Читать книгу Das Leichenpuzzle von Anhalt - Bernd Kaufholz - Страница 7

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DER SACK UNTERM KOHLEHAUFEN

Richard Räder* sitzt am Freitag, dem 22. Mai 1953, im Kommissariat Kriminaltechnik in Halle Polizeimeister Rasch gegenüber. »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagt der 43-Jährige. »Am 20. Mai ist meine acht Jahre alte Tochter Helga nicht nach Hause gekommen. Sie sollte gegen 10.45 Uhr für eine Mieterin unseres Hauses im Kuttelhof eine Brause kaufen. Von diesem Weg zur Herrenstraße ist sie nicht zurückgekommen. Ich weiß nicht, wo sie sein könnte.«

»Wer ist die Bürgerin, für die Ihre Tochter einkaufen sollte?«

»Es handelt sich um Fräulein Ruth Banse*, die in unserem Haus wohnt. Sie kam am 20. Mai zu mir und sagte, dass sie schon eineinhalb Stunden auf Helga wartet.«

Vielleicht sei sie bei der Hitze baden gegangen, vermutet der Vater. »Sie hat wie im letzten Jahr einen Dauerbadeschein und badet öfter im Pionierpark auf der Peißnitz.«

»Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter dabei? Und dann brauche ich noch eine Personenbeschreibung«, sagt der Polizeimeister.

Räder zieht ein Foto aus seiner Brieftasche und gibt es Rasch. »Helga ist schlank. Sie hat hellblondes Haar, links gescheitelt. Ihre Augenfarbe ist graublau, ihr Gesicht eher oval.«

»Und das Gebiss?«

»Lückenhaft.«

»Was hatte Ihre Tochter an, als sie das Haus verließ?«

»Eine schwarze Turnhose und einen rosa Schlüpfer. Kein Oberteil und keine Schuhe.«

Nachdem die Vermisstenanzeige aufgenommen wurde, informiert Unterwachtmeister Hesse gegen 15 Uhr Wasserschutz- und Transportpolizei. Das Jugendlager auf der Peißnitz-Insel wird in Kenntnis gesetzt. Die Leitung kann allerdings nicht weiterhelfen. Helga ist dort nicht gesehen worden.


Helga Räder

Die Behörde in Halle schickt Fernschreiben an die Volkspolizeikreisämter in Bernburg, Merseburg, Eisleben, Köthen und Bitterfeld. Der Vorgang wird »zur weiteren Bearbeitung dem Kommissariat Allgemeine Kriminalität übergeben«.

Erste Ermittlungen in dem Vermisstenfall ergeben, dass das Mädchen das letzte Mal im Geschäft »Prenzlau« in der Herrenstraße gesehen wurde. Begleitet wurde sie dabei von der Tochter der Familie Krausche*. Die Freundin erzählt der Polizei, dass es im Geschäft in der Herrenstraße keine Limonade gegeben habe, und Helga dann ein paar Häuser weiter zum Konsum gegangen sei. Die Verkäuferinnen bestätigen, dass das Kind dort gewesen ist.

Else Räder*, die Mutter der Vermissten, antwortet auf die Frage, ob sie den Verdacht habe, dass jemand etwas mit dem Verschwinden Helgas zu tun haben könnte: »Eine Beschuldigung gegen jemanden kann ich nicht aussprechen. Ich kann nicht bestimmt sagen, dass ihr jemand etwas angetan hat. Eines möchte ich aber noch angeben: Mein Kind fährt sehr gerne mit Autos mit.«

Die 39-Jährige ist überzeugt davon, dass Helga »nur mit Menschen mitgeht, die sie kennt«. Dann äußert sie doch noch einen Verdacht: »Ich kenne einen Paul Wolff*, der früher neben uns im Kuttelhof gewohnt hat. Jetzt wohnt er in der Leipziger Straße, und er liegt mit seiner Frau in Scheidung. Es ist möglich, dass er Helga getroffen hat, und sie mit ihm gegangen ist, weil sie ihn kennt.«

Die Kripo ermittelt, dass Wolff wegen Sittlichkeitsdelikten vorbestraft ist. Richard Räder erinnert sich daran, dass er den beschäftigungslosen Epileptiker am Tag des Verschwindens seiner Tochter gegen 11.20 Uhr unter dem Fenster seiner Wohnung im Kuttelhof vorbeigehen sah.

Die Aussagen der Eltern sind für Rasch, den zuständigen Meister der Volkspolizei von der Abteilung Kriminaltechnik, Grund genug, Paul Wolff vorzuladen. Bereits um 17 Uhr wird er im Kommissariat AK 1 des Kreisamtes verhört. Bevor er zu dem Verschwinden des Mädchens befragt wird, soll er sich zu seinem persönlichen Werdegang äußern. Einen Beruf habe er nicht erlernt, so der Mann, der eines von 16 Geschwistern ist. »Ich habe ja meine Krankheit seit dem 12. Lebensjahr. Ich habe hin und wieder gebettelt, um mich davon zu ernähren.« 15 Jahre zuvor sei er »von der damaligen Regierung sterilisiert« worden.

Am Mittwoch dem 20. Mai, sei er zu seiner Frau auf den Kuttelhof gegangen, mit der er trotz der Scheidung »immer noch geschlechtlich verkehre, soweit ich den Geschlechtsverkehr aufgrund meiner Sterilisation ausführen kann«. Am betreffenden Tag sei er von 17 bis 21 Uhr bei ihr gewesen. Er habe danach seine Frau ein Stück auf ihrem Weg zur Arbeit begleitet. »Anschließend bin ich zu meiner Mutter gegangen, in die Leipziger Straße, wo ich wohne.« Ein kleines Mädchen habe er nicht getroffen.

