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ERSTER AKT

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Inhaltsverzeichnis

(An einem schönen Augustmorgen des Jahres 1896 im Operationszimmer eines Zahnarztes. Es ist nicht das übliche winzige Londoner Loch, sondern das beste Zimmer einer möblierten Wohnung an der Strandpromenade in einem vornehmen Seebad. Der Operationsstuhl mit Gasschlauch und Zylinder steht zwischen der Mitte des Zimmers und einer der Ecken. Wenn man durch das dem Stuhl gegenüberliegende Fenster in das Zimmer hineinsieht, erblickt man den Kamin in der Mitte der dem Beschauer gegenüberstehenden Wand. Links eine Tür. Über dem Kaminsims befindet sich ein Diplom in einem Rahmen. Vor dem Kamin steht ein breiter schwarzlederner Sessel, rechts in der Ecke ein sauberer Schemel und eine Bank mit Schraubstock, Werkzeugen, einem Mörser und einem Stößel darauf. In der Nähe dieser Bank befindet sich ein dünnes peitschenartiges Gerät, das mit einem Ständer, einem Pedal und einer übertrieben großen Kurbel versehen ist. Da man dieses Marterwerkzeug als Zahnbohrer erkennt, blickt man schaudernd nach links, wo man ein anderes Fenster, darunter einen Schreibtisch mit Löscher und Mappe sieht. Vor dem Schreibtisch ein Stuhl. In seiner Nähe, gegen die Türe zu, ein lederüberzogenes Sofa. Die gegenüberliegende rechtsseitige Wand wird hauptsächlich von einem langen Büchergestell eingenommen. Der Operationsstuhl steht dem Beschauer dicht gegenüber; in handlicher Nähe links davon befindet sich der Instrumentenschrank. Man bemerkt, daß die zahnärztliche Einrichtung samt Apparaten neu ist. Die mit einem Muster von Girlanden und Urnen geschmückten Tapeten im Geschmack eines Leichenbestatters, der Teppich mit seiner symmetrischen Zeichnung von reichen, kohlkopfartigen Blumensträußen, der gläserne Gaskronleuchter mit Prismen, die ebenfalls prismengeschmückten, vergoldeten, blauen Armleuchter in den Ecken des Kaminsimses und die Goldbronzeuhr unter einem Glassturz zwischen ihnen, deren Nutzlosigkeit durch eine billige amerikanische Uhr betont wird, die respektlos daneben gestellt ist und jetzt auf zwölf Uhr mittags zeigt: alles das vereinigt sich mit dem schwarzen Marmor, der dem Kamin das Ansehen einer Familiengruft en miniature gibt, um Kaufmannsanständigkeit im Anfang der Regierung der Königin Viktoria, den Glauben ans Geld, Bibelfetischismus, Furcht vor der Hölle, die immer im Kampf mit der Furcht vor der Armut liegt, instinktives Entsetzen vor dem leidenschaftlichen Charakter der Kunst, der Liebe und der römisch-katholischen Kirche, und im allgemeinen die ersten Früchte der Geldherrschaft in den Anfängen der industriellen Revolution anzudeuten.)

(Nicht das Leiseste von diesen Traditionen liegt über den zwei Personen, die jetzt gerade im Zimmer sind. Die eine davon, eine sehr hübsche, sehr kleine Dame, deren winzige Figur mit der elegantesten Lebhaftigkeit gekleidet ist, gehört einer späteren Generation an: sie ist kaum achtzehn Jahre alt. Dieses liebe kleine Geschöpf gehört offenbar weder zu dem Zimmer, noch auch zu dem Lande; denn seine Gesichtsfarbe, obgleich sehr zart, ist von einer heißeren Sonne als der Englands gebräunt worden; aber trotzdem besteht für einen sehr feinen Beobachter ein Zusammenhang zwischen der jungen Dame und England. Sie hält nämlich ein Wasserglas in der Hand, und auf ihrem winzigen, energisch geschnittenen Mund wie auf ihren eigentümlich geschweiften Augenbrauen bemerkt man eine sich rasch verziehende Wolke spartanischer Hartnäckigkeit. Wenn man die kleinste Gewissenslinie zwischen ihren Augenbrauen entdecken könnte, würde ein Pietist wohl die schwache Hoffnung hegen, in ihr ein Schaf im Wolfspelz zu finden—ihr Kleid ist nämlich verwünscht hübsch—aber sowie die Wolke flieht, ist ihre Stirnlinie so vollkommen frei von jedem Sündenbewußtsein wie die eines Kätzchens.)

(Der Zahnarzt, der sie mit der Selbstzufriedenbeit des erfolgreichen Operateurs betrachtet, ist ein junger Mann von ungefähr dreißig Jahren. Er macht nicht sehr den Eindruck eines Arbeitsmenschen: unter der geschäftsmäßigen Art und Weise des neuetablierten Zahnarztes, der auf der Suche nach Patienten ist, bemerkt man die leichtsinnige Liebenswürdigkeit des noch unverheirateten, auf der Suche nach lustigen Abenteuern befindlichen jungen Mannes von Welt. Er ist nicht ohne Ernst im Benehmen, aber seine straff gespannten Nasenflügel stempeln diesen zum Ernste eines Humoristen. Seine Augen sind klar, flink, von skeptisch mäßiger Größe und doch ein wenig wagelustig; seine Stirn ist prächtig, hinter ihr ist viel Raum; seine Nase und sein Kinn sind kavaliermäßig hübsch. Im ganzen ein anziehender, beachtenswerter Anfänger, dessen Aussichten ein Geschäftsmann ziemlich günstig einschätzen würde.)

(Die junge Dame ihm das Glas reichend:) Danke schön. (Trotz ihrer mattgelben Hautfarbe spricht sie ohne den geringsten fremden Akzent.)

(Der Zahnarzt setzt es auf den Rand des Instrumentenschrankes:) Das war mein erster Zahn!

(Die junge Dame entsetzt:) Ihr erster?!… Wollen Sie damit sagen, daß Sie an mir angefangen haben, zu praktizieren?

(Der Zahnarzt.) Jeder Zahnarzt muß einmal mit jemandem den Anfang machen.

(Die junge Dame.) Jawohl, mit jemandem im Spital—aber nicht mit

Leuten, die bezahlen.

(Der Zahnarzt lachend:) Oh, das Spital zählt natürlich nicht!… Ich meinte nur: mein erster Zahn in meiner Privatpraxis.—Warum wollten Sie kein Lachgas haben?

(Die junge Dame.) Weil Sie mir sagten, daß das noch fünf Schilling extra kostete.

(Der Zahnarzt unangenehm berührt:) Oh, sagen Sie das nicht! Da hab' ich das Gefühl, als hätte ich Ihnen wegen der fünf Schillinge weh getan.

(Die junge Dame mit kühler Dreistigkeit:) Nun, das haben Sie auch. (Sie steht auf:) Warum auch nicht?… Es ist Ihr Beruf, den Leuten weh zu tun. (Es macht ihm Spaß, in dieser Weise behandelt zu werden, und er kichert heimlich, während er fortfährt, seine Instrumente zu reinigen und wieder wegzulegen. Sie schüttelt ihr Kleid zurecht, blickt sich neugierig um und gebt an das Fenster.) Sie haben aber wirklich eine schöne Aussicht auf das Meer von diesen Zimmern aus! —Sind sie teuer?

(Der Zahnarzt.) Ja.

(Die junge Dame.) Ihnen gehört aber nicht das ganze Haus?

(Der Zahnarzt.) Nein.

(Die junge Dame kippt den Stuhl, der vor dem Schreibtisch steht, um und betrachtet ihn kritisch, während sie ihn auf einem Fuß herumwirbelt:) Ihre Einrichtung ist aber nicht die allermodernste; nicht wahr?

(Der Zahnarzt.) Sie gehört dem Hausherrn.

(Die junge Dame.) Gehört ihm dieser hübsche bequeme Rollstuhl auch?

(Sie zeigt auf den Operationsstuhl.)

(Der Zahnarzt.) Nein, den habe ich gemietet.

(Die junge Dame geringschätzig:) Das habe ich mir gedacht! (Sie blickt umher, um noch mehr Schlüsse ziehen zu können:) Sie sind wohl noch nicht lange hier?

(Der Zahnarzt.) Seit sechs Wochen.—Wünschen Sie sonst noch etwas zu wissen?

(Die junge Dame, an der die Anspielung verloren gebt:) Haben Sie

Familie?

(Der Zahnarzt.) Ich bin unverheiratet.

(Die junge Dame.) Selbstverständlich. Das sieht man.—Ich meine

Schwestern… eine Mutter… und sowas.

