Mehrere Jugendliche blicken auf und stellen sofort ihr Gerede über Mädchen ein. Sie verhalten sich ruhig. Sie sparen sich coole Gesten oder kluge Sprüche. Nachdem er das Haus betreten hat, gehen die Jungs wieder ihren Gewohnheiten nach. Sie starten die Rapmusik auf dröhnenden Basstubes und nicken, auf der Lehne der Spielplatzbänke sitzend, zum Takt des deutschen Sprachgesangs.

Im Wohnhaus steigt Cemal in den Fahrstuhl und fährt hinauf bis in den 13. Stock. Die stahlgraue, mit Schriftzügen verzierte Fahrstuhltür öffnet sich und fährt klappernd in die Wand hinein. Cemal tritt einen Schritt heraus und geht dann auf die Wohnungstür seiner Mutter zu.

Er schließt die Tür auf und betritt die Wohnung. Seine Mutter ist bereits wach und macht gerade das Frühstück für die Brüder von Cemal, die noch zur Schule gehen und bald aufstehen müssen.

Sie ist erst 45 Jahre alt, aber ihre Gesichtszüge ähneln denen einer Mitsechzigerin. Sie hat eine dickliche Statur und geht stets gebeugt. Auch in der Wohnung trägt sie ein dunkles Kopftuch mit smaragdgrünen Blumen bedruckt, einen langen Rock, der kurz über dem Boden endet und eine dunkle Strickjacke in dessen Ausschnitt das Kopftuch eingesteckt übergeht.

«Günaydin!», begrüßt sie ihren Sohn auf Türkisch und zeigt ihre Freude über den überraschenden Besuch.

Cemal nickt ihr kurz zu, geht aber nicht weiter auf sie ein. Er ist nicht gekommen, um mit seiner Mutter zu sprechen oder die Brüder zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Er geht direkt aus dem großzügigen Flur, dessen Nische zugleich auch als Esszimmer genutzt wird, in das Wohnzimmer und schließt dort die Tür.

In dem Wohnzimmer steht eine blaue Stoffcouch, deren Sitzflächen mit Wolldecken abgedeckt sind. Neben einem voll behangenen Wäscheständer steht der Wohnzimmerschrank mit zwei Glasvitrinen, in denen in goldenen Rahmen mit Porträtfotos der Kinder aus vergangenen Tagen aufgestellt sind.

Zwischen den Vitrinen steht ein großer Fernseher in dem ein türkischer Sender läuft. Die Lautstärke ist so aufgedreht, dass die Mutter sogar bei verschlossener Tür die Nachrichten in der Küche verstehen dürfte.

Cemal zieht aus seiner Hosentasche einen kleinen silbernen Schlüssel von der Größe eines Briefkastenschlüssels und steckt diesen in das Griffschloss der Balkontür.

Er öffnet das Schloss und ergreift den Griff, um die Tür aufzuziehen und auf den Balkon hinauszutreten. Der Wind drückt sich in die Wohnung und weht vereinzelte Regentropfen in das Gesicht von Cemal. Von dem Balkon aus kann man direkt zur Raststätte Stillhorn blicken. Wenn man die Augen schließt, lässt sich das Getöse der Autobahn als Meeresrauschen empfinden, aber hierfür nimmt sich Cemal keine Zeit.

Er schreitet über den Balkon zu einem an der Wand befindlichen ehemaligen Küchenschrank, den er dort verschraubt hat. Der Schrank ist mit einem Zahlenschloss versehen, dass er schnell öffnet. Es dient lediglich zum Schutz vor neugierigen Einblicken seiner Familie und nicht zur Sicherung seines Inhalts. Niemand würde auf seinen Balkon klettern und hier suchen. Denn diesen Bereich hat er keiner Person, auch nicht seinen engsten Vertrauten, gezeigt. Es ist sein heimlicher Rückzugsort an schönen Tagen, aber auch sein Tresor, geschützt durch 12 Stockwerke von der Straße und seinen Neidern.

Cemal zieht seine Lederjacke aus und entnimmt dem Schrank eine flache Umhängetasche, die er sich Diagonal über den Oberkörper streift. Der Gurt ist eng angezogen und die Tasche bleibt auf seinem Rücken anliegend an den unteren Rippenbögen.

Er streift die Lederjacke wieder über seinen Körper und schließt den Reißverschluss, so dass sein Oberkörper im Weiteren von Wind und Regen geschützt wird.

Er dreht sich um, und verlässt den Balkon, schließt die Tür und verschließt den Griff. Den Schlüssel steckt er wieder in seine Hosentasche und verlässt das Wohnzimmer. Wortlos geht er an seiner Mutter im Flur vorbei, die ihm mit Sorgen in den Augen nachsieht. Sie spürt Unheil über ihrem Sohn aufkommen, aber sie traut sich nicht ihm nachzurufen. Sie weiß, dass er seinen Weg geht und nicht auf sie und ihren Glauben hören würde. Nachdem sich die Wohnungstür hinter ihrem Sohn geschlossen hat, blickt sie flehentlich gen Himmel und bittet ihren Mann, den sie dort wähnt, um Hilfe und Beistand. Nach seinem Tod ist in ihrer Familie alles anders geworden. Der fleißige Schüler Cemal hat sich verändert, hatte kein Interesse mehr an dem Weg des Fleißes, der ihm von seinem Vater vorgelebt wurde. Er öffnete sich der Straße und fand dort mit Intellekt seinen Platz, um ausreichende Einkünfte für sich und seine Familie zu generieren, um so seiner traditionellen Pflicht als erster Sohn nachkommen zu können.

Die Tür des Fahrstuhls öffnet sich scheppernd und Cemal verlässt den Aufzug und das Treppenhaus, um sich über den Gehweg zurück zu seinem wartenden Fahrer zu begeben. Sie müssen sich beeilen, denn die Zeit drängt bereits.

14

Breite Gummireifen fahren über die feuchten Abfahrtstreifen in Stapelfeld. Sie fahren an der Abfahrt der A1 hinab und halten zunächst vor der Ampel, die auf die Landstraße führt. Langsam ordnen sie sich im linken Abbiegestreifen ein. Die gelbe Lampe ergänzt das rote Licht und die Reifen beginnen, sich quietschend zu drehen. Ihr Fahrer schlägt hart rechts ein und überholt den ebenfalls anfahrenden Wagen auf dem Rechtsabbiegestreifen, um sich vor diesen auf die Landstraße zu setzen und den Weg in Richtung Hamburg zu suchen.

Der Überholte hupt den Reifen und ihrem Fahrzeug lautstark hinterher und fängt an wild gestikulierend hinterher zu fahren, aber gegen die 525 Pferdestärken des V8- Motors kann er nicht ankommen. Während der Verfolger die Beschleunigung bei vorgeschriebenen einhundert Stundenkilometern abbricht, lassen sich die Gummireifen auf einhundertvierzig Kilometer pro Stunde hochtreiben. Am Industriegebiet an der Sieker Landstraße bremsen sie ab, um vor den luxuriösen Schönheiten des dortigen Sportwagenhauses abzubiegen, von denen sie gerne mal gefahren werden würden. Doch einem Ferrari oder Aston Martin reichen sie halt doch nicht aus und so werden sie an ihrem Fahrzeug verbleiben müssen, dessen Fahrer sie so häufig mit gewagten Fahrmanövern quälend an ihre eigenen Grenzen führt.

