Читать книгу Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« - Bernd-Jürgen Fischer - Страница 11

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Zur Rezeption

»›Das Lesen.‹ – ›Oh!, das ist aber eine sehr beruhigende Leidenschaft bei einem Ehemann!‹ rief Madame Bontemps und erstickte ein boshaftes Lachen.« (SJM, S. 247.)

Die Literatur zu Proust hat inzwischen den Pegel von 10 000 Titeln überschritten – die meisten davon gewiss zur Suche. Es ist daher kaum noch menschenmöglich, und ganz bestimmt nicht in diesem Rahmen, einen auch nur annähernd vollständigen Überblick über die Diskussion zu geben. Ich beschränke mich hier darauf, die wesentlichsten Gesichtspunkte anzudeuten, die unmittelbar nach Erscheinen der einzelnen Bände in der Tagespresse und Literaturkritik vorgebracht wurden. Die meisten dieser Rezensionen sind heute nur noch unter Mühen erhältlich; dem interessierten Leser steht aber immerhin Hodsons Sammlung (1989) umfangreicher Auszüge in englischer Übersetzung zur Verfügung. Eine erste Zusammenfassung der zeitgenössischen französischen Rezeption Prousts liefert Catalogne bereits 1926, eine naturgemäß umfangreichere Darstellung der französischen Kritik bietet dann Alden 1973. Eine speziell auf den moralischen Aspekt fokussierte Analyse der französischen Reaktionen auf Prousts Werk in den Jahren zwischen 1913 und 1930 liefert Ahlstedt 1985. Einen Überblick über die zentralen Themen der Diskussion liefert die 1971 erschienene Sammlung von Jacques Bersani mit 20 Aufsätzen, die den Zeitraum von 1912 bis 1970 umfasst und so illustre Namen wie Curtius, Butor, Deleuze, Barthes und Genette vereint. Ein ähnliches Konzept verfolgen 1990 Paolo Pinto und Giuseppe Grasso mit ihrer Sammlung Proust e la critica italiana von 36 Aufsätzen zur italienischen Proust-Rezeption, in der Beiträge von u. a. G. Ungaretti, B. Croce, A. Moravia, A. Beretta-Anguissola, G. Macchia und P. Citati zu finden sind. Ein feinmaschigeres Netz wirft 1983 Angelika Corbineau-Hoffmann aus, die unter dem Titel Marcel Proust die Literatur zu Proust thematisch gegliedert in Abrissen darstellt.

Einen vorläufigen Überblick über die Proust-Rezeption auch außerhalb Europas gab 2001 das Institut Marcel Proust International in einem Kongressbericht. Detailliert befasst sich Herbert E. Craig 2002 mit der Proust-Rezeption im spanischsprachigen Amerika; die umfangreiche Bibliographie erfasst zudem über die Fachdiskussion hinaus auch Zeitungsrezensionen und -erwähnungen.

2009 erschien an der Université de Provence eine Dissertation von Hongmei He, die einen Überblick über die Rezeption Prousts in China liefert.

1926 Gérard de Catalogne: Marcel Proust et ses critiques. In: Marcel Proust. Paris: Éditions de la Revue Le Capitole, 1926.

1967 René de Chantal: Marcel Proust. Critique littéraire. Montréal: Presses de l’Université de Montréal, 1967.

1971 Jacques Bersani (Hrsg.): Les critiques de notre temps et Proust. Paris: Garnier, 1971.

1973 Douglas W. Alden: Marcel Proust and his French Critics. Los Angeles: Lymanhouse, 1940. Nachdr. New York: Russell & Russell, 1973.

1983 Angelika Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. (Erträge der Forschung.)

1985 Eva Ahlstedt: La Pudeur en crise. Un aspect de l’accueil d’»À la recherche du temps perdu« de Marcel Proust, 1913–1930. Paris: Touzot, 1985.

1989 Leighton Hodson (Hrsg.): Marcel Proust. The Critical Heritage. London / New York: Routledge, 1989.

1990 Paolo Pinto, Giuseppe Grasso (Hrsg.): Proust e la critica italiana. Torriana: Orsa Maggiore, 1990.

2001 Institut Marcel Proust International (Hrsg.): La Réception de Proust à l’étranger. Illiers-Combray: Société des Amis de Marcel Proust, 2001.

2002 Herbert E. Craig: Marcel Proust and Spanish America. From Critical Response to Narrative Dialogue. London: Associated University Presses, 2002.

2009 Hongmei He: La réception de Marcel Proust en Chine. De la lecture critique à la lecture créatrice. Aix/Marseille: Université de Provence, 2009.

Die Kritik zu Lebzeiten

»The clumsy centipedalian crawling of the interminable sentences.« (Arnold Bennett in Erinnerung an eine Lektüre von Swann kurz vor Prousts Tod; in: A. B., Things that have interested me, London: Chatto & Windus, 1926, S. 197.)

Swann (erschienen 14. 11. 1913) Man muss Grasset zugutehalten, dass er das Erscheinen von Du côté de chez Swann in professioneller Manier nach modernsten Maßstäben vorbereitet hatte. Zahlreiche Besprechungsexemplare wurden beizeiten versandt, der Freundeskreis Prousts wurde animiert, Rezensionen zu verfassen. Am 13. November 1913 erschien in der bedeutenden Tageszeitung Le Temps eine umfangreiche Ankündigung durch Élie-Joseph Bois (1878–1941), in der dieser »vorhersagt«, dass der angekündigte erste Band der Recherche du temps perdu »wohl keinen Leser gleichgültig lassen wird. Er wird vielleicht manche verstören«, und Swann als »eigenartig, tief, überraschend, mitreißend, verwirrend, überwältigend« charakterisiert: »Kann nicht als leichte Lektüre für eine Zug­reise bezeichnet werden.« Hier wird auch erstmals das notorische Bild von Proust als einem bettlägerigen Invaliden gezeichnet: »Marcel Proust ist ein Märtyrer seiner schlechten Gesundheit, aber erscheint nicht so, sobald der Schriftsteller in ihm, bittet man ihn, sein Werk zu erläutern, erwacht und spricht.« Eingebettet in den Artikel ist ein Interview mit Proust, in dem dieser auf seinen Stil, seine Arbeitsmethode und seine Ästhetik eingeht: »Für mich ist der Roman nicht Psychologie in der Ebene, sondern Psychologie in der Zeit. Ich habe versucht, diese unsichtbare Substanz der Zeit zu isolieren, aber damit das möglich wurde, musste das Experiment über längere Zeit fortgeführt werden. […] Die Charaktere werden sich später als sehr verschieden herausstellen von dem, was sie in diesem Band sind und von dem, was man von ihnen annehmen wird. […] Mein Werk ist beherrscht von der Unterscheidung zwischen unwillentlicher und willentlicher Erinnerung, eine Unterscheidung, die nicht nur nicht in Bergsons Philosophie vorkommt, sondern der sogar von ihr widersprochen wird.« Zu seiner Arbeitsmethode erklärt Proust: »Ich meine, dass der Künstler das Rohmaterial für seine Arbeit eigentlich nur in den unwillentlichen Erinnerungen suchen sollte. […] Nur sie tragen den Stempel der Authentizität. […] Sie lassen uns dasselbe Erlebnis unter verschiedenen Umständen wahrnehmen, sie befreien es so von allen Zufälligkeiten und zeigen uns seine außerzeitliche Essenz, eine Essenz, die tatsächlich den Inhalt eines schönen Stils ausmacht, jene allgemeine und notwendige Wahrheit, die allein die Schönheit des Stils verständlich machen kann.« Und weiter zum Stil: »Stil ist nicht nur Zierat, wie manche Leute meinen, nicht einmal eine Frage der Technik, er ist, wie die Farbe des Malers, eine Qualität des Sehens, die Enthüllung jenes besonderen Universums, das jeder von uns sieht und das kein anderer sehen kann. Das Vergnügen, das ein Künstler uns bereitet, liegt darin, dass er uns mit einem weiteren Universum bekannt macht.« (Übers. nach Compagnon, Swann, S. 451 ff.)

Am 27. November 1913 veröffentlichte Lucien Daudet, der den Text bereits aus den Fahnen kannte, eine enthusiastische und einfühlsame Besprechung im Figaro; darin hebt er neben anderen auch den amüsanten Aspekt des Textes hervor: »Marcel Prousts Analysen […] stehen so perfekt im Einklang mit einer überwältigenden Sensibilität, dass die beiden untrennbar zusammengehen sowohl bei schmerzlichem Empfinden wie auch bei Ironie, und wir schließlich […] meinen, dass seine Analyse unsere Gefühle freisetzt und seine Sensibilität unser Lachen.« Zum Stil steuert Daudet eine Beobachtung bei, die den Übersetzer ständig in den Konflikt zwischen Texttreue und Inhaltstreue stürzt: »Der Stil von Marcel Proust befindet sich in vollkommenem Einklang mit seinem Denken: mit einer skrupulösen Präzision erfüllt er unaufhörlich in unglaublicher Weise unsere Erwartungen hinsichtlich der Beziehung zwischen einem Eindruck und seinem Ausdruck.« Es ist dies wohl die schwierigste Hürde bei einer Übersetzung, denn so mancher französische Ausdruck neigt dazu, nach Übersetzung nicht mehr den Eindruck zu liefern, dem er im Original entsprach. In seinem Résumé schließlich schreibt Daudet: »Man kann ganz schlicht sagen, dass später einmal, vielleicht sehr viel später, Marcel Prousts Buch, wenn man von ihm spricht, als eine außergewöhnliche Manifestation menschlichen Verstandes im zwanzigsten Jahrhundert erscheinen wird.« (Übers. nach L. Daudet, Autour de soixante let­tres de Marcel Proust, 1929.)

Bereits am 3. Dezember 1913 erschien auch eine Besprechung im Times Literary Supplement von Mary Duclaux (1857–1944), die sich schwerpunktmäßig mit literarischen Kindheitserinnerungen befasste und sich begeistert zeigt von der Darstellung des Knaben Marcel: »Von allen diesen Büchern [bis vielleicht auf zwei] ist das zarteste, das mit einer außerordentlich tiefen Empfindsamkeit gesättigtste, umfassende und doch für das Erleben von Krankheit oder die ersten Eindrücke der Kindheit sensible, ein gewaltiger Roman […] von Marcel Proust […]. Das Buch, mit dem man ihn am ehesten vergleichen könnte, wäre Henry James’s A Small Boy, obwohl dieses ganz entschieden schlicht und kompakt ist verglichen mit Marcel Prousts Versuchen, die undeutlich schillernden Eindrücke eines jungen Geistes zu rekonstruieren, das – uns unerklärliche – Staunen, mit dem er Orte und Personen betrachtet, die in unseren Augen keinerlei Zauber ausüben.« Als Beispiel zitiert sie die Träumerei, in die Marcel versinkt, als seine Mutter ihm erzählt, sie habe Swann in den Trois-Quartiers getroffen, der einen Schirm kaufen wollte (WS, S. 567), und schließt: »Etwas Älteres und Tieferes als Wissen erfüllt dieses Buch.« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 89–92.) Mary Duclaux hatte übrigens für Proust während des Ersten Weltkrieges eine Patenschaft für Soldaten übernommen.

Nach diesen Elogen meldeten sich allerdings auch weit weniger begeisterte Stimmen. So erschien im Figaro am 8. Dezember eine weitere Rezension, diesmal von Francis Chevassu (1862–1918), der Swann als eine kaum verhüllte Autobiographie liest: »Das Fehlen einer Handlung und das kapriziöse Wesen der Komposition zeigen darüber hinaus, dass es Marcel Prousts geringster Wunsch war, sich auf das zu beschränken, was für gewöhnlich die Betrachtung des Lebens genannt wird. Man wird wohl eher zu dem Schluss kommen, dass das, was er schreiben wollte, eine angenehme und bilderreiche Autobiographie war, aber in einem ungewöhnlichen Format.« Die von Duclaux so überschwenglich gelobte Kindheitsdarstellung sieht Chevassu in einem anderen Licht: »In Marcel Prousts Buch bleiben seine Erinnerungen in einem unberührten Zustand und sind klar umrissen; und doch ist ihnen das Empfinden des erwachsenen Mannes, der sie wachruft, unweigerlich aufgeprägt; dieses Empfinden führt zu keiner Veränderung; es setzt sie lediglich fort in einer träumerischen Stimmung oder illustriert sie mit einem zarten, feinsinnigen Humor; im Gegensatz zum üblichen Vorgehen ist es hier die Gegenwart, die der Vergangenheit ihre Ausstrahlung verleiht.«

Auch Le Temps schob am 10. Dezember eine zweite Kritik nach, diesmal von dem anerkannten und einflussreichen Literaturkritiker Paul Souday (1868–1929). Trotz des scharfen Tones dieser Kritik (»Enthält durchaus glänzende Partien, aus denen der Autor ein recht hübsches Büchlein hätte machen können«) war Proust erfreut über die Publizität, die sie ihm verschaffte, jedoch indigniert über den Vorwurf, schlechtes Französisch zu schreiben. Soudays Mängelrügen bezogen sich jedoch fast ausschließlich auf Fehler, die jedermann mühelos als Satz- oder Druckfehler erkennen könnte, so er denn wollte. Aus heutiger Sicht etwas befremdlich nimmt sich eine Bemerkung gegen Ende von Soudays Besprechung aus: »Den nächsten Band erwarten wir mit Wohlwollen und in der Hoffnung, etwas mehr Ordnung und Strenge zu finden und einen etwas ausgefeilteren Stil.« Wie ausgefeilt denn noch? Der emimente britische Literaturwissenschaftler Leighton Hodson bemerkt dazu, wie auch zu den Rufen nach mehr Ordnung und Strenge, die allerdings auch schon bei anderen Kritikern zu hören waren: »Veränderungen im geistigen und künstlerischen Klima erklären zum Teil, was heutige Leser wahrzunehmen vermögen. Die Erklärung besteht zum Teil darin, dass Prousts Genie von 1896 an [dem Erscheinen von Les Plaisirs et les Jours] dem künstlerischen Verständnis seiner Leser weit vorauseilte« (Hodson, Heritage, S. 36).