(Der Zahnarzt.) Nicht hier am Ort.

(Die junge Dame.) Hm… Wenn Sie sechs Wochen hier sind und mein Zahn der erste war, dann kann Ihre Praxis nicht sehr groß sein?

(Der Zahnarzt.) Bis jetzt nicht. (Er schließt den Schrank, nachdem er alles in Ordnung gebracht hat.)

(Die junge Dame.) Nun denn, Glück auf! (Sie nimmt ihre Börse aus der

Tasche:) Fünf Schillinge macht es, sagten Sie, nicht wahr?

(Der Zahnarzt.) Fünf Schillinge.

(Die junge Dame nimmt ein Fünf-Schilling-Stück heraus:) Rechnen Sie für jede Operation fünf Schillinge?

(Der Zahnarzt.) Ja.

(Die junge Dame.) Warum?

(Der Zahnarzt.) Das ist mein System. Ich bin eben, was man einen

Fünf-Schilling-Zahnarzt nennt.

(Die junge Dame.) Wie nett!—Hier! (Sie hält das Silberstück in die

Höhe:) Ein hübsches neues Fünf-Schilling-Stück—Ihre erste Einnahme!

Machen Sie mit dem Instrument, mit dem Sie den Leuten die Zähne

anbohren, da ein Loch hinein und tragen Sie's an Ihrer Uhrkette.

(Der Zahnarzt.) Danke sehr.

(Das Stubenmädchen erscheint an der Tür:) Der Bruder der jungen Dame.

(Die hübsche Miniaturausgabe eines Mannes, augenscheinlich der Zwillingsbruder der jungen Dame, tritt lebhaft ein. Er trägt einen terrakottfarbenen Kaschmiranzug; der elegant geschnittene Rock ist mit brauner Seide gefüttert. In der Hand hält er einen braunen Zylinder und dazu passende, loh*braune Handschuhe. Er hat die mattgelbe Gesichtsfarbe seiner Schwester und ist nach demselben kleinen Maßstabe gebaut wie sie. Aber er ist elastisch, muskulös und von entschlossenen Bewegungen und hat eine unerwartet tiefe und schneidige Sprechwiese. Er besitzt vollendete Manieren und einen vollendeten persönlichen Stil, um den ihn ein doppelt so alter Mann beneiden könnte. Anmut und Selbstbeherrschung sind ihm Ehrensache, und obgleich dies, richtig betrachtet, nur die moderne Art knabenhafter Verlegenheit ist, so ist doch die Wirkung seines Wesens auf ältere Leute verblüffend und wäre bei einem weniger für sich einnehmenden jungen Menschen unerträglich. Er ist die Schlagfertigkeit selbst und hat im Augenblick seines Eintretens eine Frage bereit:)

(Der junge Mann.) Komme ich noch zu rechter Zeit?

(Die junge Dame.) Nein, es ist schon alles vorüber.

(Der junge Mann.) Hast du geheult?

(Die junge Dame.) Oh, fürchterlich! Herr Doktor Valentine—mein Bruder Phil. Phil: das ist Herr Dr. Valentine, unser neuer Zahnarzt. (Dr. Valentine und Philip verneigen sich voreinander. Sie fährt in einem Atem fort:) Er ist erst seit sechs Wochen hier und ist Junggeselle. Das Haus gehört ihm nicht, und die Einrichtung gehört seinem Hausherrn, aber die nötigen Gegenstände für seinen Beruf hat er gemietet. Er hat meinen Zahn wundervoll auf den ersten Ruck herausgekriegt. Und wir sind sehr gute Freunde.

(Philip.) Du hast wohl eine Menge Fragen gestellt, was?

(Die junge Dame als ob sie unfähig wäre, das zu tun:) O nein!

(Philip.) Das freut mich. (Zu Dr. Valentine:) Sehr liebenswürdig von Ihnen, nichts gegen uns zu haben, Herr Doktor. Wir sind nämlich noch nie in England gewesen, und unsere Mutter hat uns darauf vorbereitet, daß die Leute uns hier einfach nicht ertragen würden.—Kommen Sie, frühstücken Sie mit uns.

(Dr. Valentine erschreckt über das Tempo, in dem ihre Bekanntschaft fortschreitet, ringt nach Atem, aber er hat keine Gelegenheit zu sprechen, da die Unterhaltung der Zwillinge reißend und andauernd ist.)

(Die junge Dame.) O ja, sagen Sie zu, Herr Doktor!

(Philip.) Im Marine-Hotel um halb zwei.

(Die junge Dame.) Wir werden dann Mama erzählen können, daß ein achtbarer Engländer versprochen hat, mit uns zu frühstücken.

(Philip.) Kein Wort mehr, Herr Doktor; Sie werden kommen!

(Dr. Valentine.) Kein Wort mehr?… Ich habe überhaupt noch kein Wort

gesagt… Darf ich fragen, mit wem ich eigentlich die Ehre habe?…

Es ist mir wirklich ganz unmöglich, mit zwei mir vollständig

Unbekannten im Marine-Hotel zu frühstücken.

(Die junge Dame vorlaut:) Ach, was für ein Unsinn!… Ein Patient in sechs Wochen! Kann Ihnen doch ganz einerlei sein?

(Philip gesetzt:) Nein, Dolly: meine Menschenkenntnis bestätigt Herrn

Doktor Valentines Ansicht; er hat recht.—Erlauben Sie, daß ich Ihnen

Fräulein Dorothea Clandon, gewöhnlich Dolly genannt; vorstelle. (Dr.

Valentine verneigt sich vor Dolly. Sie nickt ihm zu.) Ich bin Philip

Clandon—wir sind aus Madeira—aber trotzdem bis jetzt ganz achtbare

Leute.

(Dr. Valentine.) Clandon?… Sind Sie verwandt mit—

(Dolly mit einem unerwarteten Verzweiflungsschrei:) ja, wir sind's!

(Dr. Valentine erstaunt:) Verzeihen Sie—

(Dolly.) Ja, ja, wir sind es!… Alles ist zu Ende, Phil! Man weiß alles über uns in England! (Zu Dr. Valentine:) Oh, Sie können sich nicht vorstellen, wie entsetzlich es ist, mit einer berühmten Persönlichkeit verwandt zu sein und nirgends um seiner selbst willen geschätzt zu werden.

(Dr. Valentine.) Aber entschuldigen Sie: der Herr, an den ich dachte, ist durchaus nicht berühmt.

(Dolly ihn anstarrend:) Der Herr?…

(Philip ist auch erstaunt.)

(Dr. Valentine.) Ja. Ich wollte Sie fragen, ob Sie zufällig die

Tochter des Herrn Densmore Clandon aus Newbury Hall sind.

(Dolly ausdruckslos:) Nein.

(Philip.) Na, Dolly, woher weißt du das?

(Dolly aufgeheitert:) Oh, ich vergaß, natürlich—vielleicht bin ich's!

(Dr. Valentine.) Wissen Sie das nicht?

(Philip.) Ganz und gar nicht.

(Dolly.) Ein kluges Kind—

(Philip sie kurz unterbrechend:) Sch! (Dr. Valentine fährt bei diesem Laut ängstlich zusammen. Obwohl er kurz ist, klingt er doch so, als ob ein Stück Seidenzeug durch einen Blitz entzweigeschnitten würde. Er ist das Resultat langer Übung und soll Dollys Indiskretion verhindern.) Die Sache ist die, Herr Doktor: wir sind die Kinder der berühmten Frau Lanfrey Clandon, einer Schriftstellerin von großem Ruf—in Madeira. Kein Haushalt ist vollkommen ohne ihre Werke. Wir sind nach England gekommen, um diese Werke los zu werden. Sie heißen "Abhandlungen für das zwanzigste Jahrhundert".

(Dolly.) Die Küche des zwanzigsten Jahrhunderts!—

(Philip.) Das Glaubensbekenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Die Kleidung des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Philip.) Das Betragen des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Philip.) Die Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts—

(Dolly.) Geheftet einen halben Dollar—

(Philip.) Oder auf Leinwand aufgezogen, zum häufigen Familiengebrauch, zwei Dollar. In keinem Hause sollten diese Werke fehlen.—Lesen Sie sie, Herr Doktor; sie werden Ihre Seele veredeln.

(Dolly.) Aber nicht, solange wir hier sind, wenn ich bitten darf.

(Philip.) Richtig! Wir ziehen Leute mit unveredelten Seelen vor. Unsere eigene Seele befindet sich nämlich in dieser frischen und unverdorbenen Verfassung.

(Dr. Valentine zweifelhaft:) Hm!

(Dolly ahmt ihn fragend nach:) Hm…?—Phil, er zieht Leute vor, deren

Seelen veredelt sind.

