Читать книгу Sieben Sinne. Der Roman aus der Frauenbewegung - Bente Clod - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеMirjam schnallte sich an. Die braunen Pakete mit den Büchern standen auf dem Rücksitz. Plastikbecher, Weinflaschen und Blumensträuße lagen im Auto auf dem Boden.
Sie schaute Anne von der Seite an. – Kommst du mit zurück und bleibst du heute Nacht bei mir?
– Wenn du willst ... Anne steckte den Schlüssel ins Zündschloß. (Anne mit dem Halstuch aus Baumwolle und dem Herzen aus Gold. Anne vor dem Fernseher, vor dem Bücherregal, vor mir ...)
– Klar will ich, antwortete Mirjam und fuhr ein bißchen zu schnell fort: – Wir werden sehen. Ich schmücke den Raum und du verkaufst das Bier. Das Plakat, daß wir die Getränke nicht gratis ausschenken können –
– ist geschrieben. Lone und Charlotte schleppen wohl gerade das Bier ins Cafe. Sie kümmern sich auch um die Bücher, falls jemand etwas kaufen will oder Fragen hat.
– Und Jette und Ase reden mit der Presse. Ich halte mich da ganz raus –
– Wenn du kannst, ja. Du mußt ihnen helfen, wenn sie nervös werden.
– Was ist mit dem Mikrofon für Ida?
Sie schauten sich an und dann aus dem Fenster.
– Sie hätte wohl etwas gesagt, wenn es nötig gewesen wäre, jammerte Mirjam.
– Das Cafe ist nicht so groß. Es wird schon klappen. Anne schlang optimistisch ihr Tuch ein weiteres Mal um den Hals:
– Hast du deine Gedanken im Griff, Jammer? Hast du deine Zehen gezählt?
– Ja?
Sie drehte die Scheibe herunter und ließ das Auto an: – Wir haben es geschafft! Jesus, Maria und Thit Jensena, wir werden heute die Obermütter!
Das ist das erste Mal, daß eine Kleingruppe ein Buch in dieser Art herausbringt – Ihr beschreibt mit Hilfe von Gedichten, Fotos und Auszügen aus Tonbandprotokollen, was im letzten Jahr zwischen Euch passiert ist. Was wollt Ihr damit sagen? Der Journalist vom Radio streckte Mirjam das Mikrofon hin, die den Mund zusammenkniff und es mit einem Nicken an Jette zurückgab. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, bis Jette sich an den Gedanken gewöhnt hatte, vor der Presse etwas zu sagen. Sie sollte es jetzt auch tun!
Jette erzählte von dem Bedürfnis, weiterzugeben, worüber in einer solchen Kleingruppe geredet wird und von der Frauenzeitung, die die Gruppe ins Leben rufen will, wenn von dem Buch Geld übrig bleibt. Sie redete schnell und atemlos und setzte mit einem finsteren Blick das Bierglas an den Mund: von mir kommt nichts mehr!
– Es ist auch das erste Mal, daß der Begriff Selbstver- äh – Selbst-
– Selbsthilfe, das heißt Selbstuntersuchung der Scheide.
– Ja, es ist also das erste Mal, daß der Begriff Selbsthilfe genauer in Wort und Bild erklärt wird. Habt ihr nicht irgendwie das Gefühl, daß Ihr Euch selbst ausstellt – und habt ihr denn keine Angst, daß der Frauenkampf sozusagen im Unterleib enden wird?!
Mirjam schubste Ase liebevoll an, die ihre Brille ein bißchen weiter nach oben schob und den Mund aufmachte. Es kam nicht ein Ton. Sie trank einen Schluck von Jettes Bier und antwortete dann so freundlich und gründlich, wie nur Ase das konnte, daß sie nichts Falsches darin sehen könnte, die eigene Gebärmutter abzubilden und daß der Frauenkampf nirgendwo zu Ende wäre, den hätte es immer gegeben und würde es auch weiterhin geben. Sie schob wieder die Brille hoch und stellte fest, daß sie Mirjams Hand streichelte. – ein ganzes Jahr! rief sie aus, – daß das Buch nach all dieser Zeit erschienen ist!
Der Journalist reichte erheitert das Mikrofon weiter:
– Mirjam Agard, du bist die einzige in der Gruppe, die einen ”bekannten Namen“ hat und schon Schriftstellerin ist. Dein Roman Sprünge ist bekannt, und viele Frauen haben ihn gelesen. Glaubst Du, daß Euer Buch die gleichen Chancen hätte, wenn Du nicht mit dabei gewesen wärst?
Die Luft war zum Schneiden vor Einverständnis. Mirjam fing an zu schwitzen. Ase explodierte:
– Wir haben eine Menge Energie darauf verwendet, klarzumachen, daß wir eine Gruppe sind, die zusammen arbeitet, und es geht uns verdammt auf den Geist, daß Mirjam immer wieder hervorgehoben wird. Dieser ewige Personenkult ist eine Krankheit. Wir haben uns alle sieben zu diesem Buch durchgeredet, -geschrieben und -geschuftet. Jane, die heute nicht dabei sein kann, weil ihr Sohn krank ist, hat die Bänder abgeschrieben, Lone da drüben hat die politische Analyse geschrieben, ich habe fotografiert, Charlotte hat das Layout gemacht, meine Mutter hat Korrektur gelesen, wir haben alle zusammen unsere Worte, Ansichten und unser Herzblut in das Buch ’Sieben Sinne‘ eingebracht!
Mirjam legte den Arm um Ase und streichelte sie. Der Journalist bedankte sich und zog ab. Sie empfand eine große Zärtlichkeit für Ase. Trotz ihrer Fähigkeiten, sich durch Sitzungen und Referate zu hetzen – um hinterher jammernd ihre verlorenen Gefühle zu suchen – trotz ihrer unvorhersehbaren Ausbrüche und Meinungen: Ase war Ase war Ase.
Die Stimmung im Buchcafé Kvindfolk war dicht. Es bewährte sich, hinter einer improvisierten Theke Bier und Wein zu verkaufen, statt jedem ein halbes Glas Sherry zu reichen. Die Leute unterhielten sich so angeregt, daß der ganze kleine Laden summte. Mirjam betrachtete Lone, die in ihrer apfelgrünen Tunika dastand und die Arme um ihre Tochter und ihren Sohn gelegt hatte. Sie war richtig in ihrem Element. Sie genoß es offensichtlich, ihre erwachsenen Kinder in ihre neue Welt einladen zu können, sie redete und zeigte und holte noch ein goldbraunes Gesundheitsbrot aus ihrer Tasche.
Jette und Franz standen an der Wand und hatten Jonas auf dem Arm. Wußte er etwas? War es Jette gelungen, mit ihm über den Entschluß zu reden, den Entschluß, den sie letzte Nacht gefaßt hatte, nach langen Jahren des Überlegens, mitten im Einpacken und Verschicken: daß sie sich trennen will und eine Zeitlang alleine wohnen will?
Anne war vollauf mit dem Bierverkauf beschäftigt. Charlotte hielt sich an den Büchertisch. Sie hatte zur Feier des Tages einen neuen Hosenanzug an, der ihr gut stand. Sie hätte am liebsten die ganze Zeit das Buch im Arm gehalten. Daß sie das erleben würde, zusammen mit Charlie ein Buch herauszugeben! Mirjam schloß die Augen, einen Moment lang drehte sich alles. Die letzten Monate mit den Tonbandaufnahmen, dem Fotografieren, Lay-outen, die Diskussionen, wie sie ihr Buch herausgeben wollten: das Drucken, der Vertrieb, die Pressemitteilungen – das war ein solcher Streß, daß man fast nicht glauben konnte, daß es jetzt vorbei war.
Ida machte Anstalten zu singen, es zeigte sich, daß alle sie hören konnten. Sie schüttelte die Locken aus dem Gesicht. Die runde Metallbrille glänzte im Licht, und die schwarzen Chinaschuhe Größe 36 standen fest auf dem Tisch des Frauencafes. Sie fing mit einem bekannten Frauenlied in neuem Arrangement an. Der Beifall war mehr als wohlwollend, ihre eigene Begeisterung darüber, zu singen und zu spielen, brachte den Raum zum Vibrieren.
Sie sang einige der Gedichte aus dem Buch, die sie vertont hatte. Alle hörten aufmerksam zu. Das eine war von Jette, sie hatte es in einer finsteren Nacht geschrieben, als sie zum 117. Mal darüber nachdachte, ob sie in Noras Fußstapfen treten sollte oder nicht. Nach dem Lied war es einen Moment lang still, und Mirjam schielte zu Franz hinüber. Dann ging Ida über zu einer fröhlichen irischen Ballade, von dem Mädchen, das vor dem Altar nein sagte. Die Leute lachten und klatschten, die Fotografen knipsten wie wild: ”sie ist eine echte Entdekkung!“. Mirjam dachte berauscht an ihre Inselfrauen, einen Moment lang schwebte sie ganz hoch oben und sah ihre Insel aus der Vogelperspektive mit Tante Adas kleinem Haus und der Schafherde in der Bucht. So würde es auf ihrer Insel sein, wenn sie Feste feierten, genau diese chaotische Freude über etwas, was gelungen ist. Sie suchte Anne und entdeckte sie, sie hatte den Arm um Sonya gelegt.
Anne. Buchprüfer-Anne, ich-schaffe-es-schon-Anne, Fünfundfünfzig-Kilo-Anne mit einem rotblonden Zopf auf dem Rücken. Anne, Anne. In ihrer Wohnung am Vodroffsvej, an einem Herbsttag im Park, mit Regen im Haar, an einem Frühlingstag im Sommerhaus hinter Abrechnungen. Anne und Sonya acht Jahre lang, Anne und Sonya und der Scheidungshund Vimmer, Anne und Mirjam seit fast zwei Jahren. Anne und Mirjam und die Sieben-Sinne-Gruppe. Anne, die letzte Woche vierundvierzig geworden ist, Anne, die von allen gemocht wird und alle mag. Ohne Hintergedanken oder Probleme, ohne –
Mirjam verspürte plötzlich ein ungeheures Bedürfnis, von hier zu verschwinden. So viel war in der letzten Zeit übergangen worden, so viel zwischen ihr und Anne war nicht gründlich geklärt worden. Genau zehn Minuten lang versuchte sie, sich zu beherrschen, aber es half nichts. Sie zog ihren Arm aus Ases und schlängelte sich zu Anne durch.
– Ich geh ein bißchen weg.
– Jetzt?
– ... Who knows more about your story
about your struggles in the world
who cares more to bless your weary shoulders
if not
the woman in your life ... sang Ida.
– Ich bin bald wieder zurück, flüsterte Mirjam. – Zum Aufräumen bin ich wieder da. Sie drängte sich durch die Menge vor Ida, machte so leise wie möglich die Tür auf und lief los.