Sie fahren durch den Merkur Ring und drehen dort mehrere Runden, mal etwas schneller, dann wieder sehr langsam. Manchmal dürfen sie halten und kurzzeitig verschnaufen, um dann wieder anzufahren und um die nächste Kurve herum erneut anzuhalten.

Faruk Simsek stellt den Motor ab und steigt aus seinem Fahrzeug aus. Er streicht sich mit beiden Händen durch die Haare, kratzt seinen Bart nach vorne hin zusammen, wo er dessen Spitze mit der rechten Hand verzwirbelt. Mit der linken Hand zieht er aus der Hosentasche eine Schachtel mit Zigaretten.

Er klopft mit dem Finger von unten gegen die Schachtel und zieht mit seinen Lippen eine Zigarette heraus, die er sich anschließend entzündet.

Faruk weiß, dass er noch viel Zeit hat und nutzt diese, um einfach hier zu stehen, die Gegend zu beobachten und seine Zigarette zu rauchen. Der leichte, verbliebene Sprühregen stört ihn hierbei nicht. Er lebt schon immer hier in Hamburg und kennt das Wetter, das hier üblich ist. Die milden Temperaturen lassen ihn eher die feuchtwarmen Tropfen genießen. Er nimmt die Hektik aus der Situation, denn er fühlt sich sicher an diesem Ort, den niemand außer ihm und Cemal in Hamburg kennt. Hier ist ihre Firma, ihre Zentrale für die Geschäfte, die sie betreiben. Er hat auf der Anfahrt wieder alles dafür getan, dass niemand diesen Ort mitbekommen würde. Kein Fahrzeug konnte ihm bis hierher folgen. Auch in Stapelfeld gab es kein Fahrzeug, dass mit ihm abfuhr und dann den Merkurring entlangkam.

Faruk zieht aus seiner Hosentasche sein Telefon und schaut auf die Uhrzeit. Es ist fast sieben Uhr. Zumindest eine Stunde muss er noch warten, bis der erwartete Besuch eintreffen wird. Er will noch ein wenig abwarten, weiter beobachten, noch eine Zigarette rauchen und dann in die Firma fahren. Dort sind noch einige Dinge zu erledigen.

Die grauen Wolken am Himmel ziehen weiter. Sie werden mit der Zeit immer heller, dennoch bewegen sie sich schnell und geben der Umgebung ständig ein wechselndes Licht. Die angrenzenden Wiesen lässt es in hellen oder auch dunklen Grüntönen erscheinen.

Die Geräusche der Sieker Landstraße werden gedämmt wie Wellen am Meer zu Faruk hinübergetragen.

Er würde es nie zugeben, doch er mag diesen Moment der Ruhe und Stille, wenn er sich die Zeit mal nimmt oder sie ihm wie heute aufgezwungen wird. Lange aushalten kann er die Situation jedoch nicht. Immer wieder nimmt er sein Smartphone in die Hand, schaut, ob er neue Nachrichten erhalten hat oder wie die Zeit verrinnt, während er hier steht und wartet.

Er klickt seine Kontakte durch, bis er bei “Canim” ankommt und drückt auf den grünen Hörer, um sie anzurufen. Das Telefon klingelt nur einmal, da meldet sich Charleen bereits mit einem langgezogenen “Schatz!”.

«Hey Baby, was geht ab, was machst du?», fragt er sie.

«Nichts. Und du?», erwidert sie liebevoll.

«Was fragst du mich das immer, Baby, ich hab’ zu tun, dies das, weißt du?», antwortet er genervt.

«Ach so, Schatz. Kommst du noch? Ich hab' Sehnsucht nach dir», wispert sie ihm entgegen.

«Canim Baby, ich habe zu tun, ist wichtig - wird spät heute, ja? Was machst Du heute?», antwortet Faruk genervt, aber freundlich.

«Schatz, ich muss arbeiten, Schatz. Ich rauch’ jetzt noch eine Keule und dann mach ich mich fertig. Gar kein Bock heute auf Arbeit, aber was soll’s. Ich dachte, du kommst vielleicht noch vorbei, Schatz», antwortet Charleen. Währenddessen schleicht sie in ihrem Schlafhöschen und einem schwarzen T-Shirt von Faruk durch die Wohnung und sucht sich Tabak, Filter, Papers und ihren kleinen Beutel mit Marihuana zusammen, um sich einen Joint zu bauen. Hierbei hat sie ihr Handy auf Lautsprecher gestellt und hält es waagerecht vor ihr Gesicht, um direkt in das Mikrofon zu sprechen.

«Canim, was redest du so am Telefon», regt sich Faruk auf «Man, hör’ auf so zu sprechen, ja.».

«Entspann dich mal, Schatz», redet sie auf ihn ein, «hier ist niemand, der mithören könnte». Sie leckt an dem Paper entlang und verklebt den zwischenzeitlich wohl geformten Joint, um ihn direkt danach zu entzünden. Sie inhaliert den süßlichen Duft tief in ihre Lungen und versucht ihn besonders lange in ihnen zu halten, bevor sie den Rauch langsam ausatmet.

«Schatz, wann sehen wir uns endlich wieder? Ich will dich sehen. Denkst du bitte an mich, wenn du kommst. Mein Gras ist fast alle”, spricht sie nasal, als hätte sie sich soeben eine Erkältung eingefangen, durch die Leitung.

«Halt die Fresse, man. Hör auf so scheiße am Telefon zu sprechen du dummes Kind, sonst klatsch’ ich dich richtig, man», schreit Faruk in sein Telefon und legt direkt auf. Der Moment der Ruhe ist vergangen. An seinen Schläfen pulsiert das Blut, das versucht seine Wut zu zügeln, die er gerade wieder empfindet. Er fährt sich durch die Haare und streicht sich durch den Bart. Anschließend schnippt er wieder gegen den Boden seiner Schachtel, um eine Zigarette mit den Lippen aufzunehmen.

Nach zwei weiteren Zigaretten, die ihn langsam in seiner Impulsivität beruhigen, verschließt er per Fernbedienung seinen Wagen und geht den Merkurring entlang. Er steigt nicht wieder ein und fährt bis zur Firma. Er lässt ihn lieber zurück. Der Weg ist nicht weit und auf dem Gelände will er den Wagen nicht offensichtlich stehen haben, zumindest nicht, wenn er Besuch erwartet. Es wird ablaufen wie immer, nur so kann es gehen, ohne die eigenen Unternehmungen in irgendeiner Weise zu gefährden.

