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Wertvoll wertvoll

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Die elende Jahreszeit neigte sich dem Ende zu; eine süße Kühle durchzog die Flure von Thompson Systems, wo einige der sorgenvollsten, selbstverliebtesten Köpfe aus Ida Grieves Generation die Zukunft hätschelten.

Heute Abend saßen einige von ihnen zusammen und tranken noch etwas, denn der Tod war im Anmarsch, und Foster, das Wunderkind, dessen offizieller Titel bei Thompson »Bienenzüchter« lautete, hatte irgendein ekliges Gebräu namens Mud bestellt. Es quoll in seinem Glas hoch und setzte sich in dunklen Klümpchen am Rand ab. Als sie den Kellner fragten, was dadrin sei, wirkte er verzweifelt, so als drohte er jeden Moment auf dem Teppich zu verbluten.

Sie sahen ihn davonschlurfen, vielleicht weil er es in Erfahrung bringen wollte, vielleicht aber auch, um sich von einer Klippe zu stürzen.

»O nein. Das ist jetzt, als hätten wir ihn zum Direktor geschickt«, sagte Foster. »Hey«, flüsterte er in Richtung Bar. »Alles gut. Sie haben nichts falsch gemacht. Wir haben Sie lieb.«

»Aber haben wir ihn denn wirklich lieb?«, fragte Aniel eine Spur zu laut. »Ich meine, das stimmt ja so nicht. In gewisser Weise ist er für uns kaum ein Mensch, überhaupt Leute wie er, auch wenn wir schlau genug sind, das nicht zuzugeben.«

»Mein Gott, Aniel«, sagte Foster. »Sind wir ja wohl offensichtlich nicht.«

Am Tisch saßen die Brutingenieure – Mort, Bummer und Cerise –, ziemlich jung, mit sichtlich geplätteten Gesichtern von den Nachtschichten an ihren Terminals, und obwohl sie Kohle hatten, trugen sie billige Sachen, tranken billiges Gesöff und wohnten in billigen Buden oben in den Hügeln. Maury Beryl war da, weil er immer da war, nippte an irgendeinem trüben Fizz und behielt manchmal noch einen Schluck im Mund, so als wollte er ihn jemandem ins Gesicht spucken. Ida spürte, dass sie in seiner Gegenwart traurig sein könnte – nicht dass sie es versucht hätte. Vielleicht irgendwann mal. Dann würde sie ihre Stimmungen über Maury Beryl auskippen und sehen, was passierte.

Neben Maury saß Harriet, über die es nichts zu sagen, zu denken oder zu empfinden gab. Außer dass Harriet bei Ida einen bestimmten Nerv traf, der ziemlich genau die Größe ihres gesamten Körpers hatte. Harriet durfte man nicht zu kleinlaut begegnen, sonst war man im Nullkommanichts ihre Back-up-Sängerin.

Ganz am Ende des Tischs saß ein geheimnisvoller junger Mann namens Donny Wohl. Gut möglich, dass er noch ein Teenager war, trotz seines hübschen Schnauzbarts, deshalb hatte Ida Angst vor ihm, obwohl er auf eigenartige Weise schön war und sie irgendwie ziemlich oft an ihn dachte, wenn sie allein war. Und neben Donny – vielleicht nur rein zufällig fast in seiner Hose, wo sie ihn, wie Ida vermutete, rein zufällig irgendwo kratzte, wo es schrecklich juckte – saß Royce, die im Pitch Room bei Thompson so ziemlich jeder Idee den Garaus machte. Royce war dafür zuständig, durch das kleine rosa Ventil in ihrem Gesicht Entmutigung in das intellektuelle Klima bei Thompson zu pumpen. Ida konnte sich darauf verlassen, dass sie sich nach einer Begegnung mit Royce wie das letzte Stück Scheiße fühlte. Aber mit Royce etwas zu trinken war etwas anderes. Sie war öde und wollte selbst darin die Beste sein, und obwohl sie gerade mit gleichgültiger Miene an Donny herumbaggerte, um endlich auch mal bei Mamas Liebling zum Zug zu kommen, war Ida froh, dass sie da war.

Foster nippte immer wieder vorsichtig an seinem Drink und versuchte zu lächeln. Ein wässriger brauner Fleck erklomm seine Oberlippe.

»Ich sage jetzt mal nichts dazu, wie du gerade grinst«, sagte Aniel.

»Vielleicht kommt der Schlamm ja von irgendwoher und hat irgendwelche, keine Ahnung, erstaunlichen Heilkräfte«, sagte Harriet und klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Glas. »Aus dem Toten Meer. Aus irgendeinem legendären Watt.« Sie studierte die Karte.

»Es schmeckt jetzt nicht schlimm oder so«, sagte er. »Ich hatte nur irgendwas Sahniges erwartet.«

Aniel stand auf und schnupperte an dem Drink. Er setzte ein versnobtes Weinkennergesicht auf.

»Das ist Superfood, Junge«, sagte er. Aniel war schon älter, so um die zweiunddreißig, mit all der Peinlichkeit, die das mit sich brachte. Er kleidete sich jung, aber modisch jung. Fifth-Avenue-Skater. Seine Sachen waren stets eins a gewaschen und gebügelt.

»Ich hab mal irgendwo gelesen, dass es regional Bodenproben gibt, die mehr Protein enthalten als Fleisch«, sagte Aniel. »Pro Kubikirgendwas.«

»Ach ja. Hab ich auch gelesen. Im Scientific American letzten August. Doch, das stimmt hundertpro.«

Das war Bummer, ein zwanghafter Bestätiger. Immer wenn Ida bei der Arbeit jemanden brauchte, der ihr zustimmte, einen Verbündeten, einen Helfer, einen Sparringspartner, einen Prügelknaben, einen Dummkopf, einen Freund oder gar einen lebendigen Menschen, der auf Kommando bluten konnte, ging sie zu Bummer, selbst wenn er wegen seiner absoluten Untauglichkeit als Reibungspunkt in einem Gespräch zu einer Pfütze zerschmolz, die gerade noch so von ein paar Knochen zusammengehalten wurde.

»Ich weiß nicht«, sagte Harriet. »Ich könnte mir das schon vorstellen. Wenn in der Erde tote Tiere vergraben sind, enthält die Probe auch ein paar Proteine. Zumindest Spuren davon.«

Ida lachte. »Wenn? Ist Erde nicht letztendlich genau das? Ein Kompost aus Totem? Also, Foster, im Grunde genommen trinkst du gerade deinen Großvater.«

»Musst du gleich persönlich werden?«, sagte Foster. »Und mein Großvater lebt noch, das ist widerlich.« Er hatte seinen Drink abgestellt und sah sich um. Nach Hilfe vielleicht. Nach einem Ausweg.

Royce flüsterte Donny etwas zu, und Donnys Gesicht blieb ausdruckslos. Donny schien geradewegs auf Ida zu starren, und sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. Das Treiben unterm Tisch nahm jetzt offenbar Fahrt auf, so als würde Royce, ohne hinzusehen, einen Zauberwürfel lösen.

Ida hätte ganz gern zugesehen, ohne den Tisch im Weg, einfach nur so. Nicht aus sexuellem Interesse, nicht direkt jedenfalls. Fast so, wie man sich in einem Museum eine kurze Doku ansehen würde. Zusammen mit anderen auf einer Bank, in einem kühlen, dunklen Raum.

»Ich wünschte, es wäre etwas greifbarer, wie sich diese Idee zu Geld machen ließe«, sagte Maury. »Dass die Erde einfach nur aus komprimiertem Totenmaterial besteht. So was wie eine kompakte kugelförmige Leiche ist.«

»Geld!«, rief Bummer, und dann wiederholten einige von ihnen das Wort in allerlei fremden Akzenten, bis es wie Piratengemurmel klang. Ida war sich nicht sicher, wie viel Ironie dabei im Spiel war; wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht.

»Übrigens«, sagte Mort, und alle am Tisch stöhnten wie auf Kommando los.

»Was denn? Ich wollte bloß sagen, dass in diesem einen Science-Fiction-Roman genau das passiert. Echt jetzt. Kein Scherz.«

»Das wissen wir, Mort«, sagte Harriet. »Das ist ja das Deprimierende. Dass es dich an ein Buch erinnert hat und wir uns das jetzt anhören müssen.«

Cerise wandte ein, es könne ja nicht schaden, wenn er den Plot kurz erzählte. Man müsse ihm eine Chance geben.

