Читать книгу Die verlorenen Worte der Liebe - Bennett Bienkowski - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеEs gab nur einige wenige Menschen, denen meine zurückhaltende Art gefiel. Jenny sagte sie zu. Zumindest ließ sie mich glauben, dass ihr meine Geräuschlosigkeit etwas bedeutete. Ich kannte sie von der der Schule. Als wir noch nicht in einer Klasse waren, tauschten wir schon in den Pausen oft intensive Blicke aus und ich ahnte trotz meiner Schüchternheit, dass Jenny sich auch für mich interessierte. Gerne wäre ihr näher gewesen als mit diesen wiederkehrenden Blicken möglich war, aber sie anzusprechen war unvorstellbar für mich. Engeren Kontakt zu ihr bekam ich in der Siebten Klasse, als wir Schüler aufgrund unserer Wahlfächer neu zusammengesetzt wurden. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie wir alle nach den Ferien in der großen Eingangshalle unserer Schule zusammenkamen. Der Direktor stand vorne inmitten des Kollegiums, las zunächst im Einzelnen die Schülernamen von seinen Listen ab und nannte danach den neuen Klassenlehrer. Unter den Vorgelesenen meiner Klasse vernahm ich auch den Namen von Jenny. Nachdem unsere Klassenlehrerin laut von allen bejubelt worden war, liefen wir Schüler zusammen zu unserem neuen Klassenraum. Jenny hielt sich schon auf dem Weg dorthin auffallend nahe bei mir und als wir den neuen Raum zusammen betraten, setzte sie sich neben mich an den letzten freien Tisch. Sie lachte mich an.
„Hallo Riddo“, sagte sie und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Wir liefen an diesem ersten Schultag gemeinsam heim. Im Gegensatz zu mir lebte sie damals in einem Haus mitten in der Stadt und nicht wie ich an einem der Hügel, die Saarbrücken säumten. Auch wenn wir nicht viele Worte wechselten, amüsierten wir uns, denn wir wussten beide, dass wir mit unserer neuen Lehrerin Frau Schmidt mehr als zufrieden sein konnten und uns auf dem Schulhof nicht mehr gegenseitig beobachten mussten, sondern nun nicht nur zusammen saßen, sondern sogar gemeinsam heimliefen. Wir überquerten eine der Brücken über die Saar und liefen dann am Schloss vorbei. Ich bog früher ab, als ich es sonst tun musste und brachte Jenny den weiten Weg bei sich zuhause vorbei. Als wir vor ihrer Tür standen, schaute sie mich an wie sie mich auf dem Schulhof immer angesehen hatte und wollte anfangen zu sprechen. Doch als ich keine Reaktion zeigte, etwas zu erwidern, lächelte sie wieder das gleiche Lächeln, das sie gelächelt hatte, als sie sich an diesem Morgen neben mich gesetzt hatte. Sie schaute noch einmal, holte tief Luft, sagte dann aber nichts, sondern griff kurz meine Hand und hielt sie einen kurzen Augenblick länger, als man sie greift, wenn man sich die Hand für ein „Guten Tag“ oder ein „Auf Wiedersehen“ reicht. Mir schlug das Herz noch lange, nur von dieser Berührung und von ihrem Blick und als ich nach Hause kam, wo meine Mutter mit dem Essen auf mich wartete, wusste ich nichts zu erzählen, sondern bekam, da ich noch immer an Jenny denken musste, rote Wangen. Sie glühten förmlich, als meine Mutter mich begierig anschaute und abzuwarten schien, was ich über meine Erlebnisse in der Schule erzählen werde. Als ich nichts sagte, schüttelte meine Mutter verzweifelt mit dem Kopf.
„Riddo“,
sagte sie, und dachte wohl, ich schäme mich und werde rot, weil ich schwieg.
„Das war dein erster Schultag. Möchtest du mir nicht davon berichten?“
Meine Mutter war zu dieser Zeit schon nicht mehr unmittelbar aus der Ruhe zu bringen durch „meinen Zustand“, wie sie mein Schweigen immer nannte, obwohl es sie noch immer sehr bekümmerte. Als ich noch jünger war, hatte sie häufiger versucht, mich zum Sprechen zu bringen. Aber es half alles nichts. Ich sprach nicht. Weder als Kind, noch an diesem ersten Schultag. Ich setzte mich, aß und ging nach dem Essen hinauf in mein Zimmer. Dort packte ich meine Schulsachen für den nächsten Tag und malte mir genau aus, wie es sein wird, zu Beginn des Unterrichts Jenny wiederzusehen. So verging die Zeit. Immer wenn ich in der Schule ankam, beeilte ich mich, in unseren Raum zu kommen. Dort setzte ich mich auf den Platz an unseren gemeinsamen Tisch. Manchmal, wenn ich in der Schule eintraf, saß Jenny schon dort und wartete auf mich. Wenn ich vor Jenny in unserem Klassenraum eingetroffen war, schaute ich bei jedem Schüler und jeder Schülerin, die den Raum betrat, erwartungsvoll zur Tür. Ich merkte, dass auch Jenny immer schon zum Eingang starrte, wenn ich im Klassenzimmer eintraf. Eines Morgens war sie später als ich und schaute mich, als sie in meine Richtung lief, besonders erwartungsfroh an. Ich hatte meine Hefte und Bücher für die erste Stunde schon zurechtgelegt. Sie trat an den Tisch, schaute kurz und setze sich dann.
„Riddo“,
sagte sie an diesem Morgen,
„ich bin so froh, dass du in meiner Klasse bist und neben mir sitzt. Wenn du magst können wir morgen gemeinsam herlaufen, denn ich bin umgezogen und wohne jetzt bei dir in der Nähe, auf der anderen Seite vom Schloss. Wir könnten ja auch nachmittags unsere Hausaufgaben zusammen machen. Ich komme einfach nach dem Essen zu dir und wir machen sie zusammen. Was hältst du davon?“
Ich nickte und lächelte sie an, denn es freute mich wirklich, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, auch wenn wir noch immer nicht viel redeten. Wir trafen uns morgens und liefen zusammen zur Schule und dann wieder nach Hause zurück. Jenny wartete fortan an immer derselben Straßenkreuzung. Dort lehnte sie an einer Laterne, die auf ihrer langen Stange mit dem überstehenden Deckel aussah, als verstecke sie ihr Leuchten darunter.
**
Ich würde dir gerne von jedem Tag erzählen, an dem wir zusammen zur Schule liefen und dann wieder heim. Vom Laufen, vom umherschauen. Aber es ist nicht erzählbar. Lass es mich so versuchen. Ich lief diesen Weg schon immer, aber plötzlich hatte es einen Sinn und auch wenn ich diese Geschichte stundenlang so fortsetze, es änderte sich schließlich doch etwas zwischen uns. Jenny wurde bald zu meiner ersten großen Liebe. Aber schon zu dieser Zeit war sie die größte Bereicherung, die mein Leben bis dahin erfahren hatte. Das schönste daran war, ich ahnte beides nicht. Meine Gedanken kann ich dir nur dadurch näherbringen, dass ich dir schildere, wie einfach alles schien. Auch wenn es klingt, als wäre ich erst zehn oder vielleicht elf, ich war schon wesentlich älter denn ich hatte die neunte Klasse fast hinter mich gebracht. Überleg mal, andere in diesem Alter müssten über ihre Pubertät schreiben, über die Schwierigkeiten mit ihren Eltern oder den Lehrern. Wenn Jenny ein Buch über diese Zeit schreiben würde, sie hätte dir auch einiges über ihre Probleme zu erzählen. Ich hingegen nicht, denn ich wusste nicht, was Schwierigkeiten waren. Es gab ein Mädchen, mit dem hatte ich noch nicht viele Worte gewechselt. Ich wusste nicht viel von ihr und trotzdem, sie war da und ich fühlte mich zu ihr hingezogen, denn mein ganzes Leben zielte nur darauf ab, Zeit mit ihr zu verbringen. Es war egal wie, eigentlich war sogar egal, was war. Es ging mir nur darum, möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Denke ich heute über diese Zeit nach, muss ich mir eingestehen, dass ich einsam war, aber selbst das war egal, denn ich merkte auch das nicht. Seit ich Jenny kannte, unterhielt ich mich. Allerdings ohne viele Worte mit ihr zu wechseln. Sie nahm mich bald an die Hand und später in den Arm und immer dachte ich, wir verstehen uns. Dass wir das manchmal nicht taten, merkte ich gar nicht, denn es war normal, mich nicht mitzuteilen. Wieso ich dir das erzähle? Wohl auch um mir selber bewusst zu machen, dass meine Vorstellung von der Liebe lange auf dem basierte, was in dieser Zeit geschah. Es gab keinen Unterschied zwischen meiner Phantasie und dem, was passierte. Es gab keinen Unterschied zwischen Denken und Handeln. So naiv wie das klingt, heute glaube ich sogar, diese Art von Selbstgesprächen sind gar nicht so selten, auch in der Liebe nicht. Es gibt sie überall.
