Читать книгу Unerreichbares Leben - Benigna Gerisch - Страница 6

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Rot lackierte Fußnägel

Als er erwachte, war irgendetwas anders. Es war nicht das leere Bett neben ihm, daran hatte er sich allmählich gewöhnt. Das Sonnenlicht drang hell durch die Leinenvorhänge und ließ das Parkett wie flüssigen Honig glänzen. Das war es. Das Licht und die Atmosphäre im Zimmer waren eine gänzlich andere als sonst. Es musste schon spät sein, dachte er nun aufgewühlt. Und tatsächlich, die Zeiger seines Weckers zeigten kurz nach neun an. Einen Wecker hatte er nicht gestellt, das hatte er die letzten Jahre, ja sogar Jahrzehnte nicht getan und war immer pünktlich um fünf Uhr aufgewacht und gleich aufgestanden. Das war es also. Er kannte seine Wohnung bei diesem Morgenlicht nicht, eigentlich kannte er seine Wohnung am Tage überhaupt nicht. Er war immer gleich nach dem Aufstehen aus dem Haus und zur Arbeit geeilt. Etwas benommen rappelte er sich aus dem Bett auf. Es ärgerte ihn, dass er sich nun plötzlich so verlangsamt, so alt vorkam. Sein Rücken schmerzte schon seit Längerem, und auch seine Knie verursachten ihm Probleme. Er humpelte wie benommen in Richtung Küche, nahm aber einen kleinen Umweg durch das Wohnzimmer, um einen Blick auf den Balkon des gegenüberliegenden Mietshauses zu werfen. Da war aber nichts zu sehen, genauer gesagt, sie war nicht zu sehen. Die Vorhänge waren noch zugezogen, aber ihre Balkonpflanzen leuchteten farbenprächtig in der Sonne. Fast schmerzte das Rot der Geranien in seinen Augen, und der Blaue Eisenhut zeichnete sich im scharfen Kontrast dazu ab. Er hatte nie verstanden, mit welcher Hingabe sich die Menschen dem Lebenden widmen konnten.

Er hatte sein Leben den Toten geweiht. Als Rechtsmediziner war er zu Ruhm und Ehre gelangt. Nachdem er sich durch die mühsamen und oft quälenden Wege der Facharztausbildung gekämpft, promoviert und habilitiert hatte, wurde er als Jüngster seiner Zunft auf den Direk-toriumsposten des Rechtsmedizinischen Institutes berufen. Damals war er also mit knapp fünfunddreißig Jahren ›ein gemachter Mann‹. Auf seinem Arztkittel mit Silberknöpfen besetzt, der nur Chefärzten vorbehalten war, stand: Prof. Dr. med. Viktor von Glaser. Darauf war er stolz, sehr stolz sogar.

Seine Frau Gerda war auch stolz auf ihn. Selbst wenn sie wusste, dass er nun noch weniger am Familienleben teilnehmen würde als bereits zuvor. Sie hatten sich mit Anfang zwanzig vor einem Kino kennengelernt, sie war gestolpert, hatte sich den Arm verstaucht, und er war ihr zu Hilfe geeilt. Es schien so einfach, fast zwangsläufig, dass sie zusammenblieben. Fünf Jahre später heirateten sie und bekamen im Abstand von zwei Jahren erst ihren Sohn, Johannes, und dann ihre Tochter, Elisabeth. Sie hatten ihr den Namen seiner Mutter gegeben, die früh verstorben war. Gerda hatte für Viktor und die Familie ihre Ausbildung zur Zahntechnikerin aufgegeben. Es war ja ohnehin ganz überflüssig, dass seine Frau arbeitete. Sie hielt ihm den Rücken frei, während er Karriere machte. Wobei er dieses Wort nicht gern benutzte, für ihn war seine Arbeit eine Berufung. Er konnte nicht anders, es war wie ein innerer Zwang. Bei seinen älteren Kollegen war er durchaus angesehen, bei den Jüngeren eher gefürchtet. Er sei zu streng, klagte man hinter seinem Rücken. Das verstand er nicht, er war gewissenhaft und diszipliniert, daran war nun wahrlich nichts verkehrt. Das hatten die Toten verdient, denn schließlich war er es, der sie wieder zum Leben erweckte. Er erzählte durch ihre toten Leiber ihre Geschichten. Er war es, der herauszufinden hatte, ob sich jemand umgebracht hatte, ob es ein Unfall, Mord oder Totschlag war. Da war Schlamperei schlichtweg fehl am Platz.