Da der 46-Jährige weder schreiben noch lesen kann, wird ihm das Protokoll vorgelesen. Die Überprüfung seines Alibis ergibt, dass er mit dem Verschwinden der kleinen Helga nichts zu tun haben kann.

Am 26. Mai 1953 veröffentlicht die Bezirksbehörde der VP ein sogenanntes Mithilfeersuchen in der Tageszeitung »Freiheit«. Darin wird mitgeteilt, es werde davon ausgegangen, dass Helga zum Baden gegangen sei. Dabei habe sie eine leere Brauseflasche bei sich gehabt. »Wer hat das Mädchen auf dem Weg zum Bade gesehen?« Eine Personenbeschreibung und ein Foto Helgas werden abgedruckt.

Am 27. Mai glaubt die Kripo eine heiße Spur zu haben. Der neunjährige Uwe Meurer*, der wie Helga auf die Talamt-Schule in der Olariusstraße geht, behauptet, er habe das gesuchte Mädchen am Marktplatz gesehen. Der Direktor der Schule und VP-Meister Rasch gehen gemeinsam mit dem Zweitklässler dorthin, um vor Ort die Angaben des Schülers zu überprüfen. Uwe hatte berichtet, er habe an der Ecke am HO gestanden und Helga mit einem Mann am Roten Turm gesehen. Er will gehört haben, dass der Unbekannte das Mädchen gefragt hat, ob sie mit ihm zum Thälmann-Platz fahren wolle. Beide seien in ein Auto gestiegen, das am Kraftdroschken-Platz gestanden habe. »Das Auto hat da gedreht und ist dann die Leipziger Straße hochgefahren.«

Allerdings stellt der Polizist schnell fest, dass die Angaben Uwes nicht stimmen können. Die Entfernung zwischen HO und Rotem Turm beträgt rund 35 Meter. »Es ist ausgeschlossen«, so Rasch in seiner Aktennotiz, »dass der Junge auf diese Entfernung etwas von dem Gespräch verstanden hat. Weiterhin wird ein Auto nicht an dieser belebten Straße drehen und verkehrswidrig um den Marktplatz die Einbahnstraße – Klement-Gottwald-Straße – hochfahren.«

Trotzdem wird der 9-Jährige noch einmal gründlich befragt. Er kenne die vermisste Helga, sagt er. »Meine Mutti ist Angestellte, die von Helga ist Reinemachefrau. Ich habe schon mit Helga gespielt. Jetzt spielt sie aber mit einem anderen Jungen.« Dann wiederholt er seine Angaben, die er im Zusammenhang mit dem Mädchen gemacht hat. Das Mädchen habe einen lila-dunklen Rock getragen und eine Bluse, die hell, fast weiß war. Schuhe und Strümpfe habe sie ebenfalls angehabt. »Der Mann hatte einen dunkelbraunen Anzug mit weißen Streifen an.« Das Auto sei »oben hellblau und unten weiß« gewesen.

Als ihn der Schulleiter, der bei der Vernehmung dabei ist, ermahnt: »Junge, bleib bei der Wahrheit!«, schaut Uwe betreten zu Boden: »Es kann auch ein anderes Mädchen gewesen sein. Ich habe ein bisschen geschwindelt«, rollen ihm dicke Tränen über die Wangen. Das Verhör wird abgebrochen, nachdem der 9-Jährige schluchzt: »Wir haben uns in der Schule über die Sache unterhalten. Ich habe gedacht, dass ich das sagen muss, weil das vielleicht die Helga war.«

Auch diese Spur verläuft also im Sand, doch am selben Tag gehen die Ermittler einer weiteren nach. Ein Mann meldet sich unter dem Namen Willi Horst* beim Kriminaldauerdienst im Polizeikreisamt und berichtet, ein Arbeitskollege habe am 25. Mai bei einem Spaziergang am Saaleufer an der Weinbergbrücke »einen Flausch Haar liegen sehen«. Die Haare seien »dunkel- und hellblond« gewesen. Wieder nichts: Die Polizei findet am beschriebenen Ort keine Haare.

Drei Tage später, am 28. Mai, greift die Kripo den Hinweis der Eltern auf, dass Helga gerne ins Luisen- und ins Kanal-Bad gegangen ist. Gemeinsam mit Feuerwehr und Wasserschutzpolizei startet die Kripo eine große Suchaktion. Um 7.30 Uhr beginnen die Einsatzkräfte am Luisenbad erst das zwei Kilometer lange Kanalgelände, dann das Sommerbad an den Pulverweiden abzusuchen. In Ufernähe sind Wasserschutzpolizisten in einem Holzboot unterwegs, in der Gewässermitte suchen Feuerwehrleute in einem Schlauchboot nach Hinweisen. Zwischen den beiden Booten ist eine Leine mit Such- und Schwimmankern gespannt. Die Kripo benutzt Spezialhaken, um am Ufer nach dem Mädchen zu forschen. Doch nach fünfeinhalb Stunden wird die Aktion abgebrochen.

Die Suchmannschaft setzt um und fährt auf einem Motorboot der »Wapo« die Saale zwischen Stadtschleuse und Trothaer Schleuse ab. Auch in diesem Bereich werden beide Uferseiten nach Hinweisen durchkämmt. Bootsverleiher und Schleusenwärter werden befragt. Gegen 15.30 Uhr weist der Einsatzleiter an: »Schluss, Genossen. Das bringt hier nicht. Als Nächstes werden wir uns die Heide vornehmen.«

Trotz intensiver Bemühungen der Einsatzkräfte ist das Mädchen auch nach drei Tagen nicht aufzufinden. Es kann nicht einmal die Frage beantwortet werden, ob ein tragischer Unfall oder ein Verbrechen vorliegt. Dass Helga nur von zu Hause weggelaufen ist, schließen die Ermittler hingegen aus.

