Читать книгу Ohana - Hawaiis tierische Familiengeschichten für Groß und Klein - Bernd-Christoph Gunesch - Страница 7
ОглавлениеKahoolawe und das Vertrauen
Ganz in der Nähe der hawaiianische Insel Kahoolawe soll sich Folgendes zugetragen haben. Kahoolawe ist ein schwieriger Name und bedeutet so viel wie „das Wegnehmen”. Ein besonderes Tier, dessen Ursprung nicht auf Hawaii, sondern in Australien liegt, ist das Känguru. Weil es keinen hawaiianischen Namen für dieses Tier gibt, heißt es in dieser Erzählung „Wallapi”
Eines Morgens saß die Kängurufamilie, die Ohana der Wallapis, beim Essen zusammen. Gemeinsam mit ihren zwei Kindern, Malia und Keno, aßen Mama und Papa Wallapi schmatzend die zahlreichen Bananen, die sie auf einer Plantage heimlich gemopst hatten.
Da fragte die kleine Tochter Malia: „Papa? Wieso gibt es auf dieser Insel so wenige von uns Wallapis? Von den anderen Tieren gibt es so viele mehr, warum haben nur wir hier wenig Verwandte?” Papa Wallapi wusste, dass diese Frage eines Tages kommen würde. Nun war es an der Zeit, die Wahrheit zu erzählen.
„Hört gut zu, Kinder”, begann er, während er den letzten Happen seiner Banane in Ruhe zu Ende kaute und schließlich fortfuhr. „Es gibt auf dieser Insel nur wenige von uns, weil wir ursprünglich aus einem ganz anderen Land kommen. Weit weg von hier gibt es einen Kontinent, der Australien heißt. Von dort sind meine Eltern und Mamas Eltern, also eure Omas und Opas, vor vielen Jahren mit einem Schiff hierhergekommen. Auf Kahoolawe angekommen sperrte man sie in einen Zoo ein, wo die Menschen Tiere beobachten können.”
„Das heißt, Oma und Opa waren Gefangene?”, stellten Malia und Keno erschrocken fest.
„Ja und nein”, antwortete Mama Wallapi ein wenig traurig. „Die Menschen waren nicht böse zu ihnen. Sie gaben ihnen täglich zu fressen, sie hatten viel Auslauf, es gab viele Spielmöglichkeiten. Jedoch waren sie dort umzäunt und eingesperrt.”
„So ist es”, ergänzte Papa Wallapi. „Und dann kamen Mama und ich auf die Welt. Wir sind also im Zoo geboren worden und kannten es gar nicht anders, als dort zu leben.”
„Sind unsere Omas und Opas immer noch im Zoo?”, wollte Keno wissen.
„Ich denke ja”, antwortete die Mutter unter Tränen. „Wir haben sie schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Wenn sie noch leben, müssten sie jetzt Schon sehr alt sein.”
„Aber warum seid ihr hier und unsere Großeltern noch im Zoo?”, sprudelte es aus beiden Wallapi-Kindern gleichzeitig heraus.
Während der Vater die Mutter tröstete, antwortete er: „Weil wir sie dort lassen mussten. Sie waren damals schon zu alt für die Flucht aus dem Zoo.”
„Bitte erzählt uns mehr davon! Wie habt ihr es geschafft, von dort zu entkommen?”, forderte Malia, indem sie aufgeregt hin- und herhüpfte.
Der Wallapi-Vater erzählte weiter: „In Ordnung. Als wir gerade auf die Welt gekommen waren, trainierten eure Omas und Opas täglich mit uns das Springen: Sie zeigten uns, wie man seine Kraft am besten einsetzt, um besonders hoch springen zu können. Allerdings übten wir immer erst dann, wenn alle Menschen weg waren und auch die Zoowärter schliefen. Niemand sollte sehen, wie gut wir tatsächlich springen konnten; es war so etwas wie unser Geheimnis. Nachdem wir uns gut entwickelt hatten, sagten eines Nachts eure Großeltern zu uns: ,Es ist so weit Ihr seid nun stark genug, um auch in der Wildnis zu überleben. Morgen Abend werden wir Abschied voneinander nehmen und euch dabei helfen, über den Zaun zu springen.’ Wir konnten kaum fassen, was sie da zu uns gesagt hatten, aber wir vertrauten ihnen: Weil wir wussten, dass sie es immer nur gut mit uns meinten.
