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Einleitung Die Politisierung der Kunst

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Am Anfang war Wagner. Ohne den Komponisten und seine Opern hätte es die Festspiele in Bayreuth naturgemäß nicht gegeben. Ohne die Festspiele wäre die Stadt in Oberfranken niemals zu einer Stätte deutscher Hochkultur von Weltrang und zum alljährlichen Mekka von Kunstfreunden aus allen Erdteilen geworden. Richard Wagner (1813–1883) ist der bisher einzige Musiker der Geschichte, der ein so riesiges Werk wie den Opernvierteiler Der Ring des Nibelungen schuf, in dem er in totalitärer Manier versuchte, „den Weltprozess als ganzen einzufangen“ (Theodor W. Adorno)1 und seinen politischen Umsturzphantasien damit eine „nachgeschobene theatrale Legitimation“ (Udo Bermbach)2 zu geben. Um diese Tetralogie präsentieren zu können, rief er eine seither fast ununterbrochen durchgeführte Veranstaltungsreihe ins Leben, die ausschließlich der „festlichen Aufführung“3 seiner eigenen Werke gewidmet ist. Er baute sich dafür in Bayreuth ein Theater, das allein zu diesem Zweck benutzt wird und ansonsten zehn Monate im Jahr leersteht. Wagner wurde zum Stammvater einer Familie, die bis heute die Fäden des Unternehmens in den Händen hält und neben dem seriösen Feuilleton regelmäßig auch die Boulevardmedien beschäftigt. Doch nicht nur deshalb sind die 1876 gegründeten Bayreuther Festspiele ein einzigartiges Phänomen. Trotz einer künstlerischen Stagnation, über die sich die Fachkritik seit längerem einig ist und die als Verlust der Hoheit in der internationalen Wagnerdeutung beschrieben wird, gilt das Festival als wirtschaftlich solide und ist beim Publikum weiterhin sehr erfolgreich. Das hat auch mit einer Verknappung des Kontingents zu tun. 2007 gingen in Bayreuth 460.500 Kartenwünsche aus 80 Ländern ein, von denen lediglich 53.900 erfüllt werden konnten.4 Die Nachfrage ist seither zwar etwas zurückgegangen, doch jeder Platz im Festspielhaus ließe sich immer noch mehr als sieben Mal verkaufen. Ist er nur dreifach überbucht wie bei Christoph Schlingensiefs umstrittenem Parsifal, der von 2004 bis 2007 gezeigt wurde, oder bleiben bei Katharina Wagners jüngster Meistersinger-Inszenierung einige wenige Plätze in den hinteren Reihen frei, ruft eine respektlos erschütterte Kulturwelt sogleich das Ende des Mythos Bayreuth aus.5

Dieser Mythos ist eng verbunden mit den spezifischen Kunstauffassungen Richard Wagners sowie mit seiner kulturpolitischen Festspielidee. In der Oper nutzte der Komponist das modernste Massenmedium, das es zu seiner Zeit gab. Die heute verbreitete Musikhäppchenkultur, bei der man sich über ein anrührend gesungenes „Nessun dorma“ freut, meist ohne zu wissen, aus welchem Werk die Arie stammt, ganz zu schweigen von ihrem Inhalt, hätte Wagner schärfstens abgelehnt. Ihm kam es neben der Emotionalisierung vor allem auf die Erziehung des Publikums an. Er hatte durchaus das berühmte Diktum des österreichischen Kaisers Joseph II. verinnerlicht, das Theater solle „zur Veredelung der Sitten und des Geschmackes der Nation beitragen“.6 Um dieses Ziel zu erreichen, strebte Wagner nach mustergültigen Aufführungen seiner Werke im Rahmen von Festspielen in der Provinz, weitab von den hektischen Kulturmetropolen mit ihrem als routiniert und verschlampt kritisierten Theaterbetrieb. Erholung und Ermüdung bilden in Bayreuth einen eigentümlichen Gegensatz: auf der einen Seite die idyllische Abgeschiedenheit des Ortes, der ideale Voraussetzungen für Kunstgenuss und Naturerlebnis zu gewährleisten scheint, auf der anderen Seite die zum Teil ausufernde Dauer der Werke. Opern wie Meistersinger, Götterdämmerung oder Parsifal können sich über fünf Stunden erstrecken, die das Publikum auf vergleichsweise unkomfortablen Sitzen zu verbringen hat – um was zu erleben? In beißender Ironie weist George Bernard Shaw auf die Längen und Wiederholungen etwa in der Ring-Tetralogie hin: „Siegfried hat von Wotan eine starke Vorliebe für Autobiographisches geerbt, die ihn dazu verführt, jedem, dem er begegnet, die Geschichte von Mime und dem Drachen aufzudrängen, obwohl das Publikum einen ganzen Abend damit zugebracht hat, die von ihm erzählten Ereignisse mitzuerleben. Hagen erzählt Gunther die Geschichte, und in der gleichen Nacht erzählt Alberich als Geist sie auch noch Hagen, der sie genauso kennt wie das Publikum. Siegfried erzählt sie den Rheintöchtern so lange, wie sie zuhören wollen, und hört nicht auf, sie dann auch seinen Jagdgenossen zu erzählen, bis sie ihn umbringen.“7