Sie saß schließlich auf einer Bank auf dem Ratshausplatz. Es hatte ein bißchen geregnet, der September war bald vorbei, die ersten gelben Blätter lagen in den Wasserpfützen.
Anne Seidenhaar. Anne SuperCarla.
Irgendetwas stimmte nicht. Schon lange.
Vor zwei Jahren begann die Kleingruppe Sieben Sinne. Ursprünglich waren es sieben Frauen, die miteinander über ihre Sexualität reden wollten. Nach den ersten Sitzungen war die Gruppe für ein Wochenende in Annes Sommerhaus gefahren, um sich besser kennenzulernen.
Mirjam und Anne haben bei dieser Gelegenheit die anderen nicht sehr gut kennengelernt, dafür aber einander. Sie machten einen Abendspaziergang.
Anne! Der Maiabend war warm und still. Wir gingen in dem sumpfigen Gelände am Meer entlang, und auch in mir war es warm und still. Wie der Schierling, durch den wir stapften, leuchtete die Schleife in deinem Zopf wie ein Freudenpunkt im Dunkeln. Das Schilf stand so dicht, daß wir das Wasser nur flüchtig sehen konnten. Die Gefühle waren so unter der Haut angestaut, daß wir uns nur flüchtig ansahen. Ich spürte, wie du schon einen Faden um mein Herz gesponnen und die Farben des Abends um uns zusammengezogen hattest. Du gingst vor, sorgfältig darauf achtend, wohin du die Füße setztest. Ich konnte dir nur folgen.
Ich bilde mir ein, daß um deinen ganzen hellbraunen Körper in dem allten Pullover eine spezielle Aura war, eine Aura, die die ganze Welt versprach; aber es war wohl mein eigener Blutdruck, der wie in Wellen durch meinen Körper strömte. Wir gingen auf jeden Fall weiter, in einen anderen Zustand hinein, und waren uns plötzlich darüber klar, daß es mehr war als ein Abendspaziergang am Meer, es war eine Reise in einander hinein, die lange dauern würde. Unsere Gefühle waren der Kompaß, an das Ziel wagten wir nicht zu denken, es war zu nahe. Du und ich. Schilf und Schierling. Die Welt schlief (oder hielt sie den Atem an?), und wir konnten auf der Erde gehen, ohne müde zu werden.
Es war dunstig. Es war mondhell. Es war alles so, wie es sein sollte. Und wir hatten es nicht eilig.
Wir kamen über eine Wiese, auf der die Kühe wie dunkle Bauklötze auf einem Spielzeugplatz umherliefen und mit den Zungen Gras abrissen. Sie blieben stehen und unterbrachen ihren Verdauungsprozeß für einen Moment, und ich dachte, daß diese dunkelbraunen, süß riechenden Kühe mit den Araberaugen die schönsten Zeuginnen waren, die wir für das, was gleich geschehen würde, finden konnten. Du gingst, fest verankert in deinem Körper, und ich bemühte mich, nicht so Hals über Kopf auf dich zu fallen, wie ich innerlich schon gefallen war.
Ich gebe gerne zu, ich dachte an deine Brüste und hatte es ein bißchen sehr eilig mit ihnen. Es stand in der Nacht geschrieben, daß jede, die sie kennenlernen würde, ein besserer Mensch werden würde. Kann sein, daß meine Gedanken in dieser Richtung schuld daran waren, daß ich ein paar Mal daneben trat. Auf jeden Fall fielen wir uns zu Tode erschrocken in die Arme, als ein Vogel lärmend aus dem Schilf aufflog und riefen wie aus einem Mund: – Nein schau doch! Ein Vogel!!
Man braucht keine Kuh zu sein, um zu wissen, was danach geschah.
Doch wir fanden eine trockene Stelle.
Das Gelände neigte sich zum Meer hinunter, ein bißchen weiter oben stand eine Hecke aus alten Weißdornsträuchern und schrie mit ihren weißen Blüten in die Sommernacht. Halb fielen, halb trugen wir uns gegenseitig da hinauf. Es gibt nichts Komischeres als zwei erwachsene Menschen, die vor lauter Ungeduld fast nicht auf den Beinen stehen können, aber wir lachten überhaupt nicht. Wir legten uns zwischen die Stämme. Draußen über der Bucht strichen die Vögel dicht über das Wasser. Ihre Schreie vermischten sich mit dem Dunkel gegen deine Haut, die Laute schmolzen mit deinem Haar zusammen.
Du warst keine Frau, in die man hinein- und hinabsinkt, du warst Willen und Muskeln, Stärke und Puls.
– Du bist so weich, hast du ein bißchen später geflüstert. – Warm und weich. Wie eine offene Wunde.
So etwas darf man nicht zu einer Dichterin sagen, wenn man sie schnell wieder loswerden will.
Vielleicht ist die Art und Weise, wie wir uns in dieser Welt aufhalten, unsere politischste Handlung. Wir können reden, uns entwickeln, eine Meinung haben und weitermachen. Aber wenn es darum geht, andere zu beeinflussen, dann glaube ich an nicht viel anderes als an Taten. Lebensweisen. Beispiele. Etwas zu machen, was ein bißchen anders ist als das, was die anderen jeden Tag machen. Deine Bemerkung über Wärme und Wunde liegt über unserer ersten Zeit. Du sagst selten so etwas, gibst den Gefühlen sonst keine Worte. Du fühlst. Redest nicht davon, was gemacht werden müßte, du machst es. Du bist. Du sagst, meinst, tust. Das ist deine Stärke, das bist du.
Wenn ich nachts am Schreibtisch sitze, schläfst du. Wozu ist die Nacht auch sonst da?
Ich bin so froh, daß ich dich zu einem Zeitpunkt getroffen habe, wo ich angefangen hatte, zu meinen Gefühlen zu stehen, anstatt vor ihnen davonzulaufen. Zu einem Zeitpunkt, wo keine von uns in eine andere Beziehung verwickelt war oder Mutter von drei Kindern oder auf dem Weg nach China. Ich bin so froh, daß ich dich getroffen habe, bevor ich allzu kleinlich wurde und nachdem ich endlich aufgehört hatte, über sexuelle Techniken zu spekulieren, aufgehört hatte, darüber nachzudenken, ob mein Partner richtig oder falsch ist, Frau oder nicht, feucht oder nicht. Ich bin so froh, daß ich dich dort am Meer getroffen habe, ohne jeden Anspruch was, warum und wie Liebe sein soll.
Wir lagen fast die ganze Nacht unter dem Weißdorn. Du hattest zu viel Obst gegessen und mußtest ein paar Mal in die Büsche. Ich lag auf dem Rücken und schaute die bleichen Sterne an, die versuchten, das helle Himmelszelt der Mainacht zu durchbrechen und mit den Nadelstichen im Schoß zu konkurrieren.
– Der Weg zwischen deinem Po und deinem Mund ist einfach zu kurz, murmelte ich träge und spürte deine Haut genau unter den Nackenhaaren auf den Lippen prickeln. In Griechenland, wo wir später in jenem Sommer einen Monat lang Mund an Mund umherschwebten, hingen die Sterne niedrig und schwer am Himmel über dem Meer von Liebe, in dem wir jede Nacht schwammen. Hier wurden sie blasser, während wir zwischen den Stämmen lagen, die Hände um einen pochenden Schoß.
Wir gingen zum Sommerhaus und zu den anderen zurück. Ich mußte dich die ganze Zeit heimlich anschauen. Die Seevögel schrien erstaunt über unseren Köpfen, niemand hatte sie auf Wunder vorbereitet. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich es anstellen könnte, ein Stückchen von diesem Glück zu bewahren. Ich bin sicher, daß du nicht einen einzigen Gedanken im Kopf hattest. Leer und ruhig gingst du den anderen in deinem neuen Zustand entgegen.
Vom Mittelmeer in den himmelblauen 2 CV mit dem Frauenzeichen auf der Rückklappe, hoch durch den Peloponnes in ein staubiges Athen. Weiter hoch durch Europa und nach Hause. Zurück in Kopenhagen und Wohnungen anschauen. Du wohntest nach dem Bruch der acht Jahre langen Beziehung zu Sonya immer noch übergangsweise zur Untermiete. Meine kleine Wohnung in Norrebro war zu eng. Ich vermietete sie weiter. Zwei Monate später hatten wir uns in einer geräumigen Eigentumswohnung in Söerne eingerichtet – die, die jetzt das Musikkollektiv ist.
Wir schwebten. Wir wußten sehr wohl, daß jede Zweierbeziehung dazu verdammt ist, zu Ende zu gehen, aber hat das jemals liebende Paare abgeschreckt?
Was mich betrifft, so war es schon so oft passiert, ich hatte keine Illusionen, ich ging immer nur vorwärts der Nase nach, nicht dem Verstand nach. Für dich war die Trennung von Sonya die Katastrophe, die die Regel bestätigt – und im übrigen wurde die Katastrophe im nachhinein immer weniger schlimm, je mehr du und Sonya die Freundschaft festigten und ihr euch gegenseitig Pole der Geborgenheit wurdet.
Zusammen ein Haus kaufen – und sterben.
Ich wußte es ja, ich hätte es verhindern sollen. Unerklärliche Stimmungen, plötzliche Hiebe, nervöses Lachen. Ich weinte. Ich machte mir nichts daraus. Wir liebten uns ja. War an einem Sonntag müde und erschöpft. Stand in der Küche und schaute das abgelaugte Holz an und haßte die Korkwand zutiefst.
Sonst ging es gut. Ich dachte immer wieder, wenn wir nur wieder nach Griechenland fahren und Kräfte sammeln könnten, dann hätten wir die überschüssige Energie um allen möglichen Großstadtstreß zu ertragen, wenn wir nur –
Aber wir kamen nie wieder in die samtenen Nächte des Ägäischen Meers.
Die Gespräche in der Gruppe liefen gut, die Gruppe bekam einen Namen. In den Sieben Sinnen lernten wir unsere inneren Farben kennen. Die Idee mit dem Buch entstand im Oktober letzten Jahres, im November stellten wir das Tonband an. Es schärfte die Aufmerksamkeit, zu wissen, daß die Gespräche vielleicht abgeschrieben und gedruckt werden würden, wir diskutierten genauer und gingen mehr in die Tiefe. Jettes erstes Gespräch mit Franz über ihre Beziehung hatte zur Folge, daß sie wieder mehr schrieb. Sie brachte eine ihrer Einseitengeschichten mit und las sie vor. Sie hatte noch nie jemandem erzählt, daß sie schrieb, noch nie jemandem etwas gezeigt. Ase lernte Ole kennen und kaufte sich eine neue Kamera, die für Nahaufnahmen geeignet war. Jane verlor das Sorgerecht für ihre Tochter nach einem langen und aufreibenden Rechtsstreit, in dem die Tatsache, daß sie in einer Wohngemeinschaft wohnte, noch dazu ausschließlich mit Frauen, ein schwerwiegendes Argument gegen sie war. Hunderte von Frauen demonstrierten gegen diese versteckte Diskriminierung von Müttern, die von der herrschenden Norm abwichen.