(Philip.) Wenn das der Fall ist, müssen wir ihn mit dem andern

Familienglied bekannt machen, mit der "Frau des zwanzigsten

Jahrhunderts", unserer Schwester Gloria!

(Dolly dithyrambisch:) Dem Meisterwerk der Schöpfung!

(Philip.) Der Tochter der Wissenschaft!

(Dolly.) Dem Stolz Madeiras!

(Philip.) Dem Inbegriff der Schönheit!

(Dolly wird plötzlich prosaisch:) Unsinn, keinen Teint!

(Dr. Valentine verzweifelt:) Darf ich endlich auch ein Wort sagen?

(Philip höflich:) Entschuldigen Sie—bitte.

(Dolly sehr liebenswürdig:) Verzeihen Sie.

(Dr. Valentine versucht, väterlich zu ihnen zu sein:) Ich muß euch jungen Leuten wirklich einen Wink geben.

(Dolly bricht wieder aus:) Na, das ist wirklich gut! Wie alt sind Sie?

(Philip.) Über dreißig.

(Dolly.) Nein.

(Philip zuversichtlich:) Doch!

(Dolly emphatisch:) Siebenundzwanzig!

(Philip unerschütterlich:) Dreiunddreißig!

(Dolly.) Unsinn!

(Philip zu Dr. Valentine:) Ich wende mich an Sie, Herr Doktor!

(Dr. Valentine sich verwahrend:) Nein wirklich—(Er ergibt sich:)

Einunddreißig.

(Philip zu Dolly:) Du hast also unrecht gehabt!

(Dolly.) Du auch!

(Philip plötzlich gewissenhaft:) Wir vergessen unsere gute Erziehung,

Dolly.

(Dolly reuig:) Ja, das tun wir.

(Philip sich entschuldigend:) Wir haben Sie unterbrochen, Herr Doktor.

(Dolly.) Ich glaube, Sie waren eben im Begriff, unsere Seele zu veredeln.

(Dr. Valentine.) Tatsache ist, daß Ihr—

(Philip ihm zuvorkommend:) Unser Aussehen?…

(Dolly.) Unsere Manieren?…

(Dr. Valentine ad misericordiam:) Ich beschwöre Sie, lassen Sie mich sprechen!

(Dolly.) Die alte Geschichte—wir reden zu viel!

(Philip.) Das tun wir. Schweigen wir alle beide! (Er setzt sich auf den Arm des Operationsstuhles.)

(Dolly.) Mm! (Sie setzt sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und hält ihre Lippen mit den Fingerspitzen zu.)

(Dr. Valentine.) Danke. (Er holt den Schemel von der Bank in der Ecke, stellt ihn zwischen sie und setzt sich mit einer richterlichen Miene. Sie beobachten ihn mit größtem Ernst. Er wendet sich zuerst an Dolly: ) Darf ich Sie vor allem fragen, ob Sie schon jemals in einem englischen Seebad gewesen sind? (Sie schüttelt langsam und feierlich den Kopf. Er wendet sich zu Phil, der auch rasch und ausdrucksvoll seinen Kopf schüttelt.) Das habe ich mir gedacht!… Nun, Herr Clandon, unsere Bekanntschaft ist erst von kurzer Dauer, aber von großer Redseligkeit gewesen, und ich habe genug beobachtet, um überzeugt zu sein, daß Sie beide keine Ahnung haben, was das Leben in einem englischen Seebade bedeutet. Glauben Sie mir, es kommt weder auf die Manieren noch auf das Aussehen an… was das betrifft, genießen wir eine in Madeira unbekannte Freiheit. (Dolly schüttelt heftig den Kopf.) O ja, das dürfen Sie mir glauben. Lord de Crescis Schwester radelt in Kniehosen, und die Pastorsfrau tritt für Reformkleider ein und trägt hygienische Schuhe. (Dolly blickt verstohlen nach ihren eigenen Schuhen. Dr. Valentine bemerkt das und fügt flink hinzu:) Nein, das ist nicht die Art Schuh, die ich meine. (Dollys Schuh verschwindet.) Wir machen uns nicht viel aus Kleidern und Manieren in England, weil wir, als Volk, weder gut gekleidet sind noch Manieren haben. Aber—und nun frage ich Sie: Nehmen Sie's mir nicht übel, wenn ich aufrichtig bin? (Sie nicken.) Ich danke.—Nun, eins müssen Sie in einem englischen, Seebad haben, bevor irgend jemand sich mit Ihnen sehen lassen darf—und das ist ein Vater… ein lebendiger oder ein toter. (Er sieht sie abwechselnd mit Nachdruck an. Sie begegnen seinen Blicken wie Märtyrer.) Muß ich annehmen, daß Sie diesen unumgänglich nötigen Bestandteil Ihrer gesellschaftlichen Ausrüstung außer acht gelassen haben? (Sie stimmen ihm durch melancholisches Kopfnicken zu.) Dann muß ich Ihnen leider sagen, falls Sie die Absicht haben, längere Zeit hierzubleiben, daß es mir unmöglich sein wird, Ihre liebenswürdige Einladung zum Frühstück anzunehmen. (Er erheht sich, als ob er nun Schluß machen wollte, und setzt den Schemel wieder an die Wand.)

(Philip erheht sich mit ernster Höflichkeit:) Komm, Dolly! (Er reicht ihr den Arm.)

(Dolly.) Adieu. (Sie gehen zusammen mit vollendeter Würde zur Tür.)

(Dr. Valentine von Gewissensbissen überwältigt:) O bleiben

Sie—bleiben Sie! (Sie bleiben stehen und wenden sich Arm in Arm um.)

Ich komme mir wirklich wie ein vollkommener Tölpel vor.

(Dolly.) Daran ist Ihr Gewissen schuld, nicht wir.

(Dr. Valentine energisch, läßt allen Anspruch auf berufsmäßige Manieren beiseite:) Mein Gewissen?… Mein Gewissen hat mich zugrunde gerichtet.—Hören Sie mich an!… Ich habe mich schon zweimal in verschiedenen Teilen Englands als achtbarer praktischer Arzt niedergelassen. Beide Male bin ich gewissenhaft gewesen und habe meinen Patienten statt dessen, was sie hören wollten, immer die nackte Wahrheit gesagt. Die Folge davon war mein Ruin.—Nun habe ich mich hier als Zahnarzt niedergelassen—als Fünf-Schilling-Zahnarzt, und habe ein für allemal mit dem Gewissen abgeschlossen; dies hier ist meine letzte Hoffnung. Ich habe mein letztes Goldstück für den Umzug ausgegeben und habe noch keinen Schilling Miete bezahlt. Ich esse und trinke auf Kredit, mein Hausherr ist reich wie ein Jude und hart wie Stahl. In sechs Wochen habe ich fünf Schillinge verdient. Wenn ich um Haaresbreite vom geraden Wege der strengsten Achtbarkeit abweiche, so bin ich verloren.—Ist es unter solchen Umständen recht und billig, mich zum Frühstück einzuladen, wenn Sie ihren eigenen Vater nicht kennen?

(Dolly.) Na, schließlich ist unser Großvater Stiftsherr der

Lincoln-Kathedrale.—

(Dr. Valentine wie ein Schiffbrüchiger, der ein Segel am Horizont sieht:) Was? Sie haben einen Großvater?

(Dolly.) Nur einen.

(Dr. Valentine.) Meine lieben guten jungen Freunde, um des Himmels

willen, ja warum habt ihr mir das denn nicht gleich gesagt?… Ein

Stiftsherr der Lincoln-Kathedrale! Das bringt natürlich alles in

Ordnung!—Entschuldigen Sie mich einen Augenblick; ich will nur meinen

Rock wechseln. (Er ist mit einem Satz an der Türe und verschwindet.

Dolly und Philip starren ihm erst nach, dann starren sie einander an.

Da sie ohne Publikum sind, sinken sie sofort in sich zusammen und

werden Alltagsmenschen.)

(Philip stößt Dollys Arm fort und gebt übellaunig zum Operationsstuhl: ) Dieser elende bankerotte Zahnschlosser tut so, als ob es für uns eine Ehre wäre, ihm ein Frühstück zu bezahlen! Wahrscheinlich seit Monaten sein erstes anständiges Essen! (Er gibt dem Stuhl einen Stoß, als ob der Dr. Valentine wäre.)

(Dolly.) Das ist doch zu stark! Ich kann das nicht länger ertragen,

Phil! Hier in England fragt einen jeder Mensch sofort, ob man einen

Vater hat oder nicht.

(Philip.) Ich will es auch nicht länger ertragen. Mama muß uns sagen, wer er war!