»Dein Vater war ein mächtiger Mann, ein hohes Tier im Krieg gewesen«, sagte seine Mutter oft mit andächtigem Stolz. Als Viktor herausbekam, wie viele Menschen sein Vater auf dem Gewissen hatte, die es aber gar nicht zu beschweren schienen, sagte sein Vater in scharfem Ton: »Weißt du, mein Sohn, ich habe mir nichts vorzuwerfen, ich habe nur meine Pflicht getan. Und ich rate dir gut, es mir gleichzutun!« Vielleicht hatte er sich deshalb mit aller Hingabe den Toten gewidmet, vielleicht war es eine Art der Wiedergutmachung. Er wollte ihnen ihre Würde zurückgeben. Indem er ihre Körper aufschnitt und in jede Faser vordrang, wollte er ihre Qualen sichtbar und die Täter dingfest machen.

Kurz nach seiner Pensionierung, er hatte noch zwei Jahre verlängern und sein Zimmer im Institut auf Lebenszeit behalten können, da trennte sich Gerda von ihm. Sie sagte, sie könne ihn nicht mehr riechen, er stinke nach Formaldehyd. Alles an ihm stinke danach, die Kleidung, die Haare, die Haut, die sie schon lange nicht mehr berührt hatte. Sie könne das keinen Moment mehr länger ertragen, ihr werde übel, sie ersticke daran.

Das war eine Anmaßung, eine schiere Gemeinheit, ein hysterisches Gebaren. Das war nun einmal der Geruch seiner harten Arbeit, die er Tag für Tag verrichtete. Das war nun wirklich die Höhe. Aber wusste eigentlich irgendwer in diesem Hause, wie seine Arbeit eigentlich aussah und tatsächlich roch?

Kurz ärgerte er sich darüber, dass er so oft in Phrasen seines Vaters dachte und sprach, vor allem, wenn er zornig war.

Wusste hier eigentlich irgendjemand, wie der Tod und die Leichen und die Wunden rochen? Dass seine ›Rote Arbeit‹ nicht damit getan war, die Leichen aufzuschneiden und die Organe einfach rauszunehmen und irgendwo im Wald liegen zu lassen, wie es sein Vater auf der Jagd getan hatte. Schädel, Brust und Bauchhöhle mussten geöffnet, nicht selten jedes Organ sorgsam geborgen und bis ins kleinste Detail untersucht werden. Dass nennt man Autopsie, liebe Leute. Und am Ende mussten alle Organe wieder zurück an ihren Platz verfrachtet werden, bevor die Leiche geschlossen wurde. Konnte sich jemand vorstellen, wie die Wohnungen, die Tat- und Fundorte rochen? Und interessierte es hier irgendwen, wie Blut, Urin, Sperma und Eiter wirklich rochen, mit wie vielen Litern Körperflüssigkeit er je zu tun gehabt hatte? Und hatte sich jemand mal gefragt, wie brutal, wie dreckig und grausam der Tod sein konnte? Er dachte dabei an die Leiche eines alten Mannes, dem man wegen lächerlichen zehn Euro den Schädel zertrümmert hatte. Auf seinem Unterarm fand Viktor eine eintätowierte KZ-Nummer. Der Mann hatte Auschwitz überlebt.

Viktor war nun außer sich.

»Formaldehyd, meine Liebe, ist da noch der angenehmste Geruch!«, erschöpft beendete Viktor abrupt seinen Wutausbruch. Dann aber wallte der Zorn wieder in ihm auf.