Weitere Personen werden befragt. Am 6. Juni soll Ruth Banse, die Nachbarin, die das Kind zum Brauseholen geschickt hat, die Ereignisse am Tag des Verschwindens schildern. »Ich habe Helga eine leere Flasche gegeben und 50 Pfennig und habe gesagt: ›Geh zum Kaufmann Petzold.‹ Als sie nach einer Stunde immer noch nicht zurück war, bin ich nachschauen gegangen. Frau Petzold hat dann auch bestätigt, dass Helga da war. Allerdings sei Brause gerade nicht am Lager gewesen. Sie habe gesagt, dass sie in einer Stunde wiederkommen soll.« Ruth Banse berichtet, sie habe dann noch am Hallmarkt nachgesehen, aber auch dort keine Spur von Helga entdeckt. »Es ist mir unverständlich, was mit dem Kind geschehen ist.«

Die Fahndung nach dem verschwundenen Mädchen geht weiter. Das Gelände zwischen Halle-Planena bis Wörmlitz-Böllberg wird entlang der Saale abgesucht. Ebenso der Bereich Rabeninsel bis zum Pionierpark. Am 5. Juni durchkämmen 160 Polizisten die Dölauer Heide. Doch auch dort gibt es nicht den kleinsten Hinweis auf das vermisste Mädchen.

Nicht zuletzt durch den Artikel in der Zeitung hat es sich in der Stadt herumgesprochen, dass ein »Kinderfänger« unterwegs ist. Die Menschen sind aufmerksam. Besonders Männer, die allein in der Innenstadt spazieren gehen, werden argwöhnisch beäugt. Aber auch Frauen, die sich »auffällig« benehmen, müssen damit rechnen, dass die Polizei auf sie aufmerksam gemacht wird: Das bekommt auch die 43-jährige Frührentnerin Charlotte Claus* zu spüren. Am 10. Juni will sie in der Reilstraße Butter kaufen. Auf dem Weg wird sie von einem kleinen Mädchen angesprochen. »Gehst Du zum Reileck, Tante? Ich traue mich nicht alleine.« Die tiefreligiöse Frau nimmt das Kind bei der Hand und geht mit ihm Richtung Reileck. Unterwegs fragt sie das Mädchen, ob es »ein Liedchen von Jesus« kenne. Als das Mädchen sie erstaunt ansieht, beginnt sie laut zu singen. Die Kleine ist so erschrocken, dass sie sich losreißt und anfängt, zu weinen. Die »Sängerin« kann sich diese Reaktion nicht erklären und bleibt verdutzt stehen. In der Zwischenzeit ist die Mutter des Kindes auf die Situation aufmerksam geworden. Panisch spricht sie einen Schutzpolizisten an, der sich in unmittelbarer Nähe befindet. Er nimmt Charlotte Claus mit zum Volkspolizeikreisamt.

Im Untersuchungsbericht schreibt der zuständige Meister der Volkspolizei Rasch: »Bei der Claus handelt es sich um eine sehr religiöse Frau. Sie versucht, allen Leuten den christlichen Glauben klar zu machen. Weiterhin singt sie Kindern, welche beim Spielen in der Anlage sind, Jesuslieder vor. Momente, die die Zugeführte belasten könnten, sind nicht vorhanden.«

Die Anzeigen häufen sich. Ebenfalls am 10. Juni meldet sich ein Mann aus der Dieskauer Straße auf dem Polizeiamt. Der Monteur Kurt Weimar* sagt aus, er habe am Vortag auf dem Weg von der Arbeit nach Hause in der Osendorfer Straße gegen 17 Uhr gesehen, wie sich ein »etwa 45 Jahre alter Mann mit einem kleinen Mädel, etwa sechs Jahre alt, unterhielt«. Er habe gehört, wie der Mann sagte: »Da staunste, wa? Das wird ein Kinderspielplatz.« »Als ich mich später noch mal umgesehen habe, habe ich gesehen, dass das Mädchen dem Mann weggelaufen war.« Er bereue es, dass er sich nicht den Namen von dem Mann habe geben lassen. »Auch hätte ich das Kind fragen müssen, was der Mann wollte.«

Drei Tage später, am 13. Juni, klingelt bei VP-Meister Rasch das Telefon. Ihm wird mitgeteilt, die Kinder vom »Rosengarten« hätten unmittelbar neben den Bahngleisen, die sich unweit des Heimes befinden, einen Mann beobachtet, der sich auffällig benommen habe. Er habe in einem Getreidefeld ein Loch gegraben und darin etwas versteckt.

Rasch und der Abschnittsbevollmächtigte der Polizei gehen mit dem Kind, das einer Mitarbeiterin des Heimes von dem Mann erzählt hatte, zu dem acht Morgen großen Feld an der Stalinallee. »Wir haben Verstecken gespielt. Dabei habe ich gesehen, wie der Mann eine Hacke benutzt hat.«

Das verrostete Arbeitsgerät wird auch tatsächlich gefunden. Allerdings keine Spur von Grabungen. Und der Schüler kann auch die Stelle nicht beschreiben, an der er den »Gräber« am Vorabend gesehen haben will.