(Dolly.) Oder wer er ist! Vielleicht lebt er noch.

(Philip.) Das will ich nicht hoffen. Kein lebender Mensch soll sich mir als Vater aufspielen!

(Dolly.) Vielleicht hat er aber eine Menge Geld?!

(Philip.) Das bezweifle ich. Meine Menschenkenntnis sagt mir, daß er seine liebe volle Familie nicht so leicht los geworden wäre, wenn er eine Menge Geld besessen hätte… Immerhin, trachten wir, die Dinge im günstigsten Licht zu sehn. Verlaß dich darauf, er ist tot! (Er geht an den Kamin, bleibt mit dem Rücken gegen das Feuer stehen und streckt sich. Das Stubenmädchen erscheint. Die Zwillinge strahlen gleich wieder in ihrem früheren Glanz, als sie sich beobachtet wissen.)

(Das Stübenmadchen.) Zwei Damen fragen nach Ihnen, gnädiges Fräulein.

Ich glaube, die Frau Mutter und das Fräulein Schwester.

(Frau Clandon und Gloria treten ein. Frau Clandon ist eine Dame zwischen vierzig und fünfzig, mit einer leichten Neigung zu sanftem, seßhaftem Fett und einem ansehnlichen Rest von Schönheit—letzterem nicht um so weniger darum, als sie offenbar der alten Frauensitte gefolgt ist, d.h. nach der ehelichen Verbindung keine Ansprüche in dieser Beziehung mehr erhoben hat. Man könnte sie fast verdächtigen, zu Hause eine Haube zu tragen. Sie trägt sich mit Kunst und gut, wie es Frauen als ein Teil guter Manieren von Tanz- und Anstandslehrern gelehrt wurde, bevor diese durch den modernen künstlerischen Kultus von Schönheit und Gesundheit verdrängt wurden. Ihr flachsblondes, von Silberfäden durchzogenes Haar ist gewellt, in der Mitte gescheitelt, geflochten und hinten zu einem Knoten gewunden. Gute Beobachter eines gewissen Alters können daraus schließen, daß Frau Clandon in ihrer Mädchenzeit genügend Individualität und guten Geschmack besessen hat, um sich der seither vergessenen Mode des Chignons energisch zu widersetzen. In Kürze: sie ist in Kleidern und Manieren für ihr Alter auffallend unmodern, aber sie gehört in das Vordertreffen ihrer eigenen Zeit (etwa 1860-80), in einer eifersüchtig betonenden Haltung des Charakters und Verstandes und darin, daß sie eher eine Frau mit kultivierten Interessen als mit leidenschaftlich entwickelten persönlichen Neigungen ist. Ihre Stimme und die Art, sich zu geben, sind durchaus freundlich und menschlich. Sie gibt sich gewissenhaft den gelegentlichen Liebkosungen hin, durch die ihre Kinder ihr ihre Achtung bezeugen, jedoch machen Kundgebungen persönlichen Gefühls sie heimlich verlegen. In ihr lebt mehr menschenfreundliches als menschliches Gefühl; sie begt starke Gefühle, was soziale Fragen und Grundsätze, nicht aber was Menschen betrifft; nur kann man beobachten, daß diese ihre Verständigkeit und außerordentliche Zurückhaltung im Persönlichen, die ihre Beziehungen zu Gloria und Phil nicht anders erscheinen lassen, als es die zwischen ihr und den Kindern irgendeiner anderen Frau sein könnten, in Dollys Fall nicht standhält;—obgleich fast jedes Wort, das sie an diese richtet, notwendig ein Protest gegen irgendeinen Bruch des Dekorums ist, so ist doch die Zärtlichkeit in ihrer Stimme hier unverkennbar, und es ist nicht überraschend, daß eine jahrelang so geartete Kundgebung Dolly rettungslos verzogen hat.)

(Gloria hat die Zwanzig kaum überschritten, ist aber eine viel furchterregendere Dame als ihre Mutter. Sie ist die Verkörperung geistigen Hochmuts. Ihrem heftigen, unduldsamen, berrschsüchtigen Charakter hält bloß die Unerfahrenheit ihrer Jugend die Wage, und gegen ihren Willen wird er in Zucht gehalten durch die fortgesetzte Gefahr, von ihren jüngeren leichtlebigeren Geschwistern lächerlich gemacht zu werden. Im Gegensatz zu ihrer Mutter ist sie ganz Leidenschaft, und der Kampf zwischen ihrer Leidenschaft, ihrem hartnäckigen Stolz und ihrer übertriebenen Feinheit hat eine eisige Kälte des Betragens zur Folge. Bei einer häßlichen Frau würde das alles abstoßend wirken; aber Gloria ist eine anziehende Frau. Ihr tief kastanienbraunes Haar, ihre olivenfarbene Haut, ihre langen Wimpern, die grauen beschatteten Augen, die oft wie Sterne glänzen, zart geschweifte, volle Lippen und eine volle, geschmeidige, jedoch muskelkräftige Gestalt sprechen in hochmütiger Freimütigkeit zu Einbildungskraft und Sinnen. Man könnte sie für ein sehr gefährliches Mädchen halten, wenn Glorias sittlicher Eifer nicht auch in einer sehr edlen Stirn zum Ausdruck käme. Ihr tailor-made Kleid aus safranbraunem Tuch erscheint von rückwärts gesehen konventionell, aber eine Bluse von meergrüner Seide hebt das Konventionelle der Kleidung mit einem Schlage auf und unterscheidet sie sofort—so wie die Zwillinge—von den gewöhnlichen modernen Strandmenschen.)

(Frau Clandon macht ein paar Schritte vorwärts und blickt umher, um zu sehen, wer da ist. Gloria, die es absichtlich vermeidet, den Zwillingen irgendein Interesse für sie zu zeigen, geht an das Fenster und blickt, in Gedanken versunken, ins Weite.—Das Stubenmädchen, anstatt sich zurückzuziehen, schließt die Tür und wartet davor.)

(Frau Clandon.) Na, Kinder!… Hast du noch Zahnschmerzen, Dolly?

(Dolly.) Geheilt! Gott sei Dank. Ich hab' ihn mir herausziehen lassen. (Sie setzt sich auf die Stufe des Operationsstuhls. Frau Clandon nimmt den Sessel, der vor dem Schreibtisch steht.)

(Philip mischt sich vom Kamin aus gravitätisch ins Gespräch:) Und der Zahnarzt, ein erstklassiger Fachmann von größtem Ruf, wird mit uns frühstücken.

(Frau Clandon sieht sich ängstlich nach dem Stubenmädchen um:) Phil!

(Das Stubenmädchen.) Verzeihen Sie, gnädige Frau, ich warte auf den

Herrn Doktor. Ich habe ihm etwas auszurichten.

(Dolly.) Von wem?

(Frau Clandon verdrießlich:) Dolly!

(Dolly faßt ihre Lippen mit den Fingerspitzen und unterdrückt einen kleinen Heiterkeitsausbruch.)

(Das Stubenmädchen.) Bloß vom Hausherrn, gnädiges Fräulein.

(Dr. Valentine kommt in einem blauen Serge-Anzug, mit einem Strohhut in der Hand, in bester Laune zurück, ganz atemlos infolge der Eile, mit der er sich umgezogen hat. Gloria wendet sich vom Fenster ab und mustert ihn mit kalter Aufmerksamkeit.)

(Philip.) Erlauben Sie, daß ich Sie bekannt mache, Herr Doktor.—Meine

Mutter, Frau Lanfrey Clandon.

(Frau Clandon verneigt sich, Dr. Valentine verneigt sich, selbstbewußt und der Situation gewachsen.) Meine Schwester Gloria. (Gloria verneigt sich mit kalter Würde und setzt sich auf das Sofa. Dr. Valentine verliebt sich auf den ersten Blick und ist entsetzlich verwirrt. Er dreht seinen Hut nervös zwischen den Fingern und macht Gloria eine schüchterne Verbeugung.)

(Frau Clandon.) Ich höre, daß wir das Vergnügen haben werden, Sie heute zum Frühstück bei uns zu sehen, Herr Doktor?

(Dr. Valentine.) Ich danke—ich—wenn Sie gestatten—ich meine, wenn Sie so liebenswürdig sein wollen—(Zum Stubenmädchen verdrossen:) Was ist los?

(Das Stubenmädchen.) Der Hausherr wünscht Sie zu sprechen, bevor Sie ausgehen, Herr Doktor.