Nach zweihundert Metern ist er am Ziel. Über eine kleine Zufahrt gelangt er auf das Gelände, das mit einem Rotklinkerbau und einer kleinen Werkstatt für Kraftfahrzeuge bebaut ist. Die Werkstatt ist seit längerer Zeit nicht mehr in Betrieb. Ein guter Freund hat sie ihnen als Untermieter überlassen. Einen Mietvertrag bedurfte es hierfür nicht. Sie zahlen rechtzeitig und großzügig die Miete, dafür stellt er keine Fragen, die ihm Antworten bringen könnten, die er gar nicht hören will. Die Firma läuft noch immer unter seinem Namen und wird auch weiterhin von ihm geführt. Auch wenn er für den gleich gebliebenen monatlichen Verdienst nun nicht mehr die Hände mit Öl und Schmiermitteln beschmutzen muss, sondern den Alltag mit seiner Familie genießen kann. Gelegentlich ergänzt er seine Einkünfte durch Reparaturen in Selbsthilfewerkstätten für Freunde und Bekannte gegen eine kleine Aufwandsentschädigung. Mehr ist für ein gutes Leben seinerseits nicht mehr nötig.

Faruk dreht sich noch einmal um. Der Merkurring liegt ruhig vor ihm. Keine Fahrzeuge stehen in der Nähe abgestellt und andere Menschen sind ebenfalls nicht zu sehen.

Er zieht seinen Fahrzeugschlüssel empor und steckt einen Sicherheitsschlüssel in das Türschloss neben dem Rolltor. Bevor er die Tür öffnet, gibt er in das neben der Tür befindliche Nummernfeld eine vierstellige Zahlenkombination ein, um die Alarmanlage zu deaktivieren.

Faruk dreht den Schlüssel zweimal herum und betritt die Werkstatt, dessen Tür hinter ihm mit einem lauten Knall automatisch wieder ins Schloss fällt.

15

In einem seitlichen Parkstreifen der Tankstelle Grundbergsee steht ein blauer Kombi. Die Scheiben des Fahrzeugfonds sind abgedunkelt. Auf dem Fahrer und Beifahrersitz sitzt niemand. Das Fahrzeug ist verlassen. Vermutlich ist der Fahrer mit möglicher Begleitung in die Raststätte gegangen, um dort ein Frühstücksmenü zu sich zu nehmen, könnte man denken.

Im Kofferraum des Fahrzeugs hat es sich Lemming gemütlich gemacht. Schon aus Erfahrung hat er dort immer zwei große Sofakissen liegen, die er als Sitz- und Rückenkissen nutzen kann. Dort sitzt er nun im Schneidersitz mit einer dunklen Trainingshose und einem blauen Kapuzenpullover. Die hellen Bänder hat er wie immer in den Ausschnitt gesteckt. Er mag es nicht, wenn sie vor der Brust herumschwingen. Seinen grauen Schlaufenschal hat er bis zur Nase hochgezogen. Auch, wenn man ihn hier nicht sehen kann, er fühlt sich einfach sicherer, wenn er so in der vordersten Position sitzt. Zwischen seinen Beinen hält er in den Händen eine hochwertige Spiegelreflexkamera mit starkem Objektiv. Er will Fotos von dem die Tankstelle verlassenden Fahrer machen und per Bluetooth in den gemeinsamen Chat stellen.

Der silberne Transporter steht noch immer an der Zapfsäule. Von dem dunkel gekleideten Fahrer hat er noch nichts gesehen, aber die Abfahrt wird er feststellen können.

Der Regen hat mit der Zeit immer mehr nachgelassen. Inzwischen fallen kaum noch Regentropfen auf die Scheiben des Kombis. Lemming hat perfekte Sicht und wird alles gut dokumentieren können.

«Bislang keine Bewegung am Zielfahrzeug», meldet er über Funk, einfach nur, um die eingekehrte Stille ein wenig zu brechen. Er muss konzentriert bleiben, auf den einen Moment warten und sofort reagieren.

Gelegentlich blickt er zum Geschäft der Tankstelle hinüber, aber die Scheiben in denen sich die dunklen Wolken spiegeln, lassen keinen richtigen Blick in die Räumlichkeiten zu.

Es bleibt ihm nur zu warten. Das Warten ist eigentlich immer seine Hauptaufgabe. Selten fährt er mit seinen Zielpersonen den ganzen Tag umher. Meistens wartet er nur, bis sie überhaupt mal etwas tun, nachdem sie bis in den Nachmittag hinein ihren Rausch ausgeschlafen haben. Je länger der Tag, desto interessanter wird es dann meistens. Und umso länger wird der Arbeitstag für Lemming und seine Kollegen. Heute ist es endlich mal anders. Das Gegenüber hat das Drehbuch geschrieben und sie geweckt. Sie brauchten nicht warten, sie mussten suchen und haben ihre Aufgabe mit Bravour erledigt. Jetzt kommt es darauf an, dass sie als Team funktionieren und den Wagen nicht mehr verlieren. Zum Glück ist es ein großer auffälliger Wagen, der nicht imstande ist, einen ihrer Wagen abzuhängen. Es gibt keinen Stau, keine Ampeln, kein Verkehr, der sie nun überraschen kann. Jeder von ihnen hatte den Gegenverkehr auf der Anfahrt in Blick genommen. Sie wissen, dass dort aktuell kein Unfall oder Stau festzustellen ist. Ebenso war klar, dass der Fahrer mit ungefähr einhundertdreißig Stundenkilometern weiterfahren würde. Er hatte keinen vorsichtigen oder umsichtigen Eindruck auf Patsche gemacht, ansonsten hätte Patsche das gemeldet, um die Kollegen auf neugierige Blicke vorzubereiten.

Im Schatten der Tür ist eine dunkle Gestalt zu erkennen. Lemming setzt sich ein wenig aufrechter hin, verengt seine Augen. Er versucht die Silhouette der Person zu erkennen. Die automatischen Türen schieben sich langsam auseinander und ein Mann mit dunkler Jacke und einer dunklen Mütze verlässt den Raum. Er entspricht der vorhin kommunizierten Beschreibung und geht mit normalem Tempo in Richtung des silbernen Lieferwagens.

«Unser Mann hat das Geschäft verlassen und geht in Richtung des Transporters. Er hat nun eine weiße Tüte in der Hand mit einem eckigen Gegenstand», meldet Lemming per Funk. Im Hintergrund klickt seine Kamera, die ihm gestochen scharfe Bilder von der Person und ihrer Kleidung liefert. Die Beschreibung lässt sich nicht weiter konkretisieren. Die Jacke ist noch immer über das Kinn gezogen und die Mütze wirkt noch tiefer sitzend, als von Patsche beschrieben.

Dombrowski schreckt auf von dem Funkspruch. Er hatte für einen Moment innegehalten. Gelegentlich die Übersicht im Überwachungsprogramm aktualisiert und die Standortdaten des Telefons mit den vorangegangenen abgeglichen. Es hatte sich bislang nichts verändert.

Dombrowski nimmt die Turnschuhe von seinem Schreibtisch und setzt sich aufrecht hin. Er kratzt sich an den dunklen Bartstoppeln und aktualisiert seine Daten.

«Das Handy ist weiterhin bei Euch», vermeldet er der Gruppe, um sie wenigstens ein wenig zu unterstützen.

Nun lehnt er sich wieder zurück und wartet weiter auf das, was die Gruppe leistet. Das Heft des Handelns liegt nun in ihrer Hand.