Übrigens antwortete Proust Souday am nächsten Tag mit einem spöttischen Brief, in dem er genüsslich auf eine falsche Zuschreibung und obendrein falsche Deutung eines lateinischen Zitats hinwies, das Souday in seiner Kritik verwendet hatte: unter Aufnahme von Soudays Empfehlung, einen pensionierten Akademiker einzustellen, der seine Grammatik kontrolliert, empfiehlt Proust Souday (»ich hoffe, Sie nehmen mir diese kleine Bosheit nicht übel«), jemanden einzustellen, der seine lateinischen Zitate überprüft: »Er würde nicht versäumen, Sie darauf hinzuweisen, dass Materiam superabat opus nicht von Horaz stammt, sondern von Ovid, und zudem nicht als Rüge, sondern als Lob verwendet wurde« (Corr. XII, S. 380–383). Die kleine Gemeinheit wurde nicht verziehen, wie man sieben Jahre später in Soudays Rezension von Guermantes I nachlesen kann (s. unten).

Offenbar verärgert über die Lobhudelei der Freunde Prousts in den ersten Kritiken, stößt Lucien Maury (1872–1953) in der Revue politique et littéraire am 27. Dezember 1913 in dasselbe Horn: Nachdem er erst einmal Lucien Daudets Charakterisierung Prousts als »Genie« auf menschliches Maß zurechtgestutzt hat (»ich würde eher sagen, dass er eine ganze Menge Talent hat«), fährt er fort: »Eine ausgedehnte Fläche klaren Wassers, das all die Großartigkeit einer ausgedehnten, vielfältigen Landschaft widerspiegelt, mag sich als nicht so sehr tief erweisen; wir werden angezogen von seiner Durchsichtigkeit, dem Zauber dieser glatten und trügerischen Oberfläche. […] Die Anziehungskraft von Prousts Geist beruht auf ähnlichen Eigenschaften.« An Prousts Stil bemängelt er die »konturlosen Sätze, in denen Klammereinschübe und Nebensätze ziellos umherwandern in einem ungezügelten ›Jeder-kann-mitmachen‹« und spricht von »kakophonischem Schreiben« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 101–104).

Gaston de Pawlowski (1874–1933) hebt in seiner Rezension vom 11. Januar 1914 für die Zeitschrift Comædia, S. 3, wohl erstmalig in dieser Deutlichkeit die psychologische Durchdringungskraft Prousts hervor, dessen Analysen er geradezu als Neuland empfindet: »Wir haben uns weit von der bruchstückhaften, lediglich beschreibenden Psychologie der Romanciers entfernt, die wir in unserer Jugend genossen haben. […] Dies ist Psychologie, die dem Studium von Bakterien unter dem Mikroskop vergleichbar ist; dies ist nicht die Psychologisiererei eines Salonhelden mit Hilfe eines bloßen Monokels. […] Nachdem ich dies gesagt habe, habe ich jedoch auch den Eindruck, dass das psychologische Vorgehen des Autors in bedenklicher Weise durch die Theorien Bergsons inspiriert wurde […]« (Übers. nach Hodson, Heritage, S. 108 f.). Gegen diesen Brückenschlag zu Bergson verwahrt sich Proust energisch in einer umgehenden Antwort an Pawlowski (Datierung 11. 1. 1914 unsicher): »Nicht im Traum habe ich daran gedacht, die Philosophie Bergsons zu ›illustrieren‹. Ich habe den Namen Bergson nur einmal ausgesprochen, und dies, um zu sagen, dass es nichts ›Bergsonisches‹ an einem solchen Buch gibt [in dem Interview mit Bois, s. oben]. Doch von dem Augenblick an wurde ich unaufhörlich entweder beglückwünscht oder gescholten, der Autor eines ›bergsonischen‹ Romans zu sein.« Übrigens findet sich in diesem Brief auch eine Bemerkung, die so manchen Kenner der Suche verblüffen dürfte: »Die Fotografie ist jene Kunst, die ich am heftigsten verabscheue« (Corr. XIII, S. 54 f.).

In der letzten publikationsnahen Rezension, die ich hier erwähnen möchte, rückt der Maler und Kunstkritiker Jacques-Émile Blanche am 15. April 1914 im Écho de Paris, S. 1, Prousts Stilkritikern den Kopf zurecht: »[Prousts] Mut wird in den Verbindungen und den Verzierungen nicht enden wollender Satzgefüge deutlich, die dennoch klar sind, bildhaft und, wenn sie nicht dabei verweilen, zu viele Girlanden einzuweben, fest gefügt, konturiert, geschmeidig und bedeutungsgeladen sind.« Blanche hebt die amüsanten Seiten an Proust hervor, die bislang bestenfalls in Nebensätzen zu ihrem Recht kamen: »Zu seinen Fähigkeiten als Irrenarzt und Psychologe fügt er dieses seltene Gewürz feiner Ironie hinzu, das unbarmherzig wäre, wenn es nicht durch Sympathie gemildert würde. Er ist geistvoll und profund.« Blanche schließt mit dem Satz: »Es [dieses Buch] ist fast zu grell für Augen, die halb blind sind selbst bei vollem Tageslicht.«

Mädchenblüte (erschienen 20. 6. 1919) Der Prix Goncourt wird seit 1903 im Herbst für das beste erzählerische Werk französischer Sprache vergeben, das im vorangegangenen Jahr publiziert wurde. Er verschaffte sich trotz seiner intellektualistischen Tendenzen im Handumdrehen ein außerordentliches Renommee beim Publikum wie auch bei den Autoren. Als Gallimard 1913 Swann für den Prix Goncourt vorschlug, war dies bereits ein Griff nach den Sternen – ein berechtigter, aber etwas verfrühter Vorstoß, denn Proust erhielt am Ende nicht eine der zehn Stimmen des Preisgremiums. Aber auch Alain-Fourniers erfolgreicher Roman Le Grand Meaulnes (dt. Der große Kamerad, 1930) wurde nach immerhin elf Abstimmungsrunden für nicht preiswürdig erachtet; ausgezeichnet wurde vielmehr Marc Elders Le Peuple de la mer (nicht übersetzt), ein Roman, der vom Überlebenskampf der Fischer auf der Insel Noirmoutier erzählt. Beim Erscheinen von Mädchenblüte dagegen war der Boden gründlicher vorbereitet: am 10. Dezember 1919 wurde ihm der mit 5000 F (etwa 3900 €) dotierte Preis verliehen; sechs der Jury-Mitglieder hatten für Proust gestimmt, die restlichen vier dagegen für Roland Dorgelès’ Kriegsroman Les Croix de bois (dt. Die hölzernen Kreuze, 1930), den immerhin Tucholsky als ein Meisterwerk apostrophierte.

Allerdings war die Kritik in dieser Zeit, zu der das Kriegsende erst ein Jahr zurücklag, von der Entscheidung der Jury nicht einhellig überzeugt, wenn auch nicht unbedingt aus literarischen Gründen. Am prägnantesten kommt dieses zeitpolitisch motivierte Missfallen in Jean de Pierrefeus Rezension für das Journal des débats vom 12. Dezember 1919 zum Ausdruck, in der er bemängelt, dass Proust schon zu arriviert sei, um der Unterstützung des Prix Goncourt zu bedürfen, ferner zu alt (»Talent von jenseits des Grabes, nicht ohne Charme«), zu pazifistisch, und vor allem zu antiquiert: »Diese Sammlung von Erörterungen […] werden jene kränklichen Seelen genießen, die sich der Realität nicht stellen können und sich in Träumereien verlieren. Sie hat wenig mit den Neigungen einer jungen Generation zu tun, die die Schönheit des Kampfes feiert und die Tugenden des Lichts; sie steht nicht im Einklang mit der Erneuerung des klassischen Geistes, den die Partei der Intelligenz zum einzigen erklärt, der mit der Größe unserer siegreichen Nation vereinbar ist.« Mit einer hübschen Wendung richtet sich Jacques Rivière in der Nouvelle Revue Française gegen die Oberflächlichkeit des Alters-Arguments, das in der Tagespresse wiederholt angeführt wurde: »Sollten wir der Académie Goncourt nicht dankbar sein, dass sie nicht den Jüngsten, sondern den Verjüngendsten […] gekrönt hat?«

Neben diesen neuen, wenn auch entlegenen Stellungnahmen ist auch wieder das Klagelied zu vernehmen, das schon im Zusammenhang mit Swann angestimmt wurde. »Ein Buch, das zu lang ist, offenbart«, nach Meinung von Rachilde (d. i. Marguerite Eymery, 1860–1953) im Mercure de France vom 1. Januar 1920, »immer einen Mangel an Höflichkeit«, und Jean Pellerin befürchtet in seinem Artikel für die Zeitschrift La Lanterne vom 11. Dezember 1919, dass »das große Publikum verzagen wird, wenn es sich diesem undurchdringlichen Gewebe von Subtilitäten gegenübersieht«, dass es »nicht zum ersten Mal über die ›Literatur‹ hohnlachen und sich einfach wieder seinem Fantomas zuwenden wird«. Ganz anders dagegen J. A. G. Binet-Valmers Zukunftserwartungen am 5. Oktober 1919 in Comœdia: »Wenn wir seinen Charakter erst einmal nach noch weiteren Bänden vollständig kennengelernt haben werden, werden wir vermutlich über Marcel Proust sagen: ›Vor dem Krieg gab es in Paris eine sensible Zivilisation; sie war eingeschlossen in einen Kranken, der lächerliche Beobachtungen machte, während er mit Freunden Tee trank, während er in den Alleen spazieren ging, während er versuchte, sich in erblühende junge Mädchen zu verlieben. Und er war ein Poet, ein Poet voller Traurigkeit …‹«

Erfreulicherweise waren überhaupt die Stimmen, die Prousts neues Werk enthusiastisch begrüßten, in der Überzahl und auch von größerem Gewicht. Léon Daudet (ältester Sohn von Alphonse Daudet), der im Goncourt-Gremium für Proust stimmte, hebt in einem Beitrag für die Action française vom 12. Dezember 1919 den bislang übersehenen Aspekt des genialen Humors hervor, der Prousts Skizzen von Personen und Alltagssituationen kennzeichnet; besonders das Diner mit Monsieur de Norpois zu Anfang von Mädchenblüte hat es ihm angetan: »Denken Sie an ein Fresko, dessen allgemeine Wirkung man aus der Entfernung bewundern kann und das einen aus der Nähe durch seine Details entzückt. Die präzisen Beschreibungen, die Proust von einer häuslichen Szene, jemandes Kleidung oder Gesicht liefert, bilden letztlich moralische Züge oder geistige Merkmale in einer überraschend überzeugenden Weise ab.« Auch Jacques Rivière begrüßt am 11. Dezember 1919 in der Zeitung Excelsior aus vollem Herzen die Goncourt-Entscheidung und ist gleichermaßen von Prousts geradezu »anatomischer« Analyse noch des feinsten psychologischen Details begeistert, denkt dabei jedoch in erster Linie an die kleine Mädchenbande: »Seit langem – womöglich seit Stendhal – hat sich niemand in Frankreich – dem einzigen Land, in dem man eine solche Person treffen könnte – mit einer solchen Sorgfalt mit der Liebe befasst, d. h. der einzigen Angelegenheit auf der Welt, auf die es wirklich ankommt. Und seine Frauen-Porträts!« Abel Hermant hatte zu diesem Aspekt bereits am 24. August 1919 im Figaro geschrieben: »Er hat die wahrsten Seiten aller Literatur über die Liebe in den unsicheren und unbeständigen Jahren der Reifung geschrieben.« Anders als Hermant jedoch, der in Proust einen unsteten Charakter am Werk sieht, mit »Launen wie Madame de Sévigné und dem grausamen Talent eines La Bruyère für Porträts«, sieht Rivière hinter dem Werk einen »zutiefst unromantischen« Autor, dessen »Mangel an intellektueller Bequemlichkeit eines Naturwissenschaftlers würdig wäre«.

Nachdem sich die Wogen ein wenig geglättet hatten, fasste Albert Thibaudet in einem Artikel für den London Mercury im Mai 1920 den Stand der Diskussion zusammen und verglich wie viele vor ihm Proust mit Stendhal: »Proust hat ein Bild der Welt gemalt als ein Mann, der die Welt mit der gleichen aufrichtigen Herzlichkeit liebt wie die Goncourts die Literatur oder wie ein Militarist die Armee. […] Seine Porträts […], darunter der erstaunliche Legrandin, ein Charakter wie von Dickens, erwecken den Eindruck von Unmittelbarkeit und bewegen den Leser mit einer lebensvollen Körperlichkeit, wie wir sie seit der Chartreuse de Parme nicht mehr gewohnt waren.« Interessant ist aber vor allem der Zusammenhang des Proustschen Textes mit literarischen Strömungen der Zeit, auf den er hinweist und den die französische Kritik bis dahin übersehen hatte: »Bei der Proust-Lektüre denken wir an jenen Roman ohne Handlung, von dem die Naturalisten träumten und den sie zu schreiben versuchten. ›Huysmans‹, sagt Rémy de Gourmont, ›dachte lange Zeit über ein Buch mit folgendem Plan nach: Jemand verlässt seine Wohnung auf dem Weg ins Büro, sieht, dass seine Schuhe ungeputzt sind, lässt sie putzen und denkt derweilen über seine Geschäfte nach, und geht dann weiter. Das Problem war, die Sache auf 300 Seiten auszudehnen.‹« James Joyce’ Ulysses, der einen Tag im Leben des Leopold Blum beschreibt, war da schon in Arbeit und erschien nur zwei Jahre später. Und erscheint ›Marcels‹ Leben, oder genauer gesagt die Erinnerung an sein Leben, nicht eigentlich auch wie ein einziger Tag, der im Fluge vergeht?

Guermantes I (erschienen 22. 10. 1920) und Guermantes II (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zu Guermantes zusammen und unter Sodom I die Stimmen zum Thema Homosexualität in der Suche.

