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MEIN ERSTER SLOGAN
ОглавлениеIm Sommer 1966 verkündete unser Grundschuldirektor auf einer Schulversammlung mit ernster Miene ein brandneues Ereignis: Eine von Mao eigenhändig verfasste Wandzeitung mit dem Titel »Bombardiert die Hauptquartiere« sei veröffentlicht worden. Der Große Vorsitzende habe damit in poetischen Worten an alle appelliert: »Man sollte es endlich wagen, den Kaiser von seinem Ross herunterzuziehen!« Mit diesem Aufruf und mit dem »Kaiser«, so erklärte er uns, habe Mao alle Funktionäre gemeint, alle, die den kapitalistischen Weg eingeschlagen hatten, wie man gemeinhin damals sagte. Diese müsse man jetzt öffentlich kritisieren und entschieden verfolgen. Eingeschlossen in den Kreis dieser Feinde wären alle Revisionisten, Antirevolutionäre und alle Vertreter der Bourgeoisie. Alle, die zur ausbeutenden Klasse gehörten, die müssten jetzt von ihrem hohen Ross geholt und zurückgeschlagen werden.
Unser Grundschulleiter erklärte uns dann die größeren Zusammenhänge dieses neuen Aufrufs. Der Vorsitzende Mao hätte von »vier großen Ideen« gesprochen: vom »Großen Krähen« (gemeint sind agressionsfreudige Reden) von der »Großen Gedankenbefreiung«, der »Großen Diskussion« und der »Großen Wandzeitung«. Und er hätte befohlen, man sollte ein mutiger Vorkämpfer sein, man dürfe künftig »keine Scheu mehr vor dem Himmel, vor der Erde, vor Geistern und vor Teufeln haben.«
Unser Grundschulleiter nahm des weiteren Maos Worte zum Anlass, uns Schüler alle zur tatkräftigen Mitwirkung in diesem jetzt gebotenen Kampf aufzurufen. Wir sollten uns doch die Studenten aus der Pekinger Universität zum Vorbild nehmen. Wie Paris die Welt der Mode anführt, so bildet die Beijing Universität bei jeder politischen Bewegung die Lokomotive. Einige unserer Lehrer waren schon zur Beijing Universität wie nach Mekka oder nach Jerusalem gepilgert und hatten uns enthusiastisch über die dortigen Aktivitäten berichtet. Die Studenten hätten bereits voller Begeisterung damit begonnen, die Ideen des Großen Vorsitzenden Mao in die Praxis umzusetzen und damit eindrucksvoll gezeigt, wie man die rote Fahne Maos hissen muss. Auch wir hätten uns nun um die Interessen der Partei zu kümmern und uns um den Vorsitzenden Mao zu scharen, hätten alle Subversionspläne der Revisionisten, sobald wir davon hörten, aufzudecken und öffentlich bekannt zu machen.
Wir konnten damals Sinn und Bedeutung dieses Aufrufs wohl noch nicht so richtig begreifen, aber wir hatten doch eine Ahnung davon, dass es sich hier um eine sehr wichtige Angelegenheit handeln musste. Unser Grundschulleiter hatte eine gewisse Ratlosigkeit in unseren Gesichtern erkannt und deshalb versucht, uns klar zu machen, was das für uns Schüler konkret zu bedeuten hätte. Er forderte uns auf, dem Aufruf Maos zur Herstellung einer Wandzeitung, die inzwischen schon wie ein politisches Manifest angesehen wurde, Folge zu leisten und jetzt auch »in die Schlacht zu ziehen« und alle Feinde, alle konterrevolutionär gesinnten »Revisionisten«, die man inzwischen meistens metaphorisch »Rinderdämonen« und »Schlangengeister« nannte, tatkräftig »niederzuschlagen«. Erst allmählich dämmerte es mir, was vielleicht damit gemeint sein könnte und was das heißen würde. Was man unter den Konterrevolutionären und Ausbeutenden zu verstehen hätte, das war nicht so schwer zu begreifen. Aber was sollten wir uns unter den »Revisionisten« vorstellen? Wer zählte denn zu dieser Personengruppe? Unser Grundschulleiter versuchte uns auf die Sprünge zu helfen. Darunter wären alle Funktionäre zu verstehen, die sich von den ursprünglichen Zielen von Karl Marx, Friedrich Engels, von Lenin und Stalin abgewandt hätten. Aber nicht nur von ihnen. Hier wären auch diejenigen Funktionäre gemeint, die sich über die Masse der Bevölkerung erhoben hätten. Aber selbst diese Erklärungen konnten uns anfänglich wenig helfen, eine deutlichere Vorstellung, ein klareres Bild von der vielgeschmähten Gruppe der Revisionisten zu gewinnen. Ich glaubte insgeheim, vielleicht würde unser Grundschulleiter ja selber nicht so genau wissen, wer und was hier öffentlich zu kritisieren wäre. Was man unter »Schlangengeistern« und »Rinderdämonen« zu verstehen hatte, das immerhin wusste ich. Waren hiermit doch nach chinesischem Volksglauben böse Geister bezeichnet, die eine menschliche Gestalt annehmen konnten und in aller Regel Unglück brachten. Wir alle waren also jetzt aufgefordert, diese bösen Geister in unseren Mitmenschen zu erkennen und sie zu enttarnen. Auch wir Schüler sollten von allen, die gegen die Diktatur des Proletariats, die gegen Mao und gegen die Partei aufgestanden waren, deutlich Abstand nehmen und sollten solche Mitmenschen als feindliche »Dämonen« entlarven und öffentlich kritisieren.