Für mich gab es in diesem Winter gute Arbeitstage zu Hause an der Schreibmaschine. Gedichte wurden im Radio angenommen, Abende mit der Gruppe um das Tonbandgerät, Wochenenden in Annes Sommerhaus, Spaziergänge am Strand, am Weißdorngebüsch vorbei, bis ganz hinaus auf die Landspitze. Jette machte Zwischenprüfung in Spanisch und brachte im Januar 78 Jonas zur Welt, und Jane war bei der Geburt dabei, weil Franz im letzten Augenblick feststellte, daß er es nicht ohne bleibende Schäden überstehen würde. Allan war sehr stolz, daß er, – fast – der erste war, der den kleinen Schreihals sah und betrachtete Jonas als kleinen Bruder. Lone schrieb ihre Artikel mit dem Titel ”Die größte Kolonie der patriarchalischen Gesellschaft: der Unterleib der Frau“. Sie kam als etablierte Hausfrau nach langjähriger Ehe und mit Kindern, die gerade von zu Hause ausgezogen waren, nur zögernd mit in die Gruppe. Zwei Monate später war sie in der schlimmsten Krise ihres Lebens, als ihr Mann mit der Sekretärin verschwand und innerhalb von zwei Wochen ihr 23-jähriges Zusammensein aufkündigte. Ihre Artikel hatten Verlegenheit und Widerwillen bei ihm ausgelöst und nicht Respekt, wie sie geglaubt hatte. Charlotte fing allmählich wieder mit dem Schlittschuhlaufen an, nach mehreren Jahren Pause wegen des Knöchelbruchs und der Scheidung. Es war schön, mit Charlie zusammen zu arbeiten, ich hatte sie nicht oft gesehen, seit ich aus der Ausstellungsgruppe herausgegangen war. Die anderen in den Sieben Sinnen verehrten sie; genau wie in der Ausstellungsgruppe wurde sei eine Art Maskottchen: Charlotte konnte alle froh machen, alle konnten sie froh machen. Auf jeden Fall konnte niemand es ertragen, wenn sie traurig war.
Anne und ich, wir schnurrten. Es war schwer, Worte für all das Schöne zu finden. Wir sind geübter darin, die Sehnsucht zu beschreiben, die Krise, die schmerzvermischte Freude. Mitten in der dunkelsten Jahreszeit hatten wir eine sehr helle Periode. Wir hatten einen Überschuß an Kraft, auch wenn wir müde waren, Energie, auch wenn wir viel zu tun hatten. Ich schämte mich fast, daß es mir so gut ging: Ein verliebter Partisan ist ein ungefährlicher Partisan! Oder –?
Die Liebe zu Anne war vor allem eine Liebe, die möglich war. Nicht wie die Kindheitsfreundinnen, die verschwanden, nicht auf tönernen Füßen wie das Verliebtsein in Svend, nicht von vornherein in der Mitte durchgeschnitten wie die Beziehung zu Charlotte. Ein ganzes Leben, in dem Arbeit, Liebe, politisches Engagement zusammenschmolzen. Wir zählten jeden Morgen unsere Zehen, aßen unsere Omlette Italiano, gingen arbeiten, telefonierten jeden Tag zwischen dem Steuerberatungsbüro und der Abteilung Schreibwerkstatt zu Hause, vergaßen Geldsorgen und andere Anforderungen von außen, schnurrten.
Dann kam Annes hektischste Zeit, wo sie Tag und Nacht über Jahresausgleichen und Steuererklärungen saß und ganz allmählich gab es wieder Krach, der scheinbar aus dem reinen Nichts entstand. Ich wußte, daß es einen Grund geben mußte, ich konnte ihn nur nicht finden. Ich wurde unruhig, rastlos. Zog das Schreiben ihrer Gesellschaft vor, obwohl sie nicht viel zu Hause war. Je mehr ich schrieb, desto unsicherer wurde sie. Drückte sich an mich und machte sich klein. Und ich explodierte lautlos, denn ich hatte mich in ihre Stärke verliebt, daß sie unerschütterlich war, nicht aus dem inneren Gleichgewicht zu bringen. Ihre Integrität brach plötzlich zusammen. Nichts konnte Anne, den Felsen, aus der Fassung bringen. Nichts außer mir.
Gleichzeitig war Anne alles, was weiblich ist: ”Ich gebe nach, ich mache mich klein und weich – dann gibst du mir schon das, was ich als Gegenleistung haben will.“ Niemand, der sie kannte, wollte glauben, daß sie ganz einfach alles vergessen konnte, woran sie sich nicht erinnern wollte. Sie war nachgiebig und passiv-leidenschaftlich und so ehrlich und aufrichtig, daß ich mir oft wie ein Fehler in ihren Berechnungen vorkam.
Meine vorsichtigen Liebeserklärungen hinterließen eine Stille, die keine von uns durchdringen konnte. Alles konnte ich ihr geben, nur die entscheidenden Beweise nicht. Mein Körper petzte. Seine nicht vorhandenen Absonderungen und der ruhige Atem standen im krassen Gegensatz zu den Worten, Händen, der Liebe zwischen uns. Alles konnte ich ihr geben, nur meinen eigenen kleinen Tod nicht. Als sie im Frühjahr anfing, von anderen Frauen zu sprechen, glaubten wir beide nicht so recht daran.
Geschenke, die keine Geschenke waren. Ablaßbriefe anstelle von Auskünften. Hände, die ins Leere griffen, Füße so schwer wie Marmor. Lächeln, das erstarb, bevor es ankam, Silberfäden zwischen uns, die schmolzen und als Schnur zu Boden fielen.
In Wirklichkeit ging es auch um den inneren Anlauf zum nächsten Roman, aber das wußten wir nicht, am allerwenigsten ich. Das Inselbuch war zu diesem Zeitpunkt ein unüberschaubares Projekt. Es war nicht möglich, zu wissen was eigentlich was war. Wir liebten uns. Wir konnten nur nicht –
Irgendwann wurde ich ungerecht kritisch. Fand plötzlich, daß Anne eine Kopie ihres Vaters war. Ein Wolf im Schafspelz: Sie ging genauso schweigsam durchs Leben, ohne zu sagen, was sie meinte und dachte, obwohl sie es sehr wohl wußte. Sie ”handelte“, ja danke. Genauso schweigsam arrangierte sie das Leben um sich herum, so wie es ihr paßte, ohne andere um Rat zu fragen, ohne wirklich Rücksicht zu nehmen. Sie war in den letzten beiden Jahren, in denen sie zusammenwohnten, hart gegen Sonya gewesen, wirklich hart –
Anne stand jeden Morgen auf, ging zur Arbeit, kam abends nach Hause und saß über ihren Steuererklärungen. Guckte ab und zu mal fern und ging ins Bett, ihr Gesicht wurde jeden Tag ein bißchen grauer. Sie besuchte ihre Mutter und Sonya und ihre gemeinsamen Freunde, redete wie immer von ihnen. Ich wurde unsicher: war ich diejenige, die Gespenster sah, hatte nur ich ”Probleme“? Wenn ich nur gewußt hätte, wie sehr es sie berührte, ob es meine eigene kleine Spinnerei war oder eine gemeinsame Krise, wenn nur Anne selbst auch ein paar Gedanken formuliert hätte, wenn nur –
Ich fuhr eine Woche lang alleine nach Femö zum Vorbereitungslager. Es war richtig befreiend, sich mit schweren, nassen Zeltplanen herumzuplagen. Es passierte wenigstens etwas, als Jane und ich die Waschhütte zusammennagelten und sie für das siebente Jahr aufstellten.
Das Gemeinschaftszelt wurde aufgerichtet und das Stahlskelett des Essenszeltes zusammengeschraubt. Als ich da oben, Schulter an Schulter mit Jane, vier Meter über dem Gras hing, war ich plötzlich überzeugt davon, daß eine Gesellschaft wie die Inselgesellschaft Wirklichkeit werden konnte: Auf der Insel gäbe es ganz einfach keine Möglichkeit, in die großen Plenum-Uneinigkeiten zu geraten. Und Tante Adas Schafe würden die Frauen auch ganz schön in Trab halten! Sie wären dauernd gezwungen, die intellektuellen Prozesse zu unterbrechen, die so tödlich werden, wenn sie das übergeordnete Muster des Zusammenseins sind. Die Stadtgeseilschaft bot keine ausreichenden Möglichkeiten, vom Tisch loszukommen. Der Körper wurde vernachlässigt, während der Kopf überstrapaziert wurde. In fast allen Projekten, in denen ich in den letzten 2-3 Jahren war, setzte sich der trockene Staub der Gespräche im Hals fest. Während die letzten Planen des Gemeinschaftszeltes mit Schnur zusammengebunden wurden, wurden auch die verstreuten Gedanken und die Insel auf dem Boden des Bewußtseins zu einem soliden Flickenteppich zusammengenäht. Dann mußten nur noch ein paar Borten gehäkelt werden, ein paar neue Maschen, Farben, Muster und eine Kante drumherum.
Als ich nach Hause kam, war Anne eine Woche mit Sonya in Rom gewesen. Wir kamen uns mit offenen Armen und angehaltenem Atem entgegen.
Eine Woche später war alles wie zuvor.
Ich verschwand ein Wochenende, ohne zu sagen wohin.
Erst als Anne in einem Vakuum zurückgelassen wurde, begann sie, an ihrer Unsicherheit zu arbeiten. Sie war es nicht gewohnt, die Gefühle ans Licht zu holen, das bereitete ihr größte Qualen. Mit bohrenden Kopfschmerzen weinte und schrieb sie sich durch das Wochenende, machte in einer riesigen Kraftanstrengung den Versuch, sich ein paar Worte über sich selbst anzueignen und sie zu gebrauchen. Gegen ihren Willen und zu einer Zeit, in der die Tabus um die Liebe zwischen Frauen nicht mehr so stark waren, tastete sie sich schneeblind vorwärts und hatte das Tabu als einzigen Ausgangspunkt. Alles, was verschwiegen worden war, hatte ihre wortlosen Wege seit den fünfziger Jahren geformt, und keine Frauenbefreiung oder Geschlechtsrollendiskussion konnte dreißig Jahre später die Spuren der Kindheit in so kurzer Zeit verändern.
Als ich zurückkam, redeten wir eine ganze Nacht. Wir weinten, liebten uns, beschimpften uns ernsthaft – das hatten wir auch noch nie getan. Konfliktangst war überhaupt kein Ausdruck, es war die Unfähigkeit, sich die Scheiße überhaupt anzusehen. Ruhig, wie vernünftige Menschen, einigten wir uns schließlich darauf, auseinanderzuziehen. Das war ein Jahr nach der Nacht unter dem Weißdorn. Der Beschluß band uns zusammen und gab uns eine Menge praktischer Aufgaben, die gemeinsam gelöst werden mußten. Nicht daß es uns an praktischen Aufgaben gefehlt hätte: da waren die Sieben Sinne – wo es während unserer Fahrt über den Wolken gekracht hatte – da war die lesbische Literaturgruppe und eine Arbeitsgruppe für das neue Frauenhausb. Aber es war ein gutes Gefühl, etwas zu machen, eine physische Veränderung vorzunehmen. Wir sahen uns mehr denn je, nachdem ich in die Wohnung in Norrebro zurückgezogen war und Anne eine Wohnung am Vodroffsvej gefunden hatte.