Der erste Teil von Guermantes hat erstaunlich geringen Widerhall in der öffentlichen Presse gefunden; Paul Souday, der es sich als aufmerksamer Proust-Beobachter nicht hat nehmen lassen, auch diesen Band ausführlich in Le Temps vom 4. November 1920 zu besprechen, weist gleich zu Anfang auf einen möglichen Grund hin: »Dieser dritte Teil ist nur ein Übergangsband, weniger in sich abgeschlossen als die beiden anderen, und dient vor allem dazu, die beiden letzten Bände vorzubereiten, die schrecklich werden dürften und uns den Ankündigungen zufolge bis nach Sodom und nach Gomorrha verschleppen sollen.« Auch die römische Eins hinter dem Titel mag so manchen Rezensenten bewogen haben, erst einmal abzuwarten. Souday geht in dieser ­Rezension ungewohnt milde mit Proust um. Er verdeutlicht anhand umfangreicher Textauszüge, wie präzise und gnadenlos Proust die »Arroganz (insolence) und Flegelhaftigkeit (grossièreté)« einer Schicht geißelt, von der Souday kaum zu glauben vermag, dass es sie »von diesem Kaliber« noch gibt: »eine Schatztruhe voller scharfsinniger Betrachtungen, empfindsamer und profunder Wahrnehmungen, lebhafter und subtiler Vorstellungen.« Die Milde ist vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass Souday in diesem Zusammenhang Gelegenheit findet, in subtiler Weise die »kleine Bosheit« von 1913 heimzuzahlen: Sein Zitat der Passage, in der sich der Erzähler darüber ärgert, dass er die Gelegenheit verpasst hat, sich bei der Herzogin von Guermantes einzuschmeicheln, indem er ihr Bergotte vorstellt, und sich stattdessen seiner Bekanntschaft mit dem Literaten geschämt hat, kommentiert Souday süffisant: »Gut gemacht, mein Freund, zu deinem eigenen Schaden! Das wird dich lehren, den Umgang mit einem überlegenen Geist, der dich andernfalls hochzuschätzen wüsste, für kompromittierend zu halten und ihm den erstbesten Dummkopf mit Adelsprädikat vorzuziehen.« Zum Ende seiner Rezension weist Souday noch auf zwei »exquisite und bewundernswerte Gemälde« im Text hin, »deren deskriptive Meisterschaft mit den größten Malern wetteifert: ich empfehle insbesondere den Böcklin [die Bai­gnoire-Szene S. 50–52], der sehr viel harmonischer ist als jene in Basel [s. insbes. Spiel der Najaden, 1886], und den Rembrandt [Der Antiquitätenladen, S. 127 f.].«

André Gide nutzt die Gelegenheit des Erscheinens des dritten Bandes, um in der Nouvelle Revue Française vom 1. Mai 1921 in einem seiner regelmäßigen literaturkritischen Briefe Billet à Angèle an eine fiktive Adressatin in der NRF einen Überblick über die vorliegende erste Hälfte des Gesamtprojekts der Suche zu geben, die bekannten Kritikpunkte zu entkräften und vor allem die unvergleichlichen Stärken auf den Punkt zu bringen: »Da die Dinge, die er beobachtet, die selbstverständlichsten von der Welt sind, kommt es uns, wenn wir ihn lesen, ständig so vor, als seien wir selbst es, in die er uns einen Blick gestattet.« Dies erinnert sehr an Proust selbst, der in WZ, also sehr viel später, schreibt: »mit meinem Buch würde ich ihnen [den Lesern] das Mittel an die Hand geben, in sich selbst zu lesen.« Gide wendet sich dann dem Stil Prousts zu und konstatiert begeistert: »Soll ich etwas gestehen? Jedesmal, wenn ich in diesem Meer von Herrlichkeiten geschwommen bin, wage ich es eine Reihe von Tagen nicht mehr, die Feder in die Hand zu nehmen […] und kann in dem, was Du die ›Reinheit‹ meines Stils nennst, nur noch Armut erkennen.« Dann wendet er sich dem beliebtesten Beschwernis der Proust-Anfänger zu, der Satzlänge: »Warte nur, bis ich zurückkomme und Dir diese endlosen Sätze laut vorlese: sofort fällt alles einfach an seinen Platz! Die verschiedenen Ebenen nehmen eine nach der anderen ihren Platz ein, die Landschaft seiner Gedanken vertieft sich einfach immer weiter! […] Ich kann Dir [mit meiner Intonation] beweisen, dass es nichts Überflüssiges gibt in diesem Satz, dass jedes Wort notwendig ist, um die verschiedenen Ebenen getrennt zu halten und seine Komplexität erblühen zu lassen.« Zum Abschluss seiner im Ganzen äußerst lesenswerten Rezension verweist Gide auf die Umstände, unter denen Prousts Werk erscheint: »Es ist seltsam, dass solche Bücher in einem Augenblick erscheinen, in dem überall Ereignisse über Ideen triumphieren, in dem die Zeit knapp ist, in dem Handeln das Denken zum Gespött macht, in dem Besinnung nicht mehr möglich oder zulässig zu sein scheint, in dem wir, die sich noch nicht gänzlich vom Krieg erholt haben, keine anderen Erwägungen mehr anstellen als die der Nützlichkeit, der Dienlichkeit. Und auf einmal scheint uns Prousts Werk, das so uneigennützig, so genügsam ist, ertrag- und hilfreicher zu sein als so manches Werk, dessen Nützlichkeit seine einzige Rechtfertigung ist.« Ist die Zeit stehengeblieben?

Gides Angebot an »Angèle«, ihr einen längeren Satz Prousts vorzulesen, hätte übrigens Paul Souday gern selbst wahrgenommen: In seiner Rezension von Guermantes II vom 12. Mai 1921 in Le Temps zitiert er einen Kandidaten für ein solches Unternehmen (den ich so strukturgetreu wie irgend möglich übersetzt habe):

Liegt es daran, dass wir unsere Jahre nicht in ihrer ungebrochenen Abfolge wieder durchleben, Tag für Tag, sondern in der Erinnerung in der Kühle oder der Durchsonntheit eines Morgens oder eines Abends erstarrt, im Schatten dieses oder jenes abgeschiedenen, umschlossenen Ortes, unbeweglich, gefangen und verloren, fern von allem anderen, und so die allmählichen Veränderungen nicht nur außerhalb unserer selbst, sondern in unseren Träumen und unserem sich entwickelnden Charakter, die uns im Leben unmerklich von einer Zeit in eine völlig andere geleitet haben, unterdrückt werden, dass wir, wenn wir eine neue, aus einem anderen Jahr stammende Erinnerung wieder durchleben, zwischen den beiden, dank von Auslassungen, von immensen Wänden des Vergessens, so etwas wie einen abgründigen Höhenunterschied, wie die Unvereinbarkeit zweier nicht vergleichbarer Eigenschaften, geatmeter Atmosphäre und umgebender Farbtönungen, feststellen?16

und kommentiert: »Glasklar. Aber er würde noch klarer für uns werden vermöge der ausgefeilten Vortragskunst eines André ­Gide.« In der Tat fällt es schwer, am Ende des Satzes seinen Anfang zu erinnern – aber ist die Suche nicht ganz wesentlich auch ein Buch über das Erinnern? Und ist das Problem des Erinnerns nicht insbesondere, den Anfang wiederzufinden, sich zu entsinnen, wie alles begann?

Sodom und Gomorrha I (erschienen 29. 4. 1921) Ich fasse hier die Stimmen zum Thema Homosexualität in den ersten vier Bänden zusammen.

Die lesbische Szene in Montjouvain (Combray II) war schon vor Erscheinen von WS auf einigen Widerstand gestoßen; so hatte der Schriftsteller Louis de Robert, der mit Begeisterung die Grasset-Fahnen las, Proust empfohlen, die Passage zu entschärfen, was Proust aber dezidiert mit den Worten ablehnte: »ich kann nicht die Ergebnisse moralischer Erfahrungen verändern, die ich vielmehr mit der Aufrichtigkeit eines Chemikers zu vermitteln habe« (Corr. XII, S. 271). Souday hatte dann in seiner Rezension von WS in Le Temps vom 10. Dezember 1913 kategorisch erklärt, dass »Szenen von so zweifelhaftem Geschmack ganz und gar nicht notwendig« seien. Und auch Francis Jammes, der nicht im Ruf erotischer Zimperlichkeit stand, hatte einem Brief an Henri Ghéon vom 2. Januar 1914 zufolge Proust geraten, in der nächsten Auflage die Stelle zu unterdrücken (Corr. XIII, S. 26). Es war also zu erwarten, dass Sodom und Gomorrha I Beachtung finden und Interesse an den Folgebänden wecken würde; auf der anderen Seite waren auch Fehldeutungen zu erwarten, da sich der Stellenwert dieses Essays im Rahmen des ganzen Romanprojekts so noch nicht abschätzen ließ und er deshalb mehr oder weniger als ein Text für sich gelesen wurde. Montjouvain war schon vergessen, und in Mädchenblüte und Guermantes spielt Homosexualität eine nur so unterschwellige Rolle, dass sich eine Lesung von Sodom I ausschließlich im Licht des Vorangegangenen kaum anbot. Umgekehrt lässt wohl erst dessen erneute Lektüre im Lichte von Sodom I das Verhalten des Baron de Charlus in Mädchenblüte verdächtig erscheinen oder das von Monsieur d’Argencourt in Guermantes verständlich. Es geht da wohl dem Leser nicht anders als Marcel: hinterher sind wir alle klüger.

Die nächstliegende und falscheste Frage, nämlich die, ob Sodom I denn nun ›dafür oder dagegen‹ sei, hat Proust in einem Brief von Mitte September 1920 an seinen Bruder Robert kommen sehen: »Die Mitglieder des Kommitees [für die Aufnahme in die Ehrenlegion] mögen denken, dass es um pro-sodomitische oder pro-gomorrhitische Bücher gehe, so wie Barrès und Abbé Mugnier, die etwas enttäuscht waren, als sie erfuhren, dass sie im Gegenteil anti-sodomitisch und anti-gomorrhitisch sein würden. Tatsächlich hätte ich es vorgezogen, wenn sie weder pro noch anti wären, sondern einfach objektiv. Aber die Schicksale ihrer Personen, ihrer Charaktere haben sie anti werden lassen« (Corr. XIX, S. 467). In Hinblick auf Sodom I zumindest folgt die Kritik dieser Auffassung nicht; Souday deutet seine Einschätzung durch die Blume und unterhalb der Gürtellinie an, indem er Proust zu dessen Ärger als »morbide und feminin« charakterisiert (»fragen Sie mal meine Duell-Sekundanten, ob ich die Weichlichkeit des Effeminierten habe«, Corr. XIX, S. 575), und Binet-Valmer, der selbst einen Roman über einen homosexuellen Lucien geschrieben hat, der freilich am Ende scheitert, liest Sodom I offenbar als eine Art Verteidigungsschrift, die man junge Damen nicht lesen lassen dürfe: »Soweit ich kann, werde ich verhindern, dass unsere lieben Leserinnen glauben, die letzten Seiten dieses schönen Buches, und die abstoßenden Bücher, die folgen sollen, seien eine angemessene Wiedergabe der französischen Seele« (in: Comœdia, 22. Mai 1921). Noch deutlicher werden »Les Treize«, die in einer Kurznotiz in der Zeitung L’Intransigeant am 5. Juni 1921 schreiben: »Der Anfang von Sodom und Gomorrha überrascht durch einen rücksichtslosen Realismus und durch seine Plädoyers von einem romantischen und amoralischen Ungestüm.« Erstaunlich starke Worte fand der mit Proust befreundete Henri Ghéon, allerdings erst nach dessen Tod, am 10. März 1923 in der Revue des Jeunes: »Sein schwerster moralischer Fehler war, ohne alle Heuchelei, als seien es akzeptierte, normale Dinge, Laster zu beschreiben und zu benennen, die geheim blieben oder verurteilt wurden, bis er kam; es geht nicht um das Aufstechen der Blase, sondern darum, ob man den Eiter überall hin verschmiert und einer ›Blutvergiftung‹ den Weg bereitet.«

Wie Hodson S. 29 anmerkt, scheint die Debatte über Proust nach seinem Tod ganz allgemein für einige Zeit vom Stilistischen ins Moralische abgeglitten zu sein: »Es fiele uns schwer, auch nur die Titel seiner letzten Werke zu nennen. An Marcel Proust war etwas Krankhaftes, was die morbiden Aspekte seines Werks zwar erklärt, aber nicht entschuldigt« (anon., in: Le Gaulois, 20. November 1922), und dann wenig später noch sehr viel expliziter Charles-Henry Hirsch im Mercure de France: »Proust kann nicht dafür gerühmt werden, ein Chronist seiner Zeit zu sein. Alles, was er gesehen hat, ist die pilzartige Ausbreitung einer ungesunden Gesellschaft, einer Clique, die es zum Laster treibt, […] eine auf den Kopf gestellte Elite: eine Elite des Müßiggangs und der Inkompetenz – eine Kaste, die ihrer selbst überdrüssig ist, ein paar Hundert Individuen, die er, krank wie er selbst, mit einer Präzision beobachtet und analysiert hat, die einer Klinik angemessen wäre« (1. März 1923).