Denn schließlich hatte die Familie gut von seiner ›stinkenden Drecksarbeit‹ gelebt, sehr gut sogar. Er hatte diese große Altbauwohnung mit zwei Balkonen und sechs Zimmern kaufen können, sie hatten zwei Autos, und die Familie konnte mindestens zwei Mal im Jahr in den Urlaub fahren. Dass er oft nicht mitfahren konnte, war nun einmal seiner Unersetzlichkeit im Institut geschuldet. Er hatte sich regelrecht in Rage geredet, was eigentlich nicht seine Art war.

Aber Gerda sah ihn nur stumm und mitleidig an, was ihn nur noch mehr erboste. Mitleid war eine verachtende Geringschätzung. Sie fing an zu packen, eine kleine Wohnung am Stadtrand hatte sie sich längst besorgt. Vor einigen Jahren hatte seine Frau einen Kurs für ›Kreatives Schreiben‹ an der Volkshochschule belegt. Das hatte er insgeheim immer ein wenig belächelt. Auch wenn ihre Freundinnen meinten, sie schreibe sehr schön, gelesen hatte er nie etwas von ihr. Das Schöngeistige und Gefühlige war nicht so seins. Er las die Tageszeitung und schaute um 20 Uhr die Nachrichten. Danach studierte er noch ein paar Akten, schaute sich Tatortfotos in speckigen, längst abgegriffenen Klarsichthüllen an, die modernen Geräte mied er wie der Teufel das Weihwasser, und ging dann früh zu Bett.

Die Kinder waren schon lange aus dem Haus. Seine Tochter hatte Economics in London studiert, das Studium hatte er ihr finanziert, war dann aber bei irgendeiner NGO gelandet, so recht wusste er nicht, was sie da tat. Sie hatte weder einen Freund noch Freunde, sie hatte das Essen. Elisabeth aß nicht, sie fraß, das hatte er mit Abscheu und Ekel bei den immer weniger werdenden Weihnachtsessen in den letzten Jahren bemerkt. Er ekelte sich vor seiner Tochter, nicht vor seinen Leichen. Die waren so sanft, still, demütig und ohne jedes Begehren. Elisabeth sprach auch nicht, sondern sie stopfte das Essen in sich hinein. »Wundert dich das?«, hatte seine Frau ihn einmal verzagt und traurig gefragt. Zumindest habe sie diese Disziplinlosigkeit nicht von ihm, hatte er geantwortet. Manchmal durchfuhr ihn der Gedanke, wie es wäre, wenn er Elisabeth bei sich auf dem Tisch liegen hätte. Welches Skalpell er wohl bräuchte, um sich durch diese Fettmassen zu schneiden, und welche Todesursache er wohl diagnostizieren würde. Unglückliches, verwirktes Leben kam ihm nicht in den Sinn, eher: schamlose Maßlosigkeit. Auch sein Sohn machte eigentlich gar nichts, schon gar nichts Vernünftiges. Er hatte ein paar Studiengänge begonnen, dann aber nach kurzer Zeit gelangweilt wieder abgebrochen. Nun sei er in den USA ins Filmgeschäft eingestiegen, das hatte er bei einem seiner spärlichen Besuche zu Hause mit etwas zu viel Überheblichkeit erzählt. Eigentlich kam er auch nur oder rief an, wenn er von ihm Geld brauchte. Das könne der Vater doch als Vorauszahlung seines Erbes verbuchen. Was denkt der eigentlich, empörte sich Viktor, dass ich mich in meinem ehrbaren Beruf krummlege, damit der Herr Sohn sich einen sonnigen Lenz machen könne? Und dann dieser blasierte Zug um den Mund seines Sohnes, als würde er ihn und die Welt verhöhnen. Unerträglich war das. Meist gab er auf Druck von Gerda aber nach, was ihn noch mehr verstimmte. »Aus dem wird schon noch was«, versuchte sie ihn dann zu beschwichtigen. Nun also hatte Gerda sich getrennt und rasch die Scheidung eingereicht. Ohne Klagen und Vorwürfe und ohne Tränen hatte sie die Wohnung mit ihren Sachen geräumt, ihm das Nötigste zum Leben dagelassen. Er brauchte ja auch nicht viel. Ihre generalstabsmäßige Organisation des Auszuges hatte ihn beeindruckt. Eigentlich liebte er sie, wobei er nicht so genau wusste, was das eigentlich war: lieben. Er brauchte sie, auf eine ihm unerklärliche Weise, und nun war sie nicht mehr da. Aber mehr als den Schmerz, fühlte er sich verraten und verkauft. Das war also der Dank für seine jahrzehntelange, harte Arbeit.