Am nächsten Abend war es dann soweit: Wir schauten uns vorsichtig um. Nachdem die Luft rein war, umarmten wir uns ein letztes Mal, nahmen Abschied voneinander und flüsterten leise: „Hilinai! Vertrauen!”
Ich weiß noch, wie ich zu Oma sagte: ,lch kann das nicht!’ Aber sie ermutigte mich: ,Vertraue mir, du kannst das sehr wohl. Du bist stark und du bist schlau, also wirst du es auch schaffen.’
Unsere Großeltern hüpften leise in Richtung Zaun und machten dort einen Buckel. Dann ermutigten sie uns, Anlauf zu nehmen und so fest es ging auf ihren Rücken zu Springen, um von dort mit einem weiteren Sprung über den hohen Zaun zu gelangen.
Sowohl Mama als auch ich schafften den Sprung über den Zaun mit dem ersten Versuch! So standen wir uns also ein letztes Mal am Zaun gegenüber, denn aus eigener Kraft hätten sie den Sprung über den Zaun nicht mehr geschafft. Also mussten wir sie zurücklassen und unser eigenes Leben in Freiheit führen. Erst als wir über die Jahre gelernt hatten, wie man in freier Wildbahn überlebt, kamt ihr zwei süßen Engel auf die Welt.”
Die beiden Wallapi-Kinder Malia und Keno waren nach dieser Erzählung wie erstarrt.
Sie weinten bitterlich, als sie die traurige Geschichte von ihren Großeltern erfuhren. Noch lange mussten sie darüber nachdenken - auch über die Frage, wie ihr Leben wäre, wenn sie mit ihrer Ohana, ihrer ganzen Familie, Zusammenleben könnten.
Sollte hier diese Geschichte zu Ende sein? Nein, fanden die beiden jungen Wallapis. Sie schmiedeten heimlich einen Plan, ohne ihren Eltern etwas davon zu erzählen.
Täglich täuschten sie Mama und Papa von nun an vor, dass sie im Tal noch ein wenig Spielen wollten. In Wahrheit aber spielten sie keine Sekunde lang. Sie gingen zu kantigen Felsen und schliffen dort ihre Nägel und Zähne so scharf, dass man sich sogar beim Herumtollen versehentlich daran hätte verletzen können.
Könnt ihr euch denken, wozu das gut sein sollte?
Einige Wochen später brachten die Eltern ihre Kinder eines Abends wie für gewöhnlich zu Bett und erzählten ihnen noch eine Geschichte zum Einschlafen.
Als die Geschichte zu Ende war, taten beide Kinder so, als schliefen sie tief und fest. Vorsichtig schlich sich der Wallapi-Vater leise davon, um seine Kinder nicht zu wecken. Da vernahm er, kaum hörbar, ein Flüstern: „Hilinai”. Der Vater nahm das Wort zwar zur Kenntnis, dachte sich aber nichts dabei. Er vermutete, dass der kleine Keno nur träume.
Als die Eltern auch schlafen gegangen waren und man den Wallapi-Vater deutlich schnarchen hörte, machten sich die beiden Kinder aus dem Staub: mitten in der Nacht, wann schließlich die meisten Gefahren lauerten.
Der Weg zum Zoo war nicht schwierig. Es herrschte jedoch eine unangenehme Stille, bei der man jedes noch so leise Geräusch hören konnte. Mal knackste es auf dieser Seite, mal auf jener Seite, mal vor und mal hinter den beiden mutigen Wallapi-Kindern.
„Was war das?”, fragte Malia ihren Bruder.
„Ich weiß es nicht. Lass uns weitergehen. Wir verlieren nur unnötig Zeit, wenn wir uns zu viele Gedanken machen”, entgegnete Keno seiner Schwester.