Ein zweites Mal wird das Gebiet durchsucht. Dann befragen die Ermittler das Kind erneut. Der Junge ist nun mehr als verunsichert: »Es hat doch in der Zeitung gestanden, dass ein Mädchen fehlt. Ich habe gedacht, dass der Mann ein totes Kind vergraben hat.«

Als seine Spielgefährten in seinem Beisein ebenfalls befragt werden, räumt er ein, »geschwindelt« zu haben. »Ich habe nur gesehen, dass einer eine Hacke da hingelegt hat.«

Die Suche nach dem vermissten Mädchen, die ganz Halle in Atem hält, ist Anfang 1953 allerdings nicht der einzige Fall, der die Menschen der Saalestadt beunruhigt: Gefahndet wird auch nach einem Triebtäter, der bereits mehrere Frauen überfallen hat.

Am 19. Januar hat die Krankenschwester Gertrud König* eigentlich ihren freien Tag, aber weil Zahltag ist, will die 20-Jährige trotzdem mit der Bahn zum Waldkrankenhaus fahren. Doch sie verpasst den Anschlusszug und muss vom Hettstedter Bahnhof mit der Linie 4 bis zur Endstation »Heide« fahren.

Die junge Frau kennt den Weg. Sie geht gegen 14.30 Uhr am »Waldkater« vorbei Richtung Dölau. Kurze Zeit später begegnet ihr ein Mann. Wortlos gehen sie aneinander vorbei, doch irgendetwas im Blick des etwa 17-Jährigen im blauen Trainingsanzug, beunruhigt sie. Ein paar Schritte später blickt sich die Krankenschwester um und sieht, dass er tatsächlich kehrtgemacht hat und ihr folgt. Sie beschleunigt ihre Schritte und meint schon, den Verfolger abgeschüttelt zu haben, als sie spürt, wie ihr von hinten etwas um den Hals geworfen wird. Später wird sich herausstellen, dass es eine Kordelschnur war. Der Angreifer reißt sie zu Boden. Gertrud König wehrt sich und ruft um Hilfe. Der Mann keucht: »Wenn du nicht die Schnauze hältst, erwürge ich dich!«

Der Täter versucht, sie zu Boden zu zwingen, aber Gertrud hat Glück: Durch die starke Gegenwehr reißt die Schnur. Als der Täter merkt, dass er sein Opfer nicht überwältigen kann, steht er auf und läuft Richtung Dölau. Dann verschwindet er im Wald.

Die 20-Jährige Krankenschwester ist völlig am Ende. Trotzdem tauscht sie im Krankenhaus nur kurz die verdrecke Kleidung aus und fährt sofort zum Volkspolizeikreisamt, um den Vorfall anzuzeigen.

Obwohl die vollkommen verstörte Frau sehr genaue Angaben macht, hat die Kriminalpolizei auch bei diesen Ermittlungen keinen Erfolg. Ende Februar werden sie vorläufig eingestellt.

Bereits ein paar Wochen später zeigt jedoch eine weitere Frau an, dass sie auf dem Weg zum Waldkrankenhaus Dölau überfallen worden ist.

Am 5. Mai bewirbt Hildegart Lothar* sich in der Klinik auf eine Arbeitsstelle. Auch sie verpasst den Zug, mit dem sie nach Halle zurückfahren will, und entschließt sich, durch die Heide zu gehen. Sie trifft auf einen jungen, schlanken Mann, der einen Trainingsanzug trägt und dunkle Haare hat. Er fährt eine Weile mit dem Fahrrad neben der 19-Jährigen her und versucht, ein Gespräch anzuknüpfen.

Als Hildegart Lothar ihm zu verstehen gibt, dass sie sich nicht unterhalten möchte, lässt sich der Fahrradfahrer etwas zurückfallen. Sekunden später umklammert er mit einer Hand den Hals der Frau, mit der anderen hält er ihr den Mund zu. Er zieht sein Opfer, das kaum noch Luft bekommt, ins Gebüsch und reißt ihr den Rock herunter. Die 19-Jährige wehrt sich heftig und schafft es, den Angreifer abzuwehren.

Die junge Frau rennt verängstigt durch den Wald. Ihren Rock hat sie bei dem Kampf mit Angreifer verloren. Als sie auf Spaziergänger trifft, schildert sie das Geschehen. Gemeinsam gehen sie zu der Stelle zurück, an der sie überfallen wurde. Dort lehnt ihre Aktentasche an einem Baum. Der Rock ist verschwunden.

Mitte Juni 1953 werden Hildegart Lothar Fotos aus dem »Verbrecheralbum« vorgelegt. Sie zeigen allesamt Männer, die bereits aufgrund von Sexualdelikten auffielen. Doch auf keinem erkennt sie den Mann wieder, der sie vergewaltigen wollte.

Dass der Fall der vermissten Helga und die versuchten »Notzuchtverbrechen« im Zusammenhang stehen, weiß noch niemand. Erst nach dem 4. August 1953 kommt ans Tageslicht, dass es ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den drei Fällen gibt:

Am besagten Tag hat Tischlerlehrling Peter Kohl* Urlaub. »Das trifft sich gut«, hatte sein Vater am Vorabend gesagt, »dann kannst du gleich die Kohlen aus dem Keller von Otto Otte* holen. Du weißt ja, die Kneipe unten bei uns ist seit Ende Mai geschlossen, und der Wirt braucht sie nicht mehr. Weil er wegziehen will, hat er die Braunkohle an uns verkauft. Er will wohl am Töpferplan eine neue Gaststätte aufmachen.«


Das Grundstück An der Baderei 1 mit der Gastwirtschaft.

Die beiden Fenster auf der rechten Seite gehören zum Keller des Täters.