(Dr. Valentine.) Sagen Sie ihm, daß ich mit vier Patienten beschäftigt bin. (Die Clandons sehen überrascht aus, mit Ausnahme von Philip, der unerschütterlich ruhig bleibt.) Aber wenn er etwa zwei Minuten warten wollte, so würde ich hinunterkommen und ihn einen Augenblick sprechen. (Er verläßt sich darauf, daß sie die Situation begreift.) Sagen Sie ihm, daß ich zu tun habe, aber daß ich mit ihm zu sprechen wünsche.

(Das Stubenmädchen bestätigend:) Jawohl, Herr Doktor. (Sie gebt ab.)

(Frau Clandon im Begriff aufzustehen:) Ich fürchte, wir halten Sie auf.

(Dr. Valentine.) Durchaus nicht, durchaus nicht! Ihre Anwesenheit wird hier von größtem Vorteil für mich sein. Ich bin nämlich seit sechs Wochen die Miete schuldig und habe bis zum heutigen Tage keinen einzigen Patienten gehabt. Meine Unterredung mit dem Hausherrn wird nun infolge des sichtlichen Aufschwungs meines Geschäftes viel besser ablaufen.

(Dolly ärgerlich:) O wie gräßlich langweilig von Ihnen, das alles auszuplaudern! Und wir haben gerade eben behauptet, daß Sie ein hochangesehener Fachmann allerersten Ranges sind.

(Frau Clandon entsetzt:) O Dolly! Dolly! wie kannst du so grob sein!

(Zu Dr. Valentine:) Bitte, entschuldigen Sie meine Kinder, diese

Barbaren, Herr Doktor!

(Dr. Valentine.) O bitte, bitte, ich bin schon an sie gewöhnt.—Wäre es unbescheiden, wenn ich Sie bitten würde, fünf Minuten zu warten, während ich unten meinen Hausherrn abfertige?

(Dolly.) Aber beeilen Sie sich, wir sind hungrig!

(Frau Clandon wieder protestierend:) Aber liebe Dolly!

(Dr. Valentine zu Dolly:) Gut, gut! (Zu Frau Clandon:) Besten Dank. Sie sind sehr gütig—ich werde nicht lange ausbleiben. (Während er abgeht, wirft er einen raschen Blick auf Gloria. Sie betrachtet ihn sehr ernst. Er wird sehr verlegen.) Ich—äh—äh—ja—ich danke—ich danke Ihnen… (Es gelingt ihm endlich, sich aus dem Zimmer zu drücken, aber sein Abgang ist bemitleidenswert.)

(Philip.) Habt ihr gesehen? (Auf Gloria zeigend:) Liebe auf den ersten Blick. Du kannst seinen Skalp deiner Sammlung einreihen, Gloria.

(Frau Clandon.) Scht! scht… ich bitte dich, Phil! Er kann es gehört haben!

(Philip.) Ach, der nicht—! (sich zu einer Szene vorbereitend:) Und nun gib acht, Mama. (Er nimmt den Schemel, der neben der)

(Bank steht, und setzt sich majestätisch in die Mitte des Zimmers, die vorhergegangene Demonstration Valentines kopierend.)

(Dolly fühlt, daß ihr Platz auf der Stufe des Operationsstuhles nicht der Würde dieses Anlasses entspricht; sie erhebt sich und schaut wichtig und entschlossen drein. Sie geht an das Fenster und lehnt sich mit dem Rücken gegen die Kante des Schreibtisches, ihre Hände hinter sich auf den Tisch legend.)

(Frau Clandon betrachtet beide, verwundert, was da kommen wird.)

(Gloria wird aufmerksam.)

(Philip streckt sich, legt die Handknöchel symmetrisch auf die Knie und trägt seinen Fall vor:) Dolly und ich, wir haben letzthin mancherlei besprochen, und infolge meiner Menschenkenntnis glaube ich nicht, glauben wir nicht, daß du… (er spricht sehr pointiert, mit Pausen zwischen den Worten:) die Tatsache in ihrer ganzen Tragweite erfaßt hast…

(Dolly setzt sich mit einem Satz auf den Tisch:)… daß wir erwachsen sind!

(Frau Clandon.) Wirklich?… In welcher Beziehung habe ich euch Anlaß zu Klagen gegeben?

(Philip.) Nun, wir fangen an zu fühlen, daß es gewisse Dinge gibt, über die du uns etwas mehr ins Vertrauen ziehen könntest.

(Frau Clandon erhebt sich.) Die ganze Sanftmut ihres Alters ist plötzlich fort, und eine merkwürdig harte, würdevolle, aber verbissene, vornehme, jedoch unerschütterliche Aufregung, die Art der alten Vorkämpferin der Frauenbewegung, überkommt sie:) Phil, nimm dich in acht! Vergiß nicht, was ich dich immer gelehrt habe! Es gibt zwei Arten des Familienlebens, Phil, und deine Menschenkenntnis erstreckt sich vorläufig nur auf die eine. (Rhetorisch:) Die Art, die du kennst, ist auf gegenseitige Achtung gegründet, auf der Anerkennung des Rechtes eines jeden Mitglieds des Hauses, auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung (ihre Betonung des Wortes "Selbstbestimmung" ist bedeutsam:) in seinen persönlichen Angelegenheiten. Und weil du dieses Recht immer genossen hast, scheint es dir so selbstverständlich, daß du es nicht mehr schätzest;—aber (mit beißender Schärfe:) es gibt noch eine andere Art des Familienlebens. Ein Leben, in dem Ehemänner die Briefe ihrer Frauen öffnen und von ihnen Rechenschaft für jeden Pfennig ihrer Ausgaben und jeden Augenblick ihrer Zeit verlangen, ein Familienleben, in welchem Frauen dasselbe von ihren Kindern fordern! Ein Familienleben, in welchem kein Zimmer abgeschlossen und keine Stunde heilig ist, in welchem Pflicht, Gehorsam, Liebe, Heim, Sittlichkeit und Religion verabscheuenswerte Tyrannen sind und das Dasein eine vulgäre Kette von Strafen und Lügen bedeutet, von Zwang und Unterdrückung, Eifersucht, Argwohn und gegenseitigem Beschuldigen—oh! Ich kann es dir nicht beschreiben: zu deinem Glück weißt du nichts davon. (Sie setzt sich und holt Atem.

(Gloria hat mit glänzenden Augen zugehört und teilt den ganzen

Unwillen ihrer Mutter.)

(Dolly ganz unempfänglich für Rhetorik:) Siehe "Die Eltern des zwanzigsten Jahrhunderts", Kapitel über Freiheit, passim.

(Frau Clandon berührt liebevoll ihre Schulter, selbst durch ein Spottwort von ihr besänftigt:) Meine liebe Dolly, wenn du nur wüßtest, wie froh ich bin, daß dir das alles nur einen Scherz bedeutet, so bitter ernst es mir auch ist. (Wendet sich etwas entschlossener zu Philip:) Phil, ich frage dich niemals nach deinen Privatangelegenheiten; du wirst dir doch nicht einfallen lassen, mich nach den meinigen zu fragen—wie?

(Philip.) Ich glaube, wir sind es uns selbst schuldig, zu erklären, daß die Frage, die wir an dich richten wollen, ebensosehr unsere Angelegenheit wie die deine ist.

(Dolly.) Überdies kann's nicht gut sein, daß jemand eine Menge Fragen in seinem Innern verschlossen herumtragen soll. Das hast du getan, Mama! Aber schau, wie entsetzlich es dafür aus mir hervorbricht.

(Frau Clandon.) Ich sehe, ihr müßt eure Frage stellen. Also tut es.

(Dolly) und (Philip gleichzeitig:) Wer—(Sie halten inne.)

(Philip.) Nun aber, Dolly! Soll ich diese Angelegenheit führen oder du?

(Dolly.) Du.

(Philip.) Dann halte deinen Mund. (Dolly tut das in des Wortes buchstäblicher Bedeutung:) Der Fall ist einfach folgender: Als der Zahnschlosser—

(Frau Clandon protestierend:) Phil!

(Philip.) Zahnarzt ist ein häßliches Wort. Der Mann des Goldes und des Elfenbeins fragte uns also, ob wir die Kinder des Herrn Densmore Clandon aus Newbury Hall wären. Gemäß deinen, in der Abhandlung über das Betragen im zwanzigsten Jahrhundert, ausgesprochenen Lehren und deinen uns wiederholt persönlich erteilten Ermahnungen, die Zahl unserer unnötigen Lügen zu beschränken, haben wir wahrheitsgetreu geantwortet, daß wir es nicht wüßten.

(Dolly.) Das wußten wir auch nicht!