Auf der anderen Seite gab es aber auch genügend Stimmen, die mit Staunen Prousts Durchdringungskraft zur Kenntnis nahmen und entdeckten, was Proust selbst vorgeblich vermisste: eine leidenschaftslose, objektive Position, von der aus er schlicht darstellt, was der Fall ist. »Dieses erste Kapitel über Invertierte ist ein Meilenstein in der Literaturgeschichte. Diese von so scharfsinniger Beredsamkeit geprägten, in ihrer Poesie so herben und hochherzigen Seiten brechen einen Bann, den ästhetischen Bann, der über der sexuellen Inversion lag und unter dem die Künste und die Literatur so lange gestanden haben«, schreibt Roger Allard am 1. September 1921 in der Nouvelle Revue Française zu Sodom I und setzt den Gedankengang am 1. Juni 1922 in seiner Rezension zu Sodom II fort, ebenfalls in der Nouvelle Revue Française: »[…] Monsieur de Charlus, der Herzog von Guermantes [gemeint ist vermutlich der Prinz von Guermantes] und der Violinist Morel sind, selbst wo sie sich mit den bizarren und grotesken Abenteuern lächerlich machen, denen ihre sexuellen Neigungen sie aussetzen, nicht weniger überzeugend und anrührend als die Könige und Prinzessinnen Racines. In der Tat dürfte der Leser bemerken, dass Proust in [diesem] Band vermehrt aus Esther und Athalie zitiert.« Fernand Vandérem vergleicht in seiner Rezension von Sodom II am 15. Juni 1922 für die Revue de France die Schwäche des seriösen Charlus für den geriebenen Morel mit der Zuneigung des zwielichtigen Vautrin zu dem naiven Rubempré in den Illusions perdues und erklärt: »Ich will nicht sagen, dass Balzac schlechter sei als Proust; doch wie viel weniger unterhaltsam, wie viel weniger anrührend finde ich ihn bei der Beschreibung vergleichbarer Ereignisse. Denn sowohl die Feinfühligkeit als auch die blendende Klarheit, mit der Proust für uns diese ›argen Männer‹ [»hommes damnés«] analysiert, grenzt an Wunder. Sie sind ein endloser Quell des Lachens für ihn und für uns, und dennoch gelingt es ihm, uns Mitleid mit ihnen empfinden zu lassen.«

Sodom und Gomorrha II (erschienen 28. 4. 1922) Die Kritik scheidet sich auch bei diesem Band wieder in eine konservative Frak­tion, die lieber einen Roman aus dem 19. Jahrhundert in Händen hielte, und die zukunftsoffenen Geister, die neue Horizonte der Wirklichkeitsbemächtigung in Prousts Werk erblicken. Paul Souday moniert, nachdem er den Reichtum an Konjunktiven beklagt hat, die Abwesenheit des einen oder anderen Zirkumflex, der ein eut oder ein fut als Konjunktiv ausgewiesen hätte, und deutet sie als Beweis für Prousts mangelnde Beherrschung des Französischen: »Proust steht mit dem Tempus, den Modi und überhaupt ganz allgemein mit der Grammatik auf Kriegsfuß.« Interessant wird dann aber die Fortsetzung des Zitats, da Proust sich offenbar darüber geärgert hat: »Diese Unvereinbarkeit der Charaktere [Prousts und der Grammatik] reißt ihn zu amüsanten Missverständnissen hin: ›‚J’ai pas pour bien longtemps‘, sagte der Liftboy, der die Regel von Bélise ins Extreme trieb, nach der die Wiederholung des pas mit ne zu vermeiden sei, und sich stets mit einer einzigen Verneinung begnügte.‹ Bélise hätte sich gehütet, eine derart falsche Regel aufzustellen.« Da hat Souday zwar gut aufgepasst, aber in seinem Eifer übersehen, dass Molière sich mit der Sprachpedantin Bélise über Sprachpedanterie im allgemeinen und ihre Anhängerschaft im besonderen lustig macht – fast, als hätte Proust ihm, Souday, hier geschickt eine Falle gestellt. In einem Brief vom 17. oder 18. Mai 1922 schreibt Proust in diesem Zusammenhang an Gallimard: »Haben Sie die vorgeblich grammatische Anklageschrift von Souday gelesen? […] Was für eine hübsche Antwort könnte ich ihm erteilen, wenn ich nicht auf so gutem Fuß mit ihm stünde.« Der letzte Halbsatz muss blanke Ironie gewesen sein, denn noch Mitte des Monats schickt Proust Souday einen Brief, in dem er dessen Artikel in Soudayscher Manier rezensiert: »Monsieur Souday hat uns ein neues Feuilleton über das Werk Marcel Prousts vorgelegt. Dieses Feuilleton zählt nicht weniger als fünf Spalten. Von diesen fünf Spalten nehmen die Erörterungen hinsichtlich der Länge des Werkes, der Seitenzahl, der Verwandtschaft mit den längsten und unerträglichsten Romanen des 17. Jahrhunderts nicht weniger als zwei Spalten ein«, usw. Doch dann zum eigentlichen Punkt des Ärgernisses: »Die Regel von Bélise ist schon bei Molière gänzlich ungenügend ausgedrückt; eine logische und grammatische Analyse würde vollständige Überarbeitung erfordern […]. Doch die beiden Verse sind deshalb nicht weniger schön, und wer würde sich bei dem Schwung des Ganzen wohl über die Schiefigkeit einer Formulierung ereifern?« Fazit: »Dies beweist, dass man bei seinem Urteil nicht allzu sehr den Grammatiker herauskehren sollte« (Corr. XXI, S. 187–189).

Inzwischen wird jedoch die Kritik im Geiste eines Souday zunehmend weniger hörbar, und verständigere Stimmen beginnen, die Diskussion zu beherrschen. François Mauriac entdeckt in der Revue hebdomadaire vom 26. Februar 1921 die Funktion des von anderen Kritikern zuvor so gern geschmähten Detailreichtums: »Je gründlicher er spezifische und auffällige Merkmale ansammelt, desto gründlicher vermeidet er die Gefahr, sich im Detail zu verlieren, und desto gründlicher gewinnen seine Bilder eine universelle Bedeutung. Die Tausende von Notizen, ihrerseits von diesem geduldigen Visionär ausgewählt aus Abertausenden, zeigen uns die Wahrheit, und die ist der Heilige Gral der Kunst.« In diesem Sinn äußerte sich auch schon im Figaro vom 19. September 1919 Henri de Régnier, der vor allem von der Soiree der Prinzessin von Guermantes hingerissen war: »Dieser Bericht von einem Diner bei den Guermantes mit all seinen Verwicklungen und Gesprächen, mit den detailliertesten Details, mit seinen Momenten der Stille und seinen Anspielungen, liefert ein erstaunliches Bild des privaten gesellschaftlichen Lebens in seinen fein abgestuften Tönen und Nuancen. […] Prousts Realismus verhält sich zum gewöhnlichen Realismus wie eine Apothekerwaage zur Gepäckwaage im Bahnhof.« Auch Henry Bidou weist in seinem Beitrag für die Revue de Paris vom 1. Juni 1922 auf diese »Kunstfertigkeit des Uhrmachers, Dinge auseinanderzunehmen« hin, hebt aber noch einen weiteren Aspekt hervor, Prousts »Talent eines Malers, Zeichen zu beachten«, und illustriert diesen mit einem in der Tat bemerkenswerten Beispiel: »Der Erzähler hat den Verdacht, dass die Prinzessin von Guermantes eine Schwäche für Monsieur de Charlus hat; jetzt beachte man, an welchen Symptomen ihm dies deutlich wird:

Als ich einmal zu ihr sagte, dass Monsieur de Charlus zur Zeit ein recht lebhaftes Gefühl für eine bestimmte Person hege, sah ich mit Erstaunen, wie in die Augen der Prinzessin jener andere, flüchtige Zug trat, der sich wie ein Sprung durch die Pupillen zieht und von einem Gedanken ausgeht, den unsere Worte unbewusst in dem Menschen ausgelöst haben, mit dem wir sprechen, einem heimlichen Gedanken, der sich nicht in Worten Ausdruck verschaffen, jedoch aus den Tiefen, die wir aufgerührt haben, an die für einen Augenblick veränderte Oberfläche des Blickes aufsteigen wird. Doch wenn auch meine Worte die Prinzessin berührt hatten, so ahnte ich doch nicht, in welcher Weise. [SG, S. 163.]

Das ganze Buch steckt in diesem Auszug.« Gerade aber diese Wahrnehmung in allen Details führt dazu, dass insbesondere Personen bei verschiedenen Gelegenheiten kaum mehr wiedererkennbar sind, da diese allerfeinsten Details einem, für Proust offenbar bewusst, für alle anderen zumindest unbewusst, bemerkbaren Wandel unterliegen: »Die menschliche Persönlichkeit teilt sich zwei- und dreifach, in eine unendliche Anzahl sukzessiver Wesen. Unser gestriges Ich ist heute ein Fremder für uns.« Man muss hinzufügen: nicht weniger das gestrige Du, wie die »zweifache« Gilberte und die »unzählbare« (innombrable) Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck schon in SJM (S. 192 bzw. 570) demonstrierten; s. dazu ausführlicher unten, S. 117. Die psychologische Lesart, die Bidou vorschlägt, führt ihn zu dem Fazit, dass »die inneren Dramen der Stoff dieses Buches sind. Äußere Anlässe wie ein gesellschaftlicher Empfang oder eine Reise ans Meer sind von geringem Gewicht«, und entzieht so der im Grunde genommen schon damals überholten, aber noch immer vorherrschenden Lesart der Suche als ›Chronik der Belle Époque‹ den Boden.

Am gleichen Tag, dem 1. Juni 1922, veröffentlicht Roger Allard in der Nouvelle Revue Française einen Beitrag, in dem er in etwa die gleiche psychologische Lesart wie Bidou vorschlägt, sie aber zudem einbettet in die bestimmende geistige Strömung seiner Zeit. Als Beispiel betrachtet er Marcels Eifersucht auf Albertine: »Solange er sich Albertines Verhaltens nicht sicher ist, sehen wir den Erzähler als Opfer von Lustlosigkeit und Widerwillen: erst in dem Augenblick, in dem Zweifel für ihn nicht mehr möglich ist, weil tausend winzige Tatsachen zusammenkommen, und so viele Wege, die zuvor verfolgt und aufgegeben wurden, in denselben hell leuchtenden und schmerzhaften Punkt einmünden, findet er gerade in der Gewissheit, dass sein Verdacht berechtigt war, die Entschlusskraft, seine Geliebte heiraten zu wollen.« Er zieht daraus das Fazit: »Solche Analysen gehen weit über die Grenzen psychologischer Erzählliteratur hinaus. Sie hinterlassen in uns einen ganzen Bodensatz von Ängsten und Reue. […] Das Wort ›Relativität‹ drängt sich jedem auf, der über die Bedeutung dieser psychologischen Entdeckung nachsinnt«, und fährt fort: »Kann man sagen, dass Proust die Psychologie in ähnlicher Weise umgekrempelt hat wie Einstein die Physik? […] Wenn die Vorstellung von moralischer Relativität aus einem psychologischen Werk der Vorstellung abgeleitet werden kann, dann ganz gewiss aus Prousts, in dem Gesichtspunkte ad infinitum vervielfältigt werden.«

Welche Rolle Prousts Werk zur Zeit des Erscheinens von Sodom II im öffentlichen Diskurs bereits spielte, geht aus einer Anekdote hervor, die Fernand Vandérem wiedergibt, um ebendies zu demonstrieren: »Neulich befragte mich bei einem Diner eine Dame über den Status der Personen, die einen bestimmten Pariser Salon frequentierten. Da ich mich offenbar ziemlich vage ausdrückte, sagte sie schließlich mit einem Lächeln: ›Nun, würden Oriane und Basin dort verkehren?‹« (In: La Revue de France, 15. Juni 1922.)

Nachrufe und Kritik der postumen Bände

»Eine Literatur, die man lesen muss, wie man ein Gemälde von ­Manet betrachtet, mit halbgeschlossenen Augen«

(Ortega y Gasset 1923, S. 294)

Die Nachrufe auf Proust nach seinem Tod am 18. November 1922 gestatten es, ein erstes Fazit der Rezeption der Suche zu jener Zeit zu ziehen: es wird die großartige Leistung Prousts bei der psychologischen Analyse der Verhaltensweisen und der Sprache seiner Personen anerkannt, und es wird, offenbar mit Bedauern, festgestellt, dass es sich um keinen klassischen Roman handelt, ohne dass jedoch erklärt würde, worum dann.

Eine ernsthafte Diskussion setzte erst mit der Hommage à Marcel Proust ein, die die Nouvelle Revue Française am 1. Januar 1923 publizierte, eine Sammlung von kurzen Aufsätzen stark schwankender Qualität, von Erinnerungen an die Person bis hin zu Analysen verschiedener Aspekte des Werks, die teils den Ausgangspunkt zu späteren, vertiefenden Untersuchungen lieferten. So betrachtet Henri Duvernois die Suche unter dem Aspekt einer Gesellschafts-Chronologie, Thibaudet untersucht die Wurzeln des Werks in der französischen Literaturgeschichte, Maurois hebt den wissenschaftlichen Aspekt der psychologischen Erörterungen Prousts hervor, den Louis Martin-Chauffier in seinem Beitrag Marcel Proust analyste in ein subjektives Licht rückt: »Wie Proust selbst mir einmal sagte, ist sein Präzisionsinstrument nicht das Mikroskop, sondern das Teleskop. Nicht das unendlich Kleine interessiert ihn, sondern sich Entferntem anzunähern, das sich jenseits des Blickfeldes im Nebel verliert, und verschwommene und verworrene Tiefenebenen klar und deutlich in ihrer berichtigten Per­spektive erkennen zu können« (S. 165). Edmond Jaloux weist auf den relativierenden Grundzug in Prousts psychologischen Analysen hin (»Relativierung in das Konzept der Liebe einzuführen und es so von jenem Mythos des Absoluten zu befreien, von dem es bis dato abhing, wird man als eine der essentiellen Wahrheiten erkennen, zu denen Proust gelangt ist«, S. 142), während Ernst Robert Curtius auf das unauflösbare Miteinander von Gefühl und Intelligenz in diesen Erörterungen und auf die Unsezierbarkeit der Suche im allgemeinen aufmerksam macht. Eine besonders fruchtbare Betrachtung der Suche lieferte aber vor allem José Ortega y Gasset mit seinem Essay Le temps, le distance et la forme chez Proust (folgende Zitate nach Bd. 1 der deutschen Ortega-y-Gasset-Gesamtausgabe, 1978), in dem der Autor die Grundtendenz des Impressionismus, die »äußere Form der Realität zu verneinen und die innere Form, das heißt, die innere Vielfalt der Farben, wiederzugeben« in Zusammenhang mit der zeitgenössischen Philosophie – »Die Philosophen um 1890 behaupteten, die einzige Realität käme aus unseren sensorialen und emotionalen Zuständen« (S. 526) – wie auch der Psychologie stellt: »Der impressionistische Psychologe stellt das in Frage, was man den Charakter, das plastische Profil eines Menschen zu nennen pflegt, und sieht in ihm eine ständige Umstellung, eine ununterbrochene Folge verschwommener Zustände, eine sich unaufhörlich verändernde Verflechtung von Gefühlen, Gedanken, Farben und Hoffnungen« (S. 527). Hier drängt sich die Erinnerung an die »mois successifs«, die ›aufeinanderfolgenden Ichs‹, des Erzählers und an die »Albertine innombrable«, »insaisissable«, die ›unzählbare‹, die ›ungreifbare Albertine‹, auf. Der impressionistische Charakter von Prousts Werk kommt für Ortega besonders prägnant in der »Monographie« über eine Liebe von Swann zum Ausdruck, ein Fall »psychologischer Pointillierung, […] in der alles enthalten ist, […] Sinnlichkeit, […] Argwohn, […] Gewohnheit, […] Lebensüberdruss. Das einzige, was nicht darin gefunden wird, ist die Liebe«, die für einen »urwüchsigen« Autor wie den von Tristan und Isolde »eben Liebe ist und nichts anderes als Liebe« (S. 527). In diesem impressionistischen, auf die Wahrnehmung und nicht ein So-Sein der Dinge konzentrierten Aspekt sieht Ortega auch Prousts Neuentdeckung im Umgang mit der Erinnerung: »Nicht die Dinge, an die man sich erinnert, sondern die Erinnerung an die Dinge ist Prousts allgemeines Thema« (S. 523 f.).

