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WO IST CHRISTEL?

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Franz Teichert* sitzt am 24. September 1959 Polizeileutnant Kunte gegenüber. Es geht um ein Kind, das seit dem Nachmittag des Vortags in Dessau-Großkühnau verschwunden ist. Der Landwirt gehört zu den 40 Menschen, die sich am 23. September in der Gegend aufgehalten haben, in der auch die acht Jahre alte Christel Kohnert* gewesen sein soll.

„Ich habe gegen 17.15 Uhr meine Kühe von der Weide geholt“, beginnt der 53-Jährige seine Aussage. „Das Vieh stand nördlich von Kühnau, genauer gesagt zwischen Großkühnau und der Elbe am sogenannten Oderbruch.“

Auf der Seebrücke habe er mehrere Kinder getroffen. Kurz darauf seien ihm ein Mann und eine Frau aufgefallen, die einen Handwagen zogen und offensichtlich nach Großkühnau wollten. „Aber aufgrund der Entfernung kann ich das ältere Paar nicht näher beschreiben.“ Dann sei er auf einen Mann „mittleren Alters“ aufmerksam geworden, der an einer Weide „an einem Handwagen hantierte“. Kurz darauf sei der Betreffende mit seinem Wagen in Richtung Kühnau gegangen. „Auf dem Weg zur Koppel kam mir mein Nachbar Otto Kemmer* entgegen, der auf sein Grünland wollte.“ Er selbst habe sich etwa eine Stunde in der Gegend aufgehalten. Dabei seien ihm noch ein Lkw aufgefallen, den „vier, fünf Mann hinter der Seebrücke mit Kies beluden, und ein Pferdegespann“.

Befragt wird Waltraud Krull*. Sie war gegen 16.30 Uhr mit dem Fahrrad vom Kartoffelacker zwischen Großkühnau und Dessau-Ziebigk losgefahren, um auf der Koppel im Oderbruch Kühe zu melken. „Ich fuhr längs des Waldes und habe auf dem Weg mehrere Personen gesehen. An den Prinzeneichen stand ein 15, 16 Jahre altes Mädchen. Sie schaute gespannt in Richtung Elbe.“

„Können Sie das Mädchen beschreiben?“, fragt Leutnant Kunte.

8Die Hausfrau überlegt einen Augenblick und antwortet dann: „Lange rote Hose, schwarzer Pullover … ach ja, sie hatte ein Fahrrad bei sich, wenn mich nicht alles täuscht. Es könnte sich um Fräulein Lohmann* gehandelt haben, die beim Pfarrer wohnt.“

Kunte schreibt in sein Notizheft: „Kann das vermisste Kind nicht gewesen sein.“ Zum einen passe das Alter nicht und auch die Bekleidung stimme nicht überein.

Ernst Kohnert* hatte bei seiner Vermisstenanzeige am 24. September ab 13 Uhr angegeben, dass seine acht Jahre alte Tochter mit dem dunkelblonden Bubikopf am Tag ihres Verschwindens ein dunkelgrünes Kleid mit braunen Tupfen, braune lange Strümpfe und braune Halbschuhe angehabt hat. Weiterhin hatte der 39-Jährige zu Protokoll gegeben, dass Christel gegen 16 Uhr mit ihrem Fahrrad losgefahren sei, um, wie schon am Vortag, im Wald Eicheln zu sammeln. „Die wollte sie verkaufen und so ihr Taschengeld aufbessern.“

Leutnant Eschke vom Polizeikreisamt in Dessau hatte auf der Vermisstenanzeige vermerkt: „Da in der Vergangenheit schon zwei Kinder auf ähnliche Art verschwunden sind, besteht der Verdacht, dass an dem Kind ein Verbrechen begangen wurde oder zumindest ein Kindesraub vorliegt.“

Am Tag nach der Meldung beginnt eine große Suchaktion in dem Gebiet, in dem Christel vermutet wird. Das Schnellkommando wird eingesetzt, mehrere Hundestaffeln, Bereitschaftspolizei und Soldaten der Volksarmee. Freiwillige Helfer der Polizei und Feuerwehrkameraden nehmen die nähere Gegend unter die Lupe. Im Dessauer Stadtkreis wird nach Christel und ihrem roten Kinderfahrrad gefahndet. Das weitere Umfeld wird mit Hunden der GST und der Polizeihundestaffel Pretzsch abgesucht. Meldungen sind inzwischen sowohl an die Bezirkspolizei in Halle als auch an die Hauptverwaltung der Polizei in Berlin gegangen.