(Philip.) Sch! Die Folge davon war, daß der Gummiarchitekt bezüglich der Annahme unserer Einladung große Schwierigkeiten machte, obgleich ich bezweifle, daß er in den letzten vierzehn Tagen etwas anderes genossen hat als Tee und Butterbrot.—Nun bin ich aber dank meiner Menschenkenntnis zu der Überzeugung gelangt, daß wir einen Vater gehabt haben müssen und daß du wahrscheinlich weißt, wer das war.

(Frau Clandon, deren Erregung wiederkehrt:) Halt, Phil! Dein Vater bedeutet weder etwas für dich noch für mich. (Heftig:) Das genügt! (Die Zwillinge schweigen, sind aber nicht befriedigt. Sie machen lange Gesichter.)

(Gloria, die dem Streit aufmerksam zugehört hat, mengt sich plötzlich ein. Vortretend:) Mutter, wir haben ein Recht zu wissen, wer unser Vater ist!

(Frau Clandon erhebt sich und wendet sich zu ihr:) Gloria! "Wir?" Wer ist "wir"?

(Gloria, entschlossen:) Wir drei. (Ihr Ton ist nicht mißzuverstehen, sie setzt zum ersten Male ihre Entschlossenheit der ihrer Mutter feindlich entgegen. Die Zwillinge treten sofort zum Feinde über.)

(Frau Clandon verletzt:) "Wir" pflegte sonst in deinem Munde "du und ich" zu bedeuten, Gloria.

(Philip erhebt sich entschlossen und setzt den Schemel beiseite:) Wir tun dir weh—also lassen wir's sein. Wir dachten nicht, daß es dich so unangenehm berühren könnte. Ich will es nicht wissen.

(Dolly den Tisch verlassend:) Ich schon gar nicht.—Oh, schau nicht so traurig drein, Mama! (Sie blickt ärgerlich auf Gloria.)

(Frau Clandon führt ihr Taschentuch rasch an die Augen und setzt sich wieder:) Ich danke dir, Liebling. Ich danke dir, Phil.

(Gloria unerbittlich:) Es ist unser gutes Recht, das zu erfahren,

Mutter!

(Frau Clandon entrüstet:) Ah! Du bestehst also darauf!

(Gloria.) Sollen wir es nie erfahren?

(Dolly.) O Gloria—nicht doch! Das ist unmenschlich!

(Gloria mit ruhigem Hohn:) Was hat man davon, wenn man schwach ist? Du hörst, was hier mit diesem Herrn geschehen ist, Mutter. Ganz dasselbe ist auch mir widerfahren.

/*

(Frau Clandon) Was meinst du?

(Dolly) }(alle zusammen:) O erzähle!

(Philip) Was ist dir passiert?

*/

(Gloria.) Oh, nichts von Belang! (Sie wendet sich ab und geht an den Armstuhl vor dem Kamin, in den sie sich, fast mit dem Rücken gegen die andern, niederläßt. Da alle erwartungsvoll schweigen, fügt sie, über die Schulter sprechend, mit gemachter Gleichgültigkeit hinzu:) An Bord des Schiffes hat mir der erste Offizier die Ehre erwiesen, um meine Hand anzuhalten.

(Dolly.) Nein, um meine Hand!

(Frau Clandon.) Der erste Offizier?… Ist das dein Ernst,

Gloria?—Was hast du ihm geantwortet? (Sich verbessernd:)

Entschuldige, ich bin nicht berechtigt, danach zu fragen.

(Gloria.) Die Antwort war ziemlich einfach: ein Mädchen, das nicht einmal weiß, wer sein Vater ist, kann einen solchen Antrag nicht annehmen.

(Frau Clandon.) Du wolltest ihn doch sicherlich auch nicht annehmen?

(Gloria wendet sich ein wenig um und erhebt ihre Stimme:) Nein. Aber gesetzt den Fall, ich hätte Lust gehabt—

(Philip.) Hat diese Schwierigkeit dich auch abgehalten, Dolly?

(Dolly.) Nein. Ich habe seinen Antrag angenommen.

/*

(Gloria) Was?

(Frau Clandon) }(alle zugleich rufen:) Dolly!

(Philip) Na, ich muß sagen!

*/

(Dolly naiv:) Er sah so blödsinnig aus!

(Frau Clandon.) Aber warum hast du das getan, Dolly?

(Dolly.) Aus Spaß wahrscheinlich. Er mußte meinem Finger für den

Ehering Maß nehmen. Du hättest das auch getan.

(Frau Clandon.) Nein, Dolly, das hätte ich nicht! Tatsächlich hat mir der erste Offizier einen Heiratsantrag gemacht; aber ich habe ihm gesagt, er möge sich derlei Scherze für Frauen aufheben, die jung genug wären, daran Spaß zu haben… Er scheint meinen Rat befolgt zu haben. (Sie erhebt sich und geht an den Kamin:) Gloria, ich bedauere, daß du mich für schwach hältst. Aber ich kann dir nicht sagen, was du verlangst. Ihr seid alle zu jung.

(Philip.) Das ist ein überraschendes Außerachtlassen der Prinzipien des zwanzigsten Jahrhunderts.

(Dolly zitierend:) "Beantworte alle Fragen deiner Kinder und beantworte sie aufrichtig, sobald sie alt genug sind, sie zu stellen. "—Siehe "Die Mutterpflichten im zwanzigsten Jahrhundert"—

(Philip.) Seite eins—

(Dolly.) Kapitel eins

(Philip.) Satz eins.

(Frau Clandon.) Liebe Kinder, ich habe nicht gesagt, daß ihr zu jung seid, um es zu erfahren—ich sagte, ihr wäret zu jung, um von mir ins Vertrauen gezogen zu werden.—Ihr seid sehr begabte Kinder—alle— aber es freut mich um euretwillen, daß ihr noch sehr unerfahren seid und daher auch sehr teilnahmslos. Ich aber habe Erfahrungen gesammelt, über die ich nur mit Leuten sprechen könnte, die durchgemacht haben, was ich durchgemacht habe. Ich hoffe, daß ihr euch für solche Mitteilungen nie eignen werdet. Aber ich will dafür sorgen, daß ihr alles, was ihr wissen möchtet, erfahren sollt.—Genügt euch das?

(Philip.) Ein neuer Vorwurf, Dolly!

(Dolly:) Wir sind teilnahmslos!

(Gloria lehnt sich in ihrem Stuhl vor und sieht ernst zu ihrer Mutter auf:) Mutter, so hab' ich's nicht gemeint; teilnahmslos wollt' ich nicht sein.

(Frau Clandon zärtlich:) Gewiß nicht, mein Herz.—Glaubst du, daß ich dich nicht verstehe?

(Gloria sich erhebend:) Aber Mutter—

(Frau Clandon etwas zurückweichend:) Ja?…

(Gloria hartnäckig:) Es ist Unsinn, zu behaupten, daß unser Vater uns nichts angehe.

(Frau Clandon zu plötzlichem Entschluß herausgefordert:) Erinnerst du dich an deinen Vater?

(Gloria nachdenklich, als wenn die Erinnerung eine zärtliche wäre:)

Ich weiß es nicht bestimmt… ich glaube.

(Frau Clandon grimmig:) Du weißt es nicht bestimmt?

(Gloria.) Nein.

(Frau Clandon mit ruhiger Festigkeit:) Gloria, wenn ich dich jemals geschlagen hätte, (Gloria weicht zurück, Philip und Dolly sind unangenehm berührt; alle drei starren sie empört an, während sie schonungslos fortfährt:)—absichtlich geschlagen—ganz klar bewußt—in der Absicht, dir weh zu tun—mit einer eigens für diesen Zweck gekauften Peitsche… glaubst du, daß du dich daran erinnern würdest?

(Gloria stößt einen Ruf beleidigter Abwehr aus:) Oh!

(Frau Clandon:) Das würde deine letzte Erinnerung an deinen Vater gewesen sein, wenn ich euch nicht von ihm fortgenommen hätte. Ich habe ihn eurem Leben ferngehalten: haltet ihr ihn nun dem meinen fern, indem ihr nie wieder in meiner Gegenwart von ihm redet.

(Gloria bedeckt einen Augenblick schaudernd ihr Gesicht mit den Händen. Da sie jemanden vor der Tür hört, wendet sie sich ab und tut so, als wäre sie damit beschäftigt, die Namen der Bücher im Bücherschrank zu besehen.)

(Frau Clandon setzt sich auf das Sofa.)

(Dr. Valentine kehrt zurück:) Ich hoffe, ich habe Sie nicht allzu lange warten lassen. Mein Hausherr ist wirklich ein außergewöhnlicher Kerl!

(Dolly lebhaft:) Oh, erzählen Sie uns das!—Auf wie lange hat er Ihnen die Zahlungsfrist verlängert?

(Frau Clandon außer sich über ihres Kindes Manieren:) Dolly! Dolly!