Und ob das schaden könne, sagte Foster. Es wäre ja nicht das erste Mal. »Im Mittelalter war das eine Foltermethode, Leuten den Plot von Büchern zu erzählen.«

»Okay, okay«, sagte Mort. »Ich mach’s kurz, und ihr werdet mir danken. Also, die Erde schwillt immer weiter an, weil die Leute sterben und verrotten und sich dadurch die Erdmasse immer weiter vergrößert. Versteht ihr? Und dann wird sie zu groß für ihre Umlaufbahn, und alles läuft, na ja, irgendwie aus dem Ruder. Also wirklich ziemlich aus dem Ruder. Es gibt da eine Firma, die heißt sogar ›Die Firma‹, kein Scherz, und die muss die Leute vom Sterben abhalten. Die haben so ein altes, nasses –«

»Boah, hör auf«, sagte Harriet. »Bin ich hier auf einer Lesung, oder was? Gott nee.«

Man hatte gerade den Abgesang auf ihre Branche angestimmt. Und nicht nur auf ihre Branche – Thompson hatte sich von einem Think-Tank zu einem Make-Tank entwickelt, was bedeutete, dass sie im Grunde genommen eine Firma wie jede andere waren –, sondern auf die Wirtschaft im Allgemeinen. Verkaufen war oldschool. Verkaufen war am Ende. Die Welt hätte Schwarz tragen können. Sämtliche Experten hatten sie abgeschrieben. Streiten ließ sich nur noch darüber, wie lange sie wohl noch machen würde. Die Wirtschaft war tot, aber ob morgen, in vierzehn Tagen oder vor der Sonnenwende … Das Ganze löste eine Art Gaffereffekt aus, auch wenn Ida Zeugin ihres eigenen spektakulären Crashs werden würde. Bald würden sie alle arbeitslos sein. Das gesamte Konzept von einem Job würde komplett aus dem Gedächtnis verschwinden. Die Menschen würden durch den Schnee stapfen, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnten, und dabei bluten. Kunden würden für nichts mehr zahlen und mehr Macht denn je haben. Das Wort »Kunde« war im Grunde genommen eine Beleidigung. Wahrscheinlich sogar rassistisch. Man musste diese Menschen persönlich umwerben, zu ihnen nach Hause fahren und sie mit Creme einseifen, ihnen den Rücken abreiben. Das war im Moment das große Thema. Wie das aussehen würde. Wer sich den Kittel anziehen und der Gefahr ins Auge blicken würde.

»Wer meldet sich freiwillig?«, fragte Maury und ließ die Knöchel knacken.

Alle schwiegen.

»Also, ich hab zum letzten Mal in der neunten Klasse jemanden massiert«, sagte Cerise. »Hab mein Soll früh erfüllt. Ich bin mit Berührungen eigentlich so ziemlich durch. Mit solchen Berührungen.«

»Wir konzentrieren uns viel zu sehr auf Menschen.«

Royce lachte. »Vielleicht weil die das Geld haben?«

»Und auf Geld. Wir konzentrieren uns immer nur auf neue Produkte, neue Go-to-market-Strategien. Dabei müssen wir den Kunden neu erfinden. Genau an dieser Stelle wird der nächste große Umbruch stattfinden.«

»Der Kunde ist cremig«, murmelte Aniel.

»Ach echt?«, sagte Royce zu Harriet. »Lieber Himmel, ich hoffe wirklich, du wirst nicht für das bezahlt, was du so tust und von dir gibst. Ich hoffe, du bist eine heimliche Praktikantin, die sie geschickt haben, um uns zu testen und zu sehen, wie wir auf dein Gesabbel reagieren. Bitte, bitte sag mir, dass du mit deinen Ideen kein Geld verdienst.«

»Na gut, Royce, wenn du es wirklich hören willst. Ich verdiene mit meinen Ideen kein Geld. Aber das sage ich nur, damit du beruhigt bist. Du wirkst ängstlich, und ich will dir keine Angst machen. Aber egal, es ist sogar mehr oder weniger wahr. Was verrückt ist, weil du ja eigentlich selten richtigliegst. ›Geld‹ wäre schlichtweg das falsche Wort für das, womit sie mich für meine Dienste überhäufen – nicht annähernd stark oder beängstigend genug, viel zu beschränkt in seiner Bedeutung. Geld habe ich früher verdient. Unanständig viel Geld, und ich habe es in einem Socken gehortet, einem Socken, so groß wie dein Haus. Aber dann, na ja, ›aufsteigen‹ ist nicht das richtige Wort für das, was dann passiert ist. Es gibt keinen Ausdruck für die Art von Beförderung, die ich bekommen habe. Und jetzt gehöre ich zu keiner Kategorie mehr, die du auch nur ansatzweise verstehen würdest. Ich müsste dir buchstäblich eine neue Furche ins Hirn ritzen, damit du irgendetwas von alldem kapieren würdest. Mit einem Skalpell, das du nicht ansehen könntest, ohne dass es dich blenden würde. Aber ich bin trotzdem gern mit euch befreundet. Ich bin nicht so abgehoben, dass ich nicht merken würde, was für gute Menschen ihr seid. Auf gute Menschen, die uns daran erinnern, woher wir kommen.«

Harriet hob ihr Glas, aber es folgten nicht viele ihrem Toast.

»Das war ja am Anfang ganz witzig, aber gegen Ende wurde es ziemlich weitschweifig«, sagte Royce, die Donny als Kissen benutzte.

»Ich fand eher, es fing weitschweifig an und wurde dann brechreizerregend«, sagte Ida. »Und jetzt wissen wir immer noch nicht wirklich, womit sie bezahlt wird.«

Harriet grinste blöd und rieb die Fingerspitzen aneinander.

»Apropos Menschen«, sagte Aniel. »Es gibt durchaus ein paar, die ich gern mal lecken würde. Wenn auch nicht hier am Tisch. Nichts für ungut.«

Es war schon spät, und sie sahen sich um, was oder wen es hier noch abzugreifen gab. Oder abzuweisen. Es war wieder diese Zeit am Abend, aber vielleicht war diese Zeit auch immer. Das Gebot der Stunde lautete, sich auf die Suche nach etwas Feuchtem zu machen, aber sie kamen oft nur mühsam in Gang, schleppten sich träge zur Startlinie. Sie wurden müde. Verspürten eine leichte Übelkeit. Das ganze Gebagger konnte so anstrengend sein. Letztendlich blieben sie vielleicht doch lieber allein. Aber auch das konnte das ferne Verlangen nicht auslöschen, nicht wirklich.

Ida ging an diesem Abend mit Mort nach Hause. Sie hatte seine sanften Übergriffe schon ein paarmal überlebt, und die Beschämung, mit der sie gerechnet hatte, weil sie mit einem jungen glatzköpfigen Ingenieur ins Bett ging, stellte sich nie richtig ein. Was ja in gewisser Weise vielleicht schon etwas wert war. Am Ende eines gemeinsam durchzechten Abends wie diesem, an dem, so Idas Vermutung, einer so beschämt und traurig war wie der andere – zu einer wirklichen Öffnung ließ sich keiner von ihnen herab –, stolperten sie manchmal Die-kleinen-Superstrolche-mäßig in ihr jeweiliges Territorium und erwiesen sich gegenseitig einen gewissen Dienst. Eines Tages würde ihnen vermutlich ein Lieber Freund geben, was sie brauchten, und danach noch sauber machen, vielleicht sogar die Scham aus ihrem Organismus spülen. Doch vorerst mussten sie mit der Gesellschaft anderer fleischiger Bedürfnismaschinen, Labertaschen und kleiner Heulbeutel vorliebnehmen. Mort war jünger und insgesamt weicher, aber für Ida war der Umgang mit ihm in Ordnung, denn er war in erotischer Hinsicht äußerst höflich und verwendete den Großteil seiner Kopulationsenergie darauf, sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, so als könnte jeder neue zaghafte Stoß, bei dem sein Gesicht über ihr schwebte wie der Aufbau eines Karnevalswagens, mit einem Mal den gesamten moralischen Rahmen ihrer Zusammenkunft verändert haben. Was ja vielleicht sogar der Fall war, überlegte Ida, wer wusste das schon?

Ob dieses okay war, sich jenes gut anfühlte, es ihr gut ging, war das vielleicht unbequem, und wäre es so womöglich angenehmer? Oder wäre ihr irgendetwas anderes lieber, etwas ganz anderes, vielleicht ein anderer Mensch, sollte er das mal zu arrangieren versuchen? Ida stellte sich vor, wie Mort mit seinen süßen Babybeinen halb nackt auf der Straße stand und Passanten bat, hoch zu ihr in die Wohnung zu gehen und lieb zu ihr zu sein, ganz, ganz lieb. Mort würde das für sie tun, auch wenn er es insgeheim für sich selbst tun würde, um irgendein unstillbares Bedürfnis zu befriedigen, zuvorkommend und hilfreich zu sein. Weil er unbedingt gefallen wollte, gefallen und gefallen und gefallen. Alles etwas egoistisch, wenn man es recht bedachte.