Bei ihrer Suche durchstreifen Helfer das Naturschutzgebiet im „Lange Hau“, einem Laubwalddickicht nördlich des Kühnauer Sees, gut zwei Kilometer vom Wohnort der Vermissten 9entfernt. Gegen 10 Uhr ruft einer der Männer: „Halt! Hier liegt etwas!“ Die Suchreihe bleibt wie angewurzelt stehen. Der Einsatzleiter, der einige Meter weiter hinten läuft, kommt eilig zur bezeichneten Stelle. Am Waldrand, der dicht mit hohen Gräsern, Brennnesseln und wilden Weinreben bewachsen ist, liegt ein fast neues, rotes 24er Mädchenfahrrad der Marke „Möve“.


Fundstelle des Fahrrads der Ermordeten

Als der Suchtrupp das Fahrrad bergen will, entdeckt er knapp neun Meter davon entfernt unter einem kleinen Laubbaum Kleidungsstücke, die auf einem Beutel liegen, in dem sich 16 Eicheln befinden: ein rosafarbener Schlüpfer und ein rosa Seidenunterrock. An der Unterwäsche werden kleine blutähnliche Flecken festgestellt. Deutlich zu erkennen ist, dass die Bekleidung gewaltsam heruntergerissen wurde. Für die Ermittler ist es nun so gut wie sicher, dass es sich nicht mehr nur um einen Vermisstenfall handelt.

Irmgard Lohmann*, die von der Zeugin Krull in ihrer Aussage beschrieben worden war, wird am 24. September gegen 13 Uhr befragt. „Gegen 15 Uhr bin ich gestern in Richtung Kornhaus gefahren. Ich wollte dort ein bisschen herumradeln. Ich fuhr unmittelbar an der Elbe entlang.“ Dabei habe sie am Fluss 10einen jungen Mann stehen sehen. Was er dort machte, habe sie nicht erkennen können, aber sein beigefarbenes Moped. Sie schätzt den Mann auf Ende zwanzig, und er habe einen Fotoapparat umgehängt gehabt.

„Von vorn kam mir ein Mann entgegen, ich schätze ihn auf 33 Jahre. Er hatte eine helle Windbluse an und sah ein bisschen unordentlich aus.“ Sie sei weitergeradelt und an ihm vorbeigefahren. „Kurz darauf habe ich bemerkt, dass der Mann kehrtgemacht hat und hinter mir herfuhr. Ich bekam etwas Angst, stieg ab und ließ ihn vorbeifahren. Ich wartete eine kurze Zeit und fuhr dann weiter. Doch schon ein Stück vor der Elbbiegung an einer Buhne traf ich erneut auf den Mann mit den braunen, nach hinten gekämmten Haaren. Ich fuhr in einen kleinen Weg hinein, der fast zugewachsen war. Doch der Mann ließ mir keine Ruhe. Ich wollte sehen, was er macht, und ich fuhr zur Buhne zurück.“ Sie habe beobachtet, wie der Fahrradfahrer weitergefahren sei. „Dann bin ich weiter in das Naturschutzgebiet hineingefahren und habe ‚Faust‘ gelesen“, so die 17-Jährige. Gegen 17.15 Uhr sei sie zu den Kühnauer Wiesen gefahren.

Dort habe sie zwei Radfahrer gesehen, die aus Richtung Elbe kamen. Und auch an einen „älteren Mann“ könne sie sich erinnern.

Leutnant Kunte legt der Jugendlichen einige Fotos vor und fragt, ob sie darauf jemanden erkenne, den sie am Vortag gesehen hatte. Sie glaubt zwar „eine gewisse Ähnlichkeit“ mit dem Mittdreißiger festzustellen, doch sicher sei sie sich nicht, sagt sie.