«Unsere Zielperson tritt nun auf der Fahrerseite an sein Fahrzeug heran und öffnet die Tür mit einem Schlüssel. Er steigt ein und nimmt auf dem Fahrersitz Platz. Er holt etwas aus der Tüte und schaut es sich an. Was es ist, kann ich nicht sehen.

Die Scheinwerfer des Fahrzeugs gehen an, das Fahrzeug rollt an und bewegt sich direkt auf die Spur, die zur Autobahn zurückführt. Er wirkt ruhig, hat sich nicht umgeschaut. Der Wagen ist jetzt vor mir vorbeigezogen. Ihr müsst übernehmen, ich kann erst gleich hinterher.»

Lemming wartet, bis der Wagen außer Sicht ist, turnt über die Rücksitzbank und die Mittelkonsole auf den Fahrersitz und startet mit dem steckenden Schlüssel den Motor. Er setzt schnellstmöglich zurück und fährt in der Parkspur ebenfalls in Richtung Autobahn ab.

«Pascho hat den Transporter direkt im Blick. er fährt jetzt auf die Autobahn und beschleunigt. Ich bin zwei Fahrzeuge hinter ihm.»

«Patsche ist direkt hinter dir.»

«Und ich bin hinter Fred, wir folgen euch direkt», meldet Lemming.

«Kuno fährt jetzt in Stuckenborstel auf. Ich fahre mit reduzierter Geschwindigkeit bis ich ihn im Spiegel sehe und passe mich dann an.»

«JayJay, warte bitte noch in Bockel bis wir vorbei sind. Nicht, dass unser Freund dort noch einmal abfährt und wir dort keinen Backup haben», fordert Fred den Jungspund der Truppe auf.

«Ja, verstanden. Ich verbleibe hier bis ihr vorbei seid und folge Euch dann», bestätigt Jayjay.

Tim Dombrowski hält es in Alsterdorf inzwischen nicht mehr auf seinem Bürostuhl aus. Er steht vor seinem Tisch und wandert immer mal wieder auf und ab in Erwartung einer Bewegung des Mobiltelefons auf dem Bildschirm.

«Wir sind jetzt Höhe Stuckenborstel. Noch 500 Meter bis zur Abfahrt», teilt Pascho mit. «Jetzt Stuckenborstel vorbei.»

Dombrowski klickt immer wieder auf seine Maus. Der verdammte Kreis will sich auf dem Bildschirm einfach nicht weiterbewegen. Er beißt sich auf die Lippen und streift sich mit den Händen kratzend über den Kopf. Er merkt, dass die Spannung in seinem Magen zunimmt. Die Aufregung ist spürbar, dieser Moment ist entscheidend. Alles passt zusammen, es muss dieses Fahrzeug sein. Die Geschwindigkeit, der Rastplatz und das niederländische Fahrzeug. Das kann doch kein Zufall gewesen sein. Es muss passen.

Otto lehnt noch immer im Türrahmen und schlürft seinen Kaffee. Doch er sagt in diesem Moment nichts. Beide warten auf den nächsten Standort und darauf, dass sich das Telefon mit dem Fahrzeug mitbewegt.

«Unser Freund fährt gemütlich mit einhundertdreißig auf der mittleren Spur. Er fährt kontinuierlich in dieser Geschwindigkeit und macht keine Anstalten daran etwas zu ändern. Die Geschwindigkeit passt zum aktuellen Verkehr. Er wird so weiterfahren. Wir sind jetzt zwei Kilometer hinter Stuckenborstel. Noch zehn Kilometer bis Bockel», teilt Pascho mit.

Dombrowski hat sich gesetzt. Er ist angespannt. Verstand und Bauchgefühl sind sich einig. Die Geodaten müssen sich gleich mitbewegen. Die Distanzen auf dem Land sind groß, die Funktürme reichen weit. Auch er weiß darum und sieht keinen Grund zur Hektik. Dennoch hat er inzwischen seinen Knautschball in die Finger genommen und malträtiert ihn zwischen seinen schlanken Fingern. Er dreht seine Wasserflasche auf, nimmt einen Schluck und starrt gleich wieder auf den Bildschirm.

Das Telefon klingelt. Dombrowski erkennt sofort die Nummer von Fred. Er weiß genau, welche Fragen er stellen wird, aber er will diese erst gestellt bekommen, wenn sie Sicherheit haben.

Aus dem Funkgerät hört er die Stimme von Pascho erklingen, der vermeldet, dass sie nun bereits vier Kilometer hinter Stuckenborstel sein würden.

Dombrowski blickt auf den Bildschirm, der sich nicht ändert und zum Telefon. Er presst die Lippen aufeinander und ergreift den Hörer.

«Mein liebster Fred…», begrüßt er ihn.

«Und?»

«Drück die Daumen», erwidert er.

«Ich drücke. Und jetzt?»

In diesem Moment bewegt sich ein gelber Kreis aus dem bisherigen roten heraus und zeigt, dass sich eine neue Geo-Koordinate ergeben hat, die unmittelbar vor Bockel liegt. Dombrowski beginnt langsam zu lächeln. Otto hat sich inzwischen leise hinter ihn bewegt und schaut ihm ebenfalls gespannt über die Schulter.

«Das Handy ist mit Euch. Ich denke, wir haben ihn, mein Freund.»

«Wie ist der Plan? Wollen wir schauen wo es hingeht? Aktuell können wir ihn gut halten. Oder sollen wir ihn runterziehen?», erfragt Fred.

«Wer alles will, kriegt am Ende nichts. Wir ziehen ihn runter und schauen dann weiter. Mein Bauchgefühl sagt ja. Zieht ihn runter. Und denkt daran, dass er Schmuggelverstecke nutzen könnte», ordnet Dombrowski überzeugt davon an, dass es die richtige Entscheidung ist.

«Einverstanden. Bis gleich.»

«Ich habe soeben mit Dumbo gesprochen, wir holen ihn in Bockel von der Autobahn. Wir werden ihn anhalten und einer normalen Kontrolle unterziehen, dass der gute Mann nicht hektisch wird und dann schauen wir mal, was der Wagen uns bringt.

Pascho, Lemming und Patsche macht Euch bereit. Kuno und Jayjay haltet Euch ebenfalls in Bockel bereit, falls er nicht den Anweisungen folgt.»

«Wir haben noch zwei Kilometer bis Bockel. Ich setze mich schon einmal vor ihn und hol ihn dann von der Bahn», teilt Pascho mit, der sogleich Gas gibt und auf die linke Spur wechselt. Er zieht an den beiden ihm unbekannten Fahrzeugen vorbei, die mit ihm und dem Transporter bislang gleichmäßig auf der Mittelspur gefahren sind. Im Anschluss überholt er auch den Transporter und wirft einen flüchtigen Blick auf den Fahrer. Der sitzt fröhlich am Steuer und hat seine Lippen zum Pfeifen gespitzt, wozu er den Kopf rhythmisch von links nach rechts schwenkt. Hierbei bewegt er auch seinen Oberkörper im Takt zur eigenen Musik.