Die anderen in der Gruppe atmeten erleichtert auf, als sie merkten, daß es dem ”Paar“ besser ging. In Wirklichkeit ging es uns nicht so sehr viel anders, wir hatten uns nur in Das Große Verschweigen gerettet. ”Wir sind auseinandergezogen, um die Beziehung zu retten.“ ”Wir ertragen es beide nicht, so nah aufeinanderzuhocken.“ ”Wir brauchen beide Platz, Spielraum.“
Niemand fragte, was zwischen dem Weißdorn-Wochenende und dem Angst-Wochenende geschehen war. Das Buch war geplant, und für das Abschreiben der Bänder ging fast der ganze Sommer drauf. Es war keine Zeit ...
Der Wind wehte die Blätter aus den Pfützen und gegen den Bürgersteig, wo sie nasse Streifen hinterließen. Mirjam fuhr zusammen, als die Rathausuhr über ihr sieben schlug. Sie fror, stand ganz steif vor Kälte auf und ging zum Buchcafe zurück. Es nieselte. Sie rannte, um warm zu werden.
Die anderen hatten gerade mit dem Aufräumen angefangen, als sie zurückkam. Die letzten Gäste saßen in einer Ecke und redeten. Ases Mutter saß mit Annes Mutter zusammen, sie waren fröhlich und ausgelassen und schauten Ases Fotos im Buch an. Da kam die Sehnsucht hoch, die den ganzen Nachmittag unter der Oberfläche gelegen hatte: Wenn doch ihre Mutter jetzt auch hier wäre! Sie leerte hektisch die Aschenbecher und schluckte die Tränen hinunter. Eine Frau aus der Gesundheitsgruppe und ein Fotograf waren hängengeblieben und tranken mit Jette und Franz die letzten Becher am Tresen. Lones Tochter und Sohn halfen eifrig mit, die selbstgebakkenen Brote und die Salate in Alufolie zu verpacken und in der großen Leinentasche zu verstauen, in der immer irgendwas aus ihrer Küche war. Sonya und Charlottes Exmann sammelten Flaschen ein. Vimmer hing abwechselnd an Annes oder Sonyas Fersen, äußerst zufrieden, weil seine beiden Frauchen sich ausnahmsweise einmal im gleichen Raum befanden. Anne kam mit einem Arm voller Plastikbecher auf sie zu. Mirjam küßte ihren forschenden Blick weg, und die Plastikbecher fielen mit großem Getöse auf den Boden. Jane wartete in ’Tantchens Gardinen‘ mit Brot und Käse auf sie, sie hatten ausgemacht, bei ihr zu essen und zu feiern, bis so gegen Mitternacht die ersten Zeitungen erschienen. Die Bücher sollten vorläufig in das Mädchenzimmer hinter der Küche, wo sie auch die letzten Wochen gearbeitet hatten, bis die Redaktionsräume über dem Musikkollektiv fertig waren. Es war ein richtiges Vergnügen, alles ins Auto zu verpacken und zu wissen, daß die Premiere überstanden war.
– Jane, Jane, du hättest Charlotte sehen sollen, als der Fotograf sie dazu bringen wollte, ihm das Foto von ihrer eigenen Gebärmutter zu zeigen!
– Sie waren ganz verrückt auf das Foto von deiner, Jane. Was ist schon eine Gebärmutter, die noch nie geboren hat, gegen eine, die die heilige Geburt schon zweimal vollbracht hat –
– Es ist ja auch mit das deutlichste Bild –
– ”Glauben Sie, daß Männer sich für das Thema, das das Buch behandelt, interessieren?“!
– ”Es kommen ja überhaupt keine Fachleute in dem Buch zu Wort“!
– Haben sie das gesagt?! Oh ja, gebt mir ein bißchen Wein! Jane stieß mit der freien Hand an. Die andere war für immer und ewig in Allans fieberheißer Hand verankert, der sie nicht einmal im Schlaf losließ. Sein Gesicht glühte. Wenn er ab und zu aufwachte, bestand er mit sehr kleiner Stimme darauf, daß seine Mutter und niemand sonst neben ihm am Bett war. Er hatte immer noch 39,8 Fieber, und der Arzt hatte gesagt, daß sie ihn bei der geringsten Verschlechterung anrufen solle.
– Stören wir ihn nicht?
Jane schaute den Jungen an. – Wir werden sehen, wie es geht.
Anne, Lone und Ase richteten das Brot und den Käse auf ein paar Tabletts in Janes großem Bett – es war der einzige Platz, wo sie alle zusammen sitzen konnten, solange Allans Bett hier drinnen stand. Mirjam ging hinunter und holte die letzten Sachen aus dem Auto. Draußen im Flur blieb sie stehen und schaute ins Wohnzimmer. Es war ungewöhnlich still. Else und Anne-Marie waren beim Matriarchatsseminar, Rune war übers Wochenende bei seinem Vater.
Diese große alte Wohnung hier im Alten Kongevej hatte Mirjam den Rahmen für die Inselgeschichte gegeben. Es war eine Wohnung aus der Jahrhundertwende: vom Flur aus ging eine Tür ins Wohnzimmer. Eine zweite Tür nach links führte in Janes Zimmer zur Straße, und ein langer Korridor führte am Eßzimmer entlang zur Küche und zum Mädchenzimmer, das sie bei den letzten Vorbereitungen des Buches als Arbeitszimmer benutzt hatten. Vom Flur aus gingen Türen zu den vier Zimmern, in denen Else (die die Wohnung von ihrer Mutter gekauft hatte) und Anne-Marie und ihr Sohn Rune wohnten. Elses Zwillingsschwester Eva lebte auch in der Wohngemeinschaft, wenn sie nicht bei ihrer Tante auf der Insel war und bei den Schafen half.
Vor kurzem war auch die Mutter der Zwillinge für immer auf die Insel gezogen. Sie war Ende sechzig und hatte bis vor ein paar Jahren Werken unterrichtet. Ein paar von ihren großen Ölgemälden hingen noch in der Wohnung und erinnerten an eine Zeit, in der der Begriff Wohngemeinschaft noch nicht existierte.
Mirjam schleppte die restlichen Buchpakete in das Mädchenzimmer und ließ sich daraufsinken. Die Spuren der letzten Tage waren auf dem Arbeitstisch ausgebreitet: Letrasetbögen, Klebestifte, Scheren, Papierschnipsel, Umschläge.
In diesem Zimmer hatte Elses und Evas Mutter eine Art Atelier gehabt. An der Wand hingen noch immer unfertige Skizzen. Mirjam blieb gedankenverloren vor einer Skizze stehen, die sie besonders gern mochte und die die Tante auf der Insel darstellen mußte Eine kleine, breite Gestalt in einem blauen Kittel und mit einem Tuch um den Kopf schüttete etwas aus einem Eimer in einen Futtertrog. Ein paar Schafe drängten sich um sie.
Sie hatte Else und Eva nicht sehr viel nach ihrer Mutter gefragt, wollte keine feste Vorstellung von der Frau haben, die ihre malende Sara werden sollte, wollte in Ruhe ihre eigene Vorstellung von Ada und Sara und den Töchtern auf der Insel entwickeln.
Aber ab und zu sagte Else etwas, was die Geschichte weitertrug: ”Meiner Tante gehört der größte Teil des Ackerlandes auf der Mölleinsel. Sie wohnt unten auf der Insel, woher sie selbst nicht stammt, und wo sie eigentlich nie richtig von den Bewohnern akzeptiert worden ist. Sie hat doch tatsächlich fünfundzwanzig Jahre mit einem Mann zusammengelebt, den sie nicht ausstehen konnte! Als er eines Tages die Treppe hinunterfiel und starb, blühte die Tante auf und genoß das Leben zusammen mit der Nachbarsfrau Maren, die ihnen ein Menschenalter lang zur Hand gegangen war. Sie legte in ihrem Testament fest, daß kein Mann Grund und Boden der Familie erben oder kaufen darf!
Dann starb Maren jetzt im Frühjahr. Meine Tante bekam über Nacht weiße Haare. Sie schrieb und bat um Hilfe. Eva ist sofort hingefahren und Mutter beschloß, mir diese Wohnung zu verkaufen und auch hinzuziehen.“
Mirjam sah die beiden Frauen vor sich: die Tante, deren Gesicht durch das Aufblühen der letzten Jahre milder geworden war und ihre Schwester, der der Wind in die dunklen Haare blies und die sich mit der Reparatur eines Zaunes für die Schafe abmühte –
– Hat jemand Mirjam gesehen?
Da war auch etwas, daß die Tante und der Inselschmied ungewöhnlich gute Freunde waren – bessere als es den anderen Inselbewohnern paßte. Sie sahen sich mehrmals am Tag, und der Schmied half immer, wenn Not am Mann war und hatte nach dem Tod des Mannes so allmählich die Instandhaltung des Hauses übernommen –
– Mirjam! Wir essen!
– Ist sie auf dem Klo?
Sie steckte ihre Insel in die Tasche und ging zu den anderen. Die Insel mußte warten. Sie hatte schon so lange gewartet. Aber von heute an hatte sie Zeit für Gitte und Kim, Sara und Ada. Sie war wild darauf, endlich anzufangen.
Allan war aufgewacht und schaute die Frauen auf Janes Bett mit verschleierten Augen an. Lones Spezialität, warme geräucherte Hähnchen, waren mit großem Genuß verspeist worden. Jetzt war allgemeines Verdauen. Lone, Jette und Anne deckten das Bett ab. Ase postete allen zu und schwang das Glas. Mirjam lag ausgestreckt in einem Sessel und beobachtete Charlotte, die Janes Pinnwand mit Fotos aus der Zeit bei einer Entwicklungshilfeorganisation studierte: kleine, schiefe Hütten in Indien, Wellblechbaracken aus den Slums von Mexiko. Auf einem Plakat hob eine sehnige, jüdische Frau triumphierend die Arme zum Himmel, auf einem Farbfoto war eine Chinesin mit Mao-Lächeln.
– Stellt euch vor, alle diese Frauen würden unser Buch lesen! Charlotte setzte sich ans Bett: – Wenn ich mir so anschaue, wie Allan im Bett liegt und es sich gemütlich macht, dann kriege ich so eine Lust, auch ein Kind zu sein. Sie kuschelte sich an Jane: – Du riechst so gut. Ich will dein Findelkind sein.