Ob dieses okay war, sich jenes gut anfühlte, es ihr gut ging? Diese Fragen verdiente eigentlich jeder Mensch, dachte Ida, aber aus irgendeinem Grund hörte sie sie, wenn überhaupt, nur nackt und auch dann nicht allzu oft. Mort war ein lieber Kerl, aber das war’s dann auch schon. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen. Er war weich, verletzlich und leicht als selbstverständlich hinzunehmen.

Heute Abend war Mort besonders weich, wofür er seine Ernährung und den Mangel an irgendeinem tief im Alphabet vergrabenen Vitamin verantwortlich machte. Das gemeinsame Bibelstudium fiel heute also flach. Er blickte an sich hinunter, so als müsste er in der Lage sein, den Fehler zu beheben. »Ich habe eine Reinigung durchgeführt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich seitdem keine Erektion mehr hatte. Ich fühle mich schwach und ausgelaugt. Wahrscheinlich hätte ich zu Hause einen Probedurchlauf machen müssen, bevor ich hier aufschlage. Aber ich hatte einfach zu viel um die Ohren.«

»Vielleicht hast du ihn nicht mit deinem, ähm, Dings verbunden«, sagte Ida scherzhaft und zeigte auf das blöde Teil an seinem Handgelenk, das ihm von früh bis spät seine Körperfunktionen entgegenbellte.

Ohne zu lachen, sah Mort auf die Uhr. Als Hintergrund hatte er einen Zeichentrickbären eingestellt, der sich den Bauch rieb.

Er hatte es also geschafft, sich durch eine bestimmte Ernährungsweise von seiner männlichen Last zu befreien?, fragte sich Ida. Konnte man überhaupt noch »Männlichkeit« sagen? Wahrscheinlich war es problematisch, aber sicher war Ida da nicht. Ein großer Teil der Sprache steckte im Morast des Wahnsinns fest, und manchmal schien es das Beste, sich da rauszuhalten. Bei heiklen Themen, nein, eigentlich immer, wenn man mit irgendjemandem sprach, war es das Sicherste, in variierendem Tonfall einfach nur laut zu atmen und ein klein wenig Mimik hinzuzufügen – dann konnte einen das Protokoll nicht wie ein Bumerang erwischen und in den Schlamm drücken. Wer sollte einem dann irgendetwas nachweisen? Man hatte doch nur geseufzt. Man seufzte immer weiter, seufzte und seufzte. Wie könnte irgendjemand daran Anstoß nehmen? Selbst die biologische Terminologie war wacklig geworden, und wenn man es vergeigte und irgendetwas laut aussprach, konnte man sich schließlich selbst daten. Sich für die Tonne stylen. Das wär dann ein bisschen so, als würde man seinen eigenen Grabstein als Reklametafel benutzen.

Mort bekam also keinen hoch, und sie war müde, und es war schon spät, spät, spät.

»Tut mir leid«, sagte Ida in ihrer tonlosesten Stimme. Sie klang eiskalt, das wusste sie, aber vielleicht bemerkte Mort ihre Tonlage ja auch gar nicht. Seine Selbstbestrafungsmechanismen waren zu mächtig. In erster Linie war sie erleichtert, dass sie jetzt nicht mit diesem Kollegen vögeln musste, den sie kaum kannte und der oft wie ihr Klassenlehrer aus der dritten Klasse roch, wobei sie jetzt einiges durcheinanderwarf, aber sie spürte einen vagen Druck, die Situation persönlich zu nehmen. War etwas zwiegespalten. Vielleicht bekam er ja ihretwegen keinen hoch. Sie hatte keine richtige Latte ausgelöst. Es war schwierig, nicht mitzuspielen und so zu tun, als würde Mort, wenn ihr Arsch nur eine steilere Kurve machen oder ihre Brüste nicht zur Seite wegfließen würden, jetzt hart wie eine Diamantsäge auf ihr hin und her schaukeln. Es war aber so, dass sie es zuvor schon vollzogen hatten, mehrmals im Laufe der letzten Monate, und dass ihr Körper, ihr munterer Wonnekörper, den sie aus ganzem Herzen liebte – o ja, und wie! –, sich in dieser Zeit nicht großartig verändert hatte. Er war nicht verdorben oder zerfallen, und von den unteren Partien hatte sich auch kein weiches graues Pulver abgelöst. Nein, ganz sicher nicht. Also egal, schnurzpiepegal, wenn dieser junge Mann hier mit einem schlaffen Wienerwürstchen hockte.

Sie tätschelte Mort den Rücken. Die Säuberung würde sich heute Abend einfacher gestalten, aber was zum Teufel sollte sie jetzt mit diesem nackten Menschen anfangen, der auf ihrem Bett saß und dessen Stimmung ins Selbstmitleidige zu kippen drohte? Mort war zu höflich, um sich wegen seines Missgeschicks zu einem offenen Gefühlsausbruch hinreißen zu lassen – die jungen, sensiblen Männer von heute waren solche Musterknaben in Sachen Gefühlsbeherrschung! –, aber er parkte dort auf dem Bett, als würde sein Problem genau dort behoben werden, und Ida wusste, dass das nicht drin war. Muss. Diesen. Trauerkloß. Hier. Rauskriegen. Sie hatte ihr Emotionspensum für diese Woche mehr als erfüllt, nachdem sie sich schon um ihre Mutter und ihren Vater gekümmert hatte, und im Moment war ihr Mitgefühlsspeicher und eigentlich auch alles andere leer. Sie wollte ein wenig Nahrung zu sich nehmen, high werden und sich dann vielleicht vom Badewannenhahn den Rest geben lassen.

Thompson Systems verlangte von seinen Angestellten regelmäßige ärztliche Check-ups, vielleicht damit man nicht in einer der Arbeitsnischen tot umkippte und einen Produktivitätsknick verursachte. Als Ida an der Reihe war, bekam sie nach der Routineuntersuchung ein altes Medikament namens Rally verschrieben. Nicht gegen Gefühlsschwankungen, teilte man ihr mit, aber vielleicht gegen den Mangel an denselben. Der Arzt betonte ausdrücklich, es sei kein neues Medikament. Sie solle bitte keine Sekunde glauben, sie würde irgendetwas Neues einnehmen. Manchmal wirkten nur die älteren, in Vergessenheit geratenen Medikamente optimal und genau auf den Punkt, erklärte ihr der Arzt. Ja, manchmal muss es G–nau der Punkt sein, hatte Ida erwidert und ein wenig zu laut gelacht, aber der Arzt hatte sie nur gelangweilt angesehen und gesagt, dass die Pillen außergewöhnlich schwer zu schlucken seien. Denken Sie bloß nicht, nur weil Sie Ihr ganzes Leben lang Pillen geschluckt haben, können Sie diese auch schlucken. So einfach ist es nicht. Er hielt inne. Sie war unsicher, was konkret sie sich darunter vorstellen sollte. Sie konnte sich gar nichts vorstellen, nur eine Wiese voller Toter, warum auch immer. Die Pillen seien gar nicht mal besonders groß, erklärte der Arzt. Sie seien nur, da könne sie ihm vertrauen, wirklich schwer zu schlucken.

Ida loggte sich als Fake-Kundin beim Thompson-Server ein – eine aus den Scharen falscher Identitäten, die man pflegte, um Lob über sich selbst zu verbreiten, Lob und eine gewisse Art von maßvoller Kritik, der Markenauthentizität wegen – und griff ein paar Informationen über das Medikament ab, war jedoch, kaum dass sie zu lesen begonnen hatte, gelangweilt. Es habe das Leben der Menschen verändert und ruiniert, sie liebten und sie hassten es. Sie waren gleichgültig und traurig und glücklich, dem Tode nahe und wiedergeboren. Manche schrieben, wenn man die Pille vor dem Schlucken zu lange im Mund behalte, werde sie größer, statt sich aufzulösen. Man könne daran ersticken, aber man könne auch lernen, Mensch zu sein. Andere meinten, sie wirke nicht, und wieder andere beschwerten sich lang und breit über die Verpackung. Sie sei so weich, dass sie sich in den Händen auflöste und nicht mehr abwaschen ließ. Nie mehr, um genau zu sein. Die meisten waren sich darüber einig, dass es Jahre dauern konnte, bis die Wirkung einsetzte, ein ganzes Leben lang. Auch wenn manch einer behauptete, er habe sich schon nach der allerersten Einnahme energiedurchflutet, fröhlich und von Grund auf verändert gefühlt. Irgendjemand nannte es ein Antidepressivum für das Leben nach dem Tod. Keine Glückspille, das auf keinen Fall. Eigentlich nicht einmal wirklich eine Pille. Die Wirkung setze im Schlaf ein. Gut möglich, dass es einen selbst zwar nicht veränderte, aber auf einen Freund überging und sich in ihm ablagerte. Medikamente wie dieses, behauptete ein Kunde, seien nur für Leute bestimmt, die der Meinung seien, sie hätten sie nicht nötig. Es war im Grunde genommen gar kein Medikament. Eher eine Art Bombe, nur dass sie keinen Zünder hatte und nie hochgehen würde. Man hatte sie nie wirklich geschluckt. Man behielt sie nur eine Weile in sich. Wenn man Glück hatte. Wir existieren nur, um diesen Pillen eine Zuflucht zu bieten, sagte jemand. Dein Körper ist die Flasche. Chemisch betrachtet sei es ein relativ mildes Mittel. Eher Nahrung als Medikament. Eher ein Probewindstoß, gefangen in einem Glasfläschchen. Angeblich wurde gerade eine Creme entwickelt.