Er hatte sich im Alleinsein eingerichtet. Gelegentlich ging er, zum Leidwesen der Kollegen und des neuen Chefs, ein arroganter Nichtskönner, ins Institut und vertiefte sich in seinem Zimmer in noch unbearbeitete Akten. Zudem plagte ihn immer mal wieder der Gedanke, er hätte bei einer Obduktion vielleicht doch etwas übersehen.

Wenn er zu Hause blieb, dann streifte er durch die ihm fremde, unbekannte Wohnung. Er versuchte, sie wieder in Besitz zu nehmen und die hellen Stellen an den Wänden, wo Bilder von seiner Frau abgenommen worden waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Bei einem dieser Streifzüge durch die Leere der Wohnung, hatte er sie dann entdeckt. Sie saß auf dem Balkon im dritten Stock des Hauses gegenüber. Also auf Augenhöhe. Sie war jung, er schätzte sie auf knapp dreißig Jahre alt. Sie war von einer unaufdringlichen Schönheit und Anmut, die ihm den Atem verschlug. Wie vom Donner gerührt, blieb er stehen. Er schaute sie an, ihr Profil. Sie saß einfach nur da und rauchte. Ihr dichtes schwarzes, glattes Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten gebunden, ein paar Strähnen waren herausgefallen und fielen ihr ins Gesicht.

Dann senkte sie ihren Blick und schien zu lesen. Er konnte nicht erkennen, ob eine Zeitung oder ein Buch. Dann blickte sie wieder in die Ferne und rauchte weiter. Schließlich erhob sie sich und verschwand in der Wohnung. Sie kehrte mit einer kleinen Gartenschere zurück und fing an, vertrocknete Blüten abzuschneiden. Üppig wuchsen die Pflanzen in ihren Kästen, die den gesamten Balkon einfassten. Nun sah er sie fast von vorn. Ein ausdrucksvoller, schöner Mund, elegant geschwungene Augenbrauen, eine kleine, zarte Nase, ein langer, schmaler Hals, wie bei einer Ballerina. Plötzlich erschrak er, da er nicht wusste, wie lange er schon so gestanden und ob sie ihn wohl bemerkt hatte. Er versuchte, sich von ihrem Bild zu lösen, er sollte seinem Tagwerk nachgehen. Aber er wusste nicht mehr, welches das war. Er könnte ins Institut gehen, aber danach wäre sie womöglich verschwunden. Er versuchte, sich zu bewegen, fühlte sich aber wie angewurzelt. Er gab sich einen Ruck und eilte in die Küche, um sich einen Kaffee einzuschenken, der inzwischen schal und kalt geworden war. Mit der Tasse in der Hand, hastete er zurück zu seinem Aussichtspunkt. Sie war immer noch da und mit den Blumen beschäftigt. Welch eine Hingabe und Ruhe, so versunken in ihre Tätigkeit, wie er, wenn er seine Leichen sezierte. Er zog sich einen Stuhl heran, weil sein Rücken wieder zu schmerzen begann und trank ein paar Schlucke von der bitteren Brühe, seine Kehle war ganz trocken geworden. Sie sammelte nun alle abgeschnittenen Blüten ein und fing an, die Pflanzen zu gießen. Auch das tat sie mit einer ergebenen Sorgfalt, die ihn rührte. Sie strich sich eine Strähne hinter das Ohr und blickte auf. Er erschrak zu Tode, aber ihr Blick blieb nicht an seinem haften, sondern verlor sich irgendwo in der Weite des Himmels. Dann wandte sie ihm den Rücken zu und ging zurück in die Wohnung. Er blieb einfach sitzen und wartete. Aber sie kam nicht zurück. Er musste kurz eingenickt sein, denn als er hochfuhr, sah er sie wieder. Sie hatte sich ein Kissen in den Rücken geschoben und las. Was tat sie wohl im Leben, was arbeitete sie, oder studierte sie noch? Aber eigentlich konnte er sich gar nicht vorstellen, dass sie normalen Dingen des Alltags nachging. Das passte nicht zu ihr. Vielleicht war sie, wie er, aus der Welt gefallen, einem Blumenmeer entsprungen, einem Gemälde oder Märchen entstiegen, um ihn zu entzücken. Genau das könnte ihre Berufung sein. Das war alles kein Zufall, alles sollte so kommen. Aber was denn eigentlich? Er war wie von Sinnen, so kannte er sich nicht, so fühlte und dachte er nicht. Er war ganz außer sich, was war nur los mit ihm? So hatte er nie für Gerda gefühlt, selbst am Anfang nicht.