Doch das tut der anhaltenden Begeisterung für die Festspiele keinen Abbruch. Die Verbindung einer Stadt mit einem Künstler, zumal wenn dieser eine so „herausfordernde Mischung aus Parvenu, Großbürger und Bohémien“ (Hans Küng)8 darstellt, ist bei Bayreuth und Richard Wagner kulturgeschichtlich sehr viel enger als in vergleichbaren Fällen, wie Hans Mayer zu Recht festgestellt hat. Denn während etwa Kafkas Prag, Thomas Manns Lübeck oder das Dublin von James Joyce eine Realität jenseits der Künstler hätten, sei das im Fall Wagner anders: „Die Geschichte Bayreuths ist seitdem zur Wagnergeschichte geworden, zur Festspielgeschichte, auch zu einer Geschichte von politischen Metastasen des Wagnertums. Glanz und Elend der Familie Wagner und der Festspiele wirkten sich aus als Glanz und Elend dieser oberfränkischen Mittelstadt.“9 Eine Besonderheit des Phänomens Bayreuth liegt mithin darin, dass eine ganze Stadt von einer herausragenden Kulturinstitution absorbiert worden ist. So hat die internationale Bedeutung der Festspiele zur Folge, dass der eher abgelegene Ort in diesem Zusammenhang gar nicht mehr als peripher wahrgenommen wird. Als ein deutscher Kulturjournalist jüngst eine Reise durch die vielfältige Opernprovinz der Bundesrepublik unternahm, erwähnt er in seinem Buch zwar permanent Wagner und die Wagnerstadt, doch einen Besuch in Bayreuth selbst spart er glatt aus.10 Der Ort zählt für ihn nicht mehr zur Provinz. Der Komponist ist daran nicht ganz unbeteiligt, denn schließlich war er es, der Bayreuth zum Schauplatz seines Welttheaters11 gemacht hat. Die Vorstellung eines Theatrum mundi, in dem die Menschen ihre Rollen vor Gott zu spielen haben, als Marionette oder in freier Selbstbestimmung, war schon in der Antike und im frühen Christentum verbreitet. Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) hat sie 1675 in El gran teatro del mundo (Das große Welttheater) wieder aufgegriffen und popularisiert. Wie zahlreiche Erwähnungen in Wagners Schriften zeigen, schätzte er den berühmten spanischen Barockschriftsteller und dessen Autos sacramentatles sehr. In seiner Dresdner Bibliothek hatte er selbstverständlich auch eine achtbändige Ausgabe von Calderóns Werken – auch wenn der Spanier im 19. Jahrhundert als Inbegriff der katholischen Dichtung galt, was dem protestantischen Agnostiker und notorischen Jesuitenhasser Wagner suspekt erscheinen musste.12

Der Komponist deutete Welttheater ohnehin anders. Er ersetzte dessen ursprünglich religiösen Grundgedanken durch Kunstpolitik und politische Kunst. Bayreuth – das unterscheidet den Ort am Roten Main auch von Hofmannsthals „Großem Salzburger Welttheater“ von 1922 – war Wagners Form von Weltpolitik. Seine Idee war: Kunst ist die eigentliche Politik und Religion, und Musik ist die höchste Form der Kunst. Ich errichte ein Theater, und das, was dort aufgeführt wird, soll der Welt nicht nur erklären, was sie ist, sondern sogar die Welt selbst sein. Meine Kunst tritt als zentrales Medium einer neuen Gesellschaft an die Stelle der Politik.13 So wurde der Komponist zum „Paradigma welterobernden Künstlertums“ (Thomas Mann)14. Die Vorstellungen Wagners entsprangen der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts und weisen zurück auf den Idealisten und Anarchisten, der in der freiheitlich-nationalen Revolution von 1848/49 auf den Dresdner Barrikaden stand und alle gesellschaftlichen und politischen Institutionen scharf ablehnte.15 Den Gedanken, Kunst könne Politik ersetzen, wird man indes damals wie heute schlichtweg als irrational bezeichnen. Ohnehin hat sich der Komponist selbst über die Wechselwirkungen von Kultur und Politik zeitlebens widersprüchlich geäußert. Wie in vielen anderen Dingen hatte er auch hier keine klare Philosophie, sondern passte sich den jeweiligen Umständen und Erfordernissen an. In der Mitteilung an meine Freunde von 1851 etwa klassifizierte er die Menschen in unkünstlerisch-politische und künstlerisch-unpolitische Typen.16 Später schrieb er hingegen in Deutsche Kunst und Deutsche Politik über das „nicht uninteressante Problem des Verhältnisses der Kunst zur Politik im allgemeinen, der deutschen Kunstbestrebungen zu dem Streben der Deutschen nach einer höheren politischen Bedeutung im besonderen“.17 Im Denken und Schaffen Wagners lassen sich ästhetische und politisch-gesellschaftliche Momente nicht trennen. Der Komponist hat Kunst und Gesellschaftstheorie stets zusammengedacht und ihre Verflechtungen intensiv wie kein anderer reflektiert.18 Absicht und Wirkung von Wagners Bayreuther Welttheater sind deshalb weit über die Oper hinaus auch als ein politisches Phänomen zu verstehen – zumal der Künstler selbst eine beträchtliche politische Wirkungsgeschichte hat, zu der auch die Festspiele gehören.

Wagners Welttheater

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