Paul Dunker* ist seit 1954 in Großkühnau Revierförster. „Zusammen mit einem Kollegen wollte ich im Jagen 22 a, also im Naturschutzgebiet Saaleberge, Rehwild schießen. Gegen 18.45 Uhr waren wir an der Spitze vom Jagen 19/34, da hörten wir ein Motorengeräusch. Wir sahen eine blauen Ford-Lkw, der an der Elbe entlangfuhr. Der 3,5-Tonner benutzte dann den Hauptweg Richtung Kühnauer See.“ Er habe sich gewundert, dass dort um diese Zeit noch ein Lastkraftwagen unterwegs ist. Der 31-Jährige kann allerdings den Fahrer nur sehr vage beschreiben: „Untersetzt, 1,68 Meter groß, dunkle Haare.“

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Tatrekonstruktion: Ein Zeuge sah Christel (dargestellt durch eine Puppe) am 23. September kurz nach 16 Uhr unweit der Schleuse Eicheln sammeln

12Forstarbeiter Kurt Ander* bestätigt die Aussage seines Chefs. Er ergänzt jedoch, dass er beim Treiben des Rehwilds gegen 17.30 Uhr einen älteren Mann gesehen habe, der einen Handwagen zog, auf dem drei Säcke lagen. Er sei in Richtung Kühnauer See gegangen.

Eine – wie sich später herausstellt – wichtige Beobachtung hat Walter Söller* gemacht. Am 23. September fuhr er auf seinem Fahrrad mit Anbaumotor, einem sogenannten Hackenwärmer, gegen 15.15 Uhr von seiner Wohnung in Dessau-Ziebigk los. „Ich wollte hinter dem Bruchgraben angeln. Ich fuhr bis zum sogenannten Obelisken am Wall zwischen Dessau und Ziebigk, dann auf dem ‚Schwarzen Weg‘ bis zu den Achterteichen.“ Dort sei er eine knappe halbe Stunde geblieben und habe danach seine Fahrt in Richtung Schleusenbrücke fortgesetzt. „In unmittelbarer Nähe der Schleuse, vielleicht hundert Meter davor, stand an einer Eiche ein Fahrrad. Gleich daneben sammelte ein kleines Mädchen, ich schätze zehn Jahre alt, Eicheln. Das Kind hatte einen Stoffbeutel dabei.“ Diese Beobachtung des Lagermeisters unterstreicht Leutnant Kunte rot.

„Haben Sie das Kind angesprochen?“, fragt der Kriminalist.

„Nein. Aber ich habe mir so meine Gedanken gemacht, was ein Kind so allein im Wald macht. Ich war aber mit meinem Fahrrad recht schnell unterwegs.“

Was der 51-Jährige dann berichtet, ist für Kunte nicht weniger interessant. „Circa drei Meter von der Schleusenbrücke entfernt sah ich am Wegesrand ein Fahrrad liegen. Daneben saß ein älterer Mann aus Dessau, den ich zwar vom Sehen her kenne, aber dessen Namen ich nicht weiß, und rauchte Pfeife“

Kunte: „Sie sagten, Sie kennen den Mann? Woher?“

„Er war früher im Angelverein, und ich habe mal mit ihm beim Fischermeister Forster gefischt.“

„Haben Sie den Mann angesprochen?“

„Nein, ich fuhr vorbei und sagte dabei nur kurz ‚Guten Tag‘. Er grüßte zurück.“

„Ist Ihnen etwas aufgefallen? Was hatte der Mann an?“

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Die Wege-Karte, die nach Angaben des Zeugen Walter Söller angefertigt wurde – Punkt 1: der Ort, an dem der Zeuge Christel Eicheln sammeln sah; Punkt 2: an der Schleuse saß gegen 16.15 Uhr ein 60 bis 65 Jahre alter Mann mit blauer Schiffermütze und schwarzgrauer Arbeitsjacke und rauchte Pfeife, links neben dem Weg lag ein Fahrrad

14Söller kratzt sich die Bartstoppeln unterm Kinn und sagt dann: „Soweit ich mich erinnere, lag auf dem Gepäckträger ein gefüllter Futtersack. An eine blaue Schiffermütze kann ich mich erinnern. Ach ja, er hatte eine schwarzgraue Arbeitsjacke an – und ich glaube eine graue Hose. Aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Vom Alter her war er so um die 60, 65 Jahre.“