Liebe Dolly! Gewöhne dir doch das Fragen ab!

(Dolly verstellt demütig:) O bitte, verzeihen Sie… Aber Sie werden es uns erzählen—nicht wahr, Herr Doktor?

(Dr. Valentine.) Die Miete will er gar nicht haben. Er hat sich an einer brasilianischen Nuß einen Zahn gebrochen und mich gebeten, ihn zu untersuchen und dann mit ihm zu frühstücken.

(Dolly.) So rufen Sie ihn herein und ziehen Sie ihm den Zahn gleich aus; dann wollen wir ihn auch zum Frühstück mitnehmen! Sagen Sie dem Mädchen, sie soll ihn heraufholen. (Sie läuft zur Glocke und klingelt energisch. Dann wendet sie sich mit plötzlichem Bedenken zu Dr. Valentine und fügt hinzu:) Ich nehme an, daß er ein angesehener Mann ist… wirklich angesehen?

(Dr. Valentine.) Sicherlich! Nicht wie ich.

(Dolly.) Ganz gewiß?

(Frau Clandon ringt schwach nach Atem, aber ihre Kraft zum

Protestieren ist erschöpft.)

(Dr. Valentine.) Ganz gewiß!

(Dolly.) Dann los—bringen Sie ihn herauf!

(Dr. Valentine blickt zögernd auf Frau Clandon:) Ohne Zweifel würde er entzückt sein, wenn—wenn—

(Frau Clandon erhebt sich und sieht auf die Uhr:) Ich würde mich sehr freuen, Ihren Freund kennen zu lernen, wenn Sie ihn zum Kommen bewegen können. Aber ich kann jetzt nicht auf ihn warten; ich habe um dreiviertel eins im Hotel eine Verabredung mit einem alten Freund, den ich achtzehn Jahre lang—seit ich England verließ—nicht gesehen habe. —Wollen Sie mich also entschuldigen, bitte?

(Dr. Valentine.) Gewiß, Frau Clandon.

(Gloria.) Soll ich mitkommen?

(Frau Clandon.) Nein, mein Kind. Ich will allein sein.

(Sie geht ab, sichtlich noch ziemlich erregt. Dr. Valentine öffnet ihr die Tür und folgt ihr.)

(Philip bedeutungsvoll zu Dolly:) Hm hm…

(Dolly bedeutungsvoll zu Philip:) Aha! (Das Stubenmädchen hat dem

Glockenzeichen Folge geleistet:) Führen Sie den alten Herrn herauf.

(Das Stubenmädchen verblüfft:) Gnädiges Fräulein?

(Dolly.) Den alten Herrn mit den Zahnschmerzen.

(Philip.) Den Hausherrn!

(Das Stubenmädchen.) Herrn McNaughtan?

(Philip.) Heißt er McNaughtan?

(Dolly zu Philip:) Das klingt rheumatisch, nicht wahr?

(Philip.) Wahrscheinlich hat er Gichtknoten.

(Dolly über die Schulter zum Stubenmädchen:) Führen Sie Herrn

Gichtknoten herauf.

(Das Stubenmädchen verbessernd:) Herrn McNaughtan, gnädiges Fräulein.

(Ab.)

(Dolly wiederholt den Namen wie eine Lektion:) McNaughtan—McNaughtan—McNaughtan—McNaughtan… (Sie setzt sich nachdenklich an den Schreibtisch:) Ich muß diesen Namen lernen, oder der Himmel weiß, wie ich ihn nennen werde.

(Gloria.) Phil, kannst du an diese entsetzliche Mitteilung glauben, die uns die Mutter eben über unsern Vater gemacht hat?

(Philip.) Oh, es gibt viele Menschen solchen Schlages. Der alte Chamico pflegte seine Frau und seine Töchter mit einer Pferdepeitsche durchzubleuen.

(Dolly verachtungvoll:) Ja, ein Portugiese!

(Philip.) Menschen, die Tiere sind, haben immer viel Ähnlichkeit, ob es nun Portugiesen oder Engländer sind, Dolly. Verlaß dich auf meine Menschenkenntnis. (Er nimmt seine Stellung auf dem Kaminteppich mit einem verantwortlichen altklugen Aussehen wieder ein.)

(Gloria mit bekümmertem Gewissen:) Ich glaube nicht, daß wir jemals unser altes Rätselspiel "wer mag unser Vater sein" wieder spielen werden.—Dolly, tut's dir um deinen Vater leid—den Vater mit dem vielen Geld?

(Dolly.) Und du, wie steht es mit deinem Vater, dem einsamen alten Mann, mit dem zärtlichen kummervollen Herzen? Der ist dir nun auch durch die Binsen gegangen, wie es scheint.

(Philip.) Es steht außer Zweifel, daß der alte Herr ein zerplatzter Aberglauben ist. (Man hört Dr. Valentine vor der Tür mit jemandem sprechen:) Aber still—er kommt!

(Gloria nervös:) Wer?

(Dolly.) Gichtknoten.

(Philip.) Sch! Aufgepaßt! (Sie nehmen ihre besten Manieren zusammen.)

(Philip setzt mit leiser Stimme zu Gloria hinzu:) Wenn er fein genugist, daß man ihn zum Frühstück einladen kann, nick' ich Dolly zu; und wenn sie dir zunickt, lad ihn sofort ein.

(Dr. Valentine kehrt mit seinem Hausherrn zurück. Herr Fergus McNaughtan ist ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, groß, abgehärtet und sehnig, mit einem furchtbar hartnäckigen, übellaunigen, habgierigen Mund und einer gebieterisch streitsüchtigen Stimme. Dabei ist er ungemein nervös und empfindlich, was man an seiner dünnen, durchsichtigen Haut und an seinen schmalen Fingern erkennen kann. Seine daraus folgende Fähigkeit, unter der Unbeliebtheit, die sein Temperament und seine Halsstarrigkeit über ihn bringen, stark zu leiden, kommt in seinen ernsten, schmerzlichen Augen zum Ausdruck, in dem klagenden Ton seiner Stimme, einem schmerzlichen Mangel an Vertrauen auf das Willkommen, das man ihm bieten wird, und in einer fortgesetzten, aber nicht sehr erfolgreichen Bemühung, seine angeboren unhöflichen Manieren zu verbessern und seine Empfindlichkeit abzustreifen. Seine kühn geschweiften Brauen und seine Stirn verraten deutlich einen befähigten Menschen; ein Zeichen beschränkter Geldmittel oder geschäftlichen Mißkredits ist an ihm nicht bemerkbar. Er ist gut gekleidet und könnte auf den ersten Blick für den wohlhabenden Chef einer von einer alten Familie der Geschäftsaristokratie ererbten Firma gehalten werden. Sein marineblaue Rock ist nicht nach dem üblichen modernen Muster; es ist nicht gerade ein Lotsenrock, aber der Zuschnitt seines Anzugs, die großen Knöpfe und breiten Aufschläge würden besser auf eine Schiffswerft als in ein Kontor passen. Er hat Gefallen an Dr. Valentine gefunden, der sich aus seiner Vierschrötigkeit nichts macht und ihn mit einer respektlosen Menschlichkeit behandelt, für die er Dr. Valentine heimlich dankbar ist.)

(Dr. Valentine.) Darf ich die Herrschaften bekannt machen?—Herr

McNaughtan—Fräulein Dorothea Clandon—Herr Philip Clandon—Fräulein

Gloria Clandon. (McNaughtan steht da und verbeugt sich nervös. Sie

verbeugen sich alle:) Nehmen Sie Platz, Herr McNaughtan.

(Dolly auf den Operationsstuhl zeigend:) Das ist der bequemste Stuhl,

Herr—McNaughtan.

(McNaughtan.) Ich danke. Aber will nicht das gnädige Fräulein da sitzen—? (Er zeigt auf Gloria, die neben dem Stuhl steht.)

(Gloria.) Ich danke Ihnen, Herr McNaughtan. Wir wollen gerade gehn.

(Dr. Valentine weist ihn mit gutmütiger Entschiedenheit nach dem Stuhl:

) Setzen Sie sich—setzen Sie sich. Sie sind müde.

(McNaughtan.) Na, da ich weitaus der Älteste unter den Anwesenden bin, darf ich vielleicht—(Er beendigt den Satz, indem er sich mit etwas gichtischer Gebärde in den Operationsstuhl setzt. Inzwischen nickt Philip, der ihn während seines Ganges durch das Zimmer kritisch studiert hat, Dolly zu, und Dolly nickt Gloria zu.)

(Gloria.) Wenn wir recht verstanden haben, sind wir schuld, daß Herr

Dr. Valentine nicht mit Ihnen frühstückt; da wir ihn mithaben wollen.