Pascho öffnet die Fahrerscheibe, schaltet den rechten Blinker ein und reduziert langsam wieder die Geschwindigkeit. Er aktiviert sein Blaulicht und setzt es durch das Fenster auf sein Dach, wo es durch einen Magneten haften bleibt. Er beobachtet den Fahrer in dem Transporter, der gebannt auf sein Licht blickt. Noch zeigt er keine weitere Reaktion. Die geschürzten Lippen sind nicht mehr zu erkennen und auch sein Kopf und Oberkörper sind erstarrt.

Unter seinem Fahrersitz ergreift Pascho seine Polizeikelle und beginnt mit dieser aus dem Fahrerfenster zu winken. Der Fahrtwind reißt an ihr, aber Pascho hat sie fest im Griff und schaut weiter durch den Rückspiegel auf den Fahrer des Transporters. Er setzt den Blinker nach rechts und wartet, dass der Fahrer des niederländischen Wagens es ihm gleichtut. Dieser scheint zunächst zu zögern. Doch der gebannte Blick, der Pascho entgegenschlägt, zeigt ihm, dass der Fahrer mit der Situation überfordert ist. Die Gedanken scheinen bei ihm zu tanzen und keine geordneten Ideen zu ermöglichen. Er ergibt sich dem Druck des blauen Lichts und setzt ebenfalls den Blinker nach rechts. Er folgt Pascho zunächst auf die rechte Spur und kurze Zeit später auf die Abfahrt. Patsche und Lemming ziehen mit ihren Fahrzeugen neben den Transporter und verhindern die Möglichkeit sich wieder zurück auf die Autobahn begeben zu können. Der Fahrer macht aber auch keine Anstalten, dass er flüchten will. Er sitzt zusammengesunken auf seinem Sitz und folgt dem Wagen von Pascho. Der fährt geradeaus über eine Kreuzung und biegt anschließend nach links auf den Autohof Bockel ab. Dort hält er auf einem leeren Parkstreifen für Lastkraftwagen an und wartet bis der Transporter hinter ihm zum Stehen kommt.

Die Lichter des Fahrzeugs werden abgeschaltet und durch das offene Fenster ist für ihn kein Motorengeräusch mehr wahrnehmbar.

Er öffnet seine Fahrertür und steigt aus seinem Fahrzeug aus. Patsche und Lemming sind inzwischen neben dem Zielfahrzeug angehalten. Auch sie entsteigen ihren Fahrzeugen und beobachten den Fahrer im Wagen. Er hat seine Hände am Lenkrad und schaut ihnen fragend entgegen. Zweifel sind in seinem Gesicht zu erkennen, aber auch Wut und Enttäuschung. Er scheint mit seiner Situation nicht glücklich zu sein und fokussiert seinen Blick auf Pascho, der sich seiner Tür mit schnellen Schritten nähert. Er blickt ihm starr entgegen, versucht seine Emotionen zu verbergen und ihm mit Fassung entgegen zu treten.

Er lässt das Fenster herunter und begrüßt Pascho übertrieben freundlich mit «Goedemorgen.»

Pascho verzieht keine Miene und begrüßt den Fahrer förmlich distanziert.

«Guten Morgen. Bitte einmal den Führerschein und die Fahrzeugpapiere.»

«Ja, klar. Selbstverständlich», erwidert der Fahrer und öffnet einen neben ihm stehenden Rucksack, aus dem er sein Portemonnaie herauszieht. «Was habe ich denn verbrochen, Herr Inspekteur», fragt er mit niederländischem Akzent. Er versucht sich in einem Lächeln, dass seine großen Schneidezähne unter der langen Nase und dem Schnurrbart zum Vorschein bringt.

«Ich stelle hier die Fragen», erwidert Pascho strikt. «Was haben Sie denn in ihrem Transporter geladen? Und wo wollen sie hin?», fragt er weiter, während er die Papiere überreicht bekommt.

«Ich fahre nach Lübeck und habe Bloemen geladen. Kann ich bitte weiterfahren, meine Kunden warten schon und ich bin spät dran wegen des Orkans.»

Pascho blickt von den Papieren auf und gleicht das Lichtbild mit dem Fahrer ab.

«Herr van der Boek, erst einmal fahren sie nirgendwo hin. Ich bitte Sie aus ihrem Fahrzeug auszusteigen und mir die Ladung zu zeigen. Ich habe den Verdacht, dass Sie Betäubungsmittel in ihrem Fahrzeug transportieren.»

Die Freundlichkeit in dem Gesicht von van den Boek weicht dem puren Entsetzen.

16

Die Orkanböen über Eppendorf nördlich der Alster haben ihre Spuren hinterlassen. Trockenes Geäst wurde aus den Bäumen gerissen und liegt auf den Gehwegen und Straßen des angesehenen Stadtteils. Die örtlichen Parkplätze teilen sich klassische Mittelklassewagen und Geländelimousinen. Sie parken eng auf eng und kaum einer findet hier einen Platz direkt vor seiner Haustür.

Zwischen dem herabgefallenen Laub und den knorrigen Ästen liegen mahagonibraune Kastanien auf den Wegen, die einzeln von Kindern mit freudigen Augen aufgehoben und den Eltern strahlend gezeigt werden. Natürlich müssen sie alle für spätere Basteleien mit nach Hause genommen werden. Viel Zeit haben die Kinder in diesem Stadtteil nicht zum Sammeln, denn sie müssen schnell mit dem Auto zu ihrem Arbeitsplatz in der Kindertagesstätte gebracht werden, damit die Eltern zumindest bis zum frühen Abend ihrer wahren Bestimmung im Streben nach mehr Ansehen und Reichtum nachgehen können.

Die Fassaden der Stadthäuser sind äußerst gepflegt und die Eingangsbereiche zumeist repräsentativ. Aus einem dieser Ausgänge kommt ein Vater mit seinem kleinen Kind herausgetreten. Er trägt eine schwarze Hose, die knapp über den Knöcheln endet und im hippen "ankle free"-Stil die nackten Knöchel preisgibt. Die hellen Sneakers glänzen geradezu in diesem grauen Wetter. Während der dunkle Parker offen getragen wird und ein mit Strasssteinen beklebtes T-Shirt von einem teuren Designer preisgibt. Der Vater öffnet einen großen Regenschirm, obwohl es kaum noch regnet und geht mit seiner Tochter die Straße entlang.

Die Tochter ist vielleicht vier Jahre alt und redet und erzählt den ganzen Weg, während ihr Vater immer wieder nur gedankenverloren brummt. Sie trägt ein hellblaues Sommerkleid, eine helle Strumpfhose und dazu schwarze Lackschühchen. Die Haare sind ihr sorgsam am Kopf entlang geflochten und in ihrem Haar steckt ein Haarreif mit Blumen.

In den freigelegten Ohren prangen große Perlenohrringe und auf dem Rücken trägt sie ihr Frühstück in einem kleinen schwedischen Markenrucksack.

Nach guten fünfhundert Metern kommen sie bei dem Kindergarten des Mädchens an, welches freudig selber klingelt und die Tür öffnet. Sie herzt ihren Vater, als wäre es das letzte Mal und erzählt ihm, was sie alles am Nachmittag anstellen könnten. Sie will auf jeden Fall einen Kuchen backen für ihre Mutter, denn die hat morgen Geburtstag. Ihr Vater nickt ihr immer einverstanden zu in der Hoffnung, dass sie all diese Vorschläge bis zum Nachmittag bereits durch andere Gedanken und Ideen ersetzt hat, die sie dann alleine umsetzen kann.