Nachdem wir diese unsere Mission allmählich zu begreifen gelernt hatten, erfasste uns eine wahre Leidenschaft für diese unsere große Aufgabe. Der Appell unseres Schulleiters bewirkte bald in unserer Einheit einen unglaublichen Aufschwung. Unsere Stimmung, unser aufflammender Enthusiasmus kannte mit der Zeit keine Grenzen mehr. Von einem normalen Unterrichtsalltag konnte fortan keine Rede mehr sein. Wir alle fühlten uns verpflichtet und auch stolz und stark genug, aktiv an der Revolution teilzunehmen und eine wichtige Rolle in der Kulturrevolution zu spielen. Alle wollten nun ihren Mut unter Beweis stellen, einen Tiger zu streicheln und einen Kaiser von seinem Ross zu stürzen (wie man damals bei uns Chinesen zu sagen pflegte). Den Pinsel sollten und wollten wir als Waffe in die Hand nehmen und diese gezielt auf die »Schwarzen Gruppen« (gemeint waren alle oben genannten Feinde und »Bösewichter«) richten. Alle wollten wir nun Vorkämpfer auf dem Weg zur Revolution werden! Aber wir alle machten jetzt auch unsere Augen weit auf und schauten sogar kritisch auf unsere Lehrer und Schulleiter, ob sich vielleicht auch unter ihnen verborgene »Schlangengeister« und »Rinderdämonen« oder andere verdächtige Feinde versteckt hielten, die letztlich auf eine Gelegenheit lauerten, das sozialistische System zu bekämpfen, es zu schwächen oder sogar zu beseitigen. Möglicherweise gab es selbst in unseren eigenen Reihen solche gefährlichen feindlichen Elemente, heimliche Anhänger der Bourgeoisie und maskierte Revisionisten, die uns vom rechten Weg abbringen wollten.
Alle Lehrer und Schüler befanden sich wie in einem Rausch, an einer so großen Aufgabe mitwirken zu können. Jedes gesprochene Wort des Gegenübers wurde nun auf die Goldwaage gelegt. Wir Schüler machten beinahe einen Sport daraus, die Verhaltensweisen aller Lehrer unter die Lupe zu nehmen, besonders natürlich, wenn diese in gehobenen Positionen mit leitenden Funktionen waren. Wir glaubten uns hierzu berechtigt, hatten die Lehrer selbst uns ja dazu angehalten. Und hatten wir doch in allen Klassen buntes Wandzeitungspapier, Pinsel, Tinte und Klebstoff erhalten und waren ermuntert worden, alles Verdächtige aufzuschreiben und gegen alle, die uns verdächtig schienen, mit unserem Schreibzeug zu Felde zu ziehen.