Die Müdigkeit verschwand für einen Augenblick aus Janes Gesicht: – Ich will gern deine Findelmutter sein. Mit Freuden.
Mirjam betrachtete sie neidisch: Jane in ihrem rostfarbenen Hosenanzug mit ungeahnten Mengen innerer Wärme. Charlotte mit dem permanenten Zärtlichkeitsmangel eines Kindes. Wenn sie doch nur auch ein so unkompliziertes Verhältnis zu Charlie hätte.
Es war nie leicht gewesen, Charlie in den Arm zu nehmen: in den ersten Jahren hatte sie viel zu viel Lust gehabt und zu viel Angst, mit dem Ehemann verglichen zu werden. Später war es dann zu schwierig, sie war in ihrer eigenen Ängstlichkeit gefangen. Aber am allermeisten war sie in ihrer Unsicherheit gefangen: sie waren viel mehr an die handgreiflichen Liebesbeweise der Männer gewöhnt, ihre eigenen Bedürfnisse waren wie ein vogelleichter Traum, der gerade dabei war, sich von der Erde zu lösen, damals vor fünf Jahren in Arhus –
Sie schaute Charlottes sommersprossiges Gesicht an. In ihrem Gesicht waren Farben und Andeutungen von gemeinsamen Erlebnissen, von Menschen, die sie kennengelernt hatten, Morgen, an denen sie zusammen aufgewacht sind, Abende, an denen sie sich getrennt haben. Charlotte trug immer noch den kleinen Silberschlittschuh um den Hals, den sie als Freundschaftsgeschenk gekauft hatte, für jede einen.
Mirjam schob die Gedanken beiseite, schüttelte Jette die Hand und verbeugte sich tief:
– Darf ich vorstellen: Unsere neue Pressereferentin Jette Anderesen! Die bislang so verbissene Gegnerin von Mikrofonen und Notizblöcken antwortete klug, schlagfertig und wohlformuliert auf die geistreichen Fragen der Presse –
Jette packte sie liebevoll am Hals, sie fielen rückwärts aufs Bett, die anderen brüllten, daß sie Kaffee wollten.
– Schade, daß du nicht in Form bist. Du bist unsere neue Pressereferentin!
– Das bin ich verdammt noch mal nicht! Ich mach das nie wieder, laß mich los, ich muß – ich muß mich übergeben –
Sie rannte aufs Klo hinaus. Mirjam hinterher.
– Was ist denn mit dir? Mirjam hielt ihr den Kopf und trat neben der Kloschüssel bekümmert von einem Fuß auf den anderen. – Bist du krank?
Jette war richtig grün im Gesicht.
– Ich fürchte – daß das keine – Krankheit ist, flüsterte sie.
– Meinst du – nein, das ist doch nicht dein Ernst! Doch nicht jetzt!
Zu Jettes Beschluß, sich zu trennen, hatte auch beigetragen, daß sie jetzt endlich das Buch schreiben wollte, das sie im Kopf hatte, seit sie siebzehn war.
– Nicht jetzt, wo du unsere Pressereferentin werden sollst.
Jette lächelte blaß. Sie gingen wieder zu den anderen, die gerade eine neue Flasche aufmachten. Ase stieß auf das Sieben-Sinne-Buch an, sie tranken in stummer Freude darüber, daß es gelungen und – überstanden war. Ase erhob sich und schwenkte wieder das Glas über ihren Köpfen.
– Ich habe eine Bekanntmachung, eine wichtige Mitteilung. Ich möchte gerne mitteilen – sie setzte sich mit einem Plumps:
– Daß ich es satt habe, nur noch mit Frauen, Frauen, Frauen umzugehen. Mit der Bettwärme sieht es verdammt schlecht aus! Seit ich in unserer Gruppe bin und im Frauen-Foto-Archiv und im Verlag, treffe ich ja nie mehr einen Menschen!
Sie brüllten vor Lachen. Lone schüttelte ihre stahlgraue Mähne.
– Und ich möchte die versammelten Frauenschaften fragen, wann sie das letzte Mal etwas für den besseren Teil des Körpers getan haben?! Wann findet Charlotte einen Liebsten, wie soll Jane ihre Bedürfnisse befriedigen, und wie oft bumst ihr beide!!
Mirjam und Anne wichen vor Ases Zeigefinger zurück.
– Hör jetzt auf, Ase. Laß deine sexuelle Frustration nicht an uns aus –
– Mutter! Was heißt denn Bedürfnis?
– Ich soll schön grüßen und sagen, daß ich die sensationelle feministische Entdeckung gemacht habe, daß ich mit dieser Situation nicht allein dastehe. Ich habe in der letzten Zeit immer ungehemmter über meine Neue-Männer-treffen-Probleme geredet, und ich finde Gehör, Schwestern! Die Frustrationen darüber, daß wir uns normale Möglichkeiten, Männer kennenzulernen, selbst beschneiden, brechen geradezu hervor. Der einzige Ort, wo ich Wesen männlichen Geschlechts treffe, sind idiotische Kneipen. Müssen wir wirklich zwischen dem Geschlechtsleben und Frauenaktivitäten wählen?
– Das eine braucht das andere ja nicht auszuschließen.
– Nee, eigentlich nicht. Aber es sieht ja so aus. Das ist ein heikles Thema, und ich finde, wir sollten uns damit befassen. Ich finde, es sollte der Ausgangspunkt für eine Diskussion in unserer Zeitung sein: ein Artikel über die Krise des Liebeslebens. Im Buch haben wir uns darauf beschränkt, die Vorgänge zu untersuchen, wie sie vom Körper erlebt werden. Jetzt sollten wir uns einmal damit beschäftigen, unter welchen Bedigungen Menschen sich heute begegnen und – ja, etwas mehr mit den verdammten Gefühlen!
Sie setzte sich, trank und fuhr etwas leiser fort: – Das, was ich eigentlich vorschlagen wollte, ist, daß wir mit unserer Monatszeitung anfangen, auch wenn wir noch nicht wissen, wie das Buch aufgenommen wird. Uns bei irgendwelchen Fonds bewerben und anfangen, auch wenn wir kein Geld haben, das kommt dann schon irgendwie. Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Und außerdem halte ich es nicht so arg lange ohne euch aus.
– Warum mußt du denn in alles Sex reinbringen?
– Hattest du nicht ”die Frauen satt“?
Mirjam fiel ihr um den Hals.
– Prima Idee! Machen wir!
Charlotte nahm nicht an der allgemeinen Begeisterung teil: – Mit gefällt das nicht, was du da über ”die Frauen satt haben“ gesagt hast. Und das, was du uns über unsere Sexualität anhängst. Wir sind hier in der Gruppe sowohl bisexuell als auch lesbisch, und die Frauenbewegung bietet uns eine der besten Möglichkeiten, ein ganzes Leben zu führen, mit und ohne Sex. Nein, mir gefällt das nicht. Hast du uns satt? Ich will das wissen.
Ase schüttelte den Kopf: – Was ich sagen wollte, ist – äh, wie soll ich sagen – nicht euch in den Sieben Sinnen habe ich satt. Aber – ja, wann warst du das letzte Mal mit jemanden im Bett? Und hast du längere sexuelle Beziehungen haben können und gleichzeitig aktiv in der Frauenbewegung sein können?
Sie starrte Charlotte an, die allmählich einen roten Kopf bekam und zu blinzeln anfing. Dann nahm sie sich zusammen:
– Die letzte ”längere sexuelle Beziehung“ war meine Ehe, in die ich mich bestimmt nicht zurücksehne. Aber in der ersten Zeit, wo ich in der Frauenbewegung war, kam ich auch mit ihm besser klar. Ich brachte eine Menge Dinge fertig, die ich nie ohne – sie schaute Mirjam an – ohne die Unterstützung der Ausstellungsgruppe geschafft hätte. Es geht mir wirklich gut, Ase, ich genieße es, daß ich das erste Mal im Leben ich selbst bin – das bedeutet mir mehr, als irgend jemanden zu finden, mit ich jede Nacht schlafen kann – und im übrigen bin ich verliebt ...
– Wirklich? In wen? Anne steckte neugierig den Kopf vor. Jane warf ihr einen Blick zu. Ase puhlte in der marokkanischen Decke:
– Vielleicht hat das was mit verschiedenen Phasen zu tun, murmelte sie. – Da war ich vor ein paar Jahren. Aber ich muß mir die Zärtlichkeit und die feuchten Küsse immer noch bei dem Unterdrücker holen, gegen den wir hier in der Gruppe kämpfen, rief sie außer sich. – Verstehst du, was es heißt, Freude daraus beziehen zu sollen, sich klein, hilflos zu machen, so richtig altmodisch Frau zu sein? Freude! Ich laß es, ich schieb es weg – und jeden Abend, in dem unvermeidlichen Moment, wo das Licht aus ist, und bevor der Schlaf endlich kommt, wächst die Sehnsucht und die Verzweiflung. Jede Nacht!
Sie saßen da und dachten nach.
– Seid ihr verrückt! es ist halb zwölf! Die Morgenzeitungen!
Vor drei Jahren, im Herbst 1976, hatte Mirjam allein am Kiosk am Rathausplatz gestanden und auf die Morgenzeitungen gewartet. In dieser Nacht, als sie dastand und die Rezensionen las und abwechselnd fluchte und jubelte, war sie danach durch die Straßen gelaufen und hatte gehofft, jemanden zu treffen, mit dem sie ihre Gedanken teilen könnte. Sie hatte sich auf eine Art einsam gefühlt wie noch nie zuvor. Ihr war klar geworden, daß es von nun an viele Bereiche in ihrem Inneren geben würde, wo niemand anders vorkommen konnte. Die Spitze des Eisbergs war das fertige Buch, die Kritiken, die Reaktionen der Medien auf das Ereignis. Der Berg unter der Wasseroberfläche war der Arbeitsprozeß, tausend Wörter auf dem Papier, Rückschläge und Erfolge.
Sie hatte schon ein halbes Jahr in ’Tantchens Gardinen‘ gewohnt. Aber niemand in der Wohngemeinschaft hatte Erfahrung mit dem Verlegen von Büchern. Ihre Brüder wohnten in Jylland. Der Vater in Birkerod und die Mutter, die in dieser Nacht in der alten Wohnung in Fredriksberg übernachtete, wollte sie am nächsten Tag besuchen kommen. Jane hatte sie schlafend im Kinderzimmer zurückgelassen, erschöpft von den letzten schlaflosen Nächten, in denen sie aufgeblieben waren und über den Sorgerechtsprozeß um ihre Tochter diskutiert hatten.
Und Charlotte.
Sie hatte gerade die Korrektur von Sprünge gelesen und war mit einem extra Korrekturexemplar im Arm atemlos zu ihr gekommen und hatte es Charlotte feierlich überreicht: – Wenn du dich beeilst, schaffst du es, der allererste Leser zu sein!