Obgleich auch Gerda einst eine Schönheit gewesen war. Allmählich aber war alles an ihr erloschen. Er schob es auf das Alter und hatte sich nie gefragt, ob es etwas mit ihm zu tun gehabt haben könnte. Sie waren ein Paar geworden, dann Eltern und waren in die Jahre gekommen, sie waren ein Team, gut eingespielt, wie am OP-Tisch griff alles wortlos ineinander.

Aber das hier war etwas völlig anderes. Es war Schicksal, so ein Unsinn, begann er sich zu maßregeln, was redest du da. Vielleicht ist dir das Nichtstun doch zu Kopfe gestiegen, vielleicht auch die Einsamkeit. Du solltest jetzt einfach aufstehen und wieder normal werden, zum Einkaufen gehen, die Zeitung lesen, irgendetwas tun. Aber plötzlich durchfuhr es ihn, dass er dies nicht tun könnte, da er sie beschützen müsste, ja, das war es. Seine Aufgabe war es, sie zu beschützen. ›Du bist ja nicht mehr ganz bei Trost‹, dachte er, so hatte ihn seine Mutter oft gescholten. Als Kind dachte er, das hätte etwas mit Trösten zu tun. Irgendwie glaubte er das immer noch. Seine Mutter aber meinte wohl, er habe den Verstand verloren, er sei verrückt geworden. Ja, vielleicht wurde er grade verrückt. Aber er wusste nun, was zu tun war. Jemand, der nicht bei Trost war, der den Halt verlor, der musste getröstet werden. Er war einzig dazu da, um sie zu trösten und zu beschützen.

Alles hatte so kommen müssen: sein Leben für die Toten, die Trennung von Gerda und nun diese engelsgleiche Gestalt, die ihm geschickt worden war. Marie taufte er sie, er wusste nicht warum, aber plötzlich war dieser Name in ihm aufgetaucht. Hell und klar. »Also Marie«, murmelte er halb laut vor sich hin, »hier bin ich und werde dich beschützen.«

Von nun an lebte er in seinem Wohnzimmer. Er hatte sich dort einen Schlafplatz auf einem Sessel eingerichtet. Anfangs ging er noch eilig zum Einkaufen, aber das schien ihm inzwischen zu riskant, er hatte ja eine wichtige Mission zu erfüllen, mit aller gebotenen Sorgfalt, Präzision und Disziplin. Von nun an bestellte er sich das Essen per Telefon. Einmal bat er einen Lieferanten sogar, für ihn Bargeld abzuheben, da er keines mehr besaß. Dass dies auch hätte schief gehen können, bedachte er nicht. Auch fragte er sich nicht, wo Marie bleiben würde, wenn der Sommer endete. Sie würde ja bei Eiseskälte, Schnee und Regen nicht auf dem Balkon ausharren können. Aber jetzt war Hochsommer, dessen Ende sich längst noch nicht ankündigte. Er liebte Marie mit einer Heftigkeit, die ihn von Sinnen sein ließ, aber das störte ihn nicht. Er war besessen von ihr, auch wenn bis heute weder der Zustand noch die Empfindung etwas mit ihm zu tun gehabt hatten.