Der 15-Jährige ist nicht besonders erfreut über den Auftrag vom Vater. »Ich wollte eigentlich mit Werner etwas unternehmen«, versucht er einen Einwand. Doch der Vater gibt nicht nach: »Wenn du Werner mitnimmst, geht es schneller, und ihr könnt danach los.«

Am 4. August gegen 8 Uhr gibt Otto Otte den Kellerschlüssel bei den Kohls ab, und eineinhalb Stunden später machen sich Peter und sein zwölf Jahre alter Freund Werner Preuß* auf den Weg in den Keller des Hauses An der Baderei 1. Sie gehen die Treppen hinunter. Am Ende des Ganges auf der rechten Seite befindet sich hinter einer massiven Tür mit Vorhängeschloss der Otte-Keller. Im Raum ist es stickig und nicht besonders hell. Lediglich eine 40-Watt-Glühlampe im Gang spendet schummriges Licht. Bottiche und Eisentöpfe stehen auf dem Betonfußboden herum, Werkzeuge, Ofenrohre und ein Straßenbesen lehnen an der linken Wand. An der Wand daneben hängen zwei Fahrradschläuche und ein Fassreifen. Einige drei Meter lange Bretter dienen als einfaches Regal, auf dem ein 50-Liter-Weinballon, gehacktes Holz, ein Beil und eine verrostete Waage liegen.


Das Regal auf der linken Kellerseite. Die Tatwaffe ist mit »2« gekennzeichnet.

Als Peter Kohl den Haufen mit den vier Zentnern Kohle unterhalb des schmalen Fensters sieht, stöhnt er auf: »Da haben wir ja bis morgen zu tun …« Doch sein Freund ermuntert ihn: »Los, lass uns anfangen! Umso schneller sind wir fertig.«

Die Jungs haben schon drei volle Körbe in den Keller der Kohls geschleppt und füllen gerade den vierten, da sieht Werner einen hellen Sack unter dem Kohlehaufen. Weil der Stoff ihnen beim Schippen im Wege ist, greift Peter danach und will ihn hervorziehen. Der Gestank, der den beiden Jungs augenblicklich entgegenschlägt, raubt ihnen fast den Atem. Entsetzt rennt der 15-Jährige nach oben zur Mutter und erzählt ihr von dem übelriechenden Fund.


Die eingewickelte Leiche des Mädchens von der linken Kellerseite aus gesehen

Hildegard Kohl* geht mit ihrem Sohn in den Keller zurück. Auf dem Weg dorthin klingelt die 47 Jahre alte Schneiderin an der Wohnungstür von Familie Otte. Horst, der Sohn der Familie, öffnet. Aufgeregt berichtet Hildegard Kohl dem jungen Mann im blauen Trainingsanzug, was Peter und Werner gefunden haben. Hildegard Kohl, Horst Otte* und eine Nachbarin gehen zum Fundort der Leiche. Otte nimmt eine Schaufel und sticht damit ein paar Mal in den fast zerfallenen und verfaulten Zuckersack. Sie schauen sich den schaurigen Fund genauer an und sehen nun, dass an der Seite des Stoffbehältnisses eine Hand herausguckt. Kurz darauf verlassen sie den Keller, den Hildegard Kohl mit einem Vorhängeschloss sichert.

Ein Mieter des Hauses verständigt die Polizei.

Wenig später ist die Mordkommission vor Ort. Besonders interessiert Polizeiunterkommissar Baberowski und Polizeimeister Grothe ein 40 Zentimeter langes Beil. Schon mit bloßem Auge sind zwei Haare zu erkennen, die sich dort befinden, wo die Klinge ins Holzgetrieben ist. »Schau mal den Stiel an«, macht Baberowski den VP-Meister aufmerksam. »Das sieht doch aus wie angetrocknetes Blut …«

Nachdem der zum Teil verklebte Sack entfernt wurde, entdecken die Mord-Ermittler eine Kinderleiche, um deren Hals ein dünnes Seil hängt. Blut- oder Kampfspuren werden in dem 18 Quadratmeter großen Raum nicht festgestellt.

Am 5. August werden dem Vater der vermissten Helga Räder Teile der Kleidung vorgelegt, die bei der Leiche gefunden wurden. Bereits am Vortag hatte ihn die Kripo darüber informiert, dass seine Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit tot aufgefunden wurde. Er erkennt die Stoffproben vom rosa Schlüpfer und der ausgewaschenen schwarzen Turnhose. Als ihm eine Haarprobe gezeigt wird, bricht Richard Ruhland beinahe zusammen. »Ja, diese Haarfarbe hatte Helga«, laufen ihm Tränen über die Wangen.


Die Tatwaffe

Zu diesem Zeitpunkt weiß die Mordkommission bereits Näheres über den Tod des Mädchens. Die Obduktion am Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität Halle hat ergeben, dass der Schädel »linksseitig hochgradig« zertrümmert wurde. Die Gardinenschnur vom Hals des Kindes sei »in typischer Drossellage vorgefunden« worden. Die Rechtsmediziner gehen von einem »gewaltsamen Erstickungstod mit wahrscheinlich folgender stumpfer Gewalteinwirkung in Form von Hieben mit der stumpfen Beilseite« aus. Ein Todeszeitpunkt sei aufgrund des hohen Verwesungsgrades nicht mehr festzustellen.


Links die Schnur, nachdem sie von der Leiche entfernt wurde. Daneben das Gegenstück der Gardinenschnur, von der die Schlinge abgeschnitten wurde.

