Читать книгу Du bist dein eigener Therapeut - Bernard C. Kolster - Страница 8
ОглавлениеWie funktionieren die Wirbelsäule und damit dein Rücken? Die Antwort auf diese Frage ist von der menschlichen Evolution geprägt. So wissen wir heutzutage aus entsprechenden wissenschaftlichen Untersuchungen, dass sich der Mensch schon vor ca. 3,6 Millionen Jahren zunehmend vom Vier- zum Zweibeiner entwickelt hat. Die Entwicklung zum aufrechten Gang bezeichnet man als „Bipedie“. Interessant dabei sind die für uns ausschlaggebenden, anatomischen Veränderungen (Stringer 2002). Wir Menschen mussten uns körperlich fortwährend an die neuen Bedingungen des aufrechten Gangs anpassen. Dies bedeutet bis heute eine deutliche Auswirkung auf unsere Belastbarkeit. Allein die veränderte Kraftverteilung auf vorher vier und in der Moderne auf zwei Beine zeigt die Notwendigkeit einer Anpassung. Natürlich sind diese vermeintlichen Nachteile durch die Evolution nicht nur schlecht. Wir erhielten dadurch auch enorme Vorteile, im Gegensatz zu anderen „Tieren“: Die Unabhängigkeit der Arme und Hände verhalf uns zu viel mehr Fähigkeiten. Wir können komplexe mechanische Aufgaben erledigen, wie z. B. Schreiben, Basteln oder Handwerken. Nachdem wir also mittlerweile zum ausdauernden, vielseitigen und aufrecht gehenden Menschen entwickelt sind, stoßen wir seit einigen Jahrhunderten auf ein weiteres Problem: Wir sitzen zu viel! Und wundern uns, warum unser Körper daraufhin rebelliert. Zur Verdeutlichung: Wer acht Stunden lang am Tag sitzt, benötigt mindestens 60 Minuten dauerhafte Aktivität, also z. B. Laufen, um das Sitzen zu kompensieren (Grabovac & Dorner 2019).
Unser unterer Rücken ist zur Bewältigung von Lasten konzipiert und nicht für langandauernde Ruhe, wie es das Sitzen darstellt. So ist er in unterschiedlichen Lebenslagen imstande, einen großen Teil deines Körpers in verschiedenen Positionen (Sitzen, Stehen, Gehen, Springen usw.) zu tragen. Gleichzeitig ist er aber auch dazu imstande, schwere Lasten zu heben (Getränkekiste, kleine Kinder usw.). Grundsätzlich funktioniert unser Rücken also sehr vielschichtig.
Die Wirbelsäule und ihre Abschnitte
Der Rücken ist ein komplexes Körperteil mit vielen unterschiedlichen Funktionen. Wie diese ermöglicht werden, lässt sich anhand der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte erklären. [ Abb. 1].
Abb. 1 Wirbelsäule und ihre Abschnitte.
Halswirbelsäule – Unter deinem Kopf befindet sich die Halswirbelsäule, die aus sieben Wirbeln besteht. Diese Wirbel schützen den Hirnstamm und das Rückenmark, stützen den Schädel und ermöglichen eine ausgeprägte Kopfbeweglichkeit (Hochschild 2015).
Brustwirbelsäule – Unterhalb des letzten Halswirbels (C 7) befinden sich 12 Brustwirbel. Die Rippenansätze unterstützen die Stabilität der Brustwirbelsäule. Der Brustkorb schützt viele lebenswichtige Organe.
Lendenwirbelsäule – Im unteren Teil deines Rückens findest du die Lendenwirbelsäule, die aus fünf Wirbelkörpern besteht. Die Lendenwirbel sind die massivsten Wirbel des Menschen und tragen einen großen Teil der Gesamtmasse des Körpers. Diese Region erlaubt mehr Bewegungsspielraum als die Brustwirbelsäule, aber weniger als die Halswirbelsäule (Hochschild 2015).
Kreuzbein – Das Kreuzbein (Sakrum) ist über ein bewegliches Gelenk mit dem letzten Lendenwirbel (L 5) verbunden und besteht aus fünf miteinander verschmolzenen Knochen. Es bildet zusammen mit den Darmbeinschaufeln, die links und rechts am Kreuzbein ansetzen, das Iliosakralgelenk und ist zugleich die Verbindungsstelle zwischen dem Beckengürtel und der Wirbelsäule. Direkt unterhalb des Kreuzbeins befinden sich fünf weitere Knochen, die zum Steißbein zusammengewachsen sind (Hochschild 2015, Saraceni et al. 2020).
Du erfährst und nutzt die Funktionen deines Rückens jeden Tag!