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Schon nach wenigen Tagen unseres gemeinsamen Schulwegs waren Jenny und ich unzertrennlich. Morgens trafen wir uns an der Ecke vom Schloss und liefen zusammen in die Schule. Dort verbrachten wir die Pausen zusammen und liefen zusammen wieder nach Hause. Wenn wir uns an der Ecke verabschiedeten, nahm sie meine Hand und lächelte mich an. Ich spürte jedes Mal, dass es in mir kribbelte, wenn ich sie anschaute. Schon kurz nach dem Essen kam sie dann wieder zu mir. Sie brachte jedes Mal ihre Schulhefte mit und wir machten unsere Hausaufgaben zusammen. Zumindest in der ersten Zeit lernten wir intensiv für die Schule, wie lange genau, das kann ich nicht sagen. Aber es ist auch nicht entscheidend. An einen Tag erinnere ich mich allerdings genau, ich weiß sogar noch, dass wir gerade für Politik die Frage beantworteten, wie soziale Probleme durch Drogenabhängigkeit entstehen. An diesem Tag schaute Jenny mich an und nahm mich in den Arm. Kurz darauf küsste sie mich. Sie nahm mich an die Hand und wir gingen herüber zu meinem Bett und wir küssten uns dort weiter. Das machten wir fortan täglich und mit der Zeit gingen wir weiter. Ob es wenige Tage oder viele Wochen waren, kann ich wiederum nicht mehr sicher sagen, aber irgendwann schob sie ihre Hand unter meinen Pullover und ich meine unter ihren. Ich fühlte ihren Bauch, ihre Brüste. Schließlich schob ich ihren Pullover ein Stück hoch, so dass ich sie auch sah. Wir legten uns aufeinander und rieben unsere Hosen aneinander und es wurde immer heftiger, bis ich schließlich merkte, dass wir beide nicht mehr aufhören konnten und dann, dass meine Hose feucht und immer feuchter wurde. Schließlich legte ich mich neben sie und wir hielten uns fest im Arm. Es war unbeschreiblich. Ich war euphorisch wegen Jenny und dem, was passiert war. Zum ersten Mal merkte ich aber auch, dass mein Gefühl, unabdingbar mit einem Gefühl der Leere belegt war. Wir machten unsere Hausaufgaben immer seltener zusammen. Sie brachte zwar ihre Hefte immer mit zu mir, aber schon nach kurzer Zeit küssten wir uns und gingen vom Schreibtisch zu meinem Bett. Bis wir uns eines Tages gar nicht mehr zusammen an den Schreibtisch setzten. Es war Herbst geworden und nachdem Jenny mein Zimmer betreten hatte und die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, entledigte sie sich ihres Pullovers, manchmal auch ihrer Jeans und zog mich herüber zu meinem Bett, in dem wir den ganzen Nachmittag zusammen verbrachten. Meine Eltern und Geschwister betraten mein Zimmer zum Glück nie. Wir hatten unsere Ruhe. In unserer Schulklasse hatte man uns niemals anders erlebt. Für unsere Mitschüler waren wir ein Pärchen, das einfach zusammen war, das jede Minute gemeinsam verbrachte und auch dort ließ man uns in Ruhe.
**
Eines Morgens stand Jenny nicht an der Ecke, an der wir uns immer trafen und wo sie bisher immer gestanden hatte, als ich kam. Niemals hatte sie sich bisher verspätet. An diesem Tag regnete es und ich dachte, vielleicht ist sie einfach zu spät oder aufgrund des heftigen Regens schon fort. Ich lief die Straße hinunter in die Richtung, in der sie wohnte. Ich sah das doppelstöckige, verputze Haus mit den vier großen Fenstern der vier darin befindlichen Wohnungen. Dort stand sie plötzlich vor mir, eingewickelt in ein rotes Regencape unter dem sie auch ihre Schultasche trug. Sie weinte. Als wir uns begegneten schaute ich in rote Augen, sie hatte eine rote Nase und ihre Schmolllippen waren voller, als sie es sonst waren. Ich war so erschrocken, dass ich nur ihren Vornamen herausbrachte, den ich so aussprach, als wäre schon das meine Frage. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte
„Riddo, komm“.
Sie nahm meine Hand und führte mich zurück in die Richtung zu unserer Ecke. Als ich sie anschaute, fragte sie mich, ob sie heute Mittag bei mir essen könne. Auch in der Pause hatte sie noch immer Augenringe und schaute traurig aus. Nach der Schule gingen wir schweigend zu mir nach Hause. An unserer Ecke drückte sei wie immer meine Hand, lief dieses Mal aber mit in meine Richtung. Als wir die Haustür öffneten, rief meine Mutter, ich solle mir die Schuhe bitte vorne ausziehen und sie auf der Matte stehen lassen, denn sie wolle den Dreck nicht im Haus haben. Jenny und ich folgten der lauthals verkündeten Instruktion und hängten unsere Regenbekleidung an die Garderobe.
Meine Mutter schaute uns verwundert an, als wir die Küche betreten hatten. Sie fragte aber nur, ob sie es richtig verstehe, dass wir ein Gedeck mehr benötigen würden. Ich nickte und Jenny schaute meine Mutter mit ihrem verheulten Gesicht an. Sie sagte, dass es sie freue, dass wir unser gesellschaftliches Dasein nun scheinbar auch auf den Rest unseres Hauses ausdehnen würden. Zu meiner Freude hieß sie Jenny jeder Zeit bei uns im Haus willkommen. Ich holte meinen Vater aus seinem Büro, denn er arbeitete seit einiger Zeit viel zu Hause. Dann klopfte ich an die Tür meines Bruders, der rief, er komme gleich. Meine Schwester war gerade dabei, ihren alten Rekord in einem ihrer geliebten Computerspiele zu übertreffen und maulte, als ich sie zum Essen bat. Als ich in die Küche zurückkehrte, hielt meine Mutter Jenny im Arm. Ich hörte, wie sie zu ihr sagte, sie müsse jetzt tapfer sein. Sie bot ihr an, ihr einen Schlüssel zu unserem Haus zu geben und noch einmal wiederholte sie, sie sei hier jederzeit willkommen. Jenny weinte. Als ich den Raum betrat, schaute meine Mutter mich an und kniff beide Augen zu. Sie sagte zu uns beiden, wir sollten bei Tisch nicht „über die Sache“ reden. Schweigend setzten wir uns. Dann kam Vater und nahm Platz. Auch er begrüßte Jenny so freundlich wie Mutter. Als wir uns gerade aus den Schüsseln bedienten, betrat meine Schwester das Speisezimmer und berichtete von ihrem sensationellen Erfolg. Sie fragte Jenny, ob sie auch eine Spielkonsole habe. Sie schüttelte aber nur mit dem Kopf und verneinte die Frage.
„Na gut, du hast ja auch meinen Bruder“,
sagte sie und grinste. Meine Mutter und mein Vater lachten lauthals und auch Jenny lächelte wieder ein wenig.
**
Nach dem Essen halfen Jenny und ich meiner Mutter den Tisch abzuräumen und gingen dann zu zweit nach oben. Sie erzählte mir, wie sie sich erkundigt hatte, dass es doch wohl nicht an mir liegen könne, ihre Stimmung und, dass sie weine. Als sie mit dem Kopf geschüttelt hatte, fragte meine Mutter sie
„Deine Eltern, oder? In deinem Alter geht es immer um die Eltern, wenn es nicht um Jungs geht und da ich deinen kenne, kann ich es mir nicht anders erklären, als die ewigen Eltern. Du schaust so aus, meine kleine, aber sag mir, ist es schlimm?“
Daraufhin konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Meine Mutter hatte sie in den Arm genommen und ihr darauf das Versprechen gegeben, dass sie hier immer willkommen sei. Sie sei sehr verständnisvoll, meinte Jenny und kenne das auch aus ihrer Kindheit und Jugend.
„Riddo“,
fragte Jenny mich verschüchtert,
„deine Mutter hat mir einen Hausschlüssel angeboten.“
Ich schüttelte den Kopf und signalisierte, dass ich es mitbekommen hatte.
„Es würde mir sehr helfen, möchtest du das auch?“,
fragte sie mich und schaute nach unten auf den Boden, so als rechnete sie ernsthaft damit, ich könne nein sagen. Wieder schüttelte ich den Kopf und sie nahm mich in den Arm und fing an zu weinen.
Das war der Tag, an dem ich erfuhr, dass es Schwierigkeiten gab auf dieser Welt. Aber sie waren für mich so wie es bleiben sollte für den Rest meines Lebens mit einer Festigung von Liebe verbunden.