Charlotte hatte den Papierstapel ungeschickt entgegengenommen, mit dem gejagten Ausdruck, den Mirjam eigentlich hätte wiedererkennen müssen. Ihre Beziehung war in der schlimmsten Phase. Charlotte, die eine langsame Leserin war, hatte schon immer Schwierigkeiten gehabt, sich zu dem, was Mirjam schrieb, zu äußern. Nach ihrem letzten Konflikt war es ganz unmöglich geworden.
Einige Monate zuvor hatte Charlotte die Abschnitte gelesen, die von ihrem Kennenlernen und ihrer Freundschaft handelten. Ein letztes Mal war es Mirjam gelungen, Charlottes Verteidigungslinien zu durchbrechen, sie rief aufgeregt mitten in der Nacht an. – Du hast mir mein Ich zurückgegeben! Du zeigst mir, was ich kann, wer ich bin! Du darfst kein Wort an diesem Abschnitt ändern, er ist phantastisch!
Das war das ganze Buch wert, daß der Abschnitt über sie beide gelungen war. Ihre Freundschaft blühte kurz auf, was sie mit einem Kuchenfest feierten, das sehr abrupt zu Ende war, als Mirjam Charlotte fragte, ob sie nun endlich wüßte, ob sie sich von Jens trennen wolle oder nicht. Charlotte klappte zu wie eine Auster und machte die Schale nicht mehr auf. Charlotte wurde nicht die erste Leserin von Sprünge. Die Kopie lag unberührt in der Kommodenschublade.
– Gib mir die Zeitung! Jettes Stimme zitterte.
Anne riß ihr die Zeitung aus der Hand und lief zu einer Bank, dicht gefolgt von Mirjam und Jette: – Gebt her, die Mama liest euch vor –
– Wart, hier ist es: ”Sieben Sinne – tausend Sinne“ –
– Das ist schön. Gute Überschrift!
– Überschrift?
– Lies laut! Ich kann nicht warten, bis wir zurück sind. Jette war plötzlich ungeheuer entschlossen.
– ”Sieben Sinne – tausend Sinne“. Eine Kleingruppe macht ein Buch über die zwei Jahre ihres Zusammenseins, über den Zusammenhalt und die Enttäuschungen, über Orgasmen und Gebärmutteruntersuchungen. Die Gruppe erzählte gestern bei einem Empfang im Buchcafe Kvindfolk in Kopenhagen von den Ideen, die hinter dem Buch stecken: – Es gibt jede Menge Bücher von Männern über das Thema, die jahrelang von Frauen gelesen wurden, sagte Jette Andersen, 28 Jahre und verheiratet, Mutter von Jonas, ein Jahr“ – –
Jette schrak zusammen.
– ”Sollten wir denn nicht auch über spezielle Frauenthemen schreiben können. Es sollte die Männer interessieren, es sollte sie angehen, wie das aussieht, was sie sonst nur mit geschlossenen Augen erleben!“
Mirjam gab Jette einen aufmunternden Klaps.
– ”Außerdem war Ida Hove auf dem Empfang, und sie brachte mit ihren persönlichen Interpretationen der alten Kampflieder die Luft zum Vibrieren. Ida Hove ist besser denn Je –“ –
– Kommt, wir gehen zu den anderen zurück. Jette war immer noch still. Ihre alte Nervosität war wieder da.
– Es sieht gedruckt immer anders aus, versuchte Mirjam. Sie nickte.
– Ich muß Franz anrufen, ich muß es ihm erklären – und meinen Brüdern. Auch wenn sie genau wissen, daß ich über Mutter und Vater geschrieben habe, sie haben es ja gelesen –
Als sie wieder in Janes Zimmer waren, blätterten sie alle Zeitungen durch. Die Überschrift war fast das beste. In allen drei Artikeln über das Buch klangen vorsichtige Vorbehalte an, aber alle waren begeistert über Ida und den Empfang.
Die konservative Zeitung nannte das Buch ”einen ehrlich gemeinten Versuch“. Die kommunistische bezweifelte den Wert von Selbstuntersuchungen, unterstrich jedoch die Wichtigkeit von Gesprächen in Kleingruppen. In der intellektuellen Zeitung stand ein langer Artikel von einer Historikerin, die auf gute und leicht verständliche Weise die historischen Zusammenhänge von Menstruation, Geburt und Sexualität aufzeigte.
Jette kam erleichtert vom Telefon zurück: – Er war unheimlich lieb, sagte nichts, daß ich ihn geweckt habe und meinte, wir sollten morgen darüber reden.
Charlotte stand plötzlich mit zwei Sektflaschen im Arm in der Tür.
Die nächsten Minuten waren ein einziges großes Durcheinander von knallenden Sektkorken, untergehaltenen Gläsern und Schaum, der sich über das Ganze ergoß.
– Prost! Das macht genau acht Kronen für jede!
Es war eins, als Mirjam und Anne in Richtung Norrebro aufbrachen. Der Friedhof lag dunkel hinter der Mauer und bereitete sich auf den Frühling vor.
– Ich habe Hummeln im Hintern, murmelte Mirjam.
Anne zog die Handbremse an: – Ja, setz dich rein und schreib, wenn es das ist –
Sie trugen die restlichen Blumen und die Freiexemplare in die Wohnung hinauf. Beim Anblick des Schreibtisches bekam sie ein Ziehen im Bauch: Das war es es. Mirjam murmelte etwas, daß Anne recht hätte. Sie küßten sich leicht, bevor sie die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich zumachte.
Gestern, mitten in der Hektik beim Einpacken bestellter Bücher und der Verteilung der Arbeiten für den Empfang, hatten sich ein paar Gedanken in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein Insekt, das an der Windschutzscheibe eines Autos hängenbleibt. Sie kramte sie vor. Am Tag darauf ein Gedicht zu lesen, das ist ungefähr so, wie wenn man sich am Morgen nach einem Fest im Spiegel sieht, dachte sie. Es war nicht so leicht, wie sie es in Erinnerung hatte, die Empfindungen von Zeit und Raum waren nicht so stark wie beim Entstehen.
Sie sehnte sich nach neuen Dimensionen, sehnte sich weg. Weg aus einer Gesellschaft, in der Frauen wie Jette jahrelang in unhaltbarer Situation leben, weg von einer Presse, die immer das Sensationelle an einer Nachricht hervorheben muß. Noch ehe sie sich zu etwas entschlossen hatte, hatte sie das Romanmanuskript vor sich.
Um über die Frauen auf der Insel schreiben zu können, mußte sie sie in- und auswendig kennen. Sie mußte den ganzen Inhalt der Torte kennen, um später das kleine Stückchen, das vom Leser gegessen werden sollte, servieren zu können. Sie spannte Papier in die Maschine und versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob Anne schlief oder nicht:
”Gitte ist Psychiaterin. Sie hat gerade an einer psychiatrischen Abteilung angefangen, die für ihre Experimentierfreudigkeit bekannt ist, und sie arbeitet da seit ihrer Rückkehr aus den USA, also seit vier Monaten. Ich stelle mir vor, daß Gitte den Atomforscher geheiratet hat, weil sie weg wollte, reisen wollte, das klimatisierte Abenteuer erleben wollte. Es zeigte sich, daß ein Zusammenleben mit John nicht möglich war. Wenn der Arbeitsstreß zu groß wurde, trank er und prügelte sie. (Später wird er dann religiös und kündigt seine gute Stellung im Atomkraftwerk – und gibt den Frauen einige wichtige Informationen über eine Waffe, die gerade entwickelt wird und die bestimmte Rassen, bestimmte Gene, bestimmte Geschlechter vernichten kann ...)
Gitte war sechsundzwanzig, als sie mit ihrer Ausbildung fertig war und war knapp zwei Jahre mit John verheiratet, sie ist also ungefähr achtundzwanzig. Im Gegensatz zu ihrer Schwester ist sie robust, nüchtern. Sie hat sich hauptsächlich mit weiblichen Patienten beschäftigt, sowohl auf ihrem Spezialgebiet auch auch in der jetzigen Abteilung im Krankenhaus. Bücher wie ”Aufruhr oder Krankheit“, Laings Theorien, Phyllis Cheslers ”Frauen, das verrückte Geschlecht“, Gilmans ”Die gelbe Tapete“ über weibliche Schizophrenie als eine Reaktion auf die Frauenrolle haben sie sehr beschäftigt. Sie war eine der Gründerinnen der Beratungsstelle für ”Verrückte Frauen“ im Frauenzentrum, und sie besucht öfter die Frauen, die im Frauenhaus Rat und Hilfe suchen.
Ihre Schwester Kim ist ganz anders, sensibel und verletzlich. Es fällt ihr manchmal schwerer, mit ihrer täglichen Arbeit als Lehrerin zurechtzukommen, als Gitte mit ihrer vergleichsweise anstrengenderen Arbeit als Psychiaterin. Sie sind Zwillinge wie Else und Eva, und ihre Mutter Sara malt: eine der wenigen, die es geschafft haben, sowohl Mutter als auch Künstlerin zu sein.
Sara. Saras Geschichte ...“
Sie rieb sich die Augen.
Vielleicht waren Gitte und Kim so. Vielleicht auch nicht. Wer war sie überhaupt, daß sie das bestimmen konnte?!
Das Schreiben des Buches schien ihr plötzlich aus unendlichem Wählen-Müssen zu bestehen: sollte Kim auf der Insel sein, wenn das Buch anfing, sollte sie vielleicht doch ein bißchen jünger als die Schwester sein, sollte ihre Beziehung sehr naturalistisch geschildert werden, mit Fehlern und Mängeln, oder sollten die Konflikte in die Handlung um die Personen herum verwoben werden –
Alles drehte sich, ihr war schlecht vor Müdigkeit.
Selbstverständlich würde sie bestimmen. Wer sonst sollte denn die Beschlüsse fassen!
Sie schlich in den Flur hinaus.
Die Tür zum Schlafzimmer stand offen, Anne lag im Bett und las in ihrem Gute-Nacht-Buch, Alice im Wunderland. Sie war mit dem Vorschlag, ein Bier zu teilen, sofort einverstanden.
Mirjam putzte sich geräuschvoll die Zähne: erst hatte sie gesagt, daß Anne doch endlich einmal wieder bei ihr schlafen sollte; dann entschuldigte sie sich und verschwand und schrieb. Nach einer halben Stunde tauchte sie auf und brauchte sie. War Anne wach geblieben, weil sie geahnt hatte, daß sie kommen würde? Manchmal wußte Anne mehr über den Prozeß des Schreibens als sie selbst.
Sie kroch auf allen Vieren ins Schlafzimmer und steckte die Hand unter die Decke.
– Na sowas! Zehn dänische Frauenzehen!
– Iiiih! Hast du was geschrieben?
Mirjam biß in die zappelnden Zehen, holte dann das Bier und zog sich das Nachthemd über.