„Wann haben Sie den Mann gesehen?“

„Es muss so gegen 16 Uhr gewesen sein, als ich über die Schleusenbrücke fuhr.“

Er sei zu den Tümpeln weitergefahren, wo er bis circa 18.30 Uhr geangelt habe. „Bevor ich an meiner Angelstelle war, fiel mir unter den Eichen, die dort stehen, ein Mann auf, der ebenfalls Eicheln sammelte.“

Kunte: „War das derselbe Mann mit der Schiffermütze?“

„Nein, der Mann war jünger – höchstens 55 Jahre alt. Ich sagte im Vorbeifahren ‚Guten Abend‘. Aufgefallen ist mir, dass er eine Art Baskenmütze aufhatte. Als ich so um halb sieben genug vom Angeln hatte und wieder losfuhr, sah ich den Mann erneut. Er fuhr mit dem Fahrrad Richtung Schleusenbrücke.“

Er sei auf der Rückfahrt wieder an den Eichen vorbeigekommen, wo er ein paar Stunden zuvor das Mädchen bemerkt hatte. „Ich habe das Kind nicht wiedergesehen.“

Es ist 22 Uhr, als der Befragungsmarathon weitergeht. Diesmal sitzt ein Rentner aus Dessau-Kleinkühnau Leutnant Kunte gegenüber, der sich am Vortag ebenfalls in jenem Gebiet aufgehalten hat, in dem Christel verschwand. Friedrich Kramer* wurde als derjenige identifiziert, den Walter Söller an der Schleuse sitzen sah. „Gegen 14.15 Uhr bin ich mit meinem Fahrrad, einem älteren Herrenrad, von zu Hause losgefahren“, beginnt Kramer mit seiner Wegbeschreibung. Er sei nicht über Großkühnau, sondern über Kleinkühnau auf dem Schwarzen Weg, am Lehmtor vorbei, bis zur Elbe unterwegs gewesen. „Dann fuhr ich den Wall entlang, rechts am Obelisken vorbei und kam etwa 500 Meter vom Kornhaus entfernt zur Elbe.“ Er sei dann immer am Fluss entlanggefahren bis zum Hydrierwerk.

15„Sind Sie auf Ihrem Weg jemandem begegnet?“, fragt Leutnant Kunte.

„Bis dahin nicht“, so die Antwort des 63-Jährigen.

Er habe Futter gesucht. Das müsse so gegen 15.30 Uhr gewesen sein, als er weiterfuhr – elbabwärts bis unweit der Schleusenbrücke. Vor der Brücke habe er sich hingesetzt und seine Pfeife angezündet. „Kurz darauf kam ein Mann mit seinem ‚Knatterfahrrad‘ vorbei, den ich vom Angeln her kenne. Nachdem ich geraucht hatte, guckte ich dort noch nach Regenwürmern zum Angeln, fand wegen der Trockenheit aber keine.“

Anschließend sei er in den Wald gegangen, um Buschbirnen und Eicheln zu sammeln. „Ich habe auch gleich hinter der Schleusenbrücke Birnen gefunden und sie mit nach Hause genommen.“

Kunte: „Haben Sie dort außer dem Angelbekannten noch jemanden getroffen? Und wann fuhren Sie wieder los?“

„Getroffen habe ich niemand. Losgefahren bin ich so gegen 16.30 Uhr über die Brücke Richtung Großkühnau. Dabei sah ich in etwa 400 Metern Entfernung einen Radfahrer, der aus dem Gebüsch über die Wiese kam und ebenfalls nach Großkühnau fuhr.“ An der Pappelallee habe er den Mann eingeholt und erkannt: „Es war der Lummer* aus Großkühnau.“ Vor dem Kühnauer See habe er dann noch seinen Schwiegersohn getroffen.

„Haben Sie bei Ihrer Fahrt ein acht Jahre altes Mädchen gesehen?“, will Kunte wissen.