In England, wo Proust sofort nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Scott-Moncrieffs Übersetzung 1922 hingerissen gefeiert wurde, erschien 1923 eine Sammlung von Würdigungen unter dem Titel Marcel Proust – An English Tribute, unter anderem mit dem Beitrag A Prophet of Despair von Francis Birrell, der Prousts Wurzeln bei Stendhal und Rousseau sowie seine pessimistische Weltsicht in diesem »riesigen Epos der Eifersucht« (S. 23) verdeutlicht, aber auch darauf aufmerksam macht, dass dies »der erste Autor ist, der sexuelle Inversion als ein geläufiges und gewöhnliches Phänomen behandelt«, das er »weder im Ton einer abgeschmackten Eulogie beschreibt wie so manche dekadente Autoren, noch auch mit der Attitüde eines Schaustellers, der einem aufgeregten Touristen unauslotbare Abgründe des Horrors vor Augen führt« (S. 28). Ralph Wright dagegen verdeutlicht in seinem Beitrag A Sensitive Petronius die Funktion der minutiösen »Mikroskopie« in Prousts Personenbeschreibungen als die Grundlage für das merkwürdige Gefühl des Déjà vu, das einen bei der Lektüre der Suche so häufig beschleicht: »Er versucht mit allen Mitteln, einem seine Hauptcharaktere vertraut zu machen, aber nicht nur so, als träfe man sie jeden Tag, sondern als hätte man tatsächlich für einen Augenblick in ihrer Haut gelebt und in ihrem Geist gewohnt« (S. 36 f.), bis wir sie besser kennen als uns selbst und uns selbst damit umso besser erkennen. »Die Komplexität unserer Gefühle, die Fähigkeit, verschiedene Dinge zugleich über etwas oder jemanden zu empfinden, kann nur die Novelle einfangen, und in dieser Hinsicht genießt Proust einen gewaltigen Vorsprung« (S. 39). J. Middleton Murry beweist in seinem Beitrag Proust and the Modern Consciousness sein tiefgehendes Verständnis von Prousts Werk, wenn er – noch Jahre vor dem Erscheinen der Bände 5 bis 7 – schreibt: »wir haben den Verdacht, dass uns die letzte Seite des letzten Bandes zurückgeführt hätte zur ersten Seite des ersten Bandes, und dass sich die lange und gewundene Erzählung am Ende als die Geschichte ihrer eigenen Erfindung herausgestellt hätte« (S. 108). Als Grund für diese Selbstzentriertheit des Werkes sieht er die Selbstzen­triertheit des Autors, dem das Schreiben nicht das Beschreiben von etwas ist, sondern eine Suche nach dem Urgrund seiner eigenen Persönlichkeit. Die Feder war für ihn »die Lanze, mit der er dem Heiligen Gral nachjagte – ›la vraie vie‹« (S. 109).

Wie die Skizze der zeitgenössischen Kritik verdeutlicht hat, waren vor allem zwei Porträts des Autors gezeichnet worden: das des »wissenschaftlichen« Beobachters und das des einfühlsamen Psychologen17. Ernst Robert Curtius weist dagegen in seinem Beitrag für die Hommage auf das Zusammenspiel von »frischester, spontanster Sensibilität« und »kulturbefrachtetster Intelligenz (Ruskin, Saint-Simon)« hin, »aus dem die Kunst Prousts ihre neue und bewegende Schönheit bezieht« (S. 284). In seiner umfangreichen Studie18 von 1925, die mehrere kleinere vorangegangene Aufsätze zusammenfasst, nimmt er diese Beobachtung einer Durchdringung von »Intellektualismus und Impressionismus« (S. 312) in Prousts Werk wieder auf und verdeutlicht durch beispielhafte Stilanalysen, wie sich physische Wahrnehmung und psychische Wahrnehmung in Prousts Situations- und Erlebnisbeschreibungen untrennbar zu einem neuen Ganzen verbinden und erst damit dem Leser die »wahre« Wahrnehmung vermitteln. In dieser ganzheitlichen Beschreibungsweise spielen Metaphern eine unverzichtbare Rolle, da sie einerseits bei der Beobachtung ein Hinausgehen über die Grenzen der deskriptiven Sprache ermöglichen, ihre präzisierende Leistung jedoch nicht erbringen können ohne die Fähigkeit oder Bereitschaft des Lesers, assoziative Verbindungen zwischen der gegebenen Situation und dem wörtlichen Sinn der Metapher herzustellen, wie etwa bei der Beschreibung der Fliederblüte (WS, S. 190) in aquatischen Begriffen (»Bläschen«, »vergossen«, »Gischt«, »Schaum«). Die stillschweigende Voraussetzung des Autors beim Gebrauch von Metaphern, dass der Leser bereit und in der Lage sein wird, die ihm zugemutete assoziative Leistung tatsächlich zu erbringen, trägt im übrigen erheblich zur Bindung zwischen Autor und Leser bei: »One is exhausted and angry after an hour, submerged, dominated by the crest and break of metaphor after metaphor: but never stupified«, stellte Beckett 1931 zu Prousts Stil fest.19

In seinem Aufsatz Note sur Marcel Proust et John Ruskin von 1924 weist Guy de Pourtalès20 darauf hin, dass Proust von Ruskin nicht nur Kulturfracht geerbt hat, sondern vor allem einen Darstellungsmodus, der sich in reichem Umfang assoziationsgeladener Erinnerungsbilder bedient – die jedoch bei Ruskin sich selbst genügen, während sie für Proust als Bausteine für seine Rekonstruktion des Vorgangs des Erinnerns dienen: »Ruskin war für Proust die Offenbarung, die ihm ermöglichte, sich selbst zu entdecken« (S. 223).

Mit dem Erscheinen der Prisonnière 1923 schlug die herrschende Meinung über Proust als einen detailversessenen, aber objektiven Autor, »der dem staatlichen Register von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen Konkurrenz machen möchte«, um in die Sicht von einem höchst subjektiven Werk mit einem egozentrischen »Marcel, der resolut die Bühnenmitte für sich in Anspruch nimmt«.21 Paul Souday schreibt in Le Temps vom 21. Februar 1923 über La Prisonnière: »Man kann wohl sagen, dass Proust die Philosophie des Individuellen und des Besonderen an ihre äußersten Grenzen geführt hat.« Etwas bodennäher sieht Fernand Vandérem die Prisonnière in der Revue de France vom 1. April 1924: »Wir haben es mit Satire zu tun, also einer der kraftvollsten und höchsten Formen der literarischen Kunst« (S. 83).

Die Entdeckung Freuds für die französische Öffentlichkeit drängte der Proust-Kritik die Frage auf, inwieweit die erstaunliche Überlappung der grundlegenden Konzepte in den Werken beider Autoren – Unbewusstes, Traum, Erinnerung, Verdrängung – auf eine eventuelle Kenntnis des Freudschen Ansatzes bei Proust zurückzuführen sei; eine in diese Richtung gehende Vermutung, die Allard in seiner Rezension von Guermantes II, suivi de Sodome et Gomorrhe II in der Nouvelle Revue Française vom 1. September 1921 angedeutet hatte, indem er Proust einer Schule zurechnete, die im Gefolge Freuds den Traum als Ausdruck verdrängter Wünsche interpretiert, wies Proust jedoch umgehend in einem Brief an Allard zurück: »Wenn ich den Satz über Freud nicht verstanden habe, dann deshalb, weil ich seine Bücher nicht kenne; man könnte ihm [dem Satz] eine unfreundliche Absicht unterstellen, wenn er nicht von Ihnen stammen würde« (Corr. XX, S. 447; Zitat gerafft). Die spätere Kritik bemüht sich dann auch eher, die konzeptuellen Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und die Suche im Licht der neuen psychoanalytischen Erkenntnisse zu lesen, wie René Rousseau in seinem Artikel »Marcel Proust et l’esthétique de l’in­conscient«, der am 15. Januar 1922 im Mercure de France erschien und in dem der Autor darauf hinweist, wie sehr Prousts Stil sich »an der rudimentären Logik des Traums orientiert« (S. 378), oder Jacques Rivière in seiner Vortragsreihe »Marcel Proust. L’Incon­scient dans son œuvre«22 von 1924, der die Wirkung der Sätze Prousts auf den Leser mit der Wirkung der Sonate Vinteuils auf Swann vergleicht: »Es ist Prousts besonderes Verdienst, wie in Swanns Augen das von Vinteuil, ›einige der Millionen Tasten der Zärtlichkeit, der Leidenschaft, des Mutes, der Heiterkeit‹ angeschlagen zu haben, […] die die ›unbekannte Klaviatur‹ unseres Unbewussten ausmachen« (S. 48; Zitate aus WS, S. 480).

Die psychoanalytische Wende in der Proust-Interpretation hatte allerdings auch eine Nebenwirkung, die Proust sicherlich wenig amüsiert hätte, nämlich die Betrachtung des Autors statt des Werkes, ganz im Geiste Sainte-Beuves. Besonders nach dem Erscheinen der Prisonnière mit ihrer hochgradig subjektiven Perspektive bildete sich ein Verständnis heraus, das die Suche als den Ausdruck eines Versuchs zur Selbstanalyse des Autors las und damit als im wesentlichen für Dritte von minderem Interesse. Madeleine Clemenceau-Jacquemaire etwa schreibt am 16. März 1924 im Écho National zur Prisonnière, dass Prousts Werk kein Kunstwerk sei, sondern ein »persönliches Notizbuch«, dessen Nichtbeachtung zulässig sei; Pierre Loewel kommt in einem Beitrag über die Prisonnière für den Éclair vom 19. März 1924 zu dem Schluss, dass es nur eine einzige Figur in Prousts gesamtem Werk gebe: Marcel; und Norbert Guterman löst am 15. Mai 1924 in Philosophie das Rätsel, wer dieser Marcel denn nun sei: »Es gibt eine Person, die zunehmend tiefer und klarer erscheint, je weiter wir fortschreiten: diese ist Proust selbst – und gewiss ist dies der eigentliche Grund für diese ganze gigantische Romanfolge.« Amüsanterweise wurde bei allem psychoanalytischen Impetus eine eventuelle Homosexualität des Erzählers vom Publikum nicht etwa aus den zahlreichen Hinweisen im Text erschlossen, wie etwa der Onanie-Szene im Angesicht des Turms von Roussainville-le-Pin schon in Combray, sondern die des Autors (!) aus der Tatsache, dass in Guermantes eine unverheiratete Albert»ine« skandalfrei bei ihm (offenbar dem Autor!) wohnen kann – etwas scheinheilig fordert Mauriac (ebd.) eine Erklärung dafür.