So vergingen die Wochen, in denen er auf seinem Posten ausharrte und allmählich verwahrloste, da er sich nicht traute, länger als unbedingt nötig das Bad aufzusuchen. Nun stank er wirklich. Nach altem, ungewaschenem Mann. Manchmal war ihm, als hätte sie ihm zugelächelt, vielleicht war es aber auch nur Einbildung, doch von einer tiefen inneren Verbindung war er ohnehin überzeugt. Er schlief kaum noch, nur wenn Marie spät am Abend ihren Rückzug in die Wohnung antrat, dämmerte er für eine Weile ein. Er hatte sich ganz und gar ihrem Lebensrhythmus angepasst. Am Morgen trat sie mit einer Kaffeetasse auf den Balkon und begrüßte ihre Blumen, dann las sie. Ganz selten sah er sie etwas essen, und wenn, dann stopfte sie nicht in sich hinein, wie seine Tochter, sondern kaute andächtig ein Brot oder einen Apfel. Am Nachmittag döste sie in der Sonne und vertrieb sich die Zeit mit Nichtstun. Manchmal lackierte sie sich die Nägel, diese Haltung mochte er ganz besonders an ihr. Wie gelenkig und anmutig sie sich vorbeugte, um jeden einzelnen Zehennagel zu bemalen, wie eine Künstlerin. In den Abendstunden goss sie die Pflanzen, trank ein Glas Wein und rauchte. Allmählich wurden die Schatten länger, der Sommer drohte, nun doch zu enden, auch wenn es immer noch sehr warm war. Er verspürte nicht den Drang, sie zu berühren oder kennenzulernen, er kannte sie ja, wie er seine Toten gekannt hatte, die so stumm und ohne jede Resonanz, ihm aber ganz und gar ergeben gewesen waren. Aber aus ihren Leibern sprach es, lärmend, brüllend, verzweifelt.

Als er eines Abends zurück auf seinen Posten stürzte, er hatte eben den Lieferservice verabschiedet, da glaubte er erst nicht, was er sah. Marie stand dort in ihrem Blütenmeer eng umschlungen mit einem großen Mann, der deutlich älter als sie zu sein schien. Er küsste ihre Stirn, ihren Hals, ihr Haar, er nahm ihr Gesicht in beide Hände und sagte irgendetwas. Sie lächelte und küsste ihn auf den Mund. Er fürchtete, den Verstand zu verlieren, er wollte schreien, rufen: »Nehmen Sie die Hände weg von meiner Marie, sie ist das Kostbarste auf der Welt für mich.« Aber er war wie gelähmt, dann begann ein heftiges Zittern, er sank auf den Sessel, alles drehte sich. Er fürchtete, sich übergeben zu müssen, sein Puls raste. Er schaute wieder hinüber, grad als das Paar in der Wohnung verschwand und sie die Vorhänge zuzog. Er versuchte, sich zu beruhigen, wahrscheinlich war er einfach nur einer kurzen Halluzination aufgesessen, das konnte ja mal passieren, so ausgezehrt wie er war. Morgen würde wieder alles so sein wie immer. Er sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen wusste er erst nicht, wo er war und was passiert war. Sein Blick raste hinüber zu dem Balkon. Und da saß sie, wie immer, nur das Haar war aufgelöst. Doch plötzlich trat der Mann von gestern mit einem Tablett auf den Balkon und küsste sie auf den Scheitel. Sie tranken Kaffee und aßen Croissants. Einfach so, als sei es das Normalste der Welt, auf einem Balkon zu frühstücken. Sie lachten, sie warf ihr Haar in den Nacken, er griff nach ihrer Hand und schmiegte seine Wange an ihre zarte Haut. Dann verschwanden sie wieder in der Wohnung. Am späteren Abend erschienen beide erneut auf dem Balkon, jeder mit einem Glas Wein in der Hand. Sie zündete ein Windlicht an. Im Schein der Kerze war Marie so unwirklich schön, dass er sich kaum zu atmen getraute.