Ohne lange nachzudenken, schüttelt der Rentner den Kopf. „Nein, nur diese Personen, die ich genannt habe.“

Dann will der Vernehmer noch wissen, was Kramer angehabt hat.

„Eine graue Jacke und Hose und eine blaue Schirmmütze.“

Wie bei den anderen Zeugen, die zuvor ausgesagt hatten, soll auch bei dem 63-Jährigen die Bekleidung untersucht werden. Doch als die Kriminalisten nach einiger Zeit wieder ins Vernehmungszimmer im Volkspolizeikreisamt Dessau zurückkommen, ist der Rentner verschwunden.

16„Das ist ja ein Ding!“, entgleisen Kunte die Gesichtszüge. „So etwas hatten wir hier noch nicht, dass ein Zeuge einfach abhaut, ohne dass er offiziell entlassen wurde.“

Doch Leutnant Müller meint: „Vielleich ist er bloß mal austreten.“

Die Toiletten werden durchsucht, aber von Kramer keine Spur. Inzwischen ist das halbe VPKA auf den Beinen. Doch der Erfolg der Suche ist gleich null. „Wir geben eine Fahndung raus“, ordnet der Leutnant an.

Ein paar Stunden später wird der 63-Jährige auch tatsächlich von einer Streife entdeckt. Er ist gerade dabei, sich im Garten einen Strick um den Hals zu legen. Da strahlen ihn plötzlich mehrere Taschenlampen an.

„Ich war am Grab meiner Frau“, begründet Kramer sein Weglaufen. „Ich habe ihr gesagt, Lieschen, ich habe nichts mit dem Verschwinden der Kleinen zu tun.“ Er habe ihr gesagt, dass er ihr nun „folgen und nachkommen“ werde. „Ich wollte mich umbringen, weil mir meine Nerven durchgegangen sind. Ich habe geglaubt, unschuldig verhaftet zu werden. Diese Schande hätte ich nicht ertragen.“ Als er durch den kleinen Fichtenwald am Exerzierplatz gegangen sei, habe er ein Seil gefunden und sei auf die Idee gekommen, sich zu erhängen. „Ich bin auf einen Baum geklettert und habe mich runterfallen lassen, aber der Strick ist beim ersten Versuch gerissen, und ich lag unten.“

Der Lebensmüde wird ins Polizeiamt zurückgebracht. Dort stellen die Ermittler am Hals des Mannes tatsächlich stricktypische Strangulationsmarken fest.

Kramer sitzt erneut auf dem Zeugenstuhl. Wieder und wieder beteuert er, nichts mit der Vermisstensache zu tun zu haben, und er beschwört, dass die Suizidversuche kein Schuldeingeständnis waren, sondern er vor Angst nicht mehr gewusst habe, was er tat.

Ganz klar die Unwahrheit sagt er, als er zu Protokoll gibt, dass ihm zwei VP-Angehörige erlaubt hätten, nach Hause zu gehen. Oberleutnant Fahrenkampf schreibt in seinem Bericht: „Obwohl sich Kramer durch seinen Selbstmordversuch verdächtig 17gemacht hat, musste von einer Inhaftierung Abstand genommen werden, da keinerlei Beweise vorlagen, dass er als Täter infrage kommen könnte.“

Otto Lutz* hatte am Nachmittag des 23. September in einer Schonung Futter, sogenanntes Schweinekraut, gesucht. Gegen 17.30 Uhr war er zurück in Großkühnau. „Als ich mit dem Rad nach Hause fuhr und an der Pappelallee vorbeikam, bemerkte ich hinter mir einen Mann auf dem Fahrrad. Ich fuhr langsamer. Es war der Kramer, der aus Richtung Elbe kam. An der Brücke am Kiesberg stieg er ab. Was weiter geschah, habe ich nicht gesehen.“

