Читать книгу Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus - Bernd Balzer - Страница 14

4. Lesekultur und Buchmarkt

Оглавление

Voraussetzungen für die Entwicklung auf dem Buchmarkt

Dass die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren sozialen Folgen auch massive Auswirkungen auf die Literaturverhältnisse hatte, also Lesepublikum, Buchmarkt, Zeitschriftenwesen veränderte, ist selbstverständlich: Schon die Verstädterung und das starke Bevölkerungswachstum waren gewichtige Faktoren, aber auch die allmähliche Verkürzung der Arbeitszeit, die Verbesserung der Verkehrs- und damit der Postwege, die technischen Verbesserungen wie die Einführung der Rotationspresse 1872 und die Vereinfachung und Verbilligung der Papierherstellung bildeten die Voraussetzung für die auch in den Statistiken der Zeit ablesbare geradezu explosionsartige Ausweitung des Lesens. Allerdings zeigte die sich erst mit einiger Verzögerung:

1867 – das „Klassikerjahr“

Im ersten Jahrzehnt nach 1848 stagnierte die Buchproduktion auf hohem Niveau. Das änderte sich mit dem Jahr 1867, das als „Klassikerjahr“ in die Buchgeschichte eingegangen ist. In jenem Jahr kamen zum ersten Mal billige Klassikerausgaben, Romanreihen und Gesammelte Werke in Massenauflagen in den Buchhandel. Der Urheberschutz war 30 Jahre nach dem Tod der Autoren abgelaufen, und die Technik der Buchherstellung hatte sich entscheidend verbessert. So konnte als erster von insgesamt 35 Bänden von „Reclams Universalbibliothek“ Goethes Faust I zum Preis von 2 Silbergroschen erscheinen (soviel hatte um 1830 eines der bekannten „Groschenhefte“, z.B. von Adolf Glaßbrenner – 1810–1876 –, gekostet): „Es ist wirklich erfreulich, in welch ungeahnten Massen die Klassiker gekauft werden“, berichtet ein Zeitzeuge, „wir selbst beziehen Schiller, Goethe, Lessing immer hundertweise und verkaufen sie durch bloßes Ausstellen im Fenster. Mehrere Verleger solch billiger Ausgaben haben in wenigen Tagen Auflagen von 500.000 Exemplaren verkauft“ (Barth, 81). Die Produktion von belletristischen Büchern stieg von 829 Titeln im Jahre 1851 auf 1715 Titel im Jahre 1889. Über die Zahl privater Buchkäufer sagen diese Zahlen allerdings nichts, ebenso wenig über die Zahl der Leser. Vom Erwerb von Klassikern und Konversationslexika durch das Bildungsbürgertum und dem Abonnement einer Familienzeitschrift abgesehen kauften städtische Privatleute kaum Bücher.

Rolle der Leihbibliotheken für eine Lesegesellschaft

Deren Literaturversorgung stellten die Leihbibliotheken sicher. Gustav Freytag stellte 1852 in einem Artikel für die Grenzboten fest, dass für „belletristische Werke, Reisebeschreibungen, so wie für periodische Zeitschriften“ die Leihbibliotheken die Hauptabnehmer seien, „oft die alleinigen Käufer. Wer ein Buch dieser Art verlegt, oder eine periodische Zeitschrift herausgiebt, muß vor Allem diesen Instituten zu gefallen suchen“ (Martino, 63). Die Auflage eines Romans, im Durchschnitt 700 bis 1000 Exemplare, entsprach der Zahl der größeren Leihbibliotheken. Diese Bibliotheken unterschieden sich stark hinsichtlich des sozialen Status’ ihrer Kunden. Es gab „vornehme“ Literatur-Institute und „Volksbibliotheken“ (nach Ende der Sozialistengesetze auch Arbeiterbibliotheken).

Relative Homogenität der Leserinteressen

Dabei ist auffällig, dass sich die Lektürepräferenzen fast gar nicht unterschieden. Die gut geführten Ausleihstatistiken zeigen, dass zwischen 60 und 80 % der ausgeliehenen Bücher zur Belletristik zählten (das betraf vor allem Romane), und dass die nächstgrößte Gruppe geschichtliche Werke betraf – in einer Größenordnung von 3,65 %.