Der größte Teil unseres Schulunterrichts bestand jetzt aus Diskussionen, aus dem Lesen neuer Artikel der Volkszeitung und der Interpretation neuer Richtlinien der Partei, deren Verständnis zu vermitteln jetzt offenbar die wichtigste pädagogische Aufgabe unserer Lehrer schien. Immer wieder hatte man uns über die neuste revolutionäre Entwicklung anderer Einheiten, Universitäten und Schulen berichtet. Dabei mussten wir bald leider selbstkritisch feststellen, dass wir mit unseren Aktivitäten weit hinter anderen Institutionen zurückgeblieben waren. Wir hatten uns wirklich zu beeilen, noch auf den bereits abgefahrenen Zug der Revolution aufzuspringen, um ihn am Ende nicht zu verpassen. Die Volkszeitung hatte schließlich in uns allen mit dem Slogan »Schwingt euren Pinsel wie ein Gewehr, zielt auf die lauernden Feinde unter euch und erschießt sie!« neuen Elan erweckt. Jetzt waren wir Feuer und Flamme und stürzten uns mit Macht und übereifrig auf das Schreiben von Wandzeitungen.
Mittlerweile besuchte ich die dritte Klasse und konnte auch schon ganz anständig schreiben. Sogar ein wenig Kalligraphie hatte ich unter der strengen Aufsicht meiner Eltern und Lehrer geübt. Ich konnte also schon recht gut mit dem Pinsel umgehen. Aber ich war unsicher, gegen wen ich mit meinen Mitteln zu Felde ziehen sollte. Erst nach einer beträchtlichen Zeit des Hinbrütens glaubte ich das richtige Opfer meiner Kritik gefunden zu haben: Dies sollte unsere damalige Grundschul-Vizedirektorin werden! Der wollte ich meine erste Wandzeitung widmen.
Diese mittlerweile fünfzigjährige Dame fungierte seit Jahren als eine äußerst strenge Vizeleiterin der Schule. Unerbittlich im Umgang mit ihren Schülern konnte sie sogar Ohrfeigen austeilen. Eine Kettenraucherin mit »dunkler« Hautfarbe war sie, wodurch sie womöglich noch härter wirkte. Sie trug im Unterschied zu den meisten anderen Frauen keine kurzen Haare, hatte ihre Haare vielmehr zu einem hohen Knoten gebunden. Sie erschien immer perfekt gekleidet. Manchmal konnte man auch eine kleine silberne Kette an ihrem Hals ausmachen. Und sie lebte alleinstehend.
Wie viele andere Schüler hatte auch ich große Angst vor ihr. Wenn wir ihr begegneten, dann wagten wir kaum mehr laut zu atmen. So ging es auch mir. Doch jetzt unter dem Einfluss der Kulturrevolution brauchten wir uns endlich vor ihr nicht mehr zu ducken. Jetzt fühlten wir uns ermutigt, ihr gegenüber selbstbewusster auftreten zu können. Wir schienen als Schüler mehr Macht gewonnen zu haben, konnten ihr endlich zeigen, wie ernst wir die neue uns zugemutete Aufgabe nahmen. Nicht nur als autoritäre Lehrerin und Funktionärin, auch als Person und Charaktertyp schien diese Frau für uns das schlechthin ideale Objekt kritischer Entlarvung und Diffamierung: Die Tatsache, dass sie Kettenraucherin war, passte doch wunderbar ins Bild typischer und althergebrachter feudalistischer Gewohnheiten. Die Halsketten, die sie wenn auch ziemlich unauffällig trug, der altmodische Haarknoten, dies alles schien für ihre offenkundige Zuneigung zum westlichbürgerlichen Lebensstil zu sprechen. Und wenn sie überdies Schüler auch noch mit Ohrfeigen strafte, dann sollte sich diese Gewohnheit mit der Vorstellung ihrer Sympathie für heimliche Brutalität fügen. Darin durfte, nein musste man ihre grundsätzliche Distanz, ihre gewollte Entfremdung von der neuen revolutionären Generation sehen. Ohne Zweifel, so dachte auch ich damals, kam in solchen Verhaltensformen die große Entfernung von der Gesellschaft der Zukunft zum Ausdruck. In ihren stets strengen Gesichtszügen musste sich die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen neuen System und mit unserer neuen Gesellschaft widerspiegeln. Diese Vizeleiterin unserer Grundschule war zweifellos schon eine ältere Jungfer. Sie hatte keine Familie, war vielleicht ja noch auf heimlicher Suche nach einem Mann. Aber sollte sie wirklich eine Chance haben? Unwahrscheinlich, doch man konnte es nie genau wissen. Vielleicht, so dachten wir, dachte nicht nur ich mit ironischer Häme, vielleicht wartete ja ein Mann in Taiwan auf sie! Kurz, diese Frau schien als die Repräsentantin der von uns zu entlarvenden »Schlangengeister«, »Rinderdämonen« und »Revisionisten« ein geradezu mustergültiges Opfer. Alles sprach in der Tat dafür, dass unsere Grundschul-Vizedirektorin eine vorzüglich getarnte Feindin sein musste, die zu entlarven wir verpflichtet waren.