Er zieht ihre die Schuhe aus und zieht die Hausschuhe an, die jeweils mit einer kleinen Krone bestickt sind.

Das Mädchen drückt nochmals ihren Vater und gibt ihm mehrere Abschiedsküsse auf die bärtigen Wangen bis sie sich umdreht und in den Aufenthaltsraum läuft.

Der Vater verlässt den Flur und winkt ihr noch einmal durch das große Fenster zu, bevor er in Richtung seiner Wohnanschrift geht. Außerhalb der Sichtweite zückt er sein Smartphone aus der Tasche und beginnt auf dem Telefon Nachrichten zu schreiben. Aus der Jackentasche zieht er einen Energydrink und öffnet ihn mit einem Knacken und Zischen. Er nimmt einen kräftigen Schluck von der zuckersüßen Limonade, leckt sich über die Lippen und nimmt gleich den nächsten Schluck, bevor er wieder auf sein Smartphone blickt und mit einem Finger zu schreiben beginnt.

Für den Weg braucht er nicht aufblicken. Er ist nicht weit und geht immer nur der Straße entlang. Die Geschäfte haben noch allesamt geschlossen und es gibt auch keine Straßen oder Ausfahrten, die er passieren muss. Nur eine endlose Straße, die dann irgendwann in eine Hauptstraße mündet.

Er hält kurz inne und blickt auf. Einmal nach vorne, einmal hinter sich und greift in die Innentasche seines Parkers. Er fühlt nach dem, was er sucht und zieht es vorsichtig heraus. Ein längerer, dünner Streifen kommt zum Vorschein, den er sich direkt in den Mund steckt. Dann stellt er seine Dose ab und beginnt mit beiden Händen in seinen seitlichen Jackentaschen zu wühlen. Mit der rechten Hand zieht er eine Packung Streichhölzer aus der Tasche und schiebt die Schublade des kleinen Päckchens direkt auf. Er stellt sich in einen geschlossenen Ladeneingang einer Boutique und streicht mit dem Holz über die Seite der Schachtel. Eine kleine Flamme sticht hervor und zündet seine Zigarette an. Ein süßlicher Duft wabert aus dem Eingang hervor und lässt die wenigen Passanten, die hier am heutigen Morgen unterwegs sind, irritiert aufschauen. Einen solchen Duft hatten die meisten bereits seit ihrem Studium nicht mehr wahrgenommen. Sie schauen ablehnend auf den jungen Mann, der im Halbschatten des Eingangs und unter seinem leicht zur Seite gedrehten Cap kaum zu erkennen ist.

Steven genießt seinen ersten Joint des Tages. Es ist ein festes Ritual für ihn geworden, nachdem er seine Tochter in den Kindergarten gebracht hat. Seine Freundin macht jeden Morgen das kleine Mädchen zurecht und er bringt sie pünktlich zum Kindergarten, während seine Freundin zu ihrem Bürojob fährt.

Er kümmert sich gerne um das liebe Mädchen, das er als eigene Tochter empfindet, auch wenn seine Freundin bereits schwanger war, als sie sich kennenlernten. Den wahren Vater hatten er und das Mädchen nie kennengelernt. Aber er hat auch kein Interesse daran und für das Mädchen ist nur er der Vater.

Er zieht wieder an seinem Joint und überlegt, ob er sich noch einmal hinlegen oder rausgehen sollte. Aber bei solchem Wetter wird er sich wohl eher auf die Couch legen und später für den zweiten Joint wieder vor die Tür gehen.

Seine Freundin ist wie ein Hauptgewinn für Steven. Sie wohnt dank ihrer gestopften Eltern mietfrei in einer großen Eigentumswohnung. Sie arbeitet jeden Tag im Büro und am Abend noch mit ihrem Laptop auf der Couch. Sie fragt nicht wer er ist oder wo er herkommt. Sie hatte sich in ihn als Menschen verliebt, der er ist, oder zumindest in den Menschen, der er sein kann, wenn er will und sich bemüht.

Richtige Bedeutung hat für seine Freundin lediglich ihr eigener Beruf und vor allem ihre Karriere. Sie will weiter vorankommen und das kann sie eben nur, wenn sie flexibel arbeiten und sich in den richtigen Momenten profilieren und präsentieren kann. Das geht mit einem Kind nur schwer, wenn keiner einem den Rücken so frei hält wie Steven. Was er eigentlich den ganzen Tag macht, während sie nicht da ist und womit er sein Geld verdient, das fragt sie ihn nicht. Zumindest liegt er ihr nicht auf der Tasche und ist immer für sie da, wenn sie ihn braucht. Und er ist liebevoll und aufmerksam gegenüber der Tochter, was trotz der Karriereambitionen von großer Bedeutung für sie ist.

Steven zieht weiter an “Jay” wie er ihn liebevoll nennt. “Jay” und er waren früh gute Freunde geworden. Bereits mit 13 Jahren haben sie Bekanntschaft gemacht. Mitten auf einem Spielplatz in Steilshoop. Kein unübliches Alter auf diesen Spielplätzen und sie haben gleich Freundschaft geschlossen. “Jay” ließ ihn die Probleme vergessen, die ihm die Schule und vor allem die gewaltbereiten Eltern machten. Gewalt war die einzige Form der Aufmerksamkeit, die er von ihnen erhielt, wenn sie ihn überhaupt mal wahrgenommen haben. Ansonsten zählte nur der Alkohol und das Spiel am Automaten. Er selber war eher eine Nebenwirkung dieser Produkte gewesen und musste sich alleine im Leben zurechtfinden.

Irgendwann war es so weit, dass sein Vater ihm gegenüber nicht mehr die Hand erheben konnte. Steven hatte auf der Straße gelernt mit Angriffen stumpfer Gewalt umzugehen. Er war inzwischen größer und stärker als sein vom Alkoholverfall entkräfteter Vater. Er schlug nur einmal kräftig zu und sein Vater wollte nicht mehr aufstehen. Er blieb einfach liegen und stand nie mehr auf. Seine Mutter weinte bitterlich um die Liebe ihres Lebens. Sie beschimpfte Steven aufs Übelste dafür, dass er sich zur Wehr gesetzt hatte und das machte, was sie sich nie getraut hatte.

Steven musste drei Jahre Jugendstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge absitzen. Der Schlag gegen den Kopf hatte ein Blutgerinnsel im Gehirn ausgelöst, das zum Tod seines Vaters führte.

Steven selber fühlte kein Mitleid und auch keine Trauer. Nur Erlösung. Im Jugendgefängnis fand er seine wahre Familie. Diejenigen, die für ihn da sind, auch wenn es einem schlecht ging. Die einen mit Tabak, Cannabis und Alkohol versorgten, wenn man schwere Momente in der Haft hatte. Auch seine Freunde von der Straße hielten zu ihm. Er hatte im Ansehen dazugewonnen, dadurch das er sich zur Wehr setzte. Die gestiegene Reputation machte ihn stolz in dem, wer er war und wie er war. Den Aufenthalt im Jugendgefängnis nutzte er für seinen Hauptschulabschluss und um Freundschaften zu schließen. Freundschaften, die ihn draußen wieder weiterbringen würden. Er war ein Bruder geworden von denjenigen, die wirklich über das bestimmen, was auf seinen Straßen geschah und gesprochen wurde.