„Im großen und ganzen kann man (…) in diesen Jahren keine Geschmacksunterschiede von Bedeutung feststellen. Das bürgerliche wie das kleinbürgerliche und das proletarische Publikum lasen dieselben Autoren“ (Martino, 63), und die Bibliotheken sorgten dafür, dass die Nachfrage befriedigt werden konnte. Alberto Martino (*1937) hat unter anderem die Erwerbungspolitik des „Fritz Borstell’schen Lesezirkels“ in Berlin für die Zeit von1869 bis 1898 anhand der am häufigsten erworbenen Titel illustriert. Er nennt:

Autor Titel Anzahl
Gustav Freytag Soll und Haben (1855) Die verlorene Handschrift (1864) 23161584
Felix Dahn Ein Kampf um Rom (1875 bis 1878) 1688
Joseph Viktor v. Ekkehard. Eine Geschichte aus dem
Scheffel zehnten Jahrhundert (1855) 1317
Eugenie Marlitt Goldelse (1866) 1285
Georg Moritz Elbers Eine ägyptische Königstochter (1864) 1180
Julius Stinde Die Familie Buchholz 1120
Hermann Sudermann Frau Sorge (1887) 1085
Paul Heyse Kinder der Welt (1873) 1067
Gottfried Keller Der grüne Heinrich (1855 bzw. 1880) Die Leute von Seldwyla (1. Teil 1856, 2. Teil 1874) 630578
Conrad Ferdinand Jürg Jenatsch.
Meyer Eine Bündnergeschichte (1874) 618

(Martino, 65f.)

Volksroman und „Kolportage“

Das waren in der Tat die Bestseller der zweiten Jahrhunderthälfte – mit Ausnahme eines wichtigen Segments: Des „Volksromans“. Das auffällige Fehlen z.B. der Romane Karl Mays (1842–1912) oder Sophie Wörrishöffers (1838–1890), deren Auflage vor Ende des Jahrhunderts die der hier genannten Autoren weit überstieg, ist ein Indiz für den Erfolg der Kolportage. Das Wort bezeichnet ursprünglich keine besondere – und dabei besonders minderwertige – Literaturgattung, sondern eine Form des Vertriebs. Französisch „colportage“ heißt Hausieren, bzw. Hausierhandel. Und eben dies, den Handel im Haus oder an der Haustür, betrieb auch der Buch- und Zeitschriften-Kolporteur, der seine Ware direkt den Kunden anbot, Bestellungen aufnahm, Abonnenten warb und versorgte. Man erreichte so auch die Landbevölkerung. Und wenn auch der Vertrieb von Zeitschriften zwei Drittel ihres Geschäfts ausmachte, so war für den Absatz von Massenliteratur, zumal von Abenteuer- und Schauerromanen, die Kolportage für Jahrzehnte die hauptsächliche Vertriebsform, was zum negativen Bedeutungswandel des Begriffs „Kolportageroman“ führte.

Wenn also von Zeitgenossen die zentrale Rolle der Leihbibliotheken mit gewissem kritischem Unterton gewürdigt wurde, so ist dabei die Sachlage zwar zutreffend, aber nicht hinreichend beschrieben:

99 Procent der Deutschen Roman- und Novellen-Schreiber verdanken ihren Namen und ihre Existenz nur den Leihbibliotheken, zu welchen sie in dem Verhältniß der Fabrikanten stehen. (…) Die Verleger der leichten Unterhaltungs-Schriften drucken ihre Waare fast ausschließlich für die Leih-Bibliotheken, in Auflagen von 700 bis 1000 Exemplaren. Was sie sonst absetzen ist nicht der Rede werth. (…) Unter dem Deutschen Publicum verliert sich nachgerade so ziemlich die Neigung, Bücher zu kaufen; es begnügt sich mit der Zeitung und mit der Leih-Bibliothek. (Der Kulturkämpfer nach Martino, S. 64).

Hier fehlt der Hinweis auf den Kolporteur und seine beiden wichtigen Funktionen als Vertreiber von Büchern und Familienzeitschriften. Letztere waren für den Literaturmarkt von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die Leihbibliotheken.

Familienzeitschriften – ihre Vorbilder und erste Beispiele

Den Beginn markierte im September 1852 der ehemalige Jungdeutsche Karl Gutzkow mit den Unterhaltungen am häuslichen Herd, deren Aufbauprinzip zum Muster des Typs wurde: Am Anfang stand eine Erzählung oder Novelle, es folgte ein naturkundlicher, oder landes- und völkerkundlicher Bericht, schließlich die Abteilung „Anregungen“ mit Skizzen, Sprüchen, Aphorismen. Man erkennt unschwer das Bauprinzip des Volkskalenders – natürlich ohne Kalendarium, dafür mit wöchentlicher statt jährlicher Erscheinungsweise. Bibel und Volkskalender waren über Jahrhunderte die einzigen Bücher im Besitz breiter Volkskreise. Sie prägten die Lektüregewohnheiten, und genau an diese Gewohnheiten knüpfte das Familienblatt mit größtem Erfolg an. Die Unterhaltungen erreichten eine wöchentliche Auflage von 7000 Exemplaren (zum Vergleich: Die Tageszeitungen hatten zu der Zeit eine durchschnittliche Auflage von unter 3000 Exemplaren).

Die „Gartenlaube“ als Muster und größter Erfolg des Genres

Wenige Monate nach Gutzkow, zu Beginn 1853, gründete der Verleger Ernst Keil (1816–1878) Die Gartenlaube, die zum Prototyp und erfolgreichsten Blatt des Genres wurde. Schon 1861 erreichte sie eine Auflage von 100.000, die Mitte der 70er Jahre auf 382.000 stieg.