In dieser Absicht verfassten wir jetzt eine Wandzeitung nach der anderen. Und auch ich beteiligte mich hier mit nicht ganz zu leugnenden Rachegefühlen und mit einem kaum zu überbietenden Eifer, schloss mich wie meine Mitschüler dem Zug der Revolution an, wollte nicht als abgehängter Waggon zurückbleiben. Da ich schon seit geraumer Zeit in einer Malgruppe unserer Schule mitwirkte, versuchte ich neben meinen Textbeiträgen zur Wandzeitung auch Karikaturen dieser Direktorin als Waffe einzusetzen und meiner Kritik damit noch ein zusätzliches Gewicht zu verleihen. Das war für mich ein gefundenes Fressen, denn erst mit dieser Frau hatte ich ein ideales Karikaturobjekt entdeckt. So malte ich sie als eine verruchte Kettenraucherin, als Frau in einem engen Kleid und mit dicken Beinen, an deren Hals eine Perlenkette mit pingpongballgroßen Kugeln hing, als eine Person mit bösen Grimassen, wobei ich ihre Schneidezähne übertrieben hervorhob und ins Groteske verzerrte. Mein Versuch, sie so hässlich wie möglich darzustellen, so dass sie als Inbegriff einer dämonischen Frau erscheinen musste, gelang dann auch zu meiner vollsten Zufriedenheit. Meine Mitschüler amüsierten sich köstlich über meine gelungene Karikatur. Ich war richtig stolz auf mich.
Unser Eifer fand bei unseren Lehrern großes Lob. Jeden Tag registrierten sie mit Genugtuung, wie viel Tinte und Papier wir schon benutzt hätten und rühmten unsere große Aktivität, die ihnen als Beweis für unsere revolutionäre Motivation und Einstellung dienen konnte. Wir sollten nur so weiter machen! Wir fühlten uns gebauchpinselt und ermutigt, immer mehr Wandzeitungen und Karikaturen zu produzieren.
Dabei steigerte sich unser Übermut ins Grenzenlose. Wir glaubten immer neue Personen zu identifizieren, die unserer Meinung nach zu den verdächtigen »Schlangengeistern« zu rechnen wären und die aus uns manchmal selber nicht erklärbaren Gründen ins Revier der Revisionisten geraten zu sein schienen. Der Kreis der kritisierten Opfer wuchs wie ein Schneeball. Unsere Wandzeitungen fielen wie Blätter vom Baum. Bald waren alle Wände voll gehängt. Nicht genug damit. Eine Wandzeitung hatte man kaum lesen können, der Klebstoff war noch nicht einmal richtig trocken, da wurde sie schon von einer neuen überdeckt, so dass am Ende viele Wandzeitungen übereinander hingen und deren Zeichen so gut wie nicht mehr lesbar waren.