Fangen wir doch einmal ganz zu Beginn eines neuen Tages an: Wahrscheinlich gehst du einer beruflichen Tätigkeit nach, der du schon morgens nachkommen musst, oder du möchtest deine Kinder betreuen. Du wachst also frühmorgens auf und planst direkt aufzustehen. Dazu rotierst du deinen Oberkörper in Richtung Bettkante, bevor du ihn mit einer kleinen Seitneigung in die senkrechte Position rückst. Anschließend richtest du dich auf und bückst dich zur Schublade mit deinen Socken, die du dir über deine Füße ziehst, bevor du dich wieder in die Aufrechte streckst. Wunderbar. Die erste Funktion, nämlich die dreidimensionale Beweglichkeit deiner Wirbelsäule – Drehen, Beugen Strecken – hast du nun schon genutzt.
Anschließend nimmst du deine restlichen Kleider und gehst ins Badezimmer, um deiner Morgenhygiene nachzugehen. Interessanterweise geschieht dies trotz des aufrechten Gangs und der zusätzlichen Last deiner mitgenommenen Kleidungsstücke, ohne dass du die Balance verlierst und hinfällst. Nachdem du nun fertig bist, bereitest du deine Tasche vor, die mitsamt Laptop und einem Getränk ein gutes Gewicht erreicht hat. Du bückst dich, greifst deine Tasche und hebst sie auf den Stuhl neben dem Küchentisch. So einfach offenbaren sich weitere Funktionen deines Rückens, nämlich die Unterstützung der Balance, die Umsetzung des aufrechten Gangs und die Kraftentfaltung.
Eine wesentliche Funktion deines Rückens bzw. deines Rumpfes fehlt noch – die Schutzfunktion: Du bist etwas in Eile, möchtest schnell das Haus verlassen und stößt aus Versehen beim Hinauslaufen mit dem Rücken am Türrahmen an. Zum Glück ist nicht passiert! Dein Rumpf und deine Wirbelsäule haben deine Organe und deine Nervenwurzeln vor dem Stoß am Türrahmen geschützt.
Kontrolle, Koordination, Kraft
Die Funktionalität deiner Wirbelsäule hängt bei Weitem nicht nur mit der Beweglichkeit zusammen (Stemper et al. 2010, Lee et al. 2016). Genauso relevant dafür sind folgende Komponenten:
Bewegungskontrolle, d. h. die Ansteuerungs- und Ausführungsqualität einer Bewegung (Alt et al. 2020)
Koordination, d. h. die Abstimmung und Zuordnung unterschiedlicher körperlicher Prozesse, z. B. Reaktion, Balance, Orientierung (Lee & Kang 2016)
Kraft, d. h. die Überwindung von Widerständen in alle möglichen Bewegungsrichtungen sowie die Fähigkeit zur Stabilisation deiner Wirbelsäule durch deine Rücken- und Rumpfmuskulatur (Lee & Kang 2016, Kitaoka 2014)
Alle diese Elemente ermöglichen dir in Kombination die Funktionalität und damit auch die „Belastbarkeit“ deiner Wirbelsäule. Egal ob im Alltag, Beruf oder im Sport, die Belastbarkeit deiner Wirbelsäule ist essenziell. Die feine Abstimmung der unterschiedlichen Muskelsysteme wird durch ihre Komplexität ersichtlich. So gibt es kleine, tiefgelegene, von der Fascia thoracolumbalis (widerstandsfähiges Fasziengewebe) eingebettete, autochthone (ortständige) Muskelanteile, die deine Wirbelsäule stabilisieren. Zusammengefasst wird diese Muskelgruppe auch M. erector spinae genannt. Für die großen und kraftaufwendigen Bewegungen der Wirbelsäule, wie z. B. das Heben und Heranziehen eines vollen Wäschekorbs an den Körper, sind entsprechend große, allochthone (eingewanderte) Muskeln notwendig. Der M. latissimus dorsi, M. trapezius und M. deltoideus sind hierfür entscheidend. Unterstützt werden diese großen, kräftigen Muskeln von den Mm. rhomboidei [ Abb. 2, S. 20].
Abb. 2 Die wichtigsten Rückenmuskeln.
Wichtig ist das Zusammenspiel von Beweglichkeit, Bewegungskontrolle, Koordination, Kraft und Ausdauer – und zwar schon für viele banale Alltagstätigkeiten. So benötigst du z. B. beim Heben einer Getränkekiste nicht nur Beweglichkeit, um diese zu erreichen, sondern auch Koordination, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, Bewegungskontrolle, damit du die Kiste gezielt heben kannst, und natürlich Kraft. Wenn du nun mehrere Kisten heben musst, benötigst du zudem noch Ausdauer.
Um deine Rückenbeschwerden therapieren zu können, hilft dir zu Beginn eine Analyse deiner Schwächen. Diese wird dir helfen, deine Chancen zu erkennen und gleichzeitig deine Sorgen und Ängste bei der Belastung deines Rückens, wie z. B. durch das Heben, zu reduzieren. Wir nennen dies „Selbsteinschätzung“.