– Mumien, murmelte sie. – Die Schreibmaschine produziert bloß Mumien. Jedes Mal, wenn das Leben mich so richtig packt – wie heute abend – verliere ich die Lust, es zu beschreiben. Das Leben soll gelebt werden, nicht beschrieben werden –
Anne wackelte mit den Zehen: – Dann tus doch.
Anne Silberhaar. Trocken wie immer. Keine Halbheiten.
– Das klingt so einfach.
– Ich bin müde, Jammer.
– Beunruhigt es dich nicht, daß die Zeit einfach vergeht?
– Hör jetzt auf. Du bringst mich dazu, deinen Gedanken zu folgen, so daß ich ganz wirr werde und nicht schlafen kann! Ich denke im Moment sehr viel über die Zeit nach. Komm jetzt, wir schlafen. Und bevor wir schlafen, bekommen wir noch eine kleine Portion Alice und ein paar Schlucke Bier.
– Die Frauen auf der Insel leben das, wovon wir anderen seit Jahren bloß reden –
– Weißt du, was ich gerade gedacht habe? Daß sie eine kleine Emanze ist, diese Alice. Hör zu:
”Unter einem Baum vor dem Haus stand ein gedeckter Tisch, und der Hutmacher und der Schnapphase hatten sich schon daran niedergelassen und tranken Tee. Zwischen den beiden saß eine Siebenschläfermaus und schlief vor sich hin, während die beiden anderen sich mit den Ellenbogen auf sie aufstützten und sich über ihren Kopf weg unterhielten. ”Unbequem für die Siebenschläfermaus“, dachte Alice; ”aber da sie schläft, macht es ihr wahrscheinlich nichts aus.“ Der Tisch war schon eher eine Tafel, doch saßen alle drei eng zusammengedrängt in einer Ecke. ”Besetzt! Besetzt!“ riefen sie, als sie Alice nähertreten sahen. ”Von besetzt kann doch gar keine Rede sein!“ sagte Alice empört und setzte sich in einen großen Sessel am Ende des Tisches“ ...
Mirjam dachte darüber nach, ob es eine gute Idee war, Gitte aus der Ehe mit dem Atomforscher ein Kind haben zu lassen, um zu sehen, wie diese Aufgabe gelöst wird. Kim würde nie ein eigenes Kind haben wollen. Die vierzehnjährige Ricke aus ihrer siebten Klasse war fast wie ein Kind für sie, eine kleine Schwester –
– Du hörst ja überhaupt nicht zu!
– Doch, ich hör zu. ”Du mußt zum Friseur, sagte der Hutmann –“
– Der Hutmacher. Gute Nacht, Jammer.
Anne streichelte sie liebevoll und klappte das Buch zu. Sie legten sich zum Schlafen hin, Mirjam war wild entschlossen, ihre Inselfrauen zu vergessen.
Woher kam der Name Sara? Eine Sara war eine dunkle, üppige Frau mit einem kleinen Knoten und einem tiefen Lachen. Sie hatte das Gefühl, daß die ursprüngliche Sara irgendwo bei den besten Abenden ihrer Kindheit, wenn sie zu Hause Gäste hatten, zu finden sein könnte, aber sie grub nicht nach. Ließ es liegen, zufrieden damit, daß wenigstens der Name einer Hauptperson von Anfang an paßte. Sara war eine gute Urmutter für die Frauen auf der Insel.
Fünf Minuten später war sie im Arbeitszimmer und wühlte die Zeitungen aus dem untersten Regal hervor, sie hatte einen ganz bestimmten Artikel im Kopf.
”Vierzehnjährige verschwunden“ ... ”Biologiestudentin begeht Selbstmord“ ... da war es: ”Weiblicher Psychiater schickte Patienten auf Insellager.“ Sie mußte irgendwie mit dieser Psychiaterin in Kontakt kommen, das klang nach Gitte. Sie schnitt den Artikel aus und raste bei einem langgezogenen Schrei von der Straße unten zum Fenster. Letzte Woche war eine Frau unten im Hausgang überfallen worden.
Auf dem Bürgersteig standen zwei Katzen, gebuckelt vor Adrenalin, den Schwanz in der Luft. Die eine schrie noch einmal wie eine Frau in Lebensgefahr. Sie ging beruhigt hinaus und holte sich ein Bier, steckte die Arme in Annes dicken Frotteebademantel und setzte sich an die Maschine.
Irgendwie kam sie nach Hause. Kam aufs Fahrrad und erreichte das graue Betongebäude mit den Studentenzimmern im obersten Stock. Mit dem Aufzug hoch und den Gang entlang mit dem unwirklichen Gefühl, neben sich zu stehen. Erst als sie sich gegen die Tür warf und von innen zuschloß, wachte sie auf. Wie vom Blitz erhellt sah sie sich wieder im Hausgang stehen und den Lichtschalter suchen, hörte die Stimme genau hinter sich. – Du brauchst kein Licht anzumachen. Freundlich, fast liebevoll. Erst als sie sich umdrehte und seinen Gesichtsausdruck sah, wurde ihr klar, daß es keine Freundlichkeit war. Die Bewegungen, mit denen er nach ihr griff, waren fast zärtlich. – Ich tu dir nichts. Nicht, wenn du stillhältst. Du willst doch gern, komm. Ich tu dir nichts –
Alles, was sie im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, war weg, nur ein schwacher Impuls, nach Hilfe zu rufen, war irgendwo in ihrem Bewußtsein. Sie weigerte sich, zu glauben, daß es ein richtiger Uberfall war, wollte bloß weg, heim, ihr Fahrrad haben –
Dann reagierte sie. Der Schrei erschreckte sie beide. Als die Stille in den geschlossenen Hof durch den Schrei zerrissen wurde, schlug er ihren Kopf gegen die Wand und versuchte, ihr den Mund zuzuhalten. Sie warf den Kopf zur Seite, schlug planlos um sich, traf ihn wohl auch, schrie und schrie, schluchzte in die Dunkelheit, während tausend Fragen in ihr explodierten. Was habe ich ihm getan, warum gerade ich, Mami, Mami – sie hörte undeutlich, durch die Schläge, die sie abwechselnd auf beiden Seiten des Kopfes trafen, eine Frauenstimme: – Was ist los? Was geht hier vor? Und einen Mann, der antwortete. – Ich gehe runter und schau nach.
Erst da merkte sie, daß ihre Hosen zerrissen waren und daß er die ganze Zeit versucht hatte, den Schwanz hineinzubekommen. Er roch stark und preßte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie, hielt sie mit der einen Hand fest und schlug mit der anderen Hand und rieb sich an ihrem Bauch – der Brechreiz kam in Wellen, sie schrie wieder, es flimmerte ihr vor den Augen, dann hörte sie endlich, daß jemand gelaufen kam. Der Mann hörte es auch und ließ sie genauso plötzlich los, wie er sie gepackt hatte und verschwand durch das Hoftor.
Jemand machte das Licht an: – Was ist passiert? Wer ist das?
Kim lehnte sich weinend gegen die Mauer, wo sie auf dem Asphalt zusammengesunken war: – Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, er hat mich geschlagen und versucht, zu vergewaltigen – ich habe keine Ahnung, warum, wo er hergekommen ist, war nur zu Besuch bei meinem Kollegen, der hier wohnt und wollte im Hof mein Fahrrad holen – sie merkte, daß sie fast ihr Hiersein entschuldigte und schwieg.
Ihr Retter war ein junger, blasser Mann mit Brille und ordentlich gekämmten Haaren. Er sah wie ein verlegenes Kind aus, und beim Wort Vergewaltigung trat er einen Schritt zurück. Er versuchte, ihr zu helfen, faßte ihren Arm vorsichtig mit zwei Fingern an und bekam sie auf die Beine, versuchte, sie zu trösten, fragte, wo sie wohnte, ob sie vielleicht nicht lieber zu ihrem Kollegen zurückgehen wollte. Sie nickte: sie würde zu Torben und Helle hinaufgehen, das war wohl das beste. Klopfte sich Mörtel und Schmutz ab, zog immer noch schluchzend die Hose hoch und holte ein Taschentuch hervor.
– Das war verdammt gut, daß du gekommen bist. Wirklich verdammt gut. Vielen Dank!
Sein Gesicht hellte sich auf er sagte, daß die Schreie ja wie Feueralarm durch den Hof gehallt hätten. Komisch, daß nicht mehr Leute reagiert haben. Darüber wunderten sie sich beide. Dann ging sie die Treppe hinauf, der blasse Mann ging nach Hause.
Vor Torbens und Helles Tür blieb sie stehen: Schliefen sie schon? Dann hörte sie Torbens halbunterdrücktes Fluchen und einen Schlag und Helles protestierendes Wimmern. Ehe es ihr richtig klar wurde, war sie unten im Hof und übergab sich. Mit saurem Geschmack im Mund und trockenem Hals holte sie ihr Fahrrad und setzte sich drauf. Fuhr die paar Straßen zum Tagensvej zu der neugemieteten Studentenwohnung.
Und jetzt stand sie hier an der Tür festgeklebt. Warum in aller Welt war sie aus der Frauenwohngemeinschaft ausgezogen? Wenn jetzt nur die anderen hier gewesen wären ...
Sie und Gitte hatten die tolle Idee gehabt, daß es so gesund wäre, allein zu leben, gesund wäre, aus der einvernehmlichen Luft der Frauenwohngemeinschaft herauszukommen, und sie hatten beide ein Appartment gefunden, eines unpersönlicher als das andere – Gitte. Die einzige Telefonnummer, die ihr einfiel, war Gittes. Als sie die schlaftrunkene Stimme der Schwester hörte, konnte sie kein Wort sagen, nur irgendetwas stammeln und weinen, sie weinte, bis Gitte kam, ungekämmt und mit ihrer Arzttasche, aus der eine Whiskyflasche herausschaute.
– Was ist denn passiert? Mein Gott, wie siehst du denn AUS?!
Ganz allmählich konnte Gitte sich die Geschichte aus den geschluchzten Brocken zusammensetzen, während sie Kims Gesicht badete und einen Riß an der Schläfe klammerte. Sie sagte nichts, ihre Augen waren schwarz vor Zorn. Sie wiegte den Kopf der Schwester im Schoß und versuchte abzuschätzen, welche Folgen der Überfall haben könnte. Alle, nur nicht Kim. Alle, nur nicht ihre Schwester mit der durchsichtigen Seele und den empfindlichen Sinnen –
– Konntest du die Selbstverteidigung überhaupt nicht anwenden? Sie goß Whisky in eine Tasse auf dem Tisch und trank.
Kim schloß die Augen: – Ich war überrumpelt. Passiv. Schob es weg. Wollte irgendwie nicht akzeptieren, daß es ein waschechter, absolut gewöhnlicher Überfall war. Vergewaltigung – das liest man in der Zeitung, darüber macht man Statistiken. Mit einem stöhnenden Idioten dazustehen, das lähmte mich völlig. Als der junge Typ dann kam, fing ich ja auch Gott sei’s geklagt an, meine Anwesenheit zu erklären, als ob ich selbst schuld wäre. Wie im Bilderbuch.