Als im Eifer des Gefechtes schließlich immer mehr Lehrpersonal karikiert und ein Pädagoge nach dem anderen vermeintlich als »Bösewicht« entlarvt und auf diese Weise verunglimpft wurde, begann ich doch langsam nachdenklich zu werden und mir Gedanken zu machen – meines Vaters wegen. Ich erinnere mich heute noch daran, eines Tages meine Mutter gefragt zu haben, ob mein Vater als Parteisekretär der Schule vielleicht auch in Gefahr geraten könnte, da jetzt so viele Funktionäre unserer Schule schon aus ihrem Amt gejagt worden waren. Meine Mutter hatte mich damals beruhigt mit den Worten, das sei höchst unwahrscheinlich. Denn gegen meinen Vater gebe es seiner makellosen Vergangenheit wegen kaum Gründe für eine solche diffamierende Kritik, wie sie gegenwärtig allerorten wütete. Schließlich war mein Vater schon mit sechzehn Jahren in die kommunistische Partei eingetreten, zu einer Zeit also, als diese Partei noch nicht einmal offiziell etabliert war. Damals galt er öffentlich lediglich als ein Grundschullehrer, der er tatsächlich war, aber in Wirklichkeit war er überdies hauptsächlich zuständig für die Werbung neuer Mitglieder der Kommunistischen Partei. Er versuchte alle möglichen Leute für die Partei zu gewinnen. Er hatte bei seinem Engagement für die Kommunisten viele Probleme und Gefahren zu fürchten, sogar sein Leben aufs Spiel setzen müssen. Denn wäre seine geheim gehaltene politische Tätigkeit von der damaligen Regierung vor der Gründung der VR China, d.h. bei den damaligen Gegnern der Kommunisten, herausgekommen, dann hätte er sogar mit der Enthauptung rechnen müssen. Dies müssten doch zumindest seine Parteigenossen zu schätzen wissen und somit für ihn bürgen. Deshalb sei er auch schon in jungen Jahren mit der hohen Position des Parteisekretärs betraut worden. Auch hinsichtlich seiner Herkunft würde man vielleicht keinen Kritikpunkt finden, denn mein Vater stammte aus einer mittelreichen Bauernfamilie, aber da seine Familie keine Knechte beschäftigt hatte, zählte sie deshalb regulär nicht zu den Großgrundbesitzern und gehörte mithin zu einer sozialen Klasse, die nicht zu den Ausbeutern rechnete. Mein Vater könne sich der Solidarität der Kommunisten im Grunde sicher sein. Meine Mutter betonte außerdem, seit der Gründung der Volksrepublik habe es schon so viele politische Bewegungen gegeben, doch mein Vater habe immer auf der Seite der überzeugten Kommunisten gestanden, welche die anderen entlarvt und aus den Ämtern gejagt hätten. Und deshalb, davon war sie fest überzeugt, könne ihm auch dieses Mal nichts Widriges zustoßen.
Hinsichtlich ihrer selbst, so meine Mutter, brauchte ich mir auch keine Sorgen zu machen. Ihre Eltern wären einmal ziemlich reich gewesen, doch seit ihre Großmutter immer tiefer dem Opiumrausch verfallen sei, habe dies Folgen für ihre Familie gehabt, sie sei nämlich allmählich immer ärmer geworden, weil man wegen der Sucht ihrer Großmutter immer mehr Schmuck, später sogar Häuser und einiges Ackerland hatte verkaufen müssen. Entscheidend und zukunftsbestimmend war die Tatsache, dass ihre Familie bei der Bodenreform Anfang der fünfziger Jahre nicht der Klasse der Großgrundbesitzer zugeschlagen worden war. Dafür maßgebend war der Umstand gewesen, dass ihr Vater und dessen zwei Brüder kurz vor der Bodenreform das übriggebliebene Eigentum der Familie unter sich aufgeteilt hatten. Außerdem hatte ihr Vater seine Nebenfrau gehen lassen müssen, weil die Sitte der Polygamie inzwischen abgeschafft worden war. Ihr Vater hatte deshalb eine Heirat seiner Nebenfrau mit einem seiner älteren Knecht arrangiert. Dafür hatte er zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens eingesetzt. Alle dieser eigentlich unglücklichen Umstände hatten schließlich doch zu einem glücklichen Ende geführt. Denn bei der Bodenreform hatten sich diese Momente als eine Rettung erwiesen: Der Vater meiner Mutter war verschont geblieben von der Zuordnung zur Klasse der ausbeutenden reichen Bauern und Grundbesitzer. Die Eltern meiner Mutter gehörten also auch zu der Gesellschaftsschicht, mit der sich die Kommunisten solidarisch erklärten.
Ich hatte die beschwichtigenden Erklärungen meiner Mutter damals noch nicht ganz begriffen, aber sie hatten doch die Wirkung einer Beruhigung. Ich fand mich in meiner kindlichen Begeisterung und Aktivität für die Ziele der kommunistischen Revolution (der Kulturrevolution) durchaus bestätigt und sah zuversichtlich in die Zukunft. Eine Bestätigung blieb auch von anderer Seite nicht aus. Meine Wandzeitungsartikel und Karikaturen im Dienst der Revolution wurden jetzt von allen immer wieder bewundert. Alle fanden sie ausgezeichnet und komisch. Ich durfte mich beinahe in einem Rausch baden.