Das Erscheinen von Le Temps retrouvé 1927 belebte die Diskussion um Prousts Werk neu und gab ihr eine neue Richtung, denn nun wurde auch für das breitere Publikum das Ensemble der bekannten sechs Bände als Teil einer durchkomponierten Einheit erkennbar: die Frage des Lektors Jacques Normand vom Verlag Fasquelle, »Wohin soll das Ganze führen?«, fand nun nach fünfzehn Jahren ihre Antwort. Mit dem Vorliegen des Gesamtwerks entwickelte sich zugleich eine Diskussion um dessen literaturhistorische Einordnung. Ist Proust ein Rationalist, der die »lois profondes de la vie« zu erhellen sucht, wie Raphael Cor im Mercure de France vom 15. Januar 1928 behauptet, oder ein Mystizist auf der Suche nach der »essence des choses«, wie Ramon Fernandez in der Nouvelle Revue Française vom August 1928 überlegt? Doch schon in der Januar-Ausgabe 1928 der Zeitschrift Marsyas hatte Denis Saurat darauf hingewiesen, dass die Verflechtung beider Komponenten, der Konflikt zwischen Rationalität und Irrationalität, gerade Prousts besondere Wahrnehmung der Wirklichkeit kennzeichne. Auch die alte Debatte um Subjektivität und Objektivität bei Proust flammte erneut auf, so betont Henri Daniel-Rops 1928 in seinem Beitrag »Notes sur le réalisme de Proust« für ein Symposium, das im Aprilheft von Le Rouge et le noir publiziert wurde, die »absoluteste Objektivität«, mit der Proust das Subjekt betrachtet, während Henri Massis 1930 in einer Serie von Artikeln in der Revue universelle die Suche als ein »Alibi« abqualifiziert, das lediglich durch Objektivierung das sündige Subjekt Proust exkulpieren soll. Marcel Péguy treibt in den Cahiers de la Quinzaine vom 25. Februar 1930 diese Denkrichtung, die noch einige Jahre in Frankreich die Diskussion bestimmen sollte, mit der Erklärung, Proust sei »ein Kranker, ein willenloser Mensch, der seine Zeit damit verbringt, sich selbst zu analysieren«, auf die Spitze. Als Reaktion auf diese Entwicklung veröffentlichte die gleiche Gruppe, die auch das Aprilheft von Le Rouge et le noir bestritten hatte, eine Défense de Marcel Proust, in der zwar Henri Bonnet auf den optimistischen Grundton des Werkes hinweist, die aber im großen und ganzen wenig Wirkung hatte, da sich die Mehrzahl der Autoren auf die Kernpunkte der klassischen Interpretation zurückzogen. Der kontinuierliche Rückgang des Interesses an Prousts Werk im Schatten der Freudianischen Analyse fand seinen markantesten Ausdruck in einer Rundfrage Gaston Picards für die Revue mondiale vom Dezember 1929 unter neun Autoren, von denen acht der Frage zustimmten, ob sie es nicht leid seien, »diese schicken Leute, diese lasterhaften Müßiggänger heiliggesprochen« zu sehen, »deren oft unerquickliche Fälle uns gemäß den Riten des Freudschen oder des Proustschen Evangeliums dargelegt werden«.

Proust und kein Ende

»Thomas Mann hätte wahrscheinlich gesagt: ›Proust und kein Ende‹.« (Jean Jacques Nattiez, Le Combat de Chronos et d’Orphée, Oxford University Press 2004, S. 183.)

Während Prousts Leserschaft in Frankreich in den dreißiger Jahren stetig abnahm, differenzierte sich das literaturwissenschaftliche Interesse an der Suche, und es erschien eine Reihe von Spezialuntersuchungen zur ihrer Genese (Feuillerat 1934) und zu einzelnen Aspekten wie der Behandlung der Musik (Benoist-Méchin 1926), der Psychologie (Blondel 1932), des Raumes (Ferré 1939), der Ästhetik (Fiser 1933) oder des Mystizismus (Pommier 1939).23 Samuel Beckett stellte 1931 in seinem Essay Marcel Proust die Verbindung zu Schopenhauer her und reflektierte über Zeit, Gewohnheit, Musik und Philosophie bei Proust. Ernst Robert Curtius veröffentlichte 1925 in seiner Schrift Französischer Geist im neuen Europa eine Zusammenfassung seiner früheren Artikel zu Proust, von der zahlreiche Anregungen vor allem zu stilistischen Untersuchungen ausgingen (Spitzer 1928).

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Interesse an Proust eine Renaissance in Frankreich, insbesondere nachdem 1952 Jean Santeuil und 1954 Contre Sainte-Beuve publiziert wurden, die ein neues Licht auf die Genese der Suche warfen. Die Neuausgabe 1954 in der kritischen Bearbeitung von Pierre Clarac und André Ferré stellte zudem der Diskussion und auch den Übersetzungsbemühungen erstmals eine belastbare Textversion zur Verfügung. Die Folge war eine reiche Ernte an Analysen, die zwar im wesentlichen Themen aufnahmen, die schon in den zwanziger und dreißiger Jahren diskutiert wurden, diese nun aber in ganz anderer Schärfe behandeln konnten. Mit dem Aufkommen des Nouveau Roman, der sich mit seinen minutiösen Beschreibungen zum Teil auch explizit auf Proust bezieht (so Natalie Sarraute in L’Ère du soupçon, 1956), gewann Proust zudem den Status eines Vorläufers der Moderne. Ein reges Interesse fand Proust insbesondere auch in Italien, wo 1946–1953 der größte Teil von Prousts Werk übersetzt wurde und darauf aufbauend eine rege Diskussion stattfand. Das Interesse in der englischsprachigen Welt war stets ungebrochen geblieben; hier sind als wichtigste Beiträge Philip Kolbs Studie von 1948 zu Prousts Korrespondenz hervorzuheben, die schließlich zu der 21bändigen Ausgabe La Correspondance de Marcel Proust führte, und die umfassende Biographie von Painter 1959, die bei allen Mängeln aus heutiger Sicht zu ihrer Zeit ein wichtiges Arbeitsin­strument zur Verfügung stellte.

Die Auseinandersetzung mit Prousts Werk war in den sechziger und siebziger Jahren geprägt von der Diskussion um die Frage, wodurch denn eigentlich der Eindruck einer Kontinuität in der Suche trotz des offenkundigen Episodencharakters der Erzählweise zustande kommt. Gegen Georges Poulets Deutung in L’Éspace proustien (1963), dass das Bewusstsein des Erzählers die einheitsstiftende Instanz bilde (s. insbes. Kap. IX, S. 93–112 der deutschen Ausgabe24), wendet sich bei einer Table ronde 1975 Gilles Deleuze, der vor allem in den Querverbindungen (»transversales«), die durch gemeinsame Merkmale im erinnernden Rückbezug hergestellt werden, die »Fäden des Spinnennetzes« sieht, »das vor unseren Augen gewebt wird«.25 Proust selbst liefere hier, wie Deleuze schon 1963 in Proust et les signes (S. 126) betont, den entscheidenden Hinweis:

Denn was wir für unsere Liebe, unsere Eifersucht halten, ist keine fortdauernde, unteilbare Leidenschaft. Sie bestehen aus einer Unendlichkeit von aufeinanderfolgenden Lieben, verschiedenen Eifersüchten, die kurzlebig sind, aber ihre lückenlose Vielzahl vermittelt den Eindruck der Kontinuität, die Illusion der Einheit. (WS S. 511.)

In Hinblick auf die »innombrable« und »insaisissable« Albertine mit ihrem wandernden Schönheitsfleck ließe sich auch auf Fran­çoises Küchenhilfe verweisen:

Das Küchenmädchen war eine juristische Person, eine ständige Einrichtung, der die Zuschreibung unveränderlicher Merkmale durch die Abfolge flüchtiger Gestalten hindurch, in denen sie Fleisch wurde, eine Art von Kontinuität und Identität verschaffte: denn wir hatten niemals länger als zwei Jahre hintereinander das gleiche. (WS S. 115.)

Malcolm Bowie nimmt 1998 in Proust Among the Stars die Diskussion um die Kontinuität bei Proust wieder auf und sieht deren Quelle vor allem in Prousts Technik, gedankliche Schritte in die Zukunft noch im selben Satz durch Rückgriffe auf die erinnerte Vergangenheit abzusichern oder sie überhaupt schon gleich in die Vergangenheit zu verlegen. Damit wird auch die verwickelte Struktur der Proustschen Sätze als erzählerische Notwendigkeit deutlich, denn indem so die isolierten Gegenwarten mit zeitlichen Halos umgeben werden, wird zugleich ihr Verschmelzen ermöglicht. Als markantes Beispiel führt Bowie die Passage über den Ruderer auf der Vivonne an, bei der der Erzähler seine eigenen langfristigen Zukunftserwartungen wie auch die vermutete kurzfristige des Ruderers in einem rückblickenden Satz unterbringt:

Wie oft habe ich hier einem Ruderer zugesehen, habe ich mir gewünscht, es ihm gleichzutun, wenn es mir freistünde, ganz nach meinem Belieben zu leben, der seine Riemen eingelegt hatte und sich, am Boden seines Bootes auf dem Rücken ausgestreckt, mit zurückgelegtem Kopf willenlos treiben ließ, nichts sah als den Himmel, der langsam über ihm dahinzog, und auf seinem Gesicht den Vorgeschmack von Glück und Frieden trug. (WS, S. 237.)

Roland Barthes dagegen kommt es ohnehin im Umgang mit Prousts Werk weniger auf Interpretationen des Textes als auf seine Aneignung durch Variation an, durch jene »reécriture«, wie er sie beispielhaft in den Fragments d’un discours amoureux (1977) vorführt, wo er Albertines sprachliche Abirrungen als Ausgangspunkte zu eigenen Betrachtungen über die Liebe nimmt. Auch diese Her­angehensweise findet, wie Barthes in Proust et les noms 1969 darlegt, ihre Rechtfertigung in Prousts Text selbst, dessen Erzähler sich insbesondere Eigennamen wie etwa Guermantes oder Parme (Parma) zu eigen macht, indem er sie mit längeren Assoziationsketten und Träumereien verknüpft. Dass damit jedoch nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet wird, demonstrierten Jean Milly 1974 und Claudine Quémar 1978 in Sur quelques noms proustiens (in: Litterature 14, S. 65–82) bzw. in Rêverie(s) onomastique(s) proustienne(s) à la lumière des avant-textes (in: Litterature 28, S. 77–99) anhand einer phonetisch-phonologischen Analyse der Namen und der Bezüge zu den mit ihnen verknüpften Konzepten.

Der Erwerb der Notizbücher (Carnets) und Kladden (Cahiers) Prousts durch die Bibliothèque nationale de France im Jahr 1962 machte es möglich, die Entstehung der Werke Prousts detailliert zu verfolgen, wie es Anthony Pugh mit seinen großangelegten Studien The Birth of »À la recherche du temps perdu« (1987) für die Jahre 1908–09 und The Growth of »À la recherche du temps perdu« (2004) für die Jahre 1909–14 unternahm. 2009 legte Akio Wada einen Index général des cahiers de brouillon de Marcel Proust vor (Osaka: Matsumotokobo), der es insbesondere ermöglicht, die Entwicklung der Namensgebung für die einzelnen Personen seit ihren ersten Vorentwürfen nachzuvollziehen. Die Publikation der einundzwanzigbändigen, ausführlich kommentierten Correspondance de Marcel Proust durch Philip Kolb in den Jahren 1970–93 ermöglichte neue Einblicke in Prousts Leben, die die Veröffentlichung einer Reihe neuer Biographien in den neunziger Jahren anstießen. Das damit neuerlich erweckte Interesse an Proust führte in den verschiedensten Ländern zur Gründung literarischer Freundeskreise; s. dazu unten, Marcel-Proust-Gesellschaften.

Die verbesserte Forschungssituation zog zudem eine erhebliche Differenzierung in der Proust-Forschung nach sich, die sich dem Werk heute unter den verschiedensten Aspekten und in den verschiedensten Zusammenhängen nähert. Zu Odettes bekannter Anglomanie und dem Einfluss Ruskins auf Proust betrachtet Daniel Karlin Proust’s English (2005), und Sophie Duval untersucht das davon nicht allzu fern liegende Thema L’Ironie proustienne (2004). Die Philosophie Prousts, die sich nicht unbedingt in den Abschnitten mit philosophischen Themen niederschlägt, arbeitet Vincent Descombes 1987 in Proust: Philosophie du roman heraus. Die Verbindung Prousts mit verschiedenen Strömungen in der philosophischen Diskussion stellen der britische Philosoph Malcolm Bowie 1987 in Freud, Proust, and Lacan: Theory as Fiction dar, die ungarische Philosophin Erika Fülöp 2012 in Proust, the One, and the Many (Oxford University Press) oder der schwedische Philosoph Martin Hägglund 2012 in Dying for Time: Proust, Woolf, Nabokov (Harvard University Press). Die psychoanalytische Untersuchung des Textes nahm Michael Schneider 1999 mit Maman (Gallimard) wieder auf, während sich Jean-Yves Tadié 2012 in Le Lac inconnu: Entre Freud et Proust (Gallimard) vor allem für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Proust und Freud interessiert.

Eine Reihe von Publikationen wendet sich Prousts Interesse an darstellenden Künsten zu, so 2003 Jean-Pierre Montier und Jean Cléder in Proust et les images: Peinture, photographie, cinéma, vidéo, und 2004 Marion Schmid und Martine Beugnet in der anregenden Untersuchung Proust at the Movies, sowie Eric Karpeles’ Paintings in Proust (2008) mit Reproduktionen aller in der Suche direkt erwähnten Kunstwerke, während sich Kazuyoshi Yoshikawa in Proust et l’art pictural (2010) auf die Suche nach den im Text verborgenen Kunstwerken macht. Eine wichtige Studie in diesem Zusammenhang ist auch Peter Colliers Untersuchung Proust and Venice (1989), die sich mit Prousts Ästhetik befasst, insbesondere am Beispiel des Venedig-Kapitels in der Entflohenen. Den Einfluss der Fotografie schließlich auf Prousts Sicht der Welt untersucht 1997 der Fotograf Brassaï in Marcel Proust sous l’emprise de la photographie (dt. Proust und die Liebe zur Fotografie, 2001, Übers. Max Looser). 1999 erschien eine Sammlung von Aufnahmen von Prousts Zeitgenossen und Brassaïs nicht minder bekanntem Kollegen Paul Nadar, Le Monde de Proust vu par Paul Nadar (Texte von Anne-Marie Bernard; dt. Proust und seine Modelle), die insbesondere Lesern, die einer autobiographischen Lesart der Suche zuneigen, das nötige Lokalkolorit liefern. Eine fotografisch anspruchsvolle, sich assoziativ relativ frei bewegende Spurensuche unternimmt 1982 François-Xavier Bouchart mit seinem reizvollen, in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildband La Figure du pays; Elger Essers faszinierende Suche nach dem alten im neuen Frankreich dagegen trägt ihren Titel Combray (2016) in einem eher metaphorischen Sinn.