**
Jenny erzählte mir die Geschichte ihres Vaters, der ihre Mutter und sie schon seit Jahren peinige. Er trank, war aber eigentlich seit einiger Zeit trocken. Im Frühjahr hatte ihn seine Geliebte versetzt und er fing wieder an und gebe ihr und ihrer Mutter daran die Schuld. Ohne seine Tochter und seine Frau an der Backe, wäre sie nicht abgehauen, schrie er durch die Wohnung, so laut, dass es durch die ganze Straße geschallt sei. Er warf mit Gegenständen um sich und brüllte. Wenn es nach ihr und ihrer Mutter ginge, sagte Jenny, solle ihr Vater ruhig wieder mit seiner Freundin zusammen sein, denn dann wäre er ruhig und aus dem Haus und würde nicht anderen Menschen das Leben zur Hölle machen. Den ganzen Nachmittag blieben wir zusammen und als der Abend näher kam, wurde Jenny immer unruhiger. Wir gingen zu meiner Mutter und Jenny fragte sie, ob sie länger bleiben dürfe. Sie durfte. Meine Mutter hatte mit Jennys Mutter telefoniert, der es, nachdem ihr meine Mutter klar gemacht hatte, dass sie informiert war über die Ereignisse, recht war. Da Jennys Mutter ihr gestehen musste, dass die Situation keineswegs besser geworden sei seit dem gestrigen Abend und er noch um sich prügele, wie er es auch schon früher einmal getan hatte, gab ihr meine Mutter unsere Telefonnummer und bot ihr an, dass Jenny bei mir bleiben könne.
Ich lieh Jenny ein paar saubere Shorts und ein T-Shirt für die Nacht. Wir krochen unter meine Bettdecke und zogen sie uns bis über den Kopf. Was als Versteckspiel vor der Welt in der Wärme meines Bettes begann, endete leidenschaftlich. Wir gingen weiter als bisher. Jenny zog sich erste die Shorts und schließlich auch ihr Höschen aus, und half mir aus meiner. Sie berührte mich, während sie mir meine Unterhose auszog und legte sich, nachdem sie sie mit ihrem Fuß von mir gestreift hatte, auf mich. In meinem dunklen Zimmer, in dem nur eine kleines Licht in der Ecke des Raumes brannte unter der wärmenden Bettdecke, die uns nun wie schon so oft zuvor von der Welt abgegrenzt hatte und die uns auch heute irgendwie zu beschützten schien, schliefen wir zum ersten Mal zusammen.
**
Jennys Vater lernte ich am nächsten Morgen kennen. Wir zwei liefen mit dem Gefühl zur Schule, dass sich nichts zwischen uns stellen könne. Wir wollten kurz die Schulbücher für den Tag bei Jenny zuhause abholen und hofften, dass ihr Vater entweder schlief oder sogar bei der Arbeit war. Und tatsächlich, er lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer, hatte allerdings einen leichten Schlaf. Er wachte auf, als wir die Wohnung betraten. Jennys Mutter war bereits zur Arbeit gegangen. Als ich durch die Glasscheibe in der Wohnzimmertür blickte, öffnete er ein Augenlid, schien aber zunächst wieder einzuschlafen. Auf dem Tisch standen einige Flaschen und es roch nach Kneipe. Der Rest der Wohnung war ordentlich. Ich blickte hinter Jenny hinterher, die über den Flur lief und in ihr Zimmer ging. Die Tür quietschte und ich eilte ihr hinterher. Ihr Zimmer war ebenso sauber und aufgeräumt wie der Rest der Wohnung, sah man vom Refugium des nächtlichen Exzesses im Wohnzimmer einmal ab. An der rechten Seite ihres kleinen Zimmers stand ein Bett, in das wir beide zusammen nicht gepasst hätten und darüber war ein Bücherregal angebracht, in dem ihre Lieblingsbücher standen. Rechts waren die Schulbücher in einer Reihe über einem Schreibtisch in einem Halter untergebracht und dahinter ihr Kleiderschrank. In der Mitte des Raumes war ein fast viereckiges Fenster, vor dem die Rollläden halb geschlossen waren, so dass, das ohnehin spärliche Licht nur in Streifen ins Zimmer fiel. Gerade als ich die Buchrücken ihrer Lieblingsbücher studierte, griff Jenny nach den Büchern, die sie brauchte und steckte sie in ihre Tasche. Auf dem Nachttisch lag ein Buch mit dem Titel „Der Fänger im Roggen“ von einem Autor namens Salinger. Plötzlich öffnete sich die Wohnzimmertür. Ich schaute zur Seite und Jennys Vater blickte mir in die Augen. Jenny trat aus ihrem Zimmer. Sie stellte sich vor mich und sagte:
„Papa, hallo! Ich bin jetzt gleich in der Schule, ich packe nur gerade ein paar Bücher ein. Übrigens, das ist Riddo, wir gehen zusammen in dieselbe Klasse.“
„So, Riddo“,
sagte er und stockte.
„Jenny“,
sagte er dann mit leiser Stimme,
„ich“,
er schluckte,
„ich kann mich“,
dann fasste er sich an den Kopf,
„wo ist deine Mutter“,
erkundigte er sich.
„Bei der Arbeit, Papa.“,
sagte Jenny,
„das weißt du doch.“
„Jenny es ist gerade etwas schwierig für mich und deine Mutter. Versteht mein kleines Mädchen das?“
„Ja, Papa, ich verstehe das, aber ich habe jetzt nicht sehr viel Zeit“,
entgegnete sie.
„Jenny, deine Mutter und ich sind immer für unser kluges Mädchen da“,
sagte er mit tränenunterlaufenen Augen, als Jenny und ich uns an ihm vorbei schoben.
„Ja, Papa“,
sagte sie und riet ihm, eine Dusche zu nehmen und das Wohnzimmer aufzuräumen. Sie drückte ihn kurz.
„Tschüss Riddo“,
rief er hinter mir her und ich hörte noch, dass er hinzufügte,
„hat mich gefreut“,
als wir die Tür schlossen. Ich schaute Jenny verständnislos an, denn Alkoholismus hatte ich mir bisher immer bedrohlicher vorgestellt. Als ich Jenny mit ihrem Vater zusammen erlebte, hatte ich das Gefühl, auf zwei Menschen getroffen zu sein, die trotz der gebotenen Eile, trotz eines mehr als latenten Konflikts einen liebevollen Umgang miteinander pflegten. Als wir das Haus verließen, schaute ich Jenny an und sie schien aus meinem Gesicht zu lesen und sagte:
„Das war mein Vater, Riddo.“
Ich schwieg und gerade als ich meine Stimme anhob, sagte sie,
„dass er auch so ist, macht es für mich und Mutter nicht einfacher, aber er hat eben auch diese unkontrollierte Seite. Meistens wenn er getrunken hat. Wenn nicht, dann ist er so, wie du ihn gerade erlebt hast. Eigentlich sanft, Riddo. Verstehst du, er ist eigentlich ein sanfter Mann.“
Ich verstand nicht, denn was zwischen dem lag, was in Jenny am Tag zuvor vorgegangen sein musste, zwischen unserer gestrigen Nacht und der Begegnung mit ihrem Vater schien für mich eine unüberbrückbare Distanz zu liegen und doch vermittelte Jenny den Eindruck, als erlebe sie das nicht als Bruch, als gehe sie zur Schule wie jeden Tag. Wir steuerten auf die Ecke zu, an der wir uns jeden Morgen trafen und ich überlegte mir, was sie wohl an allen den Tagen, an denen wir uns dort getroffen hatten, erlebt haben mochte. Jenny unterbrach diesen Gedanken, denn sie blieb stehen, als wir die Straßenabbiegung erreicht hatten und sagte fragend:
„Riddo, ob man das so sagt, weiß ich nicht, ob der Augenblick der richtige ist, weiß ich auch nicht.“
Sie zögerte.
„Ich liebe dich.“
Dann fiel sie mir in die Arme und wir standen eine Weile genau dort, wo wir uns immer die Hände gereicht hatten zum Abschied und uns nun seit einiger Zeit den ersten Kuss des Tages gaben. Heute war alles anders, denn bereits nach dem Aufwachen hatte mich Jenny in den Arm genommen. Ich hatte ihre nackte Haut an meiner gespürt und sie hatte mich geküsst. Ich konnte nicht antworten, so gebannt war ich von den letzen Stunden, von dem was zwischen uns passierte. Als ich sie fester an mich drückte, flüsterte Jenny mir noch einmal leise „Ich liebe dich“ ins Ohr und atmete dabei schwer aus. Auch sie drückte mich fester.