Hier und da kreuzte ein Schatten ihren Weg, doch Malia und Keno waren sich ihrer Sache sicherer denn je und niemand hätte sie an ihrem Vorhaben hindern können. Jetzt mussten sie nur noch die Nachtwächter am Eingang überlisten, indem sie einen Stein in die andere Richtung des Zoos warfen, der so laut gegen den Zaun donnerte, dass die Nachtwächter damit beschäftigt waren, dem Geräusch zu folgen.
Am Zaungehege der gefangenen Wallapis angekommen, sah man kein einziges Tier. Nur die Schatten ließen darauf schließen, dass sich hinter den Bäumen und in den Büschen tatsächlich der Rest ihrer Ohana befinden würde.
Die beiden Kinder begannen nun mit ihren geschärften Zähnen und Nägeln den Zaun anzuknabbern. Es dauerte eine ganze Weile, bis es ihnen endlich gelang, den Zaun tatsächlich zu durchlöchern, doch nun war es geschafft! Voller Spannung hüpften sie in das Gehege hinein und hofften, dass sie sich nicht geirrt hatten. Man stelle sich nur vor, was passieren würde, wenn sie versehentlich im Gehege der Löwen gelandet wären…
Sie näherten sich nun dem ersten Busch und vernahmen ein Schnarchen, wie sie es sonst nur von ihrem eigenen Vater kannten.
Vorsichtig tippte Keno die Schnarchnase an, bis diese die Augen öffnete und blinzelte, als hätte sie einen Geist gesehen.
„Wer bist du?”, fragte der Großvater seinen Enkel, ohne zu wissen, wer genau vor ihm stand.
„Das weißt du nicht?”, entgegnete Keno selbstbewusst. „Denke doch mal nach!”
Opa Wallapi brauchte einen Moment und atmete tief ein. Behutsam berührte er mit seinen Pfoten Kenos Fell, strich sanft von oben nach unten und fühlte an einer Stelle, dass das Fell in die andere Richtung wuchs. Es fühlte sich an diesem kleinen Fleck borstig an und er kannte dieses Gefühl ganz genau. Denn er selbst und seine eigenen Kinder haben an der gleichen Stelle das gleiche Fell. Somit war ihm auf einen Schlag klar, wer da vor ihm stand: „Komm her, mein Enkel!”
Sie fielen sich in die Arme und freuten sich so laut, dass auch die anderen Wallapis im Gehege wach wurden und den Geräuschen folgten. Schließlich umarmten sich alle - ihr Glück kaum fassend.
Mit Tränen im Gesicht fragte der Wallapi-Großvater: „Wie seid ihr hier reingekommen? Wo sind eure Eltern?“
Das einzige aber, was die Enkelkinder ihren Großeltern zu sagen hatten, war: „Hilinai!”
Ohne eine weitere Sekunde im Gehege zu verschwenden, sprangen die Kinder los, in Richtung ihres Lochs im Zaun. Die gesamte Ohana folgte ihnen unauffällig auf leisen Pfoten.
Als am nächsten Morgen die Wallapi-Mutter erwachte, stellte sie erschrocken fest, dass ihre Kinder weg waren! „Liebling! Wach auf!”, schrie sie aufgeregt und panisch zu ihrem Mann. „Malia und Keno sind fort!”
In diesem Moment hatte der Vater einen Geistesblitz. Hatte er nicht am gestrigen Abend das Wort „Hilinai” gehört? Er erzählte seiner Frau davon, die aber nicht zu beruhigen war.
Als sie beschloss aufzubrechen, um ihre Kinder zu suchen, sah sie am Ende des Tals etwas, was sie nicht für möglich hielt. Waren da tatsächlich ihre eigenen Eltern, die ihr entgegensprangen?
Ja, sie waren es! Sie hüpften aufeinander zu und konnten nicht glauben, dass sie diesen Tag noch einmal erleben würden.
Die Wallapi-Mutter blickte ihre beiden Kinder zunächst etwas vorwurfsvoll an, weil sie ja etwas Verbotenes getan und sich in Gefahr begeben hatten. Schließlich war der Plan von Malia und Keno nicht ohne Risiko. Ehe sie aber überhaupt etwas sagen konnte, rief ihr Oma Wallapi entgegen: „Hilinai! Richtig?”
„Ja, Hilinai!”, nickte sie zustimmend.