Die Fülle der Ansätze in der Proust-Literatur hat das Bedürfnis nach Werken entstehen lassen, die es ermöglichen, sich zumindest einen Überblick zu verschaffen. Hier war gewiss der von Richard Bales 2001 herausgegebene Cambridge Companion to Proust wegweisend, an dem sich auch spätere Ausgaben mit ähnlicher Zielsetzung orientierten, wie etwa die von Adam Watt 2013 herausgegebene Sammlung von Aufsätzen Marcel Proust in Context. Ein inzwischen unentbehrlich gewordenes Arbeitshilfsmittel stellten 2004 Annick Bouillaguet und Brian G. Rogers mit ihrem monumentalen Dictionnaire Marcel Proust zur Verfügung, das 2009 in einer überarbeiteten und erweiterten Übersetzung von Luzius Keller unter dem Titel Marcel Proust Enzyklopädie auch in Deutschland erschien. Eine Zwischenstellung zwischen Enzyklopädie und Biographie nimmt Philippe Michel-Thiriets Quid de Marcel Proust von 1982 ein, das nach Sachgruppen geordnet verschiedene Aspekte zu Leben und Werk stichwortartig behandelt; die deutsche Übersetzung der 2. Aufl. 1987 von Rolf Wintermeyer erschien 1992 unter dem Titel Das Marcel Proust Lexikon. In diesem Zusammenhang sollte auch noch das reich bebilderte Album Proust von Pierre Clarac und André Ferré aus dem Jahr 1965 erwähnt werden, das sich bemüht, dem Leser und Betrachter einen leichten Zugang zur Person des Autors und zu seinem Werk zu ermöglichen; die deutsche Übersetzung von Hilda von Born-Pilsach erschien 1975 unter dem Titel Das Proust-Album. Das Bildmaterial aus diesem Album hat inzwischen Eingang in verschiedene französische E-Book-Ausgaben der Werke Prousts gefunden.

Die Jahrtausendwende hat eine überraschende Populärkultur zu Proust hervorgebracht, deren Tiefenwirkung sicherlich begrenzt ist, deren Breitenwirkung man aber nur begrüßen kann, denn gewiss haben viele, selbst aufgeschlossene Leser zum ersten Mal von Proust dank Alain de Bottons Ratgeber Wie Proust Ihr Leben verändern kann (1997; dt. 1998) gehört oder sich dank Jean-Bernard Naudins La cuisine retrouvé (1991; dt. Zu Gast bei Marcel Proust, 1992) mit Françoise im Bunde fühlen können. In Il capotto di Proust (2008; dt. Prousts Mantel, 2011) spinnt Lorenza Foschini eine Detektivnovelle um Prousts berühmten Mantel, und Anita Albus knüpft 2011 in Im Licht der Finsternis. Über Proust längere Gedankenspiele an die in der Suche erwähnten Pflanzen an. Zu einem Paris-Besuch, der nicht ausschließlich dem Konsum geweiht ist, regen schließlich Bücher wie Rainer Moritz’ Mit Proust durch Paris. Literarische Spaziergänge (2004; Neuauflage 2015) an, oder zu etwas weiteren Ausflügen der Bildband Les Promenades de Marcel Proust von Nadine Beauthéac und François-Xavier Bouchart (1997; dt. Auf den Spuren von Marcel Proust, 1999).26 Ein Vorläufer dieser Popularisierung Prousts war zweifellos Monty Pythons All-England Summarise Proust Competition27 vom 16. November 1972 mit dem unerreicht gebliebenen Ziel, eine Inhaltsangabe in 45 Sekunden zu liefern, während diese Entwicklung 2009 mit dem (2011 ins Französische rückübersetzten) japanischen Manga Ushinawareta toki o motomete ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht haben dürfte – die ganze Suche nach der verlorenen Zeit in einem Taschenbuch!

Proust über die »Suche nach der verlorenen Zeit«28

»Ich sehe schon Leser vor mir, die sich einbilden, ich schriebe hier im Vertrauen auf willkürliche und zufällige Gedankenverbindungen die Geschichte meines Lebens.«

(Brief an Paul Souday vom 10. 11. 1919 zu SJM, in: Corr. XVIII, S. 464.)

Die autobiographische Lesart, von der Proust in der oben zitierten Stelle aus seinem Brief an Paul Souday spricht, wurde zwar einerseits durch die Abschnitte Combray und Ländliche Namen: Der Name des ersten Bandes ziemlich nahegelegt, dann aber doch durch den ganz und gar unautobiographischen Abschnitt Eine Liebe von Swann ad absurdum geführt. Dennoch fühlten sich viele Kritiker eher berufen, Swann als Ungereimtheit zu empfinden denn als Widerlegung ihrer Herangehensweise (vgl. dazu das Ghéon-Zitat unten, S. 130) – die dann durch SJM neue Nahrung erhielt. Dazu schreibt Proust kurz nach dem 6. November 1920, also etwa zwei Wochen nach dem Erscheinen von WG I, offenbar etwas entnervt an Jacques Boulenger: »Ich schildere so viele verschiedene Dinge in meinem Werk, dass niemand ernstlich glauben kann, das sei alles Ich. Ohne nun gleich wie die ›Dadas‹ in Bewunderung ob meiner Seiten über die Schwerhörigkeit zu erstarren (die ich, trotz ihrer Lobgesänge, ziemlich mittelmäßig finde), sind sie dennoch zutreffend. Trotzdem bin ich keineswegs schwerhörig und wünschte nur, ich könnte ebenso gut sehen wie hören« (Corr. XIX, S. 580 f.). Immerhin, wollte man die Suche nicht als Autobiographie lesen, so legte das zeitgenössische Ambiente zumindest die Lesung als Schlüsselroman nahe.

Da Proust in den bedeutendsten Salons von Paris ein und aus ging und er sich zudem mit seinen Essays im Figaro einen Namen als Berichterstatter von Herzoginnen-Festen und Opernpremieren gemacht hatte, war es auch nicht weiter erstaunlich, dass »Tout Paris« sich auf den Weg zu Swann machte, um zu sehen, ob man wohl darin vorkomme – und beleidigt zu sein, wenn ja, und erst recht, wenn nicht. Auch gegen diese – schwerer zu widerlegende – Lesart der Suche als ein »roman à clef« hat sich Proust schon früh und immer wieder energisch verwahrt – »es gibt keine Schlüssel oder Porträts« (Brief an Madame Straus vom 3. Juni 1914, Corr. XIII, S. 231) –, doch mit mäßigem Erfolg: Noch Painter 1956 legt Wert darauf, Swann in Charles Haas, Odette in Laure Hayman, Charlus in dem Baron Doäzan, Saint-Loup in Louis d’Albufera wiederzuentdecken. Dazu Proust in dem zitierten Brief an Madame Straus: »[…] jener, den Sie Swann-Haas nennen. (Obwohl er nicht Haas ist […])«, am 19. Mai 1922 an Laure Hayman: »Sie lesen mein Buch und stellen eine Ähnlichkeit zwischen sich und Odette fest! Man möchte ja am Bücherschreiben verzweifeln« (Corr. XXI, S. 209), im April 1921 an Robert de Montesquiou: »Viele Leute glauben, Saint-Loup sei d’Albufera, an den ich dabei nie gedacht habe« (Corr. XX, S. 194), und im Mai 1921 an denselben: »Meine Person [Charlus] war schon im voraus aufgebaut und gänzlich erfunden […] sie ist größer, enthält mehr an menschlicher Vielfalt, als wenn ich sie auf eine Ähnlichkeit mit Monsieur ­Doäzan beschränkt hätte« (Corr. XX, S. 281). Allerdings muss man auch sagen, dass Proust das »keine« in »keine Schlüssel« an anderer Stelle ein wenig relativiert, wenn er zum Beispiel an Lucien Daudet schreibt: »Es gibt so viele [Schlüssel] für jede Tür, dass es in Wirklichkeit gar keinen dafür gibt«, oder in der Widmung von WS für Jacques de Lacretelle feststellt: »Es gibt keine Schlüssel für die Personen in diesem Buch; oder besser gesagt, es gibt acht oder zehn für jede einzelne« (Hommage à Marcel Proust, S. 191).

Hinsichtlich eventueller Modelle für die Kirche von Combray und für Vinteuils Sonate gilt mehr oder weniger das gleiche wie für die Personen der Suche – »selbst für die unbelebten Gegenstände destilliere ich etwas Allgemeines aus tausend unbewussten Reminiszenzen« (Brief an Robert de Montesquiou vom Mai 1921, Corr. XX, S. 281) –, hier erlaubt Proust allerdings doch einen kleinen Einblick in die Natur dieser Eindrücke. So schreibt er in seiner Widmung von WS für Jacques de Lacretelle: »Für die Kirche von Combray hat sich mein Gedächtnis zahlreicher Kirchen als Modelle bedient. Ich könnte Ihnen nur nicht sagen, welcher. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, ob das Pflaster aus Saint-Pierre-sur-Dives oder aus Lisieux stammt. Manche der Fenster stammen sicherlich aus Évreux, andere aus der Saint-Chapelle und aus Pont-Audemer«, und fährt dann fort: »Was die Sonate angeht, sind meine Erinnerungen genauer. […] die kleine Phrase der Sonate […] bei der Soiree Saint-Euverte ist die charmante, aber letztlich mittelmäßige Phrase von Saint-Saëns, ein Komponist, den ich nicht mag. Es würde mich allerdings wundern, wenn ich weiter unten bei der kleinen Phrase nicht an den Karfreitagszauber gedacht hätte. Und dann an eben diesem Abend, wo Violine und Klavier zwitschern wie zwei Vögel, die einander antworten, nicht an die Sonate von Franck […], dessen Quartett in einem späteren Band in Erscheinung treten wird. Die Tremolos, die bei den Verdurins die kleine Phrase überdecken, sind mir durch das Vorspiel zum Lohengrin suggeriert worden, aber die Phrase selbst in diesem Augenblick durch etwas von Schubert. Und noch an diesem selben Abend ist sie auch ein hinreißendes Stück für Klavier von Fauré.« Wie weit man allerdings Prousts weitere Ausführungen zu den Monokeln bei Madame de Saint-Euverte wirklich als Charakterisierungen »lebloser Gegenstände« ansehen darf oder sie nicht doch schon als klare Anleihen bei lebendigen Personen ansehen muss, erscheint fraglich; auf jeden Fall aber erscheinen sie mir von eigenständigem Interesse: »Bei dem Monokel von Monsieur de Saint-Candé habe ich an das von Monsieur Bethmann gedacht (nicht der Deutsche – auch wenn der der Ursprung sein mag –, sondern an den Vater der Hottinguers), bei dem von Monsieur de Forestelle an das eines Offiziers, den Bruder eines Musikers namens d’Ollone, für das des Generals Froberville an das eines vorgeblichen Schöngeistes – ein veritabler Rohling –, den ich bei der Prinzessin von Wagram und ihrer Schwester kennengelernt habe und der sich Monsieur de Tinseau nannte. Das Monokel von Monsieur de Palancy ist das des armen und teuren Louis de Turenne, der sich wohl nicht hatte träumen lassen, dass er eines Tages mit Arthur Meyer verwandt sein würde, zumindest nach der Art zu urteilen, in der er ihn bei mir einmal behandelt hat. Turennes Monokel geht dann in Le Côté de Guermantes an Bréauté über, glaube ich.« (Hommage à Marcel Proust, S. 190 f.)

Natürlich erschafft kein Schriftsteller seine Figuren aus dem Nichts; die Komposition aus Einzelzügen, die der Realität entnommen wurden, dürfte eine allgemeingültige Vorgehensweise sein. Die Frage, die ja in den letzten Jahrzehnten zunehmend auch die Gerichte beschäftigt hat, ist dabei, inwieweit ein Leihgeber erkennbar bleibt. Hierzu gibt Proust in der Suche selbst einige entscheidende Hinweise zu seiner Vorgehensweise:

Der Literat beneidet den Maler, er würde auch gern Skizzen anfertigen, Notizen machen, und ist verloren, wenn er es tut. Wenn er aber schreibt, so ist da nicht eine Geste, nicht ein Tick oder Tonfall seiner Personen, die seine Inspiration nicht aus seinem Gedächtnis bezogen hätte, kein Name einer erfundenen Person, dem er nicht sechzig Namen von Bekannten unterlegen könnte, von denen der eine für die Grimasse, der andere für das Monokel, ein dritter für den Wutanfall, ein weiterer für die gefällige Armbewegung usw. Modell gestanden hat. Und dann wird dem Schriftsteller klar, dass sein Traum, ein Maler zu sein, zwar nicht auf bewusste und willentliche Art zu verwirklichen war, dass er aber gleichwohl Wirklichkeit geworden ist und dass auch er, der Schriftsteller, sein Skizzenbuch geführt hat, freilich ohne es zu wissen.

Denn getrieben von dem Instinkt, der in ihm war, unterließ es der Schriftsteller schon lange, bevor er glaubte, eines Tages ein solcher zu werden, regelmäßig, allerlei Dinge zu betrachten, die anderen auffielen, was ihm von diesen anderen den Vorwurf eintrug, zerstreut zu sein, und von ihm selbst, weder recht hören noch sehen zu können; während jener Zeit hieß er seine Augen und Ohren sich für immer merken, was die anderen für kindischen Kleinkram hielten, den Tonfall, den Gesichtsausdruck, die Schulterbewegung, mit denen irgendeine Person, von der er womöglich sonst nichts weiß, in einem bestimmten Augenblick vor vielen Jahren einen Satz gesagt hat, und zwar deshalb, weil er diesen Tonfall schon einmal gehört hatte oder weil er spürte, dass er ihn einmal wiederhören könnte, dass er etwas Wiederholbares, Dauerhaftes war; das Gefühl für das Allgemeingültige wählt beim zukünftigen Schriftsteller selbständig das aus, was allgemeingültig ist und in das Kunstwerk wird Eingang finden können. Denn er hat den anderen nur zugehört, wenn sie sich, so dumm oder verrückt sie auch sein mochten, genau dadurch, dass sie wie Papageien wiederholten, was andere von ähnlichem Charakter sagen, zu weissagenden Vögeln machten, zu Verkündern eines psychologischen Gesetzes. Er erinnert sich nur an das Allgemeingültige. Durch diesen Tonfall, jene Veränderung im Gesichtsausdruck, selbst wenn er sie in frühester Kindheit wahrgenommen hat, war das Leben der anderen in ihm repräsentiert und würde, wenn er später schriebe, aus einer Bewegung der Schultern zusammengesetzt werden, die vielen gemeinsam ist, so getreu, als ob sie aus dem Skizzenbuch eines Anatomen stammte, aber hier, um eine psychologische Wahrheit auszudrücken, indem auf die Schultern des einen die Halsbewegung eines anderen gepfropft wird, so dass jeder für einen Moment Modell gestanden hat. (WZ, S. 295 f.)