**
Wir waren einige Minuten zu spät in der Schule und betraten das Klassenzimmer nach Beginn des Unterrichts zu zweit. Kurz zuvor lockerten wir die Hände, die wir bis dahin fest ineinander verschlungen hatten und gingen in die Klasse zum Unterricht. In dieser Zeit änderte sich die Wahrnehmung meiner Umwelt vollkommen. Wenn ich mir nun meine Mitschüler anschaute, kam ich mir vor, als hätte ich ihnen einige Jahre voraus. Seit Jenny und ich zusammen geschlafen hatten, nicht wegen des Aktes, sondern eher wegen der gemeinsamen Erfahrung, wegen dem nächsten Morgen, wegen ihrer Probleme, spürte ich, dass ich eine Verantwortung für Jenny übernahm. Ich spürte, wie diese Verantwortung viele Dinge unwichtig machte, die meine Mitschüler bewegten. Besonders erlebte ich dieses Gefühl in den wenigen Zeiten, die Jenny und ich nicht zusammen verbrachten. Im Sportunterricht beispielsweise. Jungen und Mädchen hatten Mal zwei Mal in der Woche jeweils eine Doppelstunde getrennten Unterricht. Dafür waren wir zusammen gewürfelt mit den männlichen Teilnehmern aus einer anderen Klasse. Wir trafen uns in der Sporthalle unserer Schule, die sich durch einen großen Raumteiler in zwei Teile trennen ließ. Die Mädchen waren auf der einen, die Jungs auf der anderen Seite dieses hässlichen dunkelbraunen Vorhangs aus Vollgummi. Beklebt war er mit hellbraunen oder beigen Flicken, hinter denen sich zahlreiche defekte Stellen verbargen, wie Pflaster auf Wunden. Wir spielten in der Regel Fußball oder Basketball, die Mädchen machten Leichtathletik. Wie gerne wäre ich bei ihnen gewesen. Ich wäre dann Jenny näher gewesen und hätte Leichtathletik machen können. Wir spielten die meiste Zeit Fußball, das ich nicht besonders mochte, auch wenn ich einigermaßen annehmbar spielte. Beweis für meine passablen Leistungen war, dass ich beim Aufstellen der Mannschaft in der Regel als dritter oder vierter gewählt wurde. Es waren immer dieselben, die man unbedingt in seiner Mannschaft wollte und um die man sich fast stritt. Genau so gab es Leute, die man um keinen Preis wollte, da sie im schlimmsten Fall höchstens ein Eigentor zuwege brachten. Die Brillenträger, die in Mathe, Physik und Chemie besonders gut waren, waren in der Regel diejenigen, deren bleiche spindeldürre Köper bis zum Ende in der Ecke stehen blieben, als alle anderen schon gewählt waren. Die muskulösen Jungs mit Haaren an den Beinen und T-Shirts von bekannten Basketballmannschaften ließen sie spüren, dass sie genauso gut zu Hause hätten bleiben können. Diese Jungs waren auch die, die mir das Gefühl vermittelten, von Sprösslingen umgeben zu sein. Sie liebten ihr Spiel, sie liebten die lauten Schreie und immer gleich lautenden Plattitüden. Wenn ein Ball ins Aus kullerte oder jemand von der gegnerischen Mannschaft den Ball bekam, schrien sie,
„ey, da muss doch jemand hin“,
obwohl sie selber sich in der Nähe der Tore tummelten. Selber waren sie natürlich nicht zur Stelle, um den Ball in den Besitz der eigenen Mannschaft zurückzubringen. So wie sie sich beim Spiel hervortaten, ließen sie es sofort ruhen, wenn der Lehrer einmal kurz die Halle verließ. Sie sammelten sich an der schweren PVC-Trennwand und schoben sie ein Stück zur Seite und glotzen hinüber, in Richtung der Mädchen. Nachdem sie die Lehrerin auf der anderen Seite ermahnt hatte, kicherten sie und beschäftigten sich mit dem, was sie gesehen hatten. Das, was sie erlebten schien mir genauso stereotyp, wie die Floskeln, die sie über das Spiel verloren. Sie lästerten über den „fetten Arsch“ der einen und lachten laut über die Unsportlichkeit der anderen. Aber am meisten freuten sie sich über „die Titten“, die sich unter den T-Shirts abzeichneten. Diese Jungs waren auch die ersten, die zu den Garagentoren spurteten, wenn wir Geräte oder Bälle oder die Trikots brauchten. Fachmännisch öffneten sie die schweren Tore mit ihren braunen Holzlatten zu dritt. Sofort stürmten sie, nachdem sie es geöffnet hatten in die dahinter befindlichen Räume. Nicht, weil es Zusatzpunkte für das zügige Holen der Utensilien gegeben hätte oder weil sie so interessiert am Beginn des Unterrichts gewesen wären. Meine Mitschüler hofften, dass das Tor auf der anderen Seite des Vorhangs ebenso geöffnet war und sie einen Blick auf den Sportdress der Mädchen erheischen könnten. Auch wenn es mir die anderen Schüler nicht anmerkten, widerte mich dieses Verhalten an. Oft trafen wir die Mädchen, wenn wir uns umgezogen hatten auf dem Flur der Sporthalle. Jenny trug eine rote, kurze Hose und ein Trägershirt mit der Aufschrift eines amerikanischen Colleges. Ich hasste es, wenn die Jungs über sie sprachen. Ihnen war genau das wichtig, eine Begegnung für ein Gespräch unter der Dusche. Es war mir eigentlich egal, was die Jungen trieben, aber ich wusste, wo Jenny ihre Tasche in ihrem Zimmer aufbewahrte. Ich wusste, wo die Waschmaschine stand, in der Jennys Mutter die dünne Sportkleidung wusch. Ich kannte Jenny ohne Bekleidung. Dieses Wissen, meine Assoziationen mit dem häuslichen Leben meiner Freundin verschafften mir Respekt, denn ich wusste um das Gefüge dieses Lebens und fürchtete mich davor, dass noch jemand anders es angreifen oder gar verletzen könnte. Im Unterricht wurde ich aufgrund dieser groben Züge vor allem meiner männlichen Mitschüler noch ruhiger.
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Eigentlich war ich ein guter Schüler. Ich hätte noch besser sein können, denn meine mündlichen Beiträge ließen mehr und mehr zu wünschen übrig. Ich hatte aber meine schriftlichen Leistungen und war zufrieden mit dem, was ich auf dem Zeugnis attestiert bekam. Nicht so meine Eltern, denn sie konnten sich den Unterscheid zwischen den Noten, die ich zuhause vorlegte und dem, was sich ihnen halbjährig als Ergebnis bot, nicht erklären.
Meine Mutter warf meinem Vater vor, ich käme ganz nach ihm und würde wahrscheinlich auch in der Schule nicht sprechen und daher hätte ich halt schlechte mündliche Noten, die meinen Durchschnitt drücken würden. Mein Vater sah das anders und sagte, wenn er nicht mit meiner Mutter zusammen sei, würde auch er mehr sprechen. Da mein Vater auch an diesem Tag einen sehr engen Terminkalender hatte, ging meine Mutter mit mir in die Schule um meine Klassenlehrerin zu treffen. Sie wollte das selber in die Hand nehmen und sich einen Eindruck von der Situation verschaffen. So hatte meine Mutter das immer gemacht. Sie war es auch, die mir als erster Mensch deutlich gemacht hat, wie still ich war, denn sie bestimmte die Unterhaltungen bei uns zuhause. Eigentlich redete Sie unaufhörlich. Sie sprach nicht nur viel, sondern auch schnell. Für mich war das eine ein Ergebnis des anderen, denn wenn man schnell redet, kann man natürlich in kürzerer Zeit auch mehr Worte sprechen. Wie schnell meine Mutter redete, zeigt schon ihr Name. Eigentlich hieß sie Fernande, aber da man immer nur die letzte Silbe vernehmen konnte, wenn sie sich mit ihrem Vornamen vorstellte oder ihn sonst wie nutzte oder artikulierte, nannten alle sie kurz Nanne. Nanne Flemm. Sie konnte das so schnell sagen, dass selbst die Menschen, denen sie das Kürzel diktierte, nachfragten, wie man das denn bitte buchstabiere. Wenn sie sich dann wiederholen musste, verdrehte meine Mutter die Augen und signalisierte ihrem Gegenüber, dass ihr Name eigentlich sehr einfach war. Sie akzeptierte nicht, dass man sie nicht verstand. Mein Vater Arved versteckte sich bei den täglichen Familienzusammenkünften meist hinter einer Zeitung. Ich dachte immer, ihr dünnes Papier habe die Wirkung eines Lärmschutzes, denn wenn wir mit der Familie bei Tisch saßen, schaute er selten über die Seiten. Auch nicht, wenn Mutter mit ihm sprach. Die einzigen Augenblicke, in denen Mutter nicht redete, waren die, in denen sie las. Zumeist verbrachte sie die Zeit in ihre Bibliothek, ihrem ganzen Stolz. Neben einem Sofa und einem kleinen Tischchen, das meist unter Büchern zusammen zu brechen drohte, stand dort auch ihr Lieblingsmöbel, der Liegesessel, den Henry van de Velde für sein eigenes Wohnhaus in Weimar hergestellt hatte.