Was im Haus vermutet wird, damit hält Hildegard Kohl bei ihrer Zeugenvernehmung nicht hinterm Berg. »Für uns gibt es keine Frage: Als Täter kommt nur der Horst – Horst Otte – in Frage.«

Als Unterkommissar Baberowski sie fragend anschaut, wird sie deutlicher: »Na, der hat sich doch im vorigen Jahr schon an ein Mädchen rangemacht. Er hat der Gisela aus unserem Haus, sie war damals 12 oder 13 Jahre alt, erzählt, dass er einen Brief für sie hat, und sie in seine Wohnung gelockt. Da hat er ihr den Schlüpfer runtergezogen und sie aufs Bett geworfen. Abgelassen von ihr hat er doch nur, weil sie sich gewehrt und laut geweint hat.«

Noch am selben Abend wird die Schülerin der 7. Klasse im Beisein ihrer Mutter befragt. Sie erzählt, dass sie Anfang Mai 1952 nach Hause gegangen sei. »Aus der Gaststube kam der Horst. ›Du, deine Großmutter hat geschrieben. Ich habe den Brief in meiner Wohnung. Komm mal mit‹, hat er gesagt.« Sie habe an der Korridortür gewartet. »Horst hat gerufen: ›Komm mal rein!‹ Als ich in der Wohnung war, hat er mich an den Schultern gepackt und mich aufs Bett geworfen. Er versuchte, mir den Schlüpfer herunterzuziehen. Ich strampelte und schrie. Horst drückte mir die Kehle zu. Im selben Moment klapperte es an der Wohnungstür.« Horst Otte habe dann gesagt: »Ich lasse dich gehen. Aber nur, wenn du keinem was sagst.«

Sie habe ihrer Mutter den Vorfall geschildert, unter dem sie »heute noch nervlich leidet«. »Meine Mutti hat dem Schulleiter, dem Sozialamt und unserem Schularzt die Sache erzählt. Eine Anzeige bei der Polizei hat sie nicht gemacht.«

Polizeirat Düben befragt am 4. August kurz vor 22 Uhr Anna Otte*. Die 47-Jährige berichtet, dass ihr Sohn Horst kein leibliches, sondern ein Adoptivkind ist. »Ich kann keine Kinder bekommen, darum haben wir 1935 Horst adoptiert. Da war er vier Wochen alt.« Nach seiner Kochlehre habe der 18-Jährige in der Gaststätte mitgearbeitet. »Nachdem klar war, dass wir die Pacht kündigen, hat sich Horst bei der Volkspolizei beworben. Er wurde angenommen und ist seit einer Woche beim Betriebsschutz in Leuna.«

Wie das tote Kind in ihren Keller gekommen ist, könne sie sich nicht erklären, sagt die Frau. Allerdings habe sie manchmal den Eindruck gehabt, dass der Keller offen gewesen sei. »Die Kohlen hochgeholt haben zumeist mein Sohn Horst oder die 23 Jahre alte Kellnerin Annemarie Zobel*.«

Auf die Fragen des Polizeirates, ob ihr Mann irgendeine spezielle sexuelle Ausrichtung habe, und ob sie ihm einen Mord zutraue, antwortet die Wirtin: »Mein Mann ist sehr ruhig und nach der Arbeit immer sehr abgespannt und müde.« Einen Mord traue sie ihm auf keinen Fall zu.

Auch ihrem Sohn Horst traue sie solch eine Gewalttat nicht zu. »In seinem Wesen ist er ruhig, zurückhaltend und verschlossen.« In »sexueller Hinsicht« sei ihr zu Ohren gekommen, dass sich Horst an einem Mädchen aus dem Haus »vergreifen wollte«. Genaueres sei ihr darüber nicht bekannt.


Polizeifoto des Täters Horst Otte, das nach seiner Festnahme gemacht wurde

Am selben Abend muss Horst Otte auf die Fragen der Kriminalpolizei antworten. Nachdem die Leiche gefunden worden war, hatte er schnell seine Werkschutz-Uniform angezogen, um dadurch jeden Verdacht von sich abzulenken. Doch diese Strategie geht nur kurze Zeit auf, und bald schon gilt er bei der Polizei als Hauptverdächtiger.

Er räumt auch gleich ein, dass er 1951 einmal für vier Tage im Jugendheim in der Fischer-von-Erlach-Straße »festgehalten« wurde. »Ich hatte eine junge Frau an der Saale überfallen und versucht, sie zu vergewaltigen. Aber die Polizei hat mich festgenommen, bevor es zur Notzucht kam. Weil ich noch jugendlich war, habe ich keine Strafe gekriegt.«

»Das interessiert uns jetzt hier gar nicht«, fällt Polizeimeister Masthoff ihm energisch ins Wort. »Uns geht es hier einzig und allein um das tote Mädchen im Keller Ihrer Eltern. Und ich sage Ihnen gleich, um die ganze Sache abzukürzen: Sie haben ganz schlechte Karten. Bei Ihrem sexuellen Vorleben, das Sie hier ja gerade noch einmal angedeutet haben, und der Tatsache, dass Sie fast alleine Zugang zum Keller hatten, sind Sie hier der Hauptverdächtige.«

Der Vernehmer spürt, dass der Jungpolizist mit sich ringt. Nach einer Weile blickt der Verdächtige von der Tischplatte auf und sagt: »Ich gebe zu, dass ich am 20. Mai Helga Räder getötet habe.« Dann schildert er die Tat.

Horst Otte ist an jenem Mittwoch allein in der Gaststätte seiner Eltern. Gegen 12.45 Uhr betritt ein blondes Mädchen – der 18-Jährige schätzt es auf zehn bis zwölf Jahre – das Lokal. Das Kind ist lediglich mit einer schwarzen Turnhose bekleidet. Das erregt den Wirtssohn. »Habt ihr Brause?«, fragt das Mädchen. Otte reicht ihr die Limonade über die Theke. Dann geht er schnell um den Schanktisch herum und hält das Kind fest.