Aus einer Art Zwischenbilanz der Redaktion zum Ende des Jahres 1853 wird das im Lauf der Jahre geschärfte Profil und damit auch ein Teil des Erfolgsrezepts deutlich:

Einunddreißig Jahre sind verflossen, seit die „Gartenlaube“ zum ersten Male erschien, und in dieser Zeit hat sie sich über ganz Deutschland, und weit über dessen Grenzen hinaus, in alle Theile der Welt, wo nur immer Deutsche wohnen, verbreitet. Ueberallhin den deutschen Gedanken tragend, die Liebe zur Heimath pflegend, Erhebung und Erheiterung den weitesten Volkskreisen bietend, hat sie in ihrer Weise auch an der Einigung des Vaterlandes redlich und erfolgreich mitgearbeitet und ist im besten Sinne des Wortes ein Deutsches Volks- und Familienblatt geworden. (…) Die „Gartenlaube“ wird fernerhin ein deutsches Blatt bleiben und auf dem Boden der gewonnenen Einheit bestrebt sein, das Band nationaler Zusammengehörigkeit (…) fester zu schlingen (…).

Sie wird ein Volksblatt bleiben und alle Fragen beleuchten, die das Wohl des Bürgerstandes betreffen, alle Einrichtungen zu fördern suchen, die das Loos der arbeitenden Classen verbessern können; sie wird ein warmes Herz und ein offenes Ohr haben für alle, die da hart ringen im Kampfe um’s Dasein.

Sie wird ein Familienblatt bleiben und Allen im Hause: der Frau wie dem Manne, den Söhnen wie den Töchtern, schöne Erzählungen und nützliche Belehrungen bringen und so den häuslichen Herd schmücken und das tägliche Leben veredeln helfen.

Dabei soll ein guter Bilderschmuck das Auge erfreuen, denn mit frischen Kräften wird eben daran gearbeitet, die „Gartenlaube mit den Werken unserer besten Meister zu bereichern und zu verschönen. („An unsere Leser“, Heft 52, 1883).

Redaktionelles Konzept und Gestaltung

Mit der Gewinnung von Künstlern wie Adrian Ludwig Richter (1803–1884) oder Wilhelm von Kaulbach (1804–1874) wurde das letztere auch erreicht – ein wichtiges Mittel der Lesergewinnung und -bindung. Grundsätzliche Zugänglichkeit für Jedermann mit Hilfe einer volkstümlichen, allgemeinverständlichen Darbietung aller, sogar wissenschaftlicher, Themen war die Intention der Redaktion. Das zeigte sich an der Auswahl der Illustrationen und an der Sprache, z.B. der persönlich-vertrauten Anrede des Lesers, der wiederholt zur Mitarbeit angeregt wurde. Überhaupt strebte man mit der Berücksichtigung von Leserwünschen und der Errichtung des Briefkastenwesens einen engen Leserkontakt an, wie ihn zuvor nicht einmal die „moralischen Wochenschriften“ der Aufklärung besessen hatten. All das stand im Dienste eines durchaus ethischen Prinzips, nämlich der „guten Sitte“.

Das negative Image der Gartenlaube als Hort kleinbürgerlichen Kitsches hat die zweite Lebenshälfte der Zeitschrift, die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein erschien, geprägt. Bis zu den 80er Jahren des 19. Jh., als Publikationsorgan von Autoren wie Berthold Auerbach (1812–1882), Max Ring (1817–1901), Paul Heyse, Ludwig Ganghofer, Wilhelm Raabe, Friedrich Spielhagen und Theodor Fontane, hatte die Gartenlaube ein anderes Gesicht.

Familienzeitschriften und Dominanz der Erzählprosa

Weitere Familienblätter, wie Daheim (seit 1864), Über Land und Meer (seit 1858), Westermanns Monatshefte (seit 1856) versuchten der Gartenlaube Konkurrenz zu machen. Sie erreichten bei weitem nicht deren Erfolg, verstärkten aber erheblich die Wirkung des Familienblattes auf den literarischen Markt und die Literatur: Jährlich 14 Fortsetzungsromane veröffentlichte die Gartenlaube, 59 Novellen oder Erzählungen erschienen pro Jahr in Daheim. Oft „legte die Familienblattarbeit den Grundstein für den späteren Erfolg“ einzelner Schriftsteller, „zumal die Verlage von auflagestarken Unterhaltungsblättern recht gute Honorare bezahlten“ (Barth, 73). Dass die Erzählprosa, die bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eher als mindere literarische Gattung hinter Drama und Lyrik eingestuft wurde, seit den 50er Jahren an die erste Stelle der Wertschätzung rückte, haben Leihbibliotheken und Familienblätter nicht allein bewirkt, sie haben diesen Prozess aber entscheidend gefördert.

Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus

Подняться наверх