„Er hat seine Heimat genauso vermisst, wie ich Frankreich vermisse,
klagte sie oft und sagte,
„ich bin heute ausschließlich in Henrys Stuhl zu finden.“
Aufgewachsen bin ich nahe der französischen Grenze, in Saarbrücken, das hatte ich dir ja schon erzählt. Die französische Grenze war für meine Mutter aber besonders wichtig, denn während das für uns ja heute selbstverständlich ist, lebten meine Großeltern in einem französischen Saarland. Sie waren sehr patriotisch und wendeten sich in der Volksabstimmung gegen den Beitritt zur jungen Bundesrepublik. Ich erwähne das, weil es für meine Großeltern wirklich entscheidend war. Sie verabscheuten Deutschland und kehrten dem Saarland bald nach dieser Entscheidung den Rücken. Meiner Mutter trichterten sie ein, wie schlimm die Deutschen waren und dass sie bloß nicht zu viel von der deutschen Kultur annehmen solle. Teufel seien das, allesamt. Meine Mutter verunsicherte es, auch wenn sie es nie zugab aber oft gab sie, ohne es wirklich zu wollen, meinen Großeltern Recht. Lebenslänglich haben die sich beispielsweise geweigert, die „Sprache der Barbaren“ zu sprechen. Ich habe sie nie kennen gelernt und es auch nie von ihnen selber gehört, denn alles, was ich von ihnen weiß, wurde mir erzählt. Aber meine Großeltern isolierten sich vollkommen. Erst von ihren Nachbarn, dann von ihren ferneren Bekannten und schließlich auch von ihren Freunden. Dann siedelten sie schließlich um nach Frankreich. Meine Mutter blieb. Alles was mir darüber berichtet wurde ist, dass sie in Fontaine-de-Vaucluse gestorben sind, das ist in der Nähe von Avigon, in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur. Meine Mutter hatte sich zu genau der Zeit in meinen Vater verliebt und sehr zum Ärger meiner Großeltern heiratete sie ihn schließlich sogar. Sie erschienen nicht auf der Hochzeit ihrer einzigen Tochter und sprachen nie wieder ein Wort mit ihr. Obwohl meine Mutter nach der Hochzeit die deutsche Staatsangehörigkeit annahm, ein Überbleibsel dieser Erziehung ist, dass sie noch heute vor allem französische Bücher liest und französische Texte immer höher bei ihr gehandelt wurden als deutsche. Eine Zeit lang, als sie mir noch nicht erklärt hatte, wieso sie die meisten Bücher in Französisch las, dachte ich, sie würde sich dadurch von ihrer besten Freundin Martha unterscheiden wollen. Die beiden ähnelten einander sehr und vielleicht wollten sie dann nicht auch noch dieselben Bücher lesen. Zumindest nicht in derselben Sprache, denn sie lasen oftmals ja das gleiche, schon, um sich darüber unterhalten zu können. Immer wieder hatten sie heftige Streits wegen ihres unterschiedlichen Geschmacks und dann sprachen mitunter tagelang nicht miteinander. Sie redeten dann aber übereinander. Zumindest plauderte meine Mutter über Martha. Manchmal war sie böse auf ihre beste Freundin. Oft hatten sie sich dann heftig darüber gestritten, welches das traurigere Buch war, Goethes Leiden des jungen Werther oder Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse. Meine Mutter favorisierte selbstverständlich Rousseau. Martha, die eine erklärte Anhängerin Goethes war, liebte den Werther. Wenn sie sich darüber stritten, schrie meine Mutter zuweilen hysterisch meinen Vater an, wie sich Martha anmaßen könne, die billige deutsche Kopie dem französischen Geniestreich vorzuziehen. Dieser am Schreibtisch ersonnene Heulkrampf, dieses Liebesgewinsel unter Freunden, von denen sich einer für seine schwachsinnigen Ideen über die Liebe am Ende auch noch umbrächte. Der wahre Gehalt von Liebe vermittelt sich nur unter Liebenden. Eigentlich waren diese Streits lächerlich, denn ich wusste vom Anblick der Buchrücken, dass neben anderen Werken Goethes, auch der Werther in der Bibliothek vorhanden war. Es stand dort sogar in deutscher Fassung und, so wie das Buch aussah, und wo es einsortiert war, musste sie es gemocht haben. Denn nach ihrer Auskunft waren dort nur die Bücher zu finden, die sie erstens gelesen und zweitens geliebt hatte. In Henrys Stuhl, ihrem Lesesessel, in dem sie die einzigen stillen Momente verbrachte, denn sobald sie ihr Buch zur Seite legte und sich wieder erhob, sprach sie wieder. Mit sich selber oder mit uns. Den nächsten, den sie traf, verstrickte sie in diese Unterhaltung.
Manchmal, wenn meine Mutter nicht zuhause war, betrat ich ihre Bibliothek alleine und betrachtete den Raum mit den Buchreihen, als sei er ein Schrein. Die Bibliothek war so schön, als huldige dort jemand einem Heiligen. Sie hatte wirklich etwas Sakrales und strahlte eine Ruhe aus, die meine Mutter nie verkörperte. Ich betrat den Raum andächtig, so, als fände ich dort vielleicht ein Stück des Wesens meiner Mutter. Aufmerksam schaute ich auf die kleinen Säulchen und das hölzerne Gesims der mächtigen, weißen Bücherregale. Sie erhoben sich bis zur Decke des Raums, schienen sie zu tragen und dadurch unser ganzes Haus zusammenzuhalten. Nachdem ich die schwere Holztür hinter mir geschlossen hatte, schaltete ich der Reihe nach die kleinen Lämpchen an, die an den Säulen angebracht waren und jeweils den dazwischen liegenden Abschnitt hell ausleuchteten. Ich kletterte auf einen kleinen Hocker, den meine Mutter hin und her bewegte, je nachdem, wo sie zuletzt ein Buch heraus- oder hereingestellt hatte und der immer an anderen Orten stand, oder ich stieg auf die Leiter, die im oberen Teil der Regale an einer dicken Metallstange befestigt war. Hintereinander wurden die Buchrücken erkennbar und ich konnte, wenn ich auf der Leiter oder dem Hocker stand, Regal für Regal die Namen der Autoren und die Titel der Bücher erkennen. Durch die Ordnung in ihrer Bibliothek lernte ich, was sie gerade las und welche Lektüre schon länger zurückliegen musste und konnte sagen, wie die Namen der Autoren mit den Zitaten in Verbindung standen. Der Standort der Bücher veränderte sich allerdings stetig. Einige Titel waren mal hier zu finden und mal dort und wie das kleine Höckerchen ständig auf der Wanderschaft zu sein schien, war auch ich es auf der Suche nach dem entsprechenden Buch oder Buchtitel. Wenigstens wusste ich dadurch, welche Bücher sie gerade las und welche sie schon lange ausgelesen hatte, denn die standen meist ganz oben oder hinter den anderen in der zweiten Reihe, etwas erhöht, so dass man nur die kleine Titulatur noch sehen konnte. Für mich, der ich nur sehr schlecht französisch sprach und es noch weniger lesen konnte, bedeuteten die Buchrücken eine Art Tor zur Welt meiner Mutter. Geöffnet hat sich diese Welt allerdings erst kürzlich, als ich selber anfing die Bücher zu lesen. Als Kind streifte ich, ob meine Mutter selber in der Bibliothek war oder nicht, einfach an den Buchrücken entlang und lernte die Autoren und die dazugehörigen Titel auswendig. Dies waren die Momente, in denen meine Mutter trotz, dass ich da war, nicht sprach, und in denen ich mich im Gegensatz zu ihr, sehr wohl fühlte. Manchmal verjagte sie mich daher und ich kehrte zurück, wenn sie nicht da war. Wenn ich dann wieder an den Buchreihen entlang streifte, fühlte ich mich meiner Mutter näher und konnte die zahlreichen Zitate, mit denen sie uns unmissverständlich mitteilte, was sie dachte, wenigstens verorten.