Helga schreit: »Mutti, Hilfe!«, und: »Lass mich los!« Aber der 18-Jährige, der immer erregter wird, lässt nicht ab von ihr und schließt die Gaststättentür ab. Er wirft das strampelnde Kind auf den Boden. Dann kniet er sich vor Helga und reißt ihr Hose und Unterhose herunter. Weil sie immer noch schreit, versucht er, sie zu würgen. Als ihm das nicht gelingt, erhebt er sich. Helga ist bereits halb ohnmächtig und kann nicht mehr aufstehen. Trotzdem geht der Täter zur Theke und nimmt aus einem Kästchen einen Rest Gardinenschnur mit hölzernen Zierelementen. In aller Ruhe schneidet er ein Stück davon ab, legt es dem weinenden Kind als Schlinge um den Hals und zieht zu. Später wird er aussagen, dass er mit Helga »geschlechtlich verkehren wollte, aber aufgrund der Gegenwehr des Mädchens nicht mehr dazu gekommen« sei.

Otte öffnet die Tür zum Hausflur und prüft, ob die Luft rein ist. Dann schaut er nach, ob jemand im Keller ist. Er klemmt sich die Sterbende unter den rechten Arm, geht in den Keller und legt das röchelnde Kind auf den Betonfußboden, schließt die Tür ab und geht nach oben. Vor der Gaststättentür warten Gäste. Er schenkt ihnen Bier aus und läuft anschließend wieder in den Keller. Helga atmet kaum noch. Otte nimmt das Beil vom Regal und schlägt damit auf das Kind ein.

Er räumt Kohlen beiseite, legt die nackte Tote in die Kuhle und bedeckt sie sofort wieder mit Braunkohlen. Im Gastraum widmet er sich nach seiner blutigen Tat erneut den Gästen, als ob nichts geschehen ist. Den Kellerschlüssel hängt er ans Schlüsselbrett.


Das Innere des Lokals nach der Schließung. Links neben dem Ofen stand das Büffet, wo das Opfer vom Täter gewürgt wurde.

Zwei Tage später, am Freitag, geht Otte in den Keller. In der Hand hält er zwei Säcke, die er zuvor vom Hausboden geholt hat. Den einen zieht er der Toten von unten über die Füße, den zweiten stülpt er ihr über den Kopf. Er steckt sowohl die Turnhose, als auch den rosa Schlüpfer in den ersten Sack. Danach vergräbt er die Leiche erneut im Kohlehaufen links unter dem Fenster.

Als die Vernehmer am Abend des 4. August den Druck erhöhen, räumt Otte ein: »Der Grund dafür, dass ich das Mädel umgebracht habe, ist, dass es sich gewehrt hat, als ich sie geschlechtlich gebrauchen wollte.«

Es bleibt nicht bei seinem Mordgeständnis. Ohne danach gefragt zu werden, gibt er »weitere strafbare Handlungen« zu: »Ich habe zweimal im Stadtwald Frauen überfallen. Einmal habe ich einen Strick benutzt. Ich wollte die Frauen vergewaltigen.« Er räumt auch ein, er habe einem Mädchen aus dem Haus den Hals zugedrückt und versucht, es zu vergewaltigen.

Am 5. August erlässt das Kreisgericht Halle, Bezirk I, Haftbefehl.

Einen Tag später wird der Untersuchungshäftling der Krankenschwester Gertrud König gegenübergestellt.

»Kennen Sie diesen Mann?«, fragt Polizeiunterkommissar Baberowski.

»Ja, ich erkenne diesen Mann als denjenigen, der mich im Januar 1953 kurz vor Dölau vergewaltigen wollte.«

Dann richtet sich der Polizist an Otte: »Erkennen Sie diese Frau als die, welche Sie vergewaltigen wollten, wieder?«

Das bejaht der Täter ebenfalls.

Er sei damals in die Heide gefahren, »um mir dort eine Frau zu schnappen und diese geschlechtlich zu gebrauchen«, sagt Otte. Deshalb habe er auch zu Hause eine Schnur eingesteckt, um sie der Frau um den Hals zu werfen.

»Ist Ihnen klar, dass die Frau umgekommen wäre, wenn die Schnur nicht gerissen wäre?«

»Ich hatte aber nicht die Absicht, die Frau zu töten. Ich wollte nur nicht, dass sie schreit.«

»Und am 5. Mai?«

»An diesem Tag hatte ich nicht die Absicht, eine Frau zu vergewaltigen. Ich wollte nur eine kleine Spazierfahrt mit dem Fahrrad machen.« Erst als ihn eine junge Frau gefragt habe, von wo die Straßenbahnlinie 4 abfahre, sei ihm der Gedanke gekommen.

Dann legt der Vernehmer das Tagebuch des Mörders auf den Tisch und schlägt es auf. »Was bedeuten die Kreuze an einigen Tagen?«

»Das am 20. Mai steht da, weil ich das Mädchen umgebracht habe. Die anderen haben nichts Besonderes zu bedeuten. Ich habe sie immer gemacht, wenn ich meine Freundin geküsst habe.«

Die Rätsel um das Verschwinden der kleinen Helga und um die Überfälle in der Heide sind gelöst, doch obwohl der Täter in Haft sitzt, bewegt der Fall weiterhin die Gemüter: Am 4. September geht bei der Staatsanwaltschaft Halle ein Brief ein, der mit »Stimme Hunderttausender« unterzeichnet ist. Darin steht: »Hier geht das Gerücht um, der Lustmörder Otte sei geflüchtet, um seine Verbrechen fortzusetzen. Wann werden die Schuldigen an der Misere, nebst Verschleppung des Verfahrens seit Mai, endlich verantwortlich gemacht, oder bekommen sie den Schildkrötenorden? Soll der gegenwärtige Tatbestand den vielen Tausend zählenden Interessenten auch weiterhin verschwiegen werden? Das macht böses Blut!« Der Schreiber verlangt, eine Abschrift des Briefes an Justizministerin Hilde Benjamin und den »Kinderfreund Wilhelm Pieck« (erster Präsident der DDR) weiterzuleiten.