Meine Mutter wird sich nur sehr freuen, wenn Sie auch mitkommen.

(McNaughtan, nachdem er sie einen Augenblick ernst betrachtet hat, dankbar:) Ich danke Ihnen, ich werde mit Vergnügen erscheinen.

/* (Gloria) (murmeln:) Ich danke Ihnen sehr für… (Dolly) } (höflich: ) Es freut uns außerordentlich, daß… (Philip) Wir sind wirklich entzückt, Ihre… */

(Die Unterhaltung stockt. Gloria und Dolly blicken erst einander und dann Dr. Valentine und Philip an. Die beiden Männer, der Lage nicht gewachsen, sehen von ihnen fort, einander in die Augen und sind augenscheinlich dadurch so verwirrt, daß sie wieder zurückschauen und den Augen von Gloria und Dolly begegnen. So sucht einer das Auge des andern der Reihe nach, und sie sehen alle auf nichts und sind total verlegen. McNaughtan sieht sich um und wartet auf die andern, bevor er beginnt. Das Stillschweigen fängt an, unerträglich zu werden.)

(Dolly plötzlich, um die Unterhaltung aufrechtzuerhalten:) Wie alt sind Sie, Herr McNaughtan?

(Gloria schnell:) Ich fürchte, wir müssen eilen, Herr Doktor.—Es

bleibt also dabei, daß wir uns um halb zwei Uhr im Marinehotel treffen.

(Sie geht zur Tür, Philip folgt ihr, Dr. Valentine geht an den

Glockenzug.)

(Dr. Valentine.) Punkt halb zwei. (Er klingelt:) Vielen Dank. (Er begleitet Gloria und Philip zur Tür und geht mit ihnen hinaus.)

(Dolly, die sich inzwischen zu McNaughtan hingeschlichen hat:) Lassen Sie sich Lachgas geben—das kostet noch fünf Schillinge extra, aber die Sache ist es wert.

(McNaughtan belustigt:) Ausgezeichnet! (Sie ernster betrachtend:) Sie wollen also wissen, wie alt ich bin—wirklich? Ich bin siebenundfünfzig.

(Dolly mit Überzeugung:) Sie sehen auch so alt aus.

(McNaughtan grimmig:) Jawohl, das ist wahrscheinlich der Fall.

(Dolly.) Warum sehen Sie mich so forschend an? Ist etwas an mir nicht in Ordnung? (Sie befühlt ihren Hut, ob er in Ordnung ist.)

(McNaughtan.) Sie erinnern mich an wen.

(Dolly.) An wen?

(McNaughtan.) Nun—Sie haben eine merkwürdige Ähnlichkeit mit meiner

Mutter.

(Dolly ungläubig:) Mit Ihrer Mutter?!… Meinen Sie nicht vielleicht mit Ihrer Tochter?

(McNaughtan bricht plötzlich haßerfüllt aus:) Nein—verlassen Sie sich darauf, daß ich nicht meine Tochter meine!

(Dolly teilnahmsvoll:) Tut Ihnen der Zahn sehr weh? (McNaughtan.)

Nein, nein—es ist nichts. Ein Anfall von Erinnerungen, nicht von

Zahnschmerzen, Fräulein Clandon.

(Dolly.) Heraus damit! "Wurzelnden Gram ausreuten dem

Gedächtnis"[*]—mit Lachgas, fünf Schillinge extra.

[Footnote *: MacBeth, 5. Akt, 3. Szene (Schlegel und Tieck).]

(McNaughtan rachsüchtig:) Nein, kein Schmerz. Eine Beleidigung, die mir einst zugefügt wurde! Ich kann Beleidigungen nicht vergessen—und ich will sie nicht vergessen! (Sein Gesicht legt sich in unversöhnliche Falten.)

(Dolly McNaughtans Ausdruck kritisch betrachtend:) Ich glaube nicht, daß wir Sie werden leiden mögen, wenn Sie über erlittenem Unrecht brüten.

(Philip der unbeobachtet wieder eingetreten ist und sich hinter Dolly geschlichen hat:) Meine Schwester meint es ehrlich, Herr McNaughtan, aber sie ist indiskret.—Nun, Dolly, fort! (Er geht mit ihr zur Tür.)

(Dolly in einem vollkommen hörbaren Flüsterton:) Er behauptet, daß er

erst siebenundfünfzig ist—er hält mich für das Ebenbild seiner

Mutter—er haßt seine Tochter—und… (Sie wird durch die Rückkehr Dr.

Valentines unterbrochen.)

(Dr. Valentine.) Fräulein Clandon ist schon voraus.

(Philip.) Vergessen Sie nicht—Punkt halb zwei.

(Dolly.) Bitte, lassen Sie Herrn McNaughtan so viel Zähne übrig, daß er mit uns essen kann. (Sie gehen ab.)

(Dr. Valentine kommt herab zu seiner Instrumentenlade und öffnet sie.)

(McNaughtan.) Das ist ein verzogenes Kind, Herr Doktor! Das richtige

Früchtchen der modernen Erziehung! Als ich im Alter dieser jungen

Dame war, hatte ich immer die letzte Tracht Prügel frisch in der

Erinnerung, um mich gute Manieren zu lehren.

(Dr. Valentine nimmt Zahnspiegel und Sonde von der seiner Lade gegenüber befestigten Platte:) Wie gefiel Ihnen ihre Schwester? (McNaughtan.) Die war Ihnen lieber, nicht wahr!

* * * * *

(Dr. Valentine überschwenglich:) Sie hat mich ergriffen, als ein

Wesen—(Er besinnt sich und fügt prosaisch hinzu:) Doch das hat nichts

mit dem Geschäft zu tun. (Er stellt sich hinter McNaugthans rechte

Schulter und nimmt seinen berufsmäßigen Ton an:) Aufmachen, bitte.

(McNaughtan öffnet den Mund.)

(Dr. Valentine steckt den Spiegel hinein und untersucht seine Zähne:) Hm!… Na, den haben Sie nett abgebrochen—wie schade! So ein prächtiges Gebiß zu ruinieren!—Warum knacken Sie damit Nüsse auf? (Er zieht den Spiegel zurück und tritt vor, um mit McNaugthan zu sprechen.)

(McNaughtan.) Ich habe immer mit den Zähnen Nüsse geknackt—wozu hat man sie denn? (Entschieden:) Das richtige Mittel, seine Zähne in gutem Zustand zu erhalten, besteht darin, daß man sie an Knochen und Nüssen genügend abnützt und sie täglich mit Seife putzt—mit gewöhnlicher Schmierseife!

(Dr. Valentine.) Seife?… Warum mit Seife?

(McNaughtan.) Als Junge fing ich damit an, weil man mich dazu anhielt, und seitdem hab' ich's immer getan. Und ich hab' in meinem ganzen Leben keine Zahnschmerzen gehabt!

(Dr. Valentine.) Finden Sie das nicht ziemlich ekelhaft?

(McNaughtan.) Ich habe gefunden, daß die meisten Dinge, die mir gut getan haben, ekelhaft waren; aber ich wurde angelernt, mich damit abzufinden, und man sorgte dafür, daß ich mich damit abfand. Jetzt bin ich daran gewöhnt;—wahrhaftig, ich liebe den Geschmack, wenn die Seife wirklich gut ist.

(Dr. Valentine macht gegen seine Absicht eine Grimasse:) Sie scheinen sehr sorgfältig erzogen worden zu sein, Herr McNaughtan.

(McNaughtan grimmig:) Jedenfalls bin ich nicht verzogen worden!

(Dr. Valentine lächelt vor sich hin:) Sind Sie dessen ganz sicher?

(McNaughtan.) Wie meinen Sie das?

(Dr. Valentine.) Nun, Ihre Zähne sind gut—ich gebe es zu; aber ich habe in manchem Mund, der mit sich sehr nachsichtig umging, ebenso gute gesehn. (Er geht an den Rand der Lade und vertauscht die Sonde mit einer andern.)

(McNaugthan.) Es kommt nicht auf die Zähne an, sondern auf den

Charakter.

(Dr. Valentine versöhnlich:) Oh! Auf den Charakter—ich verstehe.

(Er nimmt die Behandlung wieder auf:) Etwas weiter, bitte—hm!… Der

da wird heraus müssen—er ist nicht mehr zu retten. (Er zieht die

Sonde zurück und tritt wieder seitwärts an den Stuhl, um zu plaudern:)

Fürchten Sie sich nicht, Sie werden gar nichts fühlen; ich werde Ihnen

Lachgas geben.

Man kann nie wissen: Komödie in vier Akten

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