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Meine Mutter hatte die Veränderungen nicht mitbekommen, die sich durch Jenny bei mir abzeichneten und daher hielt sie es für notwendig, mit mir zusammen zur Schule zu gehen und mit meiner Lehrerin zu sprechen. Es war ein sonniger Tag und der Sommer schien mit den Sommerferien Einzug zu erhalten. An einem Informationspult, an dem unser Hausmeister saß, erfuhren wir in welchem Raum meine Lehrerin anzutreffen sei. Wir liefen durch die ruhigen und im Gegensatz zu Schultagen, leeren Korridore, die mit dunkelgrünem Marmor gefliest waren. Auf den Bodenplatten hallten die Schuhe meiner Mutter wieder und füllten die Gänge mit den Geräuschen ihres entschlossenen Schrittes. Schließlich kamen wir an dem Raum an und setzen uns auf die Stühle, auf denen sonst wir Schüler saßen und reihten uns ein, in die Warteschlange vor unserem Klassenzimmer. Meine Mutter sprang zahllos oft auf von den kleinen Stühlen und stöhnte. Sie drehte beide Schultern nach hinten und fragte die anderen Mütter, ob sie auf diesen „Holzstückchen“ sitzen könnten. Sie fühle sich wie im Schullandheim, in dem sie als Kind immer die Ferien verbringen musste. Jetzt müsse nur noch jemand die Mundharmonika herausholen und das Lagerfeuer anzünden, dann sei die Atmosphäre perfekt. Meine Mutter wuschelte bei ihren kleinen Spaziergängen auf dem Flur den jüngeren Mitschülern ihre Haare. Der Mutter einer noch sehr jungen Schülerin machte sie Komplimente für die geschmackvolle Kleidung des Kindes. Wo sie die kaufe, erkundigte sie sich und begann ein Gespräch über die beste Kinderkleidung und wo sie die immer für mich besorgt hatte. Auch wenn die Kinder schnell herauswachsen würden, so eine ihrer Thesen, dürfe man daran nicht sparen, sagte sie. Sie könne sich nicht vorstellen, dass sich Kinder für Flicken an den Hosen nicht schämten, schließlich würde die in der Erwachsenenwelt ja auch keiner tragen. Tatsächlich war meine Mutter sehr großzügig, auch später noch, denn als sie nicht mehr für uns einkaufte bekamen wir Geld um unsere Kleidung selber zu kaufen und oft reichte das Geld sogar, dass ich Jenny auch neue Sachen kaufen konnte.
„Kinder sind sehr empfindlich und vergleichen sich ständig mit der Welt der Erwachsenen, ja, das ganze Spiel baut doch darauf auf und hat nur diesen einen Zweck“,
monologisierte meine Mutter. Alles drehe sich darum, die Welt der Erwachsenen zu simulieren.
„Zuweilen scheint es mir, als gebe es Leute, die dieses Spiel bis ins hohe Alter spielen und sich immer nur an anderen orientieren“,
fauchte sie in die Richtung eines Vaters, der in einem Gespräch mit seinem Sohn vertieft war. Sie habe nie gewollt, dass sich ihre Kinder lange am infantilen Spiel aufhalten müssten. Dann erzählte sie, ihre Tochter habe gerade vor einiger Zeit die Violine in die Ecke gestellt und spiele jetzt nur noch Spiele mit ihrer Spielkonsole. Das spreche dafür, dass sie mit der Zeit gehe, auch wenn man wohl noch ein paar Jahre brauchen würde, um diese Wahrheit allgemein akzeptiert zu haben. Es sei ihr ein Gräuel, wenn sie daran denke, dass ihre Tochter mit einem Verkaufsladen spiele, um danach eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau zu machen. Sie redete sich so in Stimmung, dass sie gar nicht zu merken schien, dass keiner mehr vor uns wartete und die anderen Mütter und Väter mit ihren Kindern schon wieder weitergezogen waren.
Schließlich wurden auch wir aufgerufen. Als die Tür aufging, stand meine Mutter und beschwerte sich, dass sie es erniedrigend gefunden habe, am Boden auf diesen Stühlchen zu hocken. Das teilte sie am Beginn unseres Gesprächs direkt auch meiner Lehrerin mit. Frau Schmidt empfing uns freundlich, setzte allerdings ihre besorgte Miene auf, als meine Mutter nicht aufhörte zu reden und sogar die Geschichte vom Lagerfeuer wiederholte. Den Gesichtsausdruck kannte ich, denn den hatte sie immer auch bei der Rückgabe unserer Klassenarbeiten schon beim Betreten des Zimmers. Wir erkannten nicht nur an dem Jutebeutel mit unseren Heften, dass sie unsere Arbeiten korrigiert hatte, sondern auch an genau diesem Gesichtsausdruck. Jeder versuchte bei ihrem Blick durch Reihen aus ihrem Gesicht zu lesen, was er erreicht hatte oder auch nicht. Sie blickte in die Richtung meiner Mutter, die ihr immer noch zu erklären versuchte, dass sie auf dem Flur nicht besonders komfortabel gesessen habe. Frau Schmidt hörte ihr kurz zu, unterbrach sie dann aber mit den Worten:
„Liebe Frau Flemm, ich denke, wir sollten uns nun ihrem Sohn Riddo zuwenden. Sind Sie nicht hier, da er Ihnen vielleicht einige Sorgen bereitet?“
Wieder begann Mutter zu reden. Sie nahm Anlauf und bedeutete ihr in einem Schwall aus Worten, sie wisse wovon sie rede, schließlich kenne sie ihren Sohn zu gut. Sie beteuerte, dass sie mich jeden Tag ermahne, mehr zu reden, aber ich käme schließlich nach meinem Vater und mit dem sei es das gleiche. Schweigen. Auf ganzer Linie! Frau Schmidt unterbrach meine Mutter erneut und kam direkt zum Punkt.
„Werte Frau Flemm, ihr Sohn ist ein hervorragender Schüler, er ist aufnahmefähig, schreibt beste Klassenarbeiten. Er ist keinesfalls eines unserer Problemkinder. Er ist ein sehr reifer Junge. Nur in vielen Fächern findet er im Unterricht einfach nicht statt.“
Mutter entgegnete, dass ich wohlbehütet aufgewachsen sei, dass ich alles von meinen Eltern bekäme, sie neuerdings sogar meine Freundin mit durchzögen, wenn es ihr nicht gut gehe. Das seien Probleme, da bei ihr zuhause. Sie erzählte die Geschichte meiner Schweige-Therapie, von der Musik, dem Theater und dem Sport. Sie erzählte davon, wie sie mich an ihrer Bildung teilhaben ließ und bedauerte, dass es noch keine Erkenntnisse gebe, ob mein Schweigen vielleicht genetischer Natur sein könne.
„Wenn man Kindern Liebe predigt, Frau Flemm, lernen sie predigen“,
sagte meine Lehrerin.
„Fragen wir ihren Sohn doch einfach selber, was ihn hemmt“
sagte sie mit ihrer freundlichen aber bestimmten Stimme mir zugewandt. Ich wusste absolut keine Antwort auf diese Frage. Meine Mutter kam einer Auskunft von mir aber auch zuvor, in dem sie meiner Lehrerin nachdrücklich klar machte, sie habe keine Lust auf irgendwelche esoterischen Erklärungen.
„Wehe jedem, der eine Sittenlehre predigt, die er selber nicht ausüben will, heißt es außerdem. Das ist von Rousseau, aus Julie. Ich habe meinem Sohn alles ermöglicht, was in meiner Macht steht. Es geht jetzt um das Abitur, um Vornoten und ich weiß, Frau Müller“,
meine Mutter zögerte.
„Frau Schmidt, richtig? Entschuldigen Sie. Mein Sohn ist zu intelligent, um auf einen mittelklassigen Studienplatz angewiesen zu sein.“
Ich konnte mir die Panik nicht erklären, die zwischen meiner Mutter und Frau Schmidt entbrannte. Ich machte mir jedenfalls keine Sorgen, ganz im Gegenteil und auch Frau Schmidt war meiner Meinung. Da man mich im Kollegium schätze und meine Arbeiten weitestgehend einwandfrei waren, werde man versuchen, mich nach allen Möglichkeiten zu unterstützen.
Meine Mutter wurde aufgefordert mich einfach in Ruhe zu lassen und mich weniger zu bevormunden. Was Studienplätze anbetreffe, solle sich meine Mutter jetzt bitte noch keine Sorgen machen, denn ich käme schon zu dem Ziel, was ich selber mir gesteckt hätte, sagte Frau Schmidt. Auch wenn meine Mutter nicht zufrieden war mit dem Ergebnis dieses Gesprächs, sie hielt sich fortan zurück.