Am nächsten Tag war der Mann weg, und sie hatten die Woche wieder für sich allein. Wahrscheinlich hatte er sich doch alles nur eingebildet. Dann erschien der Mann aber eines Tages wieder. Und die Qualen gingen von vorne los: Küsse, Umarmungen und der Rückzug in die Wohnung, aus der er ganz und gar ausgeschlossen war. Der Mann erschien in einem nicht vorhersehbaren Rhythmus, was ihn ganz krank machte, da er sich nicht einstellen konnte, auf den Alptraum, in den er dann geriet. Er hatte bis dahin Empfindungen wie rasende Eifersucht, Neid, Wut und des Ausgeschlossenseins nicht gekannt oder wahrgenommen, aber nun ertappte er sich sogar dabei, wie er sich vorstellte, den Mann zu töten. Einzig, dass Marie so glücklich zu sein schien, hielt ihn davon ab, auch wenn ihr Glück einen unvorstellbaren und völlig unbekannten Schmerz in ihm auslöste. Der Mann kam und ging ein ganzes Jahr lang. Inzwischen war es Herbst, dann Winter geworden. Und ihr Glück spielte sich nun vorwiegend in der Wohnung ab, nur manchmal konnte er schemenhaft seine oder ihre Gestalt hinter den Fenstern erkennen. Gelegentlich kamen beide auch zum Rauchen auf den Balkon, verzogen sich aber rasch wieder in die Wärme der Wohnung. Seinen Platz auf dem Sessel hatte er dennoch nicht aufgebeben. Er hatte ja einen Auftrag, an dem er unverdrossen festhielt. Einmal glaubte er, eine heftige Auseinandersetzung zwischen beiden zu erkennen, aber vermutlich war es nur der Wunsch des Vaters Gedanken.

Eines Tages war Marie verschwunden. Die Blumen schwächelten und kränkelten, so ganz ohne ihre Zuwendung, und gingen irgendwann ein. Ihr trostloser, vertrockneter Zustand war ein Abbild seiner selbst. Er wartete und wartete, er rührte sich nicht vom Fleck. Vielleicht war sie in den Urlaub gefahren, aber von was sollte sie sich erholen müssen? Vielleicht war sie zu dem Mann gezogen? Oder er hatte sie entführt. Es musste ihr etwas zugestoßen sein, eine andere Erklärung hatte er nicht. Nur eines wusste er mit Sicherheit: er hatte versagt. Er verlor allen Lebensmut, er vegetierte auf seinem Sessel vor sich hin. Alles in ihm war erloschen. Er hatte bis dahin nicht gewusst, dass man sich so fühlen konnte. Tot im Leben. Ein langsam verfallener Körper und ein tauber Geist. Gelegentliche Schmerzaufwallungen waren letzte Zuckungen, bevor es ganz vorbei war. Nach Wochen dieses Elends, schlugen seine Qualen in Wut, dann in Gleichgültigkeit um. Es war ihm nun egal, ob sie noch lebte oder tot war. Er schaute auch kaum noch auf den Balkon. Und wenn, dann nur, als hinge er einem alten Ritual aus einer längst untergegangenen Welt nach. Er starrte vor sich hin, er dachte und fühlte nichts mehr. Kein Wunsch, kein Wollen, kein Begehren mehr.