Dieses weiträumige Kompositionsprinzip sieht der Erzähler als einen der Gründe an »für die Sinnlosigkeit aller Versuche, die man anstellt, um herauszubekommen, von wem ein Autor spricht« (WZ, S. 306). Dies muss allerdings mit einem Körnchen Salz genommen werden, denn in seinem Brief an Lucien Daudet vom 3. Juni 1915 schreibt Proust beispielsweise: »Im nächsten Band dagegen werden Sie in Madame de Villeparisis eine [[…]] oder [[…]] sehen, während die Guermantes die [[…]] oder die [[…]] sind«; zwar wurden die Namen vom Empfänger oder seinen Erben geschwärzt, aber die Existenz von Vorbildern wird eben doch zugegeben. Und wohl auch nicht ohne Grund verweist Proust in WG (S. 567) ausdrücklich auf Carpaccio und dessen Neigung, Freunde und Verwandte wiedererkennbar unter die Statisten zu mischen, während die Hauptpersonen meist weitgehend typisiert sind. Bei genauerem Hinsehen erweist sich durchaus, dass etlichen Nebenpersonen ziemlich zweifelsfrei der eine oder andere Zeitgenosse Prousts zugeordnet werden kann, so etwa dem geschwätzigen Bruder Cartier der fiktiven Madame de Villefranche der sehr reale Pariser Präsident der Anwaltskammer Ernest Cartier, oder dem großsprecherischen Bildhauer Viradobetski, genannt Ski, aus dem Kreis Verdurin der Bruder des Arztes von Prousts Mutter, der Pariser Bildhauer Paul Landowski, dem die Welt den Christus von Rio de Janeiro verdankt.

Der Ruf als Salonlöwe, der Proust vorauseilte und ihn die Sympathie André Gides als Lektor der Nouvelle Revue Française gekostet hatte29, hatte 1896 durch die Publikation der Sammlung von Prousts Figaro-Essays Les Plaisirs et les Jours neue Nahrung erhalten, in der konzentriert auftrat, was man sonst nur gelegentlich genoss. Offenbar sah Proust die Gefahr, dass das Publikum, wie André Gide30, das neue Werk im Lichte dieser früheren Arbeiten lesen und missverstehen würde, und versuchte, dem mit Briefen an die wichtigsten Kritiker vorzubauen und sie insbesondere von den Charakterisierungen délicat und fin abzubringen, die die Besprechungen von Les Plaisirs et les Jours geprägt hatten – wobei Proust offenbar exquis vergessen oder verziehen hat. So schreibt er Anfang (5., 6. oder 7.) November 1913 an René Blum, den Redakteur der täglich erscheinenden Literaturzeitung Gil Blas: »All dies ist nur das Gerüst des Buches. Was es trägt, ist wirklich, leidenschaftlich, ganz verschieden von dem, was Sie von mir kennen und, wie ich glaube, weniger schlecht, es verdient nicht mehr die Epitheta délicat und fin, sondern lebendig und wahr« (Corr. XII, S. 296); am 7. oder 8. November 1913 an seinen Jugendfreund und Leiter des Feuilletons des Figaro, Robert de Flers: »Was gesagt werden muss ist vor allem, dass es sich hier keineswegs um meine Artikel im Figaro handelt, sondern um einen Roman, der zugleich voller Leidenschaften, Betrachtungen und Landschaftsbeschreibungen ist. Vor allem aber ist er völlig verschieden von Les Plaisirs et les Jours und weder délicat noch fin« (Corr. XII, S. 298); und schließlich noch am 12. November, zwei Tage vor dem Erscheinen des ersten Bandes, an den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette: »Falls Sie eine Besprechung machen wollen, würde ich es begrüßen, dass die Epitheta fin, délicat ebenso wenig vorkommen wie irgendein Verweis auf Les Plaisirs et les Jours. Dieses hier ist ein Werk voller Kraft […]« (Corr. XII, S. 308 f.) – »une œuvre de force«, was man wohl am besten noch als »ein Kraftwerk« wiedergäbe.

Natürlich haben Prousts Demarchen nichts genützt, und die Kritiken sind durchsetzt mit den Vokabeln délicat, subtil, exquis, précieux. Was ihn aber vor allem ärgerte, ist das Insistieren der Kritik auf seiner angeblichen Detailverliebtheit und ihr Unvermögen, den Plan hinter dem Ganzen zu erkennen. So schreibt Henri Ghéon ausgerechnet in der Nouvelle Revue Française in seiner Besprechung von WS vom 1. Januar 1914: »[Proust] vertrödelt seine Zeit damit, die Bäume zu zählen, die verschiedenen Arten von Bäumen, die Blätter an den Zweigen und die hinuntergefallenen Blätter« (S. 140), und weiter: »Wir halten vergeblich nach einer Möglichkeit Ausschau, die ersten Träume eines Kindes in Verbindung mit dieser Affäre zwischen Monsieur Swann und Odette de Crécy zu bringen, von der Monsieur Proust gewiss erst lange nach seiner Kindheit erfahren hat und die ohne jegliche Rechtfertigung in die Erzählung von seinen Sommerspaziergängen in Combray und seinen Spielen in den Champs-Élysées eingeschaltet ist« (S. 142). Zum Vorwurf des literarischen Pointillismus, den der mit Proust befreundete Autor psychologischer Romane Louis de Robert ihm offenbar nach Lektüre der Fahnen gemacht hatte, schreibt er ihm im Juli 1913:

Sie schreiben von meiner Kunst des winzigen Details, des Nichtwahrnehmbaren, usw. Ich weiß nicht, was ich tue, aber ich weiß, was ich tun will; ich unterdrücke vielmehr (außer in den Passagen, die mir nicht gefallen) jedes Detail, tatsächlich wende ich mich nur dem zu, was mir […] irgendeine allgemeine Gesetzmäßigkeit zu offenbaren scheint. Und da diese uns niemals vom Verstand enthüllt wird und wir nach ihr sozusagen nur in den Tiefen unseres Unbewussten fischen können, ist sie in der Tat nicht wahrnehmbar, denn sie ist entfernt, sie ist schwierig wahrzunehmen, aber sie ist keineswegs ein winziges Detail. Ein Gipfel in den Wolken kann, obwohl ganz klein, sehr wohl höher sein als eine benachbarte Fabrik. Beispielsweise ist dieser Geschmack des Tees, den ich zuerst nicht wiedererkenne und in dem ich die Gärten von Combray wiederfinde, so eine nicht wahrnehmbare Sache. Aber sie ist keineswegs ein winziges beobachtetes Detail, sie ist eine ganze Theorie der Erinnerung und der Wahrnehmung (das ist jedenfalls mein Anspruch), die nur nicht in Begriffen der Logik verkündet wird (das alles wird noch im 3. Band wiederauftreten). (Corr. XII, S. 231.)

Im gleichen Sinne schreibt Proust am 28. oder 29. Dezember 1913 an Robert Dreyfus: »Dein Freund und Nachbar [der Redakteur Raymond Recouly der Tageszeitungen Le Temps und Le Figaro], ein im übrigen ausgezeichneter Schriftsteller, hat mir einen liebenswürdigen und ungerechten Brief geschrieben. Er sagt zu mir: ›Sie bemerken alles‹. Aber nein, ich bemerke nichts. Er ist es, der bemerkt. Keine meiner Personen schließt jemals ein Fenster oder wäscht sich die Hände, zieht einen Mantel an oder sagt eine Vorstellungsformel. Falls es irgendetwas Neues in diesem Buch geben sollte, dann ist es das, und im übrigen gänzlich ungewollt; ich bin einfach nur zu faul, um Dinge aufzuschreiben, die mich langweilen« (Corr. XII, S. 394), und am 6. März 1914 an André Gide: »[…] ich selbst kann nicht, wenn ich schreibe – sei es aus Faulheit, Trägheit oder Langweile – Dinge erzählen, die nicht einen poetischen Zauber auf mich ausgeübt haben oder in denen ich nicht eine allgemeingültige Wahrheit glaubte erfassen zu können. Meine Personen binden sich niemals die Krawatte oder erneuern auch nur deren ›Sortiment‹« (Corr. XIII, S. 108). Der Vorwurf der Detailverliebtheit scheint Proust gewaltig gewurmt zu haben, denn ganz gegen Ende von WZ erteilt er seinen Widersachern schließlich die letztgültige Antwort:

Bald schon konnte ich einige Skizzen vorweisen. Niemand begriff auch nur ein bisschen davon. Selbst diejenigen, die meiner Sicht der Wahrheiten, die ich später in den Tempel meißeln wollte, wohlwollend gegenüberstanden, gratulierten mir dazu, sie mit dem »Mikroskop« entdeckt zu haben, während ich mich im Gegenteil eines Teleskops bedient hatte, um die Dinge wahrzunehmen, die zwar tatsächlich sehr klein waren, aber nur, weil sie sich in großer Entfernung befanden und jedes für sich eine eigene Welt darstellten. Dort, wo ich nach den großen Gesetzen suchte, nannte man mich einen Kleinigkeitenkrämer. (WZ, S. 492.)

Zu dem anderen Vorwurf Ghéons und anderer Kritiker, dem der Planlosigkeit, schreibt Proust am 6. Februar 1914 an den Schriftsteller und Mitarbeiter der Nouvelle Revue Française Jacques Rivière, der Proust vorbehaltlos bewunderte: »Endlich finde ich einen Leser, der errät [divine], dass mein Buch [WS] ein dogmatisches Werk und eine Konstruktion ist!« (Corr. XIII, S. 98.) In diesem Zusammenhang kann man allerdings den anderen Kritikern keine allzu großen Vorwürfe machen, denn der erste Band allein oder auch im Zusammenhang mit den spärlichen Ankündigungen zu den in Aussicht gestellten beiden Folgebänden lässt den Plan des Architekten kaum erahnen:

Erst am Ende des [ganzen] Buches, wenn die Lehren des Lebens verstanden worden sind, wird sich mein Denken enthüllen. Was ich zu Ende des ersten Bandes ausdrücke, in diesem Nebengedanken über den Bois de Boulogne, den ich dort wie einen Wandschirm hingestellt habe, um einen Band zu beenden und abzuschließen, der aus materiellen Gründen nicht über 500 Seiten hinausgehen durfte, ist das Gegenteil meiner endgültigen Schlussfolgerung. Es ist eine allem Anschein nach subjektive und oberflächliche Zwischenstation auf dem Weg zur objektivsten und gläubigsten aller Schlussfolgerungen. […] In diesem ersten Band haben Sie gesehen, welches Vergnügen mir die Empfindung der in Tee getunkten Madeleine bereitet, ich sage, dass ich aufhöre, mich sterblich zu fühlen usw. und dass ich nicht verstehe, warum. Das werde ich erst am Ende des dritten [nach damaliger Planung letzten] Bandes erklären. Alles ist in dieser Weise konstruiert. Wenn Swann Odette so arglos Charlus anvertraut […], dann deshalb, weil Charlus weit davon entfernt ist, Odettes Liebhaber zu sein, und vielmehr ein Homosexueller ist, der Frauen verabscheut, was Swann weiß. Ebenso werden Sie im dritten Band die tieferen Hintergründe für die Szene zwischen den beiden Mädchen [Mademoiselle Vinteuil und ihre Freundin] erkennen, für die fixen Ideen meiner Tante Léonie usw. (Corr. XIII, S. 99.)

Proust dagegen hatte bei Erscheinen des ersten Bandes den Grundriss des Ganzen bereits im Kopf: »Dieses Werk […] ist so peinlich genau ›komponiert‹ (ich könnte Ihnen dafür zahlreiche Beweise liefern), dass das letzte Kapitel des letzten Bandes unmittebar im Anschluss an das erste Kapitel des ersten Bandes geschrieben wurde« (Brief an Paul Souday vom 17. Dez. 1919; Corr. XVIII, S. 536).

Auch bei diesem »alles« in »alles ist in dieser Weise konstruiert« in dem oben eingerückten Zitat aus dem Brief an Rivière ist eine Prise Salz angebracht. Denn wenn Proust auch Herr des Ganzen ist, so ist er doch auch Paladin des Textes:

Ich denke, […] dass Sie enttäuscht gewesen sind, ihn [Swann] weniger sympathisch und sogar lächerlich werden zu sehen. Ich versichere Ihnen, dass es mir großen Schmerz bereitet hat, ihn derart zu verwandeln. Aber es steht mir nicht frei, gegen die Wahrheit zu verstoßen und die Gesetze der Charaktere zu verletzen. Amicus Swann, sed magis amica Veritas [Swann ist mir teuer, doch die Wahrheit ist mir teurer; nach Platon]. Die nettesten Menschen machen manchmal abscheuliche Perioden durch. Ich verspreche Ihnen, im nächsten Band wird Swann als Dreyfus-Anhänger wieder sympathisch werden. Unglücklicherweise stirbt er im vierten Band, und das bereitet mir großen Kummer. Und die Hauptperson des Buches ist nicht er. Ich hätte es gern gesehen, wenn er es wäre. Aber die Kunst ist ein ständiges Opfer des Gefühls an die Wahrheit. (Brief an Violet Schiff vom 2. Juli 1919; Corr. XVIII, S. 295 f.)

Oder doch zumindest Juniorpartner: »[…] während ich mein Buch schrieb, hatte ich das Gefühl, dass ich, wenn Swann mich gekannt hätte und es ihm möglich gewesen wäre, Gebrauch von mir zu machen, Odette sich in ihn hätte verlieben lassen können.« (Brief an André Gide vom 22. März 1914; Corr. XIII, S. 119.)

Handbuch zu Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«

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