Kramers Flucht aus dem Vernehmungszimmer geht den Dessauer Kriminalisten nicht aus dem Sinn. Auch wenn keinerlei handfeste Beweis vorliegen, haben sie ein „Bauchgefühl“, dass der Rentner irgendwie in das spurlose Verschwinden Christels verwickelt ist. Am 25. September scheint die Kripo allerdings auf so etwas wie eine Mini-Spur zu stoßen. Und die hat mit der Bekleidung des Mannes zu tun. Kramer hatte am Abend des Tattags sein grün-schwarz kariertes Oberhemd und seine Hose ausgezogen und in die Waschküche gebracht, weil seine Tochter demnächst „große Wäsche“ machen wollte. Die Polizei hat Glück: Die Sachen liegen zwar bereits in einem großen Zuber, sind aber noch nicht eingeweicht. Auffällig am unteren vorderen Rand des Hemdes sind „verhärtete Flecken“, die Sperma sein könnten. Auch die lange Unterhose, die er am Leibe trägt und von der er behauptet, dass er sie auch am 23. September anhatte, weist nahe dem Schlitz ähnliche Flecken auf. Allerdings ergeben die kriminalbiologischen Untersuchungen später, dass die Sperma-Hypothese nicht aufrechterhalten werden kann.

Am 28. September meldet sich die Tochter Kramers beim zuständigen Bereichspolizisten. Die 39-Jährige teilt Oberwachtmeister Fesser mit, dass ihrem Vater am Morgen eingefallen sei, dass er am 23. September zwei sowjetischen Soldaten begegnet ist. „Er hat mir erzählt, dass sie ihm eine Uhr zum Kauf angeboten haben. Er habe ihnen aber gesagt, dass er kein Geld dabeihat, und sei weitergefahren.“

18Inzwischen hat sich die Polizei mit einer Öffentlichkeitsfahndung an die Bevölkerung gewandt. Die Personenbeschreibung der Vermissten wird in der Dessauer Lokalausgabe der „Freiheit“ veröffentlicht. Zusätzlich fahren Lautsprecherwagen der Polizei die Bereiche um Großkühnau ab und rufen die dort Wohnenden zur Mithilfe auf. Suchplakate hängen an Litfaßsäulen.

Am 30. September ist VP-Meister Wilhelm Matthei vom Außenposten der Wasserschutzpolizei Aken auf der Elbe unterwegs. Seit dem Verschwinden Christels ist er auf den Streifenfahrten besonders aufmerksam. Das Boot nähert sich dem Kilometer 171, als das geschulte Auge des Polizisten gegen 15.20 Uhr nahe dem linken Elbufer etwas im Wasser treiben sieht. Er verringert das Tempo des WS und nähert sich der Stelle. Als das Fahrzeug auf gleicher Höhe ist, gibt es für Matthei keinen Zweifel: Dort treibt ein totes Kind. Über Funk gibt er durch: „Genossen, ich habe hier, glaube ich, die vermisste Christel Kohnert gefunden.“

„Habe verstanden, Genosse Matthei“, so der Diensthabende im Dessauer Revier. „Nichts an der Leiche verändern und Maßnahmen ergreifen, dass der Körper nicht abtreibt.“

Wenig später sind Oberleutnant Fahrenkampf, Oberleutnant Wolter und Kriminaltechniker Leutnant Brecher von der Morduntersuchungskommission am Fundort, einem typischen Elbgelände, etwa sieben Kilometer von Großkühnau und sechs Kilometer von der Stelle entfernt, wo das Fahrrad gefunden wurde. Der Fundort ist das westliche Elbufer, etwa vier Buhnen oberhalb des Streckenkilometers 171. Der Ort Rietzmeck (Kreis Köthen) befindet sich rund 400 Meter von der Fundstelle entfernt. Die Leiche liegt in einem neunzig Meter langen Buhnenfeld, drei Meter vom Ufer entfernt auf einem Schlammpolster.

Der Kriminaltechniker hat die angegebene Bekleidung aus der Vermisstenanzeige im Kopf und erkennt sofort das dunkelblaue, leicht grünlich schimmernde Kleid mit dem kleinen Stehkragen und dem zehn Zentimeter großen Tuchstreifen am Saum. Auch die langen, braunen, maschinengestrickten Strümpfe decken sich mit den Angaben der Eltern. Dasselbe gilt 19für die „sandalenartigen braunen Halbschuhe“ von denen das Kind noch einen am linken Fuß hat.