Ida löste ihr Rezept ein und nahm ihr Fläschchen Rally mit nach Hause. Nachdem sie mit einem Zahnstocher etwas Butter auf die erste Pille geschmiert hatte, ließ sie sich problemlos schlucken. Aber kurz darauf war sie schon wieder im Mund – sie fühlte sich an wie ein kleines Insekt, das ihr den Hals hochgekrabbelt war –, und Ida musste sie wieder herausnehmen und noch einmal mit Butter bestreichen. Danach blieb sie unten, und so gern Ida im Laufe der nächsten Wochen irgendeine Veränderung festgestellt hätte – geistig, gefühlsmäßig oder sonst irgendwie –, fiel ihr nichts auf, was irgendwie anders gewesen wäre.

Als Ida ihre Mutter das nächste Mal im Pflegeheim besuchte, sprach sie sie auf Rally an. Vor ihrer Pensionierung war sie Arzthelferin gewesen und hatte vielleicht etwas gehört oder womöglich sogar mit eigenen Augen gesehen, wie das Medikament wirkte. Wie sich herausstellte, hatte man ihrem Großvater denselben Wirkstoff verschrieben, damals noch unter dem Handelsnamen Forlexa, damit er sein Leiden in den Griff bekam, das sich – und an dieser Stelle schwieg Idas Mutter eine ganze Weile – nur als Entfremdung beschreiben ließ.

Wahrscheinlich nicht die offizielle Diagnose, vermutete Ida, aber eine gewisse diagnostische Eleganz ließ sich nicht leugnen.

»Hat es gewirkt?«, fragte Ida.

Wieder hielt ihre Mutter inne, und es schien, als hätte sie die Frage vergessen. Ihre Klarheit war manchmal flüchtig. Sie dachte nach, so viel stand fest. Und dachte nach und dachte nach. Ihr Gesicht war so angestrengt, dass Ida ein schlechtes Gewissen bekam, weil sie die Arme diesem Stress aussetzte. So wichtig war es gar nicht. Sie musste das nicht unbedingt wissen. Aber andererseits war sie auch neugierig, wie die Gedanken ihrer Mutter heute klangen, nachdem sich ja doch einiges verändert hatte. Oder vielleicht auch, wie sie überhaupt klangen.

Natürlich hatten sie sich bei der Arbeit immer wieder die Köpfe über ein Gedankenerfassungssystem heißgeredet, ein Extraktionstool für Gedanken. Das war für Unternehmen wie Thompson ein riesiger Forschungs- und Entwicklungsbereich. Die letzte Bastion des Privaten, bla, bla, bla. Wie schwer konnte es sein, den Leuten endlich ins Gesicht zu fassen und sich zu krallen, was sie dachten, und jenes laute Geplapper dann in ein überzeugendes Transkript zu verwandeln? Tatsächlich enorm schwer, wie sich herausstellte. Aber sicher nicht völlig unmöglich. Wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, selbst wenn das bedeutete, dass sie bis dahin alle tot waren und die Welt ebenfalls nur noch ein kalter, lebloser Stein, und trotzdem würde es passieren. Vielleicht. Ida sah das Reizvolle daran und hatte schon einmal mit einer Pseudobenutzeroberfläche herumexperimentiert, eigentlich nur ein paar klar voneinander abgegrenzte Eingabefelder und der erste Entwurf einer Farbpalette, so unspezifisch, dass sie auch Teil eines Geheimprojekts hätte sein können. Ida arbeitete bei Thompson auf Basis einer so strengen internen Vertraulichkeitserklärung, dass sie genauso gut mit verbundenen Augen hätte hingehen können. Letztlich wollte sie auch gar nicht in einer Zeit leben, in der eine solche Technik online ging und ihre eigenen Gedanken jenen schimmernden Robben mit menschlichen Genitalien zum Kauf angeboten wurden, die sie mit Fragen umzingelten und Strohhalme in ihren Kopf piekten, um auch noch den letzten Rest herauszusaugen. Ihre sogenannten Gedanken. Ihr wertvoll wertvoll. Dann würde sie von irgendeinem Gebäude springen müssen, und damit hatte sie es nicht sonderlich eilig. Nicht immer jedenfalls.

»Doch, ich glaube schon, dass es gewirkt hat«, antwortete ihre Mutter schließlich.

»Du glaubst?«

»Grandpa hat uns nie verlassen, egal, wie oft er damit gedroht hat. Er ist geblieben. Manchmal saß er bei uns, weit weg, und man konnte ihn beinahe in Brand setzen, ohne dass er es merkte. Ich erinnere mich sogar noch daran, wie er einmal brannte. Wirklich. Er saß dort in seinem Sessel und brannte ganz wunderhübsch.« Sie zeigte auf die Wand.

»Mutter.« Ida berührte ihre Hand.

»Aber dass er uns so fern war, emotional, das wurde weniger bedrohlich. Wie misst man emotionale Entfernung? In Meilen? Tagen? Ich glaube, das ist fast immer der Knackpunkt. Ich habe Grandma nie danach gefragt. Aber mein Vater ist geblieben, deshalb würde ich sagen, das Medikament hat sich positiv ausgewirkt. Das haben wir jedenfalls immer alle gesagt, und das sage ich ja jetzt wohl auch.«

Ihre Mutter sah Ida verwirrt an.

»Sage ich das, Schatz?«

»Ja, Mom«, sagte Ida. »Genau. Das hast du gesagt.«

»Ah, gut.« Sie nahm Idas Hand. »Und es hatte Sinn ergeben, oder?«

»Ja, absolut.«

»Das wünsche ich mir. Ich wünsche es mir so sehr. Das weißt du, stimmt’s?«

»Für mich wird immer alles Sinn ergeben, was du sagst.«

Ihre Mutter sah unglaublich liebevoll zu ihr hoch. In ihrem Blick lag jedoch noch etwas anderes, und sie schaute sich um, als hätte sie etwas verloren.

»Was ist, Mom? Geht es dir gut?«

»O ja, ja«, sagte sie, aber sie schien Ida gegenüber irgendwie nervös oder schüchtern.

»Ich dachte nur gerade, dass Sie fast so hübsch sind wie meine Tochter, Liebes. Ich würde mir so wünschen, dass Sie sie einmal kennenlernen. Sie besucht mich hier. Sie kommt bald.«

Früher hatte sie ihre Mutter korrigiert, aber man hatte ihr inzwischen davon abgeraten, und in letzter Zeit ergab die Ausdrucksweise ihrer Mutter für sie manchmal sogar tatsächlich auf eigenartige Weise Sinn. Ida nahm lächelnd die Hand ihrer Mutter. »Das würde ich wirklich gern, Mom. Sehr gern.«

Sie blickten zusammen zur Tür, aber die Einzige, die nach einer Weile hereinkam, war die Pflegerin und meinte, sie müsse die Mülleimer austauschen, weil es eine Art Problem damit gebe, und dieses Problem, das aus dem Mülleimer ihrer Mutter in eine Papiertüte gekippt wurde, war definitiv nichts, was Ida noch einmal sehen wollte.

Am nächsten Tag nach der Arbeit führte Ida am anderen Ende der Stadt einen Löffel Suppe zu den Lippen ihres Vaters.

»Du hältst mich für nicht zurechnungsfähig«, sagte er und starrte an ihrer Hand vorbei auf den Fernseher.

»Das stimmt doch gar nicht.«

»Dann wenigstens für einen Idioten. Hör auf, mich zu beleidigen.«

»Nein, Dad.«

»Wie du mich ansiehst, total angeekelt.«

Ida strich ihrem Vater über die Stirn. Er hatte noch immer sein Haar. Er hatte eine breite, weiche Stirn, und wenn man ihn dazu hätte bringen können, einen Anzug anzuziehen und sich aufrecht hinzustellen, wäre er ein unglaublich schöner Mann gewesen.

»Bist du müde, Dad?«

»Natürlich. Warum sollte ich nicht müde sein?«

Das war eine gute Antwort. Auch Ida war müde. Sagte eigentlich irgendjemand nein, wenn er das gefragt wurde?

Ihr Vater schaute wie üblich Nachrichten, aber soweit sie das beurteilen konnte – anhand der Bildschirmfarben und der altmodischen Sachen, die die Sprecher trugen –, waren sie schon ziemlich alt. Wurden etwa Wiederholungen von so was gezeigt? Waren diese alten Nachrichten vielleicht aus irgendeinem Grund plötzlich wieder aktuell?

»Was ist das, Dad?«

»Genau das, wonach es aussieht. Eine Beerdigung. Du musst ganz genau zuhören.«

Ida verstand die Männer im Fernsehen nicht richtig. Sie sprachen eine fremde Sprache, eine, die sie vielleicht auf der Highschool gelernt und inzwischen wieder vergessen hatte. Sie sah ihren Vater an und wunderte sich, dass er die Sendung offenbar genau verfolgte. Er war vollkommen vertieft.

Es wirkte wie eine ganz normale Nachrichtensendung. Vier Männer an einem Tisch, und hinter ihnen drehte sich ein Netzgitterglobus. Ida versuchte, richtig anzukommen und einfach nur bei ihrem Vater zu sein, sich zu entspannen, seine Gesellschaft zu genießen und etwas mit ihm zusammen zu machen. Sie hatte so viel zu tun, so viel zu tun, so viel zu tun, aber es war sinnlos, jetzt darüber nachzudenken. Sie versuchte, sich bei ihrem Vater nicht zu genau umzusehen. Das Bett, der kleine Stuhl – viel zu klein für egal wen, der ihn vielleicht besuchen kam –, das Fenster, das schon lange niemand mehr geputzt hatte. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf den Fernseher.

»Sieh dir die Männer an, die sind nicht glücklich«, sagte ihr Vater. »Sie können das nicht sagen, weil sie sonst ihren Job verlieren. Sie unterdrücken es. Typisch. Die sagen nicht, was sie denken, die haben Schiss. Mir macht keiner was vor.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.«

»Wahrscheinlich? Ach komm.«

Sie setzte sich zu ihrem Vater und nahm seine Hand, die schwer und trocken war.

Dann sagte ihr Vater: »Der da, der Weiße. Ich sag dir was. Der wird sterben. Der Rest von denen will es nicht zugeben, aber er, er weiß Bescheid. Sieh ihn dir nur an. Er weiß Bescheid.«

Ida sah sich den, von dem ihr Vater sprach, genau an. Er trug einen weißen Anzug und hatte weißes Haar, aber sein Gesicht war knallrot und verschwitzt. Höchstwahrscheinlich war dieser Mann inzwischen tot, so alt, wie die Sendung war. Vielleicht waren auch seine Kinder schon gestorben. Alle, die ihn liebten oder kannten. Oder jedenfalls ziemlich alt inzwischen; vielleicht saßen sie irgendwo mit irgendwem in einem Zimmer wie diesem hier. Hoffentlich mit irgendwem.

Es war schon spät, und Ida wusste wahrscheinlich, dass es keine gute Idee war, aber sie musste es probieren.

»Gestern habe ich Mom besucht«, sagte sie.

»Hab ich auch schon mal.«

»Also, ich habe sie gestern besucht. Weißt du, wenn einem jemand wichtig ist, besucht man ihn mehr als einmal. Dann macht man eine Gewohnheit daraus.«

»Die hab ich abgelegt.«

»Es geht ihr gut.«

»Der geht’s doch immer gut. Das ist ihre Spezialität.«

»Ja, aber das war nicht immer so. Sie war krank, und sie hatte eine Weile echt zu kämpfen.«

»Du meinst, irgendwas lief nicht so, wie sie es gern gehabt hätte? Mann, das hätte ich zu gern gesehen! Was für ein Spektakel. Was für eine Seltenheit. Frau kriegt ihren Willen nicht. Welt geht unter.«

»Ich glaube, Krankheit fällt in eine andere Kategorie.«

Ihr Vater schwieg eine ganze Weile.

»Krankheit ist die einzige Kategorie«, sagte er schließlich.

Draußen war es dunkel geworden. Weil ihr Vater das Deckenlicht nicht mochte, hatte Ida ihm ein Lämpchen mitgebracht, aber sie sah es jetzt nirgends mehr. Egal, was sie ihm mitbrachte, eine Lampe, ein Radio oder eine Vase mit Blumen – wenn sie das nächste Mal kam, war es weg. Früher hatte sie ihm immer etwas Geld für Ausflüge in eine Schublade gelegt, falls er sich irgendetwas kaufen wollte, einen Schokoriegel oder eine Limo, aber er hatte es immer verschenkt oder vergessen, und dann war auch das Geld weg gewesen. Nur seine Kleidung verschwand nicht. Sein Pullover, sein Bademantel und sein Schlafanzug. Letzteren hatte sie einmal auszutauschen versucht, aber er war sauer geworden, als sie ihm den neuen anzog. Er zerrte an sich herum und brüllte, sie wolle ihn erwürgen. Er bestand darauf, dass sie das Ding wieder mitnahm.

Sie versuchte, mit den Schwestern zu sprechen. Sie wusste, dass sie überarbeitet, erschöpft und schlecht bezahlt waren und selbst Familien hatten. Das verstand sie. Aber wenn sie fragte, ob sie irgendetwas tun oder auch einen Extrabetrag zahlen könne, damit das, was sie ihrem Vater mitbrachte, nicht so schnell wieder aus seinem Zimmer verschwand, wenigstens die Pralinen, die er so mochte, sagten sie nur, wenn sie ihn öfter besuchen käme, würde so etwas sehr viel seltener passieren. Sie sind ja nie da, sagten sie zu ihr. Wir sehen Sie nie. Wer weiß schon, was da drin vor sich geht?

Irgendetwas stimmte bei ihrem Vater nicht mit dem Fernsehbild. Solche Ziffern hatte Ida noch nie im Leben gesehen – sie waren so viel hübscher als die alten. Sie schwebten über dem Gesicht eines jungen Mannes und bildeten ein zauberhaftes Muster: eine Blume, eine Galaxie. War das Donny? Der Ton war ganz leise, oder vielleicht saugte das Zimmer ihres Vaters auch sämtliche Stimmen auf, bis irgendwann nur noch ein fremdartiges Kauderwelsch herumwirbelte, aber wenn der Mann sprach, schienen die Zahlen zu pulsieren, zu atmen.

Sie war wieder eingeschlafen. O Gott. Wahrscheinlich war es jetzt schon spät, und sie traute sich kaum, auf ihr Handy zu sehen. Wegen all der Anrufe und Nachrichten, die sie nicht bekommen wollte, und der echten Hände, die nach ihr greifen und sie tief in den Schlamm ziehen würden. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen, küsste ihren Vater auf die Stirn und wollte sich aus dem Zimmer schleichen.

»Sagst du mir gar nicht gute Nacht?«, fragte ihr Vater. Er war hellwach und klang, als wäre er beleidigt.

»Gute Nacht, Dad«, flüsterte sie. »Ich hab dir einen Kuss gegeben.«

»Ich weiß. Ich sitze ja hier vor dir. Genau wie gerade eben. Ich bin derjenige, den du geküsst hast.«

»Okay, okay.« Sie flüsterte, obwohl im Flur und in den anderen Zimmern laut gesprochen wurde. Trotz der vorgerückten Stunde bemühte sich niemand sonderlich darum, leise zu sein. »Ich komme bald wieder.«

»Wann denn, Schätzchen?«

»Wann du willst, Dad.«

»Also, morgen würde es mir gut passen. Morgen und übermorgen. Ich habe nichts vor.«

»Okay, das sollte ich schaffen.« Sie hatte Meetings über Meetings über Meetings, bis ans Ende ihres Lebens. Ihr Kalender war schwarz vor Verpflichtungen.

Sie ging noch einmal zu ihm ans Bett und drückte ihm die Hand, dann beugte sie sich zu ihm hinunter und tupfte ihm wieder einen Kuss auf die Stirn.

»Noch ein Kuss?«, fragte ihr Vater. »Ich weiß gar nicht, ob der gerechtfertigt war.«

Und während Ida nach Hause fuhr, durch die leeren Straßen, raus auf den alten Highway und hoch in die Berge, wo sie wohnte, kam ihr unwillkürlich der Gedanke, dass ihr Vater vielleicht recht gehabt hatte.

Manchmal fuhr Ida gedankenverloren sonntags zur Arbeit, das Gesicht eigenartig leicht, ihr Kopf nur zu Besuch auf ihrem Körper. Dann starrte sie durch die Glasfront in die weitläufige Lobby bei Thompson. Die Türen waren am Wochenende verschlossen, klar, und nachdem sie eine Weile dort gestanden hatte, jagte ihr der Einbruchsalarm, der offiziell garantiert einen netteren Namen hatte, einen Stromstoß in die Beine und erfüllte sie mit süßem Schmerz; sie wich zurück auf den Gehweg.

Wenn ein Film lief, tauchte Ida tief in ihn ein, ganz allein in der letzten Reihe des Kinos. Die Filme waren quälend heutzutage. Kinder machten sich auf die Suche nach ihren Eltern, irrten im Schnee herum und fanden sie nicht. Ein Schiff mit defektem Navigationssystem strandete auf einer Insel, die auf keiner Karte verzeichnet war. Und diese Insel, na ja, man kennt das ja. Es ist schrecklich dort. Wirklich unvorstellbar schrecklich.

Da war er, der Sommer, aber irgendetwas kam ihr merkwürdig vor. In der Luft, auf den Gesichtern der Menschen. Einfach überall, wo man nur hinsah. Die City von Chicago, wenn man sie noch so nennen konnte, war am Wochenende totenstill, um die Gebäude stiebten zauberhafte Pulverwolken, unbemannte Kehrwagen standen in ihren Ladestationen. Die Restaurants waren zwar größtenteils geöffnet, aber wenn sonst quasi niemand da war, hatte Ida meist Hemmungen, das Personal zu stören.

Heute fasste sie sich ein Herz, setzte sich allein in ein Diner und aß. Sie bestellte eine Suppe und Toast und lauschte wunderschöner Klaviermusik, die aus den kleinen Lautsprechern des Restaurants kam. Musik von unter Wasser, aus einer anderen Welt. Oder vielleicht auch nur aus dem Nebenzimmer. Aber als sie zahlen und gehen wollte, fand sie keinen Kellner, und als sie höflich in die Küche flüsterte, antwortete ihr niemand. Hallo, hallo, rief sie, bis es komisch klang. Schließlich steckte sie den Kopf in die Küche, aber da war niemand. Das Diner hatte sich geleert, es wurde allmählich dunkel. Vielleicht waren sie alle nach Hause gegangen und hatten vergessen, bei ihr zu kassieren, die Tür abzuschließen. Das war jede Menge Vergessen. Konnte ja sein, vielleicht, aber es kam ihr seltsam vor. Weil sie nie viel Bargeld bei sich hatte, schlich sie kleinlaut hinaus und überlegte, einen Zettel zu schreiben oder später wiederzukommen. Bevor sie zur Tür ging, drehte sie sich noch einmal in Richtung Küche um, für den Fall, dass irgendwo eine Überwachungskamera hing. Sie zuckte mit den Schultern und machte eine Reihe von Gesten, die vielleicht die ganze Geschichte erzählten, falls das überhaupt möglich war. Sie hätte ja gern bezahlt, wirklich, aber es war niemand mehr da, und sie hatte kein Geld, und wie es aussah, war niemand mehr irgendwo – alle verschwunden.

Den größten Teil der Nacht lief sie durch die Stadt, bis zu jener magischen Stunde, in der die Straßenlaternen einmal Pause haben und die Frühaufsteher auf dem Weg zur großen, wilden Speisung noch keinen Raum zerkauen. Sie erhielt eine Nachricht von Mort – der sehr früh wach war oder vielleicht, genau wie sie, noch gar nicht geschlafen hatte. Er hatte ihr oft geschrieben, und jetzt wollte er vorbeikommen. Er sprach andauernd von einer Revanche. »Ich habe mein Training abgeschlossen«, schrieb er, »falls es Madame beliebt.«

Irgendwie beliebte es Madame gerade nicht. Nicht so richtig. Sie schickte ein paar kleine Emojis zurück, die ihm sagen sollten, sie sei müde und habe zu tun, und dann, um das Ganze abzumildern, noch ein paar andere hinterher, nette bunte Tierchen, die mit feuchten Menschenmündern über das ganze Gesicht grinsten.

Mort schrieb zurück, er verstehe das, und Ida nahm an, dass es stimmte. Das war das Wunderbare an ihm. Mort verstand wahrscheinlich viel besser als sie.

Im Juni gab es in der Firma eine Sommerparty, was bedeutete, dass graugesichtige Würmer aus ihren Arbeitsnischen gekrochen kamen und sich bemühten, mit geradem Rücken um den Bowletopf herumzustehen, ohne zu Staub zu zerfallen. Diejenigen aus der Belegschaft, die Kinder hatten, standen in Grüppchen zusammen und checkten garantiert ab, wer das kratzigste Büßerhemd trug. Ida stand auf einmal mitten in ihrem Kornkreis.

Sie waren jung, Mitte zwanzig, wenn überhaupt, aber ihr Gefängnis war real, die Gitter glänzend, und auch wenn sie darin liebliche Lieder sangen, hielt man sich normalerweise von ihnen fern, machte einen großen Bogen um sie und band sich, wenn nötig, auch an einem Pfahl fest. Sie hatten Angst, allein zu sein. Sie wünschten sich Verstärkung.

Leute, die Kinder hatten, sahen Ida oft mit einer Mischung aus Neid und Spott an, was sich gar nicht so sehr von ihrem Blick auf sich selbst unterschied. Jetzt im Moment hatte es einer aus dieser Gruppe auf sie abgesehen. »Ich sage das als Freund, als jemand, der dich von ganzem Herzen liebt, ich meine, genau so, wie du bist. Du bist wunderbar. Wirklich. Aber ohne Kinder bist du nichts. Tut mir leid, aber so ist es. Tut mir echt leid!«

»Hört, hört«, sagten einige von ihnen. »Gut gesagt.«

»Schön wär’s«, sagte Ida. »Aber ›nichts‹ geht mir doch etwas zu weit.«

Sie sah hinab auf ihre Hände, ballte zwei kleine Fäuste und hielt sich dann die Finger vors Gesicht, als hätte sie nie zuvor von ihnen Notiz genommen. War nicht einer der ganz großen Philosophen aus dem Fenster gesprungen, um zu beweisen, dass er existierte?

»Ich weiß nicht. Wenn ich mir Bilder von mir ansehe, also von vorher«, sagte ein Elternteil, »dann sehen die so, na ja, so unecht aus. Wie gephotoshopt. Ich meine, wer war dieser Mensch? Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, zumindest was das Wesentliche betrifft, damals gar nicht wirklich existiert habe.«

Und jetzt?, hätte Ida am liebsten gefragt, als sie diesen lächelnden, müden Beutel Brei vor sich sah. Bist du dir sicher, dass du jetzt existiert?

»Tja«, sagte sie, versuchte, seinen Orbit zu verlassen und irgendwo einen kinderlosen Freund zu finden, jemanden, mit dem sie sich vielleicht große, böse Drogen einverleiben konnte. »Ich freue mich schon darauf, wenn es eines Tages so weit ist. Ein Kind, wow. Ich weiß, das wäre, das könnte … Ich weiß, dass ich …« Vor ihrem inneren Auge sah Ida, wie sie einem erwachsenen Mann Brot in den Mund stopfte. Oder wie sie einen alternden, bewusstlosen Wolf badete und von fürchterlichem Geschrei wach wurde. Elternschaft?

Sie sahen sie lächelnd und nickend an, zeigten die Zähne und lauerten wahrscheinlich nur auf eine Gelegenheit, über sie herzufallen. »Wirst du«, sagten sie. »Tut es. Das wissen wir. Absolut. Und das ist noch nicht alles, noch lange, lange, lange nicht. Wir schwören’s dir, echt jetzt.«

Später am Abend vibrierte ihr Handy; eine Nachricht von Donny.

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, schrieb er. »Mach einfach immer weiter, bis ihnen die Luft wegbleibt. Bis sie sich nicht mehr bewegen.«

»Okay«, schrieb sie zurück. Klang gar nicht so schlecht. »Wo bist du? Rette mich!«

Er schrieb zurück: »Ich bin schon im Haus.«

Sie ging auf die Zehenspitzen und ließ den Blick durch den Raum schweifen, nahm ein Gesicht nach dem anderen ins Visier und wandte sich dann enttäuscht dem nächsten zu, aber kein Donny. Sie staunte selbst, wie groß ihre Sehnsucht nach ihm war. Sie suchte ein Zimmer nach dem anderen ab, vergeblich, und als sie sich, leicht frustriert von diesem Spiel, zum Gehen bereitmachte, kam Maury auf sie zugestürmt, stockbesoffen, und befummelte sie an mehreren berührungsunterversorgten Stellen.

»Mein Gott, Maury, bitte. Das ist ja voll die Grapscherei.«

»Ich weiß, Ida. Ich weiß!« Er lächelte, aber nicht nett. Irgendwie machte es ihr Angst.

»Okay, dann hör jetzt auf. Hör auf. Hör auf. Ich mag das nicht.«

Sie staunte über ihre eigene Stimme.

»Ich habe was Schreckliches gemacht, Ida. Ich muss es dir gestehen.«

Musst du?, dachte sie. Es tat doch wirklich nicht not, dass sie wusste, was er sich für einen schäbigen Fehltritt geleistet hatte. Gab es denn nicht irgendeinen Dienstleister, dem man gegen Gebühr sämtliche schmutzigen Geheimnisse anvertrauen konnte? Herrgott, sie würde auch dafür zahlen. Musste man eine Freundschaft wirklich mit solchem Stoff auf die Probe stellen?

Aus irgendeinem Grund hielt er sein Telefon hoch. »Ich habe mich als jemand anders ausgegeben. Ich konnte nicht anders. Das war ich vorhin.«

Klar, wer sonst, hätte sie beinahe gesagt, da machte es plötzlich »klick«, und sie verstand, was er ihr zu sagen versuchte. Und dann, genau in dem Moment als sie sich von ihm losmachen wollte, spürte sie ein Kribbeln im Hals, und plötzlich war es zu spät. Die Pille rutschte ihr aus dem Mund und landete wie ein verlorener Knochensplitter zwischen ihnen auf dem Teppich.

»Oh mein Gott«, sagte sie.

Maury sah sie nur blinzelnd an.

Sie klaubte sie auf, entschuldigte sich und machte, dass sie wegkam. Auch egal, was dieser Typ jetzt dachte. Hätte er sie nicht belästigt, hätte sie das blöde Ding gar nicht erst ausgehustet.

Ida war müde, aber auf eine neue Art. Irgendwie durch, erledigt, eine Schmierspur auf der Straße. Sie schlief fast in ihren Sachen ein. Ausziehen, was für ein unerträglicher Gedanke. Ihr Gesicht und ihre Zähne würden einfach warten müssen. Sie würde sie morgen reinigen. So vieles würde einfach ein andermal gewaschen werden, und alles wäre in Ordnung. Mein Gott. Wie ein Viermonatsbad. Ein Rückzug in eine Unterwasserhöhle. Ein Schweigegelübde, eine Bluttransfusion und anschließend ein vierjähriger Schlaf. Sie öffnete ein Fenster und hoffte, irgendetwas zu hören, einen Vogel, eine Sirene oder Stimmen. Zu viel Raumton in ihrem Haus, Raumton, der ein Mädchen förmlich killen konnte. Aber draußen: nichts. Es war ein vollkommen stiller Abend.

Als sie unter die Bettdecke kroch, vibrierte ihr Handy. Noch eine Nachricht von »Donny«.

»Meine kommt auch manchmal hoch«, lautete die Nachricht. »Zwinkersmiley. (Sorry, ich weiß nicht, wie man Emojis macht!)«

»Oh. Danke. Ist da Maury?«

»Hi. Tut mir leid, dass ich gelogen habe. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, als deine Pille rauskam. Ich hasse das! Ich öle meine danach manchmal ein und tauche sie in Sand. Ich weiß, das klingt verrückt. Aber es funktioniert! Was nimmst du für ein Öl?«

Ida schmiegte sich ins Bett. Auf diese Weise war der Kontakt mit Maury sehr viel angenehmer oder wenigstens nicht widerlich. Die Messlatte hing jetzt tiefer. »Manchmal, wenn ich eine hochhuste«, schrieb Ida, »frage ich mich, ob es die von heute ist oder die von gestern.«

»Gott, ja, das hab ich mich auch schon gefragt.«

»Hast du mal überlegt, die Pillen vor dem Schlucken zu beschriften?«

»Nein, bisher noch nicht!«

»Dann könntest du es ja jetzt tun.«

»Stimmt«, schrieb Maury. »Dann wäre man ganz sicher. Markier die kleinen Schnuckis. Gib ihnen Namen. Dann behältst du immer den Überblick. Ich fänd’s schrecklich, eine zu verlieren. Ich glaube, ich wäre traurig.«

Der Sommer verglühte früh, und eine eisige Brise kräuselte sich über der Stadt. Es dauerte nicht lange, da hauchte Ida in ihre Hände, wenn sie sich von der Arbeit nach Hause schleppte und am nächsten Tag wieder hin. Sie besuchte ihre Eltern, so oft sie konnte, und auch wenn sie sie nicht immer sahen, spürten sie wenigstens, dass sie bei ihnen war. Oder sie spürten irgendjemanden, einen Körper, einen Menschen, der sprach und sie berührte und dem vielleicht sogar ein Lächeln gelang.

Es war keine Liebesgeschichte, die dann mit Donny begann, vielmehr eine Reihe unzusammenhängender und für gewöhnlich nahezu wortloser Treffen nach der Arbeit, bei denen es nach und nach immer einfacher wurde, ihren Körper mit seinem verschmelzen zu lassen. Donny war geschmeidig und anmutig und unendlich geheimnisvoll, was aber vielleicht auch nur bedeutete, dass sie inzwischen nicht mehr wusste, was sie von irgendjemandem halten sollte. Er sagte fast nie etwas, und sie lachten auch nicht miteinander, und Ida hatte nicht das Bedürfnis, sich ihm zu offenbaren. Aber sein Schweigen gab ihr ein gutes und sicheres Gefühl, und sie suchte immer öfter seine Nähe, damit er irgendein umfassenderes Tohuwabohu zur Ruhe brachte, das ihr auf Schritt und Tritt zu folgen schien. Wenn sie ihn auszog, hatte sie Sorge, sie könnte statt des üblichen grauen Fleischs, das einen Mann ausmachte, zwischen seinen Beinen ein kleines goldenes Tier finden, eine Fee oder einfach nur Moos.

»Du solltest besser keine Gefühle in mich investieren«, sagte er ihr eines Tages mit dem strahlendsten Lächeln, das man sich nur vorstellen konnte. »Versuch mal, durch mich durchzugucken. Ich bin mir sicher, da ist jemand hinter mir, der zu dir will. Ich bin nur im Weg.«

»Okay, Donny«, sagte sie. »Danke, ich weiß deinen Rat zu schätzen.« Was sie nicht sagte, war: Es kommt mir jetzt schon so vor, als wärst du nicht da. Als wärst du nur eine Vorstellung.

»Ida«, sagte er.

»Ja?« Sie blickte in sein sauberes, junges Gesicht.

»Das hier ist im Moment das Beste, was es gibt.«

Er legte sich auf sie, und sie spürte, wie er atmete. Er war so leicht, so dünn und so klein, eigentlich kaum schwerer als ein, zwei zusätzliche Decken.

Jetzt, heute, in genau diesem Moment war es sicherlich in Ordnung, dachte sie. Es genügte.

Es war Oktober, und ihr Vater hatte Geburtstag; sie besuchte ihn an einem Samstag und brachte ihm Pralinen mit, solche, die mit glassplitterähnlichem Salz bestreut waren. Außerdem Blumen für seinen Nachttisch und auch etwas Neues zum Anziehen, aber das zeigte sie ihm nicht. Die Sachen konnten in seinem Schrank warten, und wenn sie verschwanden, war das vielleicht gar nicht so schlimm, solange sie irgendwo landeten, wo irgendjemand sie trug, der es darin warm oder trocken oder behaglich hatte.

»Ich dachte immer, wenn ich in einem Think-Tank arbeite, ertrinke ich«, sagte ihr Vater und lutschte an einer Praline.

»Tja. Das ist die Gefahr, Dad.«

»Du denkst, ich wüsste nicht, was du da machst.«

»Gar nicht.«

»Doch und ob. Du glaubst, ich wüsste es nicht, und du glaubst, du könntest darüber nicht reden und dass ich es sowieso nicht verstehe. Hör auf, mich zu beleidigen. Ich bin kein Idiot.«

»Nein, Dad, das weiß ich doch.«

»Du denkst, ich wäre schon gestorben. Du besuchst mich hier, als würdest du mein Grab besuchen. Du kommst, um dich an mein Grab zu setzen. Bringst sogar Blumen mit. Aber hier bin ich. Guck, ich sitze hier vor dir.«

Ihr Vater war an sich ein schöner Mann. Stattlich, mit feinen Gesichtszügen und selbst in seinem Pflegeheimbett noch voller Eleganz.

»Ich sehe dich. Ich bin sehr froh, dass du lebst.«

»Das ist kein Grab, sondern ein Bett. Dort ist ein Fenster. Keiner hat ein Fenster in seinem Sarg. Keiner kann aus dem Fenster auf einen Parkplatz oder einen Hügel schauen. Keiner hat Bettlaken und ein Kissen im Sarg. Man kann sich auch nicht hinsetzen und ein Sandwich essen.«

»Das weiß ich doch.«

»Siehst du hier drin irgendwo einen Grabstein?«

»Nein.«

»Los, sieh dich ruhig um. Ich hab nichts zu verbergen. Sieh dich überall um.«

»Nicht nötig, Dad. Ich glaube dir.«

»Think-Tank.«

»Ich weiß.«

»Du arbeitest gar nicht in einem Think-Tank.«

»Vielleicht hast du recht, Dad. Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich überhaupt mache. Sie sagen uns nicht immer, wofür etwas gut sein soll.«

»Keiner erzählt einem je, wozu irgendwas gut ist. Herrgott noch mal. So etwas erfahren wir nicht. Das darfst du gar nicht erwarten.«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich verbringe mein Leben dort. Es ist in Ordnung, wenn du es nicht weißt. Du arbeitest ja nicht da. Aber was ist mit mir? Sollte ich nicht Bescheid wissen?«

»Was ist denn mit dir? Fang jetzt nicht an, traurig zu werden. Darum geht es hier nicht, ums Traurigsein. Deine Traurigkeit steht gerade nicht zur Debatte, Ida. Das ist nur eine Ablenkung. Wechsel jetzt nicht das Thema.«

Ihr Vater hatte recht. Das konnte stark ablenken. Sie hörte auf, ihn zu füttern, tätschelte ihm den Arm und ging für eine Weile aus dem Zimmer. Vielleicht wäre ein wenig Luft, Sonne oder ein Eckchen ohne Menschen schön, falls so etwas überhaupt existierte. Es gab in diesem Heim Flure über Flure, in jedem reihte sich Zimmer an Zimmer, und wenn sie sich einmal nicht im Griff hatte und in eins hineinsah, wirklich hinschaute, sah sie dort Menschen allein in ihren Betten, an Beutel angeschlossen und mit aufgerissenem Mund nach Luft ringend. Männer, die in schlecht sitzenden Nachthemden auf dem Boden lagen. Frauen ohne Haar, die schluchzend auf Stühlen saßen. Jetzt im Flur hielt sie den Kopf gesenkt, blickte starr auf ihre Füße und war kurze Zeit später draußen, auf dem kleinen Stück Rasen um den Parkplatz.

Das Licht war eigenartig heute, schien von sämtlichen Oberflächen abzustrahlen. Wo sie auch hinsah, schimmerten kleine Glitzerpunkte, im Gras, auf dem Parkplatz, einfach überall. Als wären von irgendwo Juwelen heruntergerieselt, was natürlich Unsinn war, das wusste sie. Wahrscheinlich waren es einfach Steinchen, die ein Regenguss überallhin gespült hatte. Ida spielte mit dem Gedanken, sich zu setzen, aber dort stand ihr Wagen, wartete einfach, und vielleicht reichte es auch für heute. Vielleicht war es Zeit zu gehen. Sie hatte ihn ein wenig besucht, und wahrscheinlich schlief ihr Vater sowieso bald ein.

Als sie nach ihrem Schlüssel kramte, kam eine Pflegerin auf sie zu.

»Zu Besuch bei ihrem Vater?«

»Ja. Wie geht es Ihnen heute?«

Wenn sie die Frau mit Freundlichkeit überschüttete, würde das die harte Herzlosigkeit, die all den Pflegerinnen anhaftete, vielleicht knacken, sodass sie sich besser um ihren Dad kümmerte, wenn sie nicht da war.

»Und was machen Sie dann hier draußen, wenn sie da sind, um ihn zu besuchen?«

»Ich wollte nur etwas Luft schnappen.«

»Drinnen ist auch Luft. Überall ist Luft. Die ganze Welt ist Luft.«

»Ich weiß.«

»Hier draußen kann er sie nicht sehen. Und Sie ihn auch nicht. Dann könnten sie genauso gut zu Hause bleiben.«

»Ich gehe wieder rein.«

»Hatten sie aber gerade nicht vor. Sie wollten sich gerade davonmachen.«

»Nein.«

»Erzählen Sie mir nichts. Ich sehe es doch in Ihrem Gesicht. Ich kann Ihre Gedanken lesen. Meinen Sie etwa, das kann ich nicht?«

Ida blickte hoch und suchte das Fenster ihres Vaters. Sie war sich fast sicher, dass er nicht raussah. Das tat er einfach nicht. Er stand eigentlich gar nicht mehr richtig auf, obwohl er sein Fenster wirklich liebte. Aber sie wollte andererseits auch gar nicht, dass er das sah. Er würde es nicht verstehen – nicht dass sie selbst es verstanden hätte.

»Aber viel gibt’s da eh nicht zu lesen«, sagte die Schwester. »Nur einen dicken, fetten Gedanken. Ich muss hier raus. Ich muss weg. Wo ist die Tür. Keiner hat hier je irgendwas anderes gedacht. Seit Adam und Eva nicht. Da sind Sie nicht die Einzige.«

Aus irgendeinem Grund erzählte Ida der Schwester, dass ihre Mutter auch im Heim war.

»Jeder ist irgendwo«, sagte sie.

»Sie ist in Sullivan Gardens.«

»Das ist ein Ort.«

»Ich pendle zwischen den beiden.«

»Klar, wie sollten Sie es sonst machen?«

»Zwischen meiner Mutter und meinem Vater.«

»Ich glaube nicht, dass Sie sonst jemanden an so einem Ort besuchen würden.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

Die Schwester lächelte sie beinahe an. »Ich weiß, dass Sie loswollen, also gehen Sie ruhig. Ich halte Sie nicht auf.«

»Ich glaube, ich muss dann mal«, sagte Ida. »Mir geht’s nicht so gut.«

»Ihr Vater stirbt bald.«

»Ich weiß.«

»Und Sie werden nicht da sein. Höchstwahrscheinlich nicht. Die Leute sind nie da. Dafür sorgen sie schon. Die sind ja nicht blöd. Sie wachen an dem Tag morgens auf und spüren, dass sie sich fernhalten müssen. Man betritt ja auch kein brennendes Haus. Man spürt die Hitze. Man geht weiter.«

»Das ist also nicht nur bei mir so.«

»Nichts ist nur bei Ihnen so, Liebes. Das können Sie mir glauben.«

»Ich würde gern versuchen, da zu sein. Wenn es so weit ist.«

»Sie kriegen einen Anruf. Vielleicht rufe ich Sie an. Vielleicht auch jemand anders. Ich erledige die Anrufe, wenn ich da bin, aber ich bin nicht immer da. Wenn ich da bin, rufe ich Sie an. Wir haben Ihre Nummer. Die steht ganz oben auf der Liste. Sie sind der Notfallkontakt. Ist aber dann kein Notfall mehr, der ist dann schon vorbei. Ich sage also hallo und bitte darum, Sie sprechen zu dürfen. Wahrscheinlich sagen Sie dann, dass Sie am Telefon sind. Manche Leute, vornehme Leute, sagen dann, am Apparat. Und an dieser Stelle sage ich, es geht um Ihren Vater. Und dann kommt’s.«

»Okay, ja, gut zu wissen. Danke für die Information. Darf ich fragen, wie Sie heißen?«

»Lorraine.«

Ida nahm die Hand der Schwester. »Lorraine«, sagte sie. »Freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen.«

Die Schwester zog die Hand zurück. »Freuen Sie sich nicht. Wenn Ihr Telefon klingelt und die Frau am anderen Ende sagt, sie ist Lorraine vom Sweethill Village, dann bin ich’s, und Sie sollten sich nie freuen, von mir zu hören.«

»Okay.«

»Freuen Sie sich nicht, wenn ich anrufe.«

»Gut, versprochen«, sagte Ida.

Plötzlich spürte Ida dieses vertraute Kribbeln im Hals, und die kleine Pille kam hoch und füllte ihren Mund. Diesmal bekam sie noch rechtzeitig die Hand vor den Mund, bevor sie ihr rausfiel, aber sie musste sich vornüberbeugen und die Zähne zusammenbeißen.

Sie spürte, wie die Schwester ihr den Rücken rieb, so weich und sanft, dass sie sich auf eine Weise entspannte, die sie zusammenzucken ließ, und ihr Mund öffnete sich, und die Pille kullerte auf den Asphalt.

Ida und die Schwester sahen sie an, weiß und glänzend wie ein Bilderbuchzahn. Kaum vorstellbar, dass sie den ganzen Tag in ihrem Bauch gewesen war. Sie war äußerlich perfekt, noch sauberer und weißer als vor dem Schlucken.

»Ist schon in Ordnung«, sagte die Schwester. »Lassen Sie sie ruhig liegen.«

»Lieber nicht.«

»Nein, lassen Sie nur. Vertrauen Sie mir. Sehen Sie sich doch einfach mal um. Alle anderen haben ihre auch dagelassen. Das macht die Welt schöner. Warum sollten Sie so etwas für sich selbst behalten?«

Diese glänzenden Punkte im Gras, die funkelnden Kristalle auf dem Parkplatz. Das Glitzern, egal, wo sie hinsah. Wie winzige weiße Vogelschädel. Überall lagen Pillen verstreut und leuchteten vor ihren Füßen.

Nachrichten aus dem Nebel

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