Einmal fielen ihm drei lose Seiten entgegen, als er wahllos ein paar alte Zeitungen durchblätterte. Er überflog sie, ohne jedes Interesse und blieb dann plötzlich, starr vor Schreck, an der letzten Zeile hängen. Dort stand klein gedruckt und bescheiden: Gerda von Glaser. Hastig blätterte er zurück. Der Text trug den Titel »Ein gebrochenes Herz«. Schon etwas zittrig, begann er zu lesen. Die in knappen, einfachen Sätzen geschriebene Geschichte handelte von einer Frau, deren Mann nicht etwa verstorben war, sondern der noch lebend ihr wie tot erschien, unerreichbar, in eine ferne, fremde Welt entschwunden. Die Frau, so die Pointe, konnte sich vor einem »gebrochenen Herzen« nur schützen, indem sie den Mann verließ, um überleben zu können. Viktor atmete schwer, seine Brust wurde eng, er hustete. Sein Körper wurde von einem Beben erfasst, als müsste er weinen, was er seit jeher nicht konnte. Es war eher ein trockenes, hartes Japsen, was er hervorbrachte. Was ihn am stärksten erschütterte, war die Nüchternheit des Textes, die hellsichtige Klarsicht, die ohne Verletzung, Verhöhnung und Groll auskam. Obgleich Gerda aus einer tiefen, existentiellen Not heraus geschrieben haben musste, ging es einzig ums Überleben, nicht um Schuldzuweisungen. Viktor schleppte sich zu seinem Sessel und sackte zusammen.

Als er am nächsten Tag Marie wieder auf dem Balkon erblickte, war alles anders. In ihm waren weder Glücksgefühle noch Erleichterung. Auch kein Groll. Er hatte sie aufgegeben, wie er sich aufgegeben hatte. Er nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis, mehr nicht. Aber auch an Marie war etwas anders. Ihr Leuchten, ihre Anmut waren fast verschwunden. Sie bewegte sich langsamer, wie in Zeitlupe, sie kümmerte sich wieder um ihre Pflanzen, aber es schien ihr keine Freude mehr zu bereiten. Meist saß sie nur da, rauchte und blickte in den Himmel. Zwar war er noch immer an seinen Platz gefesselt, aber ganz trüb und richtungslos war sein Blick geworden.

Es musste Wochen später gewesen sein, als das Telefon läutete. Er kannte den Klang nicht, es klingelte ja auch nie. Weder die Kinder noch Gerda riefen mehr an. Für einen Moment wusste er auch nicht, wo das Telefon eigentlich stand. Er schlurfte in die Diele, nahm den Hörer ab und sagte: »Ja, bitte«, er räusperte sich, seine Stimme war vollkommen eingerostet und ihm fremd. »Hier ist Professor Schreiber, werter Kollege, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich bräuchte Ihren Rat. Ich habe hier eine junge Frau auf dem Tisch, so um die dreißig, aber ich werde aus ihrer Todesursache nicht schlau.«

Viktor wurde einen Moment lang schwarz vor Augen. Und er erinnerte sich plötzlich an eine längst vergessene Szene, wie ihn sein damaliger Chef, als er noch unerfahrener Assistenzarzt war, zu sich zitierte und ihn wieder nur mit ›Glaser‹ ansprach. Das ›von‹ ließ er immer weg, das machte ihn klein, mehr noch: es sollte ihn klein machen. Sie standen vor einer Frauenleiche, jung war sie, sein Chef sagte, ohne Zögern, hier läge ganz klar ein Selbstmord. »Warum, Glaser?«, fragte er ihn, ohne die Antwort abzuwarten. »Ich werde es Ihnen sagen. Die Frau hat rot lackierte Fußnägel, mit großer Wahrscheinlichkeit war sie eine Geliebte, die nun verlassen wurde. Die haben immer rot lackierte Fußnägel«, so sein zweifelsfrei vorgetragener Befund.

Viktor, der sich zu fassen versuchte, fragte Schreiber, ob die Frau schwarze, glatte Haare und rot lackierte Fußnägel habe. »Ja«, antwortete Schreiber, hörbar irritiert. »Das war Selbstmord«, kam ihm Viktor zuvor, »ohne Zweifel. Testen sie mal auf ›Blauen Fingerhut‹ oder es war ein ›gebrochenes Herz‹, das gibt es, lachen Sie nicht.« »Ich dachte, Sie könnten vielleicht ins Institut kommen?«, fragte Schreiber höflich und werbend zugleich. »Nein«, unterbrach ihn Viktor eine Spur zu barsch, »das kann ich nicht. Ich kannte die Frau, ich habe sie geliebt, und ich habe versagt, ich bin schuld. Sie heißt Marie.«

Unerreichbares Leben

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