Die tote Christel im Buhnenfeld der Elbe, etwa drei Meter vom Ufer entfernt

Feuerwehrleute lassen ein Schlauchboot zu Wasser. Von dort aus wird das 1,35 Meter große Kind in die Strömung gezogen „und dann freischwimmend an das Ufer transportiert“, wie es im „Fundortbefundsbericht“ heißt.

Die erste Besichtigung des Körpers findet in der Leichenhalle Köthen statt. Fahrenkampf notiert: „Keinerlei Beschädigungen am Kleid.“

Die Sektion der Leiche führt der hoch anerkannte österreich-deutsche Rechtsmediziner Prof. Dr. Otto Prokop durch, der später einen wichtigen und international beachteten Einfluss auf die forensische Medizin und die Forschungspolitik in der DDR haben wird. Der damals 38-Jährige, der 1959 das Institut für gerichtliche Medizin der Karl-Marx-Universität Leipzig leitet, stellt bereits bei der äußeren Betrachtung der Geschlechtsorgane massive „Einreißungen“ fest. Kratzspuren werden an den Oberschenkeln gefunden. Christel wurde brutal vergewaltigt.

Die Todesursache steht nicht hundertprozentig fest: „Eine mehr als daumengroße Unterblutung des Gewebes in Höhe 20des Schildknorpels“ wertet der Obduzent zwar typisch für ein Würgen. Allerdings war das Würgen sehr wahrscheinlich nicht die eigentliche Todesursache. Prokop findet „schaumige, hellgrau, bräunliche Flüssigkeit in der Mundhöhle, der Luftröhre und ihren Ästen“. Zudem weist er „Schwebeorganismen im Lungenpresssaft sowie Magen- und Zwölffingerdarminhalt“ nach. Christel hat möglicherweise noch gelebt, als sie ins Wasser geworfen wurde, und ist ertrunken. Der Rechtsmediziner schränkt jedoch ein, dass es auch Fälle gebe, bei denen erst nach dem Tode Schwebestoffe in die Leiche gelangen. Liege ein solcher Fall vor, sei die Todesursache Erwürgen.

Festgestellt wird, dass nach der Einnahme des letzten Essens (Gehackteskloß und Kartoffeln) gegen 14.30 Uhr der Tod „nicht mehr als zwei Stunden“ später eingetreten ist. Der Mord geschah demnach zwischen 16 und 16.30 Uhr.

Gut eine Woche nach dem Verschwinden des Kindes geht es also um einen Sexualmord. Doch wer dafür verantwortlich ist, bei dieser entscheidenden Frage sind die Kriminalisten trotz aller Bemühungen noch keinen Schritt weiter.

Am 16. Oktober taucht in der Aussage einer 58-Jährigen erneut der Name des Mannes auf, der die Ermittler bereits beschäftigt hat – Friedrich Kramer. Pauline Hosang* hatte am 24. September von ihrer Tochter erfahren, dass Kramer auf dem Friedhof von einigen Kindern gesehen wurde, unter ihnen auch ihre Enkeltochter. Kramer habe in Kleinkühnau vor dem Grab seiner Frau gekniet und dabei den Hosenstall geöffnet. Der Rentner soll dann zu den Kindern gesagt haben: „Legt euch da mal drauf.“ Einige Tage später sei Kramer bei ihr aufgetaucht und habe sich beschwert, dass sie Gerüchte verbreite. „Wörtlich hat er gesagt: ‚Wenn das die Polizei erfährt, bin ich dran.‘“ Anschließend habe sie sich mit Kramer über das Verschwinden des Mädchens unterhalten, berichtet Hosang. „Mein Bekannter sagte mir, dass es komisch ist, wenn jemand Eicheln sammelt und dann noch zur Elbe geht. Vor allem, weil dort ein großer Laubwald ist und es für ein Kind nicht einfach sei, da durchzukommen. Und weil es ja schon einen Tag 21zuvor dagewesen ist. Ich wurde stutzig und fragte, ob er das Kind an diesem Tage gesehen hat.“ Kramer sei verlegen geworden, habe überlegt und gestottert: „Das hat mir jemand erzählt.“

„Er hat mir dann noch berichtet, dass er bei der Polizei war und die Kriminalisten mit der Stoppuhr die Zeiten überprüft haben, wo er sich wann aufgehalten hat. Zum Glück habe er am 23. September noch einen Bekannten getroffen, einen ehemaligen Angelfreund, der alles bestätigen konnte. Herr Kramer hat gesagt: ‚Wenn der nicht gewesen wäre, hätten sie mich geschnappt.‘ Bei der Vernehmung habe er sich jedes Wort, was er gesagt habe, ganz genau überlegt“, gibt Hosang Kramers Worte wieder.