Gitte schaute das angeschwollene Gesicht in ihrem Schoß an, irgendetwas im Ausdruck der Schwester war zerstört. – Sollen wir nicht die Polizei anrufen?
Kim zögerte, schüttelte schwach den Kopf: – Du weißt doch, wie sie sind, am Ende glaube ich selber, daß das Ganze meine Schuld war. Was kann die Polizei mir schon helfen? Die benehmen sich auch wie im Bilderbuch. Ruf doch den Notruf an, vielleicht können die – mein Kopf tut verdammt weh, Gitte.
Gitte suchte die Telefonnummer vom Notruf heraus. Rief an und machte aus, daß sie hinkommen würden, sobald Kim geröntgt war. Sie rief auf der Polizeiwache an. Der wachhabende Beamte erklärte, daß sie aufs Revier kommen müßten, am besten keine Spuren abwaschen sollten und die zerrissenen Kleider anbehalten sollte. Gitte gebrauchte ihre Ärztinnenstimme und sagte, daß sie zuallererst zum Röntgen ins Krankenhaus gehen würden. Ja, dann würde die Anzeige eben warten müssen, sagte der Polizist und legte auf.
– Verdammt, wir müssen das mit der Selbstverteidigung ernster nehmen, murmelte Gitte, während sie in Kims Tasche nach dem Krankenkassenausweis suchte. – Hast du dich zum Fortsetzungskurs angemeldet?
Die Antwort kam langsam, aber sehr deutlich: – Ich melde mich überhaupt nirgendwo mehr an. Ich melde mich ab. Ich mach nicht mehr mit. Es ist nicht nur dieser Überfall, Gitte, er ist sozusagen nur die Summe von allem, was sich in den letzten Tagen angesammelt hat ... letzte Woche, als ich unten im Hof mit der Klasse Brennball gespielt habe, fing Jörgen, der Lehrer in der Parallelklasse ist, an, Anspielungen zu machen. Die großen Jungen haben natürlich wahnsinnig die Ohren gespitzt. Er brauchte bloß anzudeuten, daß ich sicher rote Strümpfe schwarzen vorziehen würde oder irgend so einen Quatsch. Er ist hinter mir her, seit ich ihn damals bei der Abschlußfeier vor aller Augen abgewiesen habe. Die Rowdys haben natürlich sofort angebissen. Sie haben mich die ganze Woche schikaniert. Ich habe versucht, so zu tun, als ob nichts wäre, aber es dauert nicht mehr lange, dann breche ich zusammen und heule vor der ganzen Klasse ... es liegt Terror in der Luft, ich weiß nicht, ob es der Frühling ist, der sie an all das erinnert, was sie nie erreichen oder bekommen werden. Vor ein paar Tagen kamen sie mit versteckten Andeutungen, daß ich doch mal hinter die Fahrradständer im Schulhof schauen soll. Ich habe mich nicht getraut. Als ich mich schließlich zusammengenommen und nachgesehen habe, lag Pysling, der, den sie immer quälen, in seiner eigenen Kotze, zur Unkenntlichkeit zusammengeschlagen. Gitte, er sah AUS. Ich konnte nichts machen. Ich gehöre zu den wenigen Lehrern, vor denen sie an dieser Schule ein bißchen Respekt haben, und mich wollen sie auch lynchen –
Sie setzte sich vorsichtig auf und starrte die gegenüberliegende Wand an: – Als ich nach Hause kam, stand ein Rettungswagen vor dem Haus. Das stille Mädchen, das hier nebenan wohnt, sie studierte Biologie, hatte versucht, Selbstmord zu begehen. Gestern habe ich erfahren, daß es gelungen ist. Ihr Bruder war hier und weinte. Er meinte, daß sie viel zu gut war, um den Einfluß der Wirtschaft auf die Forschung zu durchschauen. Sie hatte längere Zeit an einer Untersuchung über Umweltverschmutzung gearbeitet, das war zu viel für sie, die die Natur liebte, meinte er. Was soll ich da sagen?
Kim legte sich hin: – Und heute abend habe ich Torben und Helle besucht, um den Stundenplan für das nächste Jahr mit Torben zu besprechen. Helle trinkt wieder, sie war ziemlich voll. Torben machte in der Küche Andeutungen, daß sie nicht mehr mit ihm schlafen will. Als ich einen Moment mit Helle allein war, erzählte sie mit glasigen Augen, daß er sie jetzt zwingen würde, mit ihm zu schlafen, und daß sie überhaupt nichts mehr spüren würde, nur trinken würde, um es auszuhalten, es erinnerte mich an deine Ehe mit John. Sie sagte, daß sie ihren Körper inzwischen so haßt, daß sie sich um nichts mehr kümmern kann, daß ihr nur noch die Flasche bleibt –
– Kim! Hör auf!
– Ich muß das alles irgend jemandem erzählen.
Gitte stierte in die Luft und schluckte die Tränen. Wie sollte sie erzählen, daß ihre eigene Woche der der Schwester zum Verwechseln ähnelte? Bei ihr war es ein guter Freund, dem nach bester Berufsverbotmanier am Krankenhaus gekündigt wurde, weil er seine eigene Meinung sagte, anstatt seinem Vorgesetzten nach dem Mund zu reden. Sie hatte zunehmend das Gefühl, daß in der Abteilung hinter ihrem Rücken über sie geredet wurde. Wörter wie ”Frauenexpertin“, ”bekehrt“, Bemerkungen im Personalraum weckten den Verdacht in ihr, daß mit ihren Journalen und Informationen Schindluder ge trieben wurde. Ein Patient hatte Selbstmord begangen. Sie würde sich nie daran gewöhnen, daß Patienten starben.
– Ich will nicht mehr, Gitte, ich will so nicht mehr leben.
Gitte sprang auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund.
– Zum Teufel, Kim! Wir beide! Wir, die wir Liebe und Frauengeschichte mit der Muttermilch eingesogen haben! Wir, die wir eine Mutter unter tausend hatten, die es geschafft hat, weiter zu malen, nachdem sie uns bekommen hatte. Wir, die wir Pippi Langstrumpf und Alice im Wunderland kannten, bevor wir Donald Duck kannten – wir sind genauso verletzlich wie alle anderen in dieser Gesellschaft! Was nutzt uns das alles, wenn die Gesellschaft um uns herum es nicht haben will? Nur in Frauenzusammenhängen haben wir Verwendung für unseren Überschuß. Aber wenn wir in eine Frauenwohngemeinschaft ziehen, heißt es, wir sind Seperatisten, Eskapisten, unverantwortliche Flippies; wenn wir alleine wohnen, sind wir zu leicht zu treffen. Sie wanderte erregt auf und ab.
Sie sieht stark aus, dachte Kim, heute abend kann sie Berge versetzen. Die ganzen widerstreitenden Gefühle und gewaltsamen Erlebnisse, die sich den Abend über in ihr angesammelt hatten, kippten um und veränderten etwas in ihr, etwas Entscheidendes.
– Wir sind völlig rechtlos im Wohlfahrtsstaat. Wir müssen uns prügeln, sobald wir nur einen einzigen eigenen Gedanken laut sagen; die Gedanken, die Sara und Großmutter uns vermitteln wollte. Vor ein paar Jahren war es schwer, aber nicht unmöglich, die Krankenhausatmosphäre von innen zu beeinflussen. Heute setzt man seine Stelle aufs Spiel, wenn man auch nur den kleinsten Pieps von sich gibt.
Sie stellte sich vor Saras große Bergvision und starrte Löcher in die wohlbekannte Leinwand: – Und wir lassen es uns gefallen. Lassen uns immer alles gefallen, darin sind wir Frauen Experten, und wir ziehen in eine Frauenwohngemeinschaft, um das bißchen Kraftreserve zu bekommen, das wir dann wieder in den Arbeitsmarkt schleudern können. Vor allem, seit wir von den anderen weggezogen sind, finde ich alles so schwierig. Ich gehe zu so vielen Sitzungen, wie ich nur kann, aber manchmal finde ich, daß wir mit diesen Sitzungen nicht viel mehr erreichen, als uns zu rehabilitieren, die schlimmsten Frustrationen zu sammeln und ganz am Schluß die nächste Sitzung zu planen, damit wir das Gefühl haben, etwas Konstruktives zu machen und es ertragen, am nächsten Morgen zur Arbeit zu gehen. Am Freitag gehen wir dann viellicht aufs Plenum und danach in die Frauenkneipe, und so um zwölf fangen wir an, uns wie richtige, lebendige Menschen zu fühlen!
Sie drehte sich erregt um: – Ist das ein Leben, mit dem wir zufrieden sein können? Ist das überhaupt ein Leben? Es ist fast wie eine Strafe dafür, daß wir uns nicht in eine etablierte Lebensweise fügen wollen, in eine Kleinfamilie. Wir müssen uns eben mit den Gegebenheiten abfinden. Aber jetzt will ich nicht mehr, Kim, nein, ich will verdammt noch mal nicht mehr!
– Ich auch nicht, flüsterte Kim vom Sofa. Ihr Kopf dröhnte. Aber irgendetwas passierte, das Gefühl, übergekippt zu sein, war immer noch stark. Ein paar Zeilen aus einem Buch, das sie gerade las, tauchten auf: ”Aber es gab Erzählungen von vor langer Zeit, als ein mutiger Entdeckungsreisender es gesehen hatte – ein großes Land, große Häuser, viele Menschen – und alles Frauen.“c
Später erinnerte sie sich noch einmal an die Zeilen, weil Gitte sich gleichzeitig umdrehte: – Kim! Wir haben einen Brief von Tante Ada bekommen, ich war heute nachmittag hier, um ihn dir zu zeigen. Wart, ich habe ihn hier in der Tasche!
Ob es Gittes Eifer oder die Schmerzen im Kopf waren – auf jeden Fall versuchte Kim, sich aufzusetzen und die vielen Gefühle auszudrücken.
– Ada hat ihr Testament gemacht! Wir werden eines Tages die Insel und ihr Haus und die Schafwirtschaft erben. Jesus, Maria und Thit Jensen, begreifst du das: eine Insel, eine ganze Insel wird einmal uns gehören! Ein Freiraum! Kim, wir haben verdammt noch mal unseren Wehrdienst in dieser Gesellschaft abgeleistet, wir ziehen weg! Wir ziehen auf die Mölleinsel und fangen von vorne an, machst du mit!?
Kim nickte begeistert. Dann glitt alles weg in ein schwarzes, samtweiches Dunkel. Sie sank auf dem Sofa zusammen und Gitte beeilte sich, sie aufzurütteln und einen Rettungswagen zu rufen.
Es zeigte sich, daß sie eine leichte Gehirnerschütterung hatte.
Aber davon wußte Kim nichts. Sie stand an einem Strand und streckte die Arme zum Licht empor, und es war gar nicht mehr unmöglich, die Sonne zu erreichen.