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Sorgen bereitete mir in den nun folgenden Monaten nicht die Schule, nicht irgendwelche Studienplätze, das alles schien weit weg, Sorgen bereitete mir Jenny. Sie veränderte sich. Ihr Vater hatte sich wieder in Therapie begeben, unterbrach sie aber zwischenzeitlich immer wieder. Eines Nachmittags lagen wir zusammen auf meinem Bett, wie wir es so oft taten. Ich hielt Jenny im Arm und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wir lagen oft einfach so da und schauten uns an oder sie erzählte mir eine Geschichte. Wahrscheinlich liefen „The Smiths“, deren Album „Strangeways, Here We Come“ wir damals rauf und runter hörten. Jenny hatte den Tipp von einer Mitschülerin namens Sarah bekommen, mit der sie sich damals anfreundete. Wir waren zusammen nach der Schule in einen kleinen Laden, in dem lauter englische Flaggen hingen und hatten die Platte gekauft. Als wir sie zum ersten Mal hörten, liebten wir sie direkt. Bei „Gilrfriend in a Coma“ tanzten wir sogar in meinem Zimmer. Ich erinnere mich genau, denn das war das erste Mal, dass Jenny aufsprang und an zu tanzen fing. Sie forderte auch mich auf und als ich mich weigerte, sagte sie ich solle mich nicht so langweilig anstellen. Jenny fing gleich beim ersten Lied an und erst als „Girlfriend in Coma“ ertönte, packte es auch mich. Wir tanzten, lachten und kugelten uns dann wieder auf dem Bett. Auf der zweiten Seite ist ein Lied, das die Veränderung widerspiegelt, die sich zwischen Jenny und mir einschlich. “Last Night I Dreamt, That Somebody Loved Me”, so der Titel des Songs.
Die Freundin, von der Jenny das Album empfohlen bekommen hatte, war in einer Clique, die mich nicht besonders interessierte. Die Jungs trugen lange Ponys, die ihnen ins Gesicht hingen und auf alles malten sie Karomuster. Vom einen auf den anderen Tag, so schien mir, trug die ganze Welt Parka und hohe Schuhe. Doc Martins. Die Musik wurde trauriger und trauriger. Ich hatte gehört, dass einige von den Leuten kifften, es war sogar Tischgespräch bei uns zuhause, da mein Bruder mich auf die „Smiths“ mit der abfälligen Bemerkung ansprach, dass das Kiffermusik sei. Aber auch das interessierte mich nicht. Jenny mochte die Musik und ich auch und wenn wir nicht gerade darüber sprachen, dass wir öfter zusammen unter Leute müssten, nahm sie mich zu einigen Liedern noch fester in den Arm, als sie es sonst schon tat, manchmal sagte sie begleitet von einem leisen Stöhnen,
„ach Riddo, du bist so ein unglaublicher Mensch.“
Heute muss ich fragen: Sprach sie mit mir?
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In den Wochen danach trafen Jenny und ich uns öfter nachmittags nicht, denn sie war mit ihrer neuen Freundin Sarah unterwegs. Ich vermisste sie zwar, dachte mir aber nichts dabei. Ich freute mich im Gegenteil für Jenny, dass sie eine Freundin hatte, denn in letzter Zeit war es noch öfter vorgekommen, dass sie sich nach Abwechslung gesehnt hatte. Sie erzählte mir viel von ihren Treffen und wenn wir über ihre Erlebnisse mit Sarah sprachen, lachten wir oft darüber. Sarah sah nicht nur anders aus, sie war meiner Meinung ein bisschen verrückt. Sie trug dicke Stulpen über einer Strumpfhose und am liebsten einen Minirock. Auch sie hatte Doc Martins mit farbigen Schnürsenkeln. Die bunten Stulpen wechselte sie täglich. Sie hatte einen dicken Filzstift dabei und schrieb überall ihren Namen hin, für den sie eigens einen Schriftzug entworfen hatte, der nicht nur einem Blitz ähnelte, sondern den sie auch so schnell zeichnen konnte. Ich hatte es selber mitbekommen, denn eines Nachmittags nahmen Jenny und Sarah mich mit und als wir zusammen einen Kaffee trinken gegangen waren, holte Sarah den Stift heraus. Als der Kellner gerade nicht hinschaute malte sie ihren Schriftzug auf den Tisch und schob dann eine Zeitung darüber, die sie erst wegnahm, als wir das Café verließen.
Wo sie ihre Kleidung kaufte erfuhr ich nach dem gemeinsamen Kaffee, denn die Mädchen nahmen mich mit in ein Geschäft, in dem es nur solcherlei Garderobe gab. Jenny probierte eine Hose und ein Kleid an und beides stand ihr wirklich exzellent. Die Hose war eine hauteng geschnittene, dunkle Jeans, die gut zu ihrem einfachen weißen T-Shirt passte, das sie sonst immer trug. Das Kleid, sie hatte vorher noch nie eines getragen, sondern immer nur ihre Jeans, war schwarz und endete kurz über ihren Knien. Es fiel faltig herunter, war jedoch etwas weiter gefasst, so dass es fast wie ein Barockkleid in Miniatur wirkte. Sie konnte es ohne BH tragen, wie sie mir sagte, denn es war einer eingenäht. Die Ärmel waren leicht gerafft. Es war unglaublich, wie schön sie darin aussah. In der Kleidung hatte sie nichts von der Verletzlichkeit, die sie in ihrer Sportbekleidung hatte. Sie wirkte selbstbewusst und erwachsen. Ich kaufte ihr beides, denn es gefiel ihr und mir auch. Dazu kaufte ich ein paar schwarze Chucks, die sie bisher nur in weinrot besessen hatte. In den darauf folgenden Wochen war es, als hätte sie mit ihrer neuen Kleidung auch ihre alte Persönlichkeit abgelegt.
Irgendwann kam sie zu mir. Ich hörte den Hausschlüssel in der Tür, hörte wie sie die Treppe zu mir hoch lief. Sie erklomm die Treppe lauter als Riwelle. Als sie mein Zimmer betrat, starrte sie mich mit einem leeren Blick an und schmiss sich aufs Bett. Da sie das oft tat, freute ich mich und schwang mich neben sie, merkte aber, dass sie nur verhalten reagierte und zu schlafen schien. Als ich ihren Kopf hochhob, zeigte sie keine Reaktion. Erst kurz darauf, als ich es wiederholte und ihren Namen rief, beklagte sie sich mit einem in die Länge gezogenen „Nicht“. Als ich ihr in ihren Haaren kraulte, stand sie auf und rannte zur Toilette, wo sich mehrmals heftig übergab. Sie konnte nichts sagen und war grün im Gesicht. Zwei oder drei Stunden später erwachte sie wieder und war fit, als sei nichts gewesen. Sie verhielt sich wie immer, wollte sogar mit mir schlafen. Als ich nicht wollte, rannte sie aus meinem Zimmer und war verschwunden.
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Ereignisse dieser Art wiederholten sich. Ich dachte, ich müsste für Jenny einfach nur da sein, dachte, dann würde alles wieder gut. Dass das keine Lösung war begriff ich an einem Abend auf einem Konzert in der Schule. Jenny und ich hatten uns verabredet dort und ich wusste, ich würde sie treffen. Ich konnte mich immer auf sie verlassen. Allerdings konnte ich erst später auf das Konzert gehen, denn zunächst musste ich mit meiner Familie an einem gemeinsamen Abendessen teilnehmen. Meine Tante hatte Geburtstag und uns zu sich eingeladen. Um acht fuhr ich mit meiner Familie los, um zehn durfte ich mich dann endlich absetzen. Ich erreichte meine Schule etwa um halb elf und wurde begrüßt von einer Horde von Mitschülern, die schon etwas zu viel getrunken hatten. Sie lachten, als ich die Treppen zum Seiteneingang hoch lief. Von dort kam man in die Eingangshalle, in der wir nicht nur zu Beginn des Schuljahres unsere neuen Lehrer begrüßten, sondern wo von Zeit zu Zeit auch die verschiedensten Veranstaltungen stattfanden. Manchmal gab es Theateraufführungen von der Theatergruppe, von anderen Laientheatern oder auch klassische Konzerte für unsere Eltern. Unsere Schulband durfte dort auch von Zeit zu Zeit auftreten, auch wenn Gerüchte kursierten, dass es nicht mehr lange gut gehen konnte, denn zu viele Probleme, zu viele Betrunkene veranlassten die Schulleitung immer wieder, laut darüber nachzudenken, die Konzerte einzustellen. Aber noch gab es sie. Einer aus der Gruppe der angetrunkenen Mitschüler rief mir hinterher:
„Hey Riddo, dein Schatten hat sich einen neuen zugelegt“
und alle lachten dabei. Ein anderer Klassenkamerad hatte das Schauspiel beobachtet. Er stand mit zwei anderen Mitschülerinnen aus einer Parallelklasse auf der Ebene, auf die die Treppe führte und lief auf mich zu. Er sagte, die Jungs hätten ordentlich getankt und ich solle mir nichts daraus machen. Wenn mir das Konzert nicht gefiel, solle ich einfach zu ihnen kommen. Sie wären gerade in einem netten Gespräch vertieft und vielleicht hätte ich darauf ja auch mehr Lust, als auf die schrägen Klänge der Band. Ich hörte den Leadsänger gerade, wie er nach einem Applaus die Stimme anhob und sich beim Publikum bedankte. Vor allem weibliche Fans kreischten und schrien durcheinander.