Als er aus dem Knast rauskam, waren ihm Türen geöffnet, durch die er nur noch schreiten musste. Er bekam auf Kredit alles, was er haben und absetzen konnte. Er kannte nun genug Leute, die etwas haben wollten und diejenigen, die wussten wo sie es kriegen konnten.

Und Steven wusste genau, wo er es bekam. Jede Menge und Qualität waren möglich und so begann er mit seinen Geschäften, die immer mehr florierten. Sie brachten ihm die Einnahmen, um besser im Leben zu stehen, als er es sich je in seinen Träumen ausgemalt hatte.

Und er hatte das, was andere aus seiner Sicht nicht hatten. Er hatte Zeit. Er konnte den ganzen Tag ins Studio gehen und trainieren, sich seine aufwendigen Tattoos stechen lassen, die seinen durchtrainierten Oberkörper zieren und sich alle Bedarfe des täglichen Lebens leisten, ohne auf das Geld zu achten.

Steven zieht ein letztes Mal an seinem Joint, wirft ihn zu Boden und tritt ihn mit einer drehenden Bewegung aus.

Sein Smartphone piept leise auf und er nimmt die erhaltene Nachricht zur Kenntnis.

Er entschließt sich nun doch noch einmal etwas zu erledigen, bevor er zu Hause wieder einkehrt. Er zieht den Schlüssel seines schwarzen amerikanischen Sportwagens aus der Hosentasche und öffnet ihn durch einen Knopfdruck. Aus der Jacke zieht er eine Packung scharfer Mintkaugummis und steckt sich eines hiervon unter der glattrasierten Oberlippe in den Mund, bevor er in seinen Wagen einsteigt, unter lautem Brummen den Motor startet, auf die Straße biegt und davonfährt.

17

“Herr van der Boek, ich bitte Sie nochmals aus ihrem Fahrzeug auszusteigen und mir ihre Ladung zu zeigen”, wiederholt Pascho seine konkrete Aufforderung. Doch van der Boek ist in eine Art Schockstarre gefallen und kann keinen konkreten Gedanken fassen, wie er sich nun genau verhalten sollte. Er selber hat nicht mit dieser Überprüfung gerechnet und ist psychisch nicht darauf vorbereitet gewesen.

Langsam öffnet er die Fahrertür und schiebt sie so weit auf, wie sein Arm aus dem Fahrzeug reicht. Eine Brottüte vom Bäcker fällt dabei aus der Abseite und wird vom Wind entlang des grauen Asphalts geweht. Er steigt aus und richtet sich vor Pascho auf, um dann langsamen Schrittes zur Hecktür des Fahrzeugs zu gehen. Die Tür ist nicht verschlossen und kann von ihm durch ein leichtes Ziehen am schwarzen Griff geöffnet werden. Die Autobahn rauscht im Hintergrund. Ein Lastkraftwagen passiert ihren Standort und fährt zu einer der Zapfsäulen des Autohofs.

Die geöffnete Tür lässt einen tiefen Blick in den Laderaum zu, der offenbar gefüllt ist mit braunen Umzugskartons.

“Bitte treten Sie einen Schritt zurück und verhalten sich ruhig”, fordert ihn Pascho auf.

“Ich weiß nicht, was in den Kartons drin ist. Ich sollte sie nur nach Hamburg fahren. Mehr weiß ich wirklich nicht”, erwidert van der Boek ungefragt. “Wirklich. Das müssen sie mir glauben.”

Pascho geht einen Schritt auf den Laderaum des Transporters zu und zieht aus seiner Jackentasche ein Paar blaue Einweghandschuhe, die er sich langsam über seine Finger streift. Die Handschuhe schmiegen sich sofort an die warme Haut der kräftigen Hände und leiten spürbar die kalte Luft an die Finger.

Er greift nach dem vordersten Karton und nimmt diesen aus dem Fahrzeug. Der Umzugskarton fühlt sich einigermaßen schwer an, aber auch nicht zu schwer, um ihn ohne größeren Kraftaufwand zu entnehmen und abzulegen. Er scheint gut ausgefüllt zu sein, weil sich beim Bewegen und Absetzen keinerlei Gegenstände in dem Karton bewegen. Weder akustisch noch spürbar. Die Öffnung des Kartons ist mit schwarzem Klebeband verklebt. Er ist nicht weiter beschriftet. Auf der Seite sind drei schwarze Kronen auf dem Karton aufgedruckt, unter denen eine schwarze Drei steht. Weitergehend ist der Karton nicht bedruckt. Lediglich ein Barcode ziert eine Ecke des Kartons.

Pascho zieht aus seiner Hosentasche ein Schweizer Taschenmesser hervor, das er sich im letzten Sommerurlaub als Andenken im Wallis erworben hatte und zieht eine scharfe Klinge aus dem Griff, bis diese sich feststellt.

Mit dem Messer schneidet er vorsichtig durch das schwarze Klebeband, ohne zu tief ins Innere einzudringen und eventuell den Inhalt des Kartons zu beschädigen.

Er öffnet langsam den Deckel des Kartons. Kuno und Jayjay treten ebenfalls an den Karton heran. Patsche, Fred und Lemming passen auf den in sich zusammen gesunkenen van der Boek auf, der aber keine Anstalten einer Flucht macht. Er ergibt sich seiner aktuellen Situation und erwartet das, was er zu erahnen scheint.

In dem Karton befinden sich dunkle Plastiksäcke. Sie haben eine glänzende, schwarze Oberfläche und sind offenbar verschweißt. Jeder Beutel ist so groß wie eine gefüllte Einkaufstüte. Pascho entnimmt ein Paket und öffnet auch dieses am oberen Ende mit seinem Messer. Die schwarze Folie ist auf der Innenseite weiß. In dem vakuumierten Paket befindet sich ein durchsichtiger Plastiksack in dem sich unzählige Marihuanablüten sammeln.

Ein leichter Duft von Marihuana macht sich nun breit, der zuvor nicht wahrnehmbar war. Weiter öffnen braucht Pascho das Paket nicht. Zu oft in seiner Dienstzeit hat er bereits solche Pakete gefunden. Die kopfkissengroßen Säcke wiegen zumeist ein Kilogramm und sind weit verbreitet im Verkauf größerer Mengen.

Er dreht sich wieder zu dem geöffneten Karton und entnimmt die restlichen Pakete, um sie zu zählen. Insgesamt zehn Pakete sind in dem Karton. Kuno ist inzwischen zu dem silbernen Transporter gegangen, um die Anzahl der Kartons zu zählen, um eine erste Schätzung der Gesamtmenge abgeben zu können.

«Hier sind siebzehn weitere Kartons auf der Ladefläche. Macht ungefähr 180 Kilogramm Marihuana auf der gesamten Ladefläche», rechnet Kuno seinen Kollegen euphorisch vor. Ein breites Grinsen macht sich auf seinem Gesicht dabei bemerkbar, auch wenn er versucht, vor den Augen von van der Boek seine Freude über den Fund zu verbergen.