Das Verhalten des Mannes sei sehr eigenartig gewesen. „Er war ein regelrechtes Nervenbündel. Ich bekam richtig Angst vor ihm. Mir kam es so vor, als habe er ein schlechtes Gewissen.“

Die Kripo stellt sogenannte Leumundsermittlungen zur Person Kramers an. Dabei werden Personen aus dem Umfeld des Rentners befragt. Eine Frau aus Kleinkühnau berichtet, dass Kramer bekannt dafür ist, dass er „viel klaut, besonders Futter vom Feld“. Die 60-Jährige klärt auch auf, warum er nicht mehr im Anglerverein ist: „Während einer Sitzung des Vereins im Café Föse vermisste jemand sein Portemonnaie. Alle wurden aufgefordert, den Gastraum nicht zu verlassen. Kramer wollte nur schnell aufs Klo. Bei der Durchsuchung wurde die Geldbörse in seiner Unterhose entdeckt.“

Ein weitläufiger Verwandter glaubt den Grund dafür zu kennen, warum der Rentner so menschenscheu ist: „Er hat im Krieg bei der Reichsbahn gearbeitet. Als das Bahngelände bombardiert wurde, wurde ein Eisenbahner getötet. Kramer stand in unmittelbarer Nähe und wurde danach in die Heilanstalt Bernburg zur Beobachtung eingeliefert.“ Kramer selbst sagt später dazu, dass er 1941 einen Bombensplitter in den Rücken bekommen habe.

Die Ermittler wollen auch wissen, ob Kramer einen Hang zu kleinen Mädchen hat. Doch über solche Neigungen weiß niemand Bescheid.

22Jedoch scheint allgemein bekannt zu sein, dass der Invalidenrentner ein „Spanner“ ist. Schon seit Jahren habe er Liebespärchen an den Elbwiesen verfolgt und sie aus der Deckung heraus beim Geschlechtsverkehr beobachtet, sagen gleich mehrere der Befragten aus. Als Kramer mit diesen Aussagen konfrontiert wird, sagt er, dass er „in erster Linie zum Futtersuchen“ fährt. „Nur gelegentlich“, wenn er „unmittelbar auf ein Pärchen stoße“, sehe er ihm „gern beim Verkehr zu“. Als seine Frau noch gelebt habe, sei er danach immer schnell nach Hause gefahren, um mit ihr ins Bett zu gehen. Seit ihrem Tode im Februar 1959 habe er sich nach solchen Beobachtungen selbstbefriedigt. Später räumt er ein, seit „20, 25 Jahren zu spannen“. Begonnen habe diese Obsession, als er noch bei der Bahn gearbeitet habe.

Josef Woitech* aus Kleinkühnau schildert in drastischen Worten die sexuelle Vorliebe Kramers. „Er war besonders in diesem Jahr sehr aktiv dabei, Liebespaaren hinterherzufahren. Wenn er solch ein Pärchen sah, war er wie ein Irrer. Von einer Frau aus Kühnau habe ich gehört, dass er früher sogar unter die Bänke gekrochen ist, auf denen sich Liebespaare vergnügten.“ Kramer verbinde die Suche nach Viehfutter immer mit seiner Jagd nach Paaren, die es miteinander treiben, so der 35-Jährige.

Dass Kramer einmal pro Woche eine 61 Jahre alte Bekannte besucht, erfahren die Ermittler bei der Befragung von Personen, die den Rentner näher kennen. Anuschka Koczinsky* räumt dann auch ein, dass Kramer, den sie seit 1946 kenne, mit ihr „einmal die Woche geschlechtlich verkehrt“. Sie bekomme jedes Mal fünf Mark dafür. Auch am 23. September