Und in meinem Übermut wollte ich jetzt auch meinen Eltern und unseren Nachbarn imponieren und ihnen demonstrieren, wie gut ich inzwischen außerdem in der Technik der Kalligraphie vorangekommen war. Dazu diente mir als Muster ein Slogan, für den ich extra ein ungewöhnliches grünes Papier aussuchte, auffällig genug, weil die meisten ihre Slogans auf ein rotes Papier schrieben. Ich nahm einen besonders großen Pinsel und malte überaus sorgfältig und in kalligraphischer Manier, wobei ich mich wahnsinnig anstrengte, einen Slogan hin mit dem Wortlaut: »Nieder mit allen Schlangengeistern und Rinderdämonen!« Damit die hier beschworenen Geister und Dämonen in meiner Kalligraphie auch recht lebendig und bedrohlich wirkten, hatte ich versucht, die Formen der Bögen und Striche so zu konturieren, dass sie geradezu in weitem Schwung herumtanzten und dass sie bösen Geistern wirklich ähnlich schienen. Damit jeder auch sehen konnte, dass die schöne Kalligraphie von meiner Hand stammte, hatte ich unter den Slogan sogar meinen Namen geschrieben, was eigentlich nicht üblich war. Dann hatte ich das frisch hergestellte Blatt auf die Vorderwand unseres Wohngebäudes gehängt. So wurde man tatsächlich auf meinen Slogan sofort aufmerksam, und ich konnte schon am selben Abend die erste Ernte einer wahren Bewunderung einfahren.
Als ich am zweiten Tag von der Schule nach Hause kam, noch ganz in stolzen Gedanken über meine gelungenen Karikaturen, trug ich mich in der Hoffnung, neue Lobgesänge meiner Nachbarn wegen meines Slogans vor unserem Haus zu hören. Bestimmt hatten noch nicht alle bemerkt, dass die schöne Kalligraphie dieses Slogans doch von mir stammte. Näher gekommen sah ich eine aufgeregte Menschenmenge vor unserem Haus versammelt. Mich erfasste bei diesem Anblick ein jäher Schrecken, besonders als ich meinen Vater mitten in diesem Kreis entsetzlich erregter Menschen wahrnehmen musste. Bei näherem Hinsehen war er offenkundig von Rotgardisten umringt. Diese schienen meinen Vater mit einem Schwall entsetzlicher Vorwürfe zu bombardieren. Mein Vater verhielt sich vergleichsweise besonnen und gefasst und schien mit einer entschlossenen Handbewegung etwas wie eine Erklärung abzugeben. Aber seine Worte versandeten in dieser Brandung der brüllenden und schreienden Menschenmasse. Einige der Rotgardisten wurden sogar handgreiflich gegen ihn. Soweit ich es verstehen konnte, schleuderten ihm die Rotgardisten kritische Worte wie »Revisionist«, »Abweichler auf dem kapitalistischen Weg« »Konterrevolutionär«, und ähnliche Schimpfworte ins Gesicht.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich sah meinen Vater, wie er sich hilflos zu wehren versuchte, aber gegen diesen Mob überhaupt keine Chance hatte. Ich ahnte Fürchterliches.
In dieser Situation stach mir der grüne Slogan an der Wand vor unserem Haus in die Augen, der Slogan, den ich in auffälliger Kalligraphie angefertigt und einen Tag zuvor dort aufgehängt hatte. Jetzt leuchtete er mir grell und giftiggrün entgegen, und mit Entsetzen sah ich blitzartig einen mir bisher unbekannten Zusammenhang zwischen meinem Slogan und der heutigen Attacke auf meinen Vater. Jetzt machte ich mir die schlimmsten Vorwürfe. Hatte ich doch den Teufel an die Wand gemalt, und dieser war nun tatsächlich erschienen in der Gestalt von Rotgardisten, die meinen Vater in die Hölle verbannen wollten. Ich selber hatte dazu mit meiner Kalligraphie unwissentlich beigetragen, und ich selber hatte mich damit schuldig gemacht und meinen Vater durch meinen Slogan mitangeklagt.
Spät an diesem Abend, noch in der Dunkelheit schlich ich reumütig aus dem Haus und riss das Papier mit meinem Slogan, den ich doch so stolz und selbstgewiss auf die Wandzeitung gemalt hatte, von der Wand ab, faltete das giftgrüne Teufelsblatt zusammen und warf es in den Müll, in der Absicht und in der naiven Hoffnung, den Teufel aus unserem Haus verbannen zu können.