Alle Anwesenden wissen, dass sie hier einen großen Fang gemacht haben.

Pascho legt die 10 Pakete in den Karton zurück und schließt die Öffnung wieder. Den Karton stellt er zurück in das Fahrzeug und schließt die Heckklappe, die er mit dem Schlüssel verschließt.

«Herr van der Boek, hiermit nehme ich sie auf Grund des Verdachts des Handeltreibens mit nicht geringen Mengen Marihuana vorläufig fest. Sie können sich zu jedem Zeitpunkt zum Sachverhalt äußern, haben aber auch das Recht, zunächst mit einem Anwalt Rücksprache zu halten.

Im Betäubungsmittelrecht gibt es eine Kronzeugenregelung. Das heißt, wenn sie über ihren eigenen Tatbeitrag hinweg aussagen, also über ihre Lieferanten und potentiellen Empfänger weiterführende Angaben machen, dann kann sich das strafmildernd für sie auswirken. Hierüber entscheidet jedoch später das Gericht. Ich darf Ihnen hier keine Versprechungen machen.

Sie können auch selber Beweise vorbringen, die sie entlasten. Möchten Sie sich zum Sachverhalt äußern?»

Van der Boek rollt seine Unterlippe über seinen hellen Schnurrbart und versucht diesen mit der Lippe einzusaugen. Seine Augen sind starr auf die Ladetüren seines Transporters gerichtet, als würde er versuchen durch die Tür zu blicken und die Ladung verschwinden zu lassen.

«Herr van der Boek, haben Sie meine Belehrung über ihre Rechte in einem Strafverfahren verstanden?»

Van der Boek nickt zaghaft ohne etwas zu sagen.

«Haben Sie Fragen? Ist Ihnen etwas unklar?»

Abwechselnd bewegt er auf die Fragen seinen Kopf von rechts nach links, ohne den Blick vom Transporter abzuwenden. Es arbeitet hinter seinen Augen. Die Worte sprudeln in seinem Blick, doch die Lippen hält er dabei lautlos verschlossen.

«Möchten Sie sich mit uns über den Sachverhalt unterhalten? Wollen Sie uns Angaben zu den Empfängern machen? Werden wir in ihrem Fahrzeug Hinweise auf die Empfänger finden?», fragt Pascho.

Abrupt blickt van der Boek auf und schaut Pascho direkt in die Augen, suchend nach dem Vertrauen und der Fürsorge, die in der Stimme von Pascho liegen. Fordernd nach Unterstützung und einem Hinweis auf das für ihn richtige Verhalten.

Pascho zieht die Augenbrauen fragend nach oben und nickt van der Boek sanft zu. Er ist sich sicher, dass er es hier mit einem einfachen Kurierfahrer zu tun hat und nicht mit einem abgeklärten Lieferanten, der eine solche Menge sowieso niemals selber fahren würde.

Van der Boek wendet seinen Blick wieder ab, starrt auf den Boden und fällt wieder in seine trüben Gedanken über seine unmittelbare Zukunft.

Tim Dombrowski sitzt gespannt in seinem Bürostuhl. Er wirft seinen Stressball immer wieder in die Luft und fängt ihn auf. Er will nicht stören vor Ort, während die Kollegen den Transporter kontrollieren. Dennoch kann er eine erste Rückmeldung kaum abwarten.

Er öffnet eine Schublade von seinem Schreibtisch, wo er eine Tafel Schokolade für solche Momente bereitliegen hat. Er bricht sich eine Rippe Schokolade ab und trennt sie in vier einzelne Stücke.

Jede Minute aktualisiert er seine Übersicht und gönnt sich ein Stück der Schokolade. Die Daten des überwachten Mobiltelefons befinden sich noch immer in Bockel. Dort wo auch die Kontrolle stattfindet. Definitiv haben sie das richtige Fahrzeug angehalten. Hier hat er keine berechtigten Zweifel. Auch geht er fest von einer Lieferung aus, denn für Gespräche oder eine Abholung von Geldern würde niemand einen Transporter nutzen. Viel zu langsam, viel zu ungelenk im Autoverkehr erscheint ihm ein solches Fahrzeug. Dennoch mag er sich kaum erhoffen, was sich in dem Laderaum befinden könnte. Demütig wartet er auf eine Rückmeldung von den Kollegen vor Ort.

Auf dem Funkkanal hört er ein leises Knacken. Er schaut in die Richtung des Funkgeräts und wartet auf eine Meldung.

«Dumbo für Fred. Hörst Du mich?»

Hektisch greift Dombrowski nach dem Funkgerät und spricht hinein. «Ja, ich hör Dich.» Ein optimistisches Lächeln kann er sich nicht verkneifen.

«Die Überprüfung verlief problemlos. Herr van der Boek verhielt sich ruhig und kooperativ.»

«Komm zum Punkt, Fred», ruft Dombrowski unbeherrscht dazwischen. In solchen Situationen hält er gar nichts von langen Vorreden.

«Ja, war positiv», kam als knappe Antwort von Fred. Er wiederum liebt es, solche seltenen Momente mit möglichst wenigen Informationen auszukosten. «Aber nur ein bisschen Gras», ergänzt er.

«Was heißt hier ein bisschen Gras?» Dombrowski stockt der Atem.

«Schwer zu schätzen. Vielleicht 180?!», antwortet Fred knapp.

«Wie 180? Da muss mehr drin sein. Der kommt doch nicht wegen 180 Gramm den weiten Weg aus den Niederlanden. Könnt ihr ausschließen, dass es ein Schmuggelversteck gibt?», hakt Dombrowski nach.

«Können wir noch nicht sagen. Die Ladefläche ist voll beladen.»

«Was hat der denn geladen?», fragt Dombrowski langsam aber sicher gereizt, dennoch bemüht, sich diese Emotion nicht anmerken zu lassen.

«Kartons», sagt Fred. «Insgesamt 18 Kartons mit jeweils 10 komischen schwarzen Plastiksäcken in denen grüne trockene Blumenblüten sind, die so komisch riechen.»

«Was?», fragt Dombrowski und in ihm steigt die Spannung und Hoffnung. Ist es das, was er sich erhofft hatte?

«Der hat Blumen geladen. Sagte er zumindest. Aber das sind nur Blüten. Grüne Blüten. Säckeweise und alle getrocknet und vakuumverschweißt. Wir haben nur einen Karton der 18 Stück enthält geöffnet, aber in dem einen waren 10 schwarze Säcke und dieser eine beinhaltet ein Kilogramm Marihuanablüten, also denken wir, dass wir hier gute 180 Kilogramm Marihuana sicherstellen konnten», berichtet Fred voller Stolz.

«Geil. Hammer. Bombe, Jungs. Ich bin begeistert. Okay. Lasst mich das mal kurz verarbeiten. Ich melde mich gleich wieder.»

Aus dem gegenüberliegenden Büro erfolgte umgehend die Nachfrage von Otto, der zwischenzeitlich an seinen Arbeitsplatz zurückgekehrt ist und konzentriert auf seinen Bildschirm blickt.

Ich war Bulle

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