Ende September 1953 liegt das nervenfachärztliche Gutachten zu Otte vor. Darin wird unter anderem hervorgehoben, dass es sich beim Täter »um einen in seiner Triebstruktur abnorm veranlagten, zu Brutalität und triebhaften Sexualausbrüchen neigenden Menschen handelt, wobei die willensmäßige Lenkung und Steuerung, bzw. Dämpfung dieser tieferen Triebschichten nur ungenügend entwickelt ist«. Otte wird als »psychopathische Persönlichkeit« bezeichnet. Allerdings wird betont, Psychopathie sei keine Krankheit im Sinne des § 51 (Zurechnungsfähigkeit). »Die Gesellschaft erwartet auch von Menschen mit psychopathischen Charakterzügen eine entsprechende Einordnung in die gesellschaftlichen Belange.«

Dennoch empfiehlt die Psychiatrie und Nervenklinik der Universität Halle beim Strafmaß zu beachten, dass Otte zum Zeitpunkt der Tat noch keine 18 Jahre alt war und darum dem § 3 des Jugendgesetzes unterliegt.

Am 19. Oktober 1953 teilt der Generalstaatsanwalt der DDR dem Bezirksstaatsanwalt in Halle mit, dass er »mit dem beabsichtigten Strafantrag – lebenslängliches Zuchthaus - einverstanden« ist. Dann geht der Vertreter der obersten Anklagebehörde auf einen Artikel vom 8. August in der »Freiheit« ein. »Darin wird von der Bevölkerung, besonders von den Frauen, für den Jugendlichen Horst Otte die Todesstrafe für das bestialische Verbrechen gefordert. Es wäre darum angebracht, dass von einem Staatsanwalt des Bezirkes Halle ein Artikel in die Zeitung gesetzt wird, in dem man darauf hinweist, dass gemäß § 24 des Jugendgerichtsgesetzes bei Jugendlichen nicht auf Todesstrafe erkannt werden darf.«

Am 28. Oktober beginnt vor dem III. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle der Mordprozess gegen Horst Otte. Der Vorsitzende, Oberrichter Wicha, verkündet am 5. November das Urteil: »Der Angeklagte wird wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Im Übrigen wird das Verfahren eingestellt.«

»Der Angeklagte sei zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug, die gesellschaftliche Gefährlichkeit seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln«, heißt es in der Urteilsbegründung. Nach Meinung des Senats werde das nicht nur durch die Tatsache bewiesen, dass Otte als drittbester Lehrling der Stadt Halle seine Berufsausbildung abgeschlossen hatte, sondern auch, mit welcher ruhigen Überlegung er insbesondere bei seinem ersten Vergewaltigungsversuch vorgegangen sei. »Auch der Mord an Helga Räder zeugt davon, mit welcher Besonnenheit und eiskalter Ruhe der Angeklagte alles bedacht und berücksichtigt hat, damit seine Tat nicht sofort entdeckt wird.«


Täter Horst Otte

Der Vorsitzende schließt: »Unsere Kinder sind die Zukunft unserer Nation. Ihnen sollen die Früchte unseres konsequenten Kampfes um die Einheit unseres Vaterlandes, um Frieden, Demokratie und Sozialismus zu Gute kommen. Sie sollen vollenden, was fleißige Hände in unermüdlicher Arbeit zu schaffen begonnen haben. Ihnen gilt deshalb auch die besondere Fürsorge unseres Staates.« Sich an Kindern zu vergreifen, sei »im höchsten Maße gesellschaftlich gefährlich«.

Dann direkt an Otte gewandt: »Ein volljähriger Täter hätte bei denselben Tatumständen die Todesstrafe erleiden müssen. Dass Sie davor bewahrt wurden, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass Sie bei der Tat unter 18 Jahre alt waren.«

Die Verfahren wegen der versuchten Notzucht seien eingestellt worden, da weitere Einzelverfahren neben der erkannten lebenslänglichen Zuchthausstrafe nicht ins Gewicht fielen.

Im März 1970, sieben Jahre nach der Urteilsverkündung, schickt der Adoptivvater des Mörders ein Gnadengesuch an die Kanzlei des DDR-Staatsrates. Das Gesuch wird an die Gnadenkommission bei der Staatsanwaltschaft des Bezirks Halle weitergeleitet. Entsprechend der Gnadenordnung solle ein Gnadenverfahren vorbereitet werden, heißt es darin. Doch das Gesuch wird nicht befürwortet.

Zwei Jahre später bittet Anna Otte die Bezirksstaatsanwaltschaft darum, die Haftzeit ihres Adoptivsohnes zu überprüfen. Doch auch dieser Vorstoß ist erfolglos. In der Begründung heißt es: »Das liegt in der Schwere des Verbrechens Ihres Sohnes und auch in seinem Vorleben (vorangegangenen Straftaten).«

Erst nach der 2. Strafrechtsänderung wird Otte am 31. Mai 1977 aus dem Zuchthaus Brandenburg entlassen. Er ist 41 Jahre alt, hat während seiner Haftzeit den Facharbeiterbrief als Dreher erworben und einen Meisterlehrgang absolviert.

Das Leichenpuzzle von Anhalt

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