Ich betrat den Seiteneingang. In einer Ecke sah ich Jenny stehen. Sie umarmte jemanden, es war Jens, einer der Jungs, die überall Karomuster hinterließen. Als ich wie angewurzelt stehen bleib, da ich nicht glaubte, was ich dort sah, lösten sie ihre Umarmung und küssten sich. Mir schoss zuerst der Gedanke in den Kopf, dass Jens der Freund von Sarah war, zumindest hatte ich ihn immer dafür gehalten. Schockiert blieb ich stehen. Er sah mich und sprach erschrocken mit Jenny. Sie drehte sich um und schaute mich an. Es gab einen anderen, ich hatte es begriffen. Jenny rief meinen Namen, aber ich hatte mich schon umgedreht und rannte aus dem Flur zurück die Treppen runter, wo ich nur wahrnahm, dass die Jungs mich sahen und grölten:
„Er hat es auch geschnallt, jetzt rennt er weg.“
Ich rannte wirklich und als ich zu Atem kam, hatte ich das Gelände verlassen und war auf der Straße angelangt, die zu unserer Schule führte. Ich blieb stehen, war außer Atem und konnte nicht verstehen, was ich gesehen hatte.
Ich verbrachte die Nacht in völliger Ungewissheit. Immer und immer wieder wiederholte sich die Szene in meinem Kopf. Am nächsten Morgen, ich war doch irgendwann eingeschlafen, wurde ich wach und war kurze Zeit orientierungslos. Ich hatte für einen Augenblick keine Erinnerung an das, was geschehen war, aber schon kurze Zeit darauf erinnerte ich mich. Wie ein Blitz schlug es ein und dann sah ich immer und immer wieder dasselbe Bild. Es war wie ein Film, der nur eine Aufnahme kennt.
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Wie ich mich dabei fühlte, muss ich eigentlich nicht erklären. Zehntausendfach ist diese Enttäuschung nieder geschrieben worden. Andere haben schon treffende Ausdrücke dafür gefunden, haben ihre Gefühle in Worte gegossen, das Richtige über die Enttäuschung gesagt, darüber wie man sie verarbeitet und mit ihr umgeht. Die Ironie meines Schicksals, an diesem Wochenende bekam ich das Pfeiffersche Drüsenfieber, die Kusskrankheit. Sechs Wochen konnte ich nicht in die Schule gehen. Sechs Wochen habe ich im Bett gelegen, sechs Wochen mit den immer gleichen Bildern. Sechs Wochen mit einer wenige Sekunden dauernden Sequenz eines Kusses, der schmerzhafter war und mich mehr schwächte als mein Fieber und die zahlreichen anderen Symptome meiner Krankheit. Sechs Wochen Schweigen, sechs Wochen Einsamkeit. Ich fühlte mich entsetzlich, nicht wie ein Mensch. Als ich meiner Mutter das in diesen Worten sagte, reagierte sie panikartig. Ich bekam neue Medikamente gegen das Fieber und Aufbaupräparate als Ergänzung zu der spärlichen Nahrung, die ich zu mir nahm. Unser Arzt kam fortan täglich. Ich merkte bald, dass es mir körperlich besser ging. Aber noch immer beherrschte die Sequenz des Kusses mein Denken. Ich bereute, dass ich etwas gesagt hatte, denn meine Mutter erhöhte daraufhin ihr Engagement nicht nur in Fragen meiner Gesundheit, sondern begann sich vermehrt auch um meinen Liebeskummer zu sorgen. Als ich mich etwas besser fühlte, redete sie tagelang auf mich ein. Sie wollte wissen, wo Jenny bliebe und ob etwas zwischen uns vorgefallen war.
„Eine Mutter spürt so etwas“,
sagte sie immer wieder und zog alle Register ihrer Begabung, ohne Umschweife zu bohren und zu fragen. Alles was ich hätte sagen können, wäre gewesen, dass ich Jenny mit einem anderen Kerl beim Knutschen erwischt hatte, dann weggerannt war und seitdem zuhause mit einer Krankheit danieder lag, die fürchterlich ironisch klang, so, als würde sich mein Schicksal über mich lächerlich machen. Schließlich erfuhr sie, was vorgefallen war, weil sie bei Jenny anrief. Ihr Vater erzählte ihr, dass seine Tochter einen neuen habe.
„Das sind Kinder, Frau Flemm, die probieren sich aus. Haben wir doch in dem Alter genauso gemacht. Die wollen ein bisschen die Intensität erhöhen.“,
hatte er meiner Mutter lallend erzählt.
Meine Mutter kam wutentbrannt in mein Zimmer und sagte, dass sie es wisse. Jennys Vater habe ihr davon berichtet, dass er seine Tochter nicht wiedererkenne. Letztens war ein Konzert in der Schule und man brachte sie abends betrunken nach Hause. Ich konnte es nicht glauben und erzählte meiner Mutter meine Variante der Geschichte, denn es musste sich um den Abend handeln, an dem auch ich sie mit Jens gesehen hatte. Sie kurierte mich von dem Vorhaben, mich noch einmal auf Jenny einlassen zu wollen. Sie hatte Jennys Vater aufgefordert seine Tochter zu bitten, unverzüglich den Hausschlüssel bei uns zu Hause vorbei zu bringen. Am nächsten Tag lag er in einem Umschlag in unserem Briefkasten. Mein innerer Film war nun um eine Sequenz länger. Nach dem Kuss folgte nun die Szene, in der Jenny vor unserem Haus mit dem Brief stand. Ich malte mir aus, wie sie vielleicht gezögert haben mochte, vielleicht für eine Sekunde. Vielleicht hatte sie sich ja erinnert, an die Stunden, die wir gemeinsam in meinem Zimmer verbracht hatten.
„Riddo, sie ist ein verlorenes Mädchen. Das liegt nicht an dir, sondern an ihrer Familie, an ihrem saufenden Vater. In einigen Monaten wirst du das, was geschehen ist, als Erfahrung verbuchen, schau nicht zurück. Schau nach vorne. Jetzt bist du alleine Riddo, aber bald gehst du wieder zur Schule, du triffst neue Freunde. Du wirst sehen.“
Meine Mutter hielt mir in den Wochen, die ich zuhause in bakterieller Isolationshaft verbrachte, viele Vorträge dieser Art und bediente sich dafür ihres kompletten Repertoires. Sie erklärte mir, weshalb ich aus dieser dümmlichen Geschichte einiges würde lernen können und wie mir das nütze. Sie sagte, dass Jenny ein nettes Mädchen sei, aber ihre Familie; und in Anbetracht derer auch noch ihre eigene Trunkenheit; unter unserem Niveau. Aus der Distanz, schon in wenigen Wochen vielleicht, werde nicht viel übrig bleiben von dieser kleinen Episode, betonte sie wieder und wieder. Um mir begreifbar zu machen, wovon sie sprach, erzählte sie mir Geschichten aus der griechischen Mythologie. Anhand von Penelopes Freiern machte sie mir deutlich, dass ich zu jung sei für derlei Schwärmerei von der Einen, für das lebenslange Warten. Sie zitierte Epikur.
„Ein einziger Grundsatz wird dir Mut geben, nämlich der Grundsatz, dass kein Übel ewig währt, ja nicht einmal sehr lange dauern kann.“
Die Hoffnung auf eine Rückkehr von Jenny gab ich mehr und mehr auf. Da ich während meiner Abwesenheit einiges in der Schule verpasste, begann ich, als ich wieder aufstehen konnte, überdurchschnittlich viel zu lernen. Als ich schließlich ganz gesund war, machte ich wieder viel Sport und lief wieder. Am Ende meiner Beziehung zu Jenny hatte ich das völlig vernachlässigt. Selbst in Fächern, die ich eigentlich nicht besonders gern mochte, engagierte ich mich. Mein Notendurchschnitt verbesserte sich mehr und mehr, vor allem, weil ich mich zwang, mich auch mündlich zu beteiligen. Jenny machte es mir leicht, dass ich dem Glauben schenkte, was meine Mutter mir eingetrichtert hatte. Sie schien auch mir schließlich unter Niveau. Wenn ich sie irgendwo in der Schule traf, merkte ich, dass sie sich von der einen Sekunde auf die nächste anders verhielt. Sie lachte lauter oder machte auffälligere Bewegungen, wenn sie mich sah. Ich ging ihr aus dem Weg, da ich dieses merkwürdige Verhalten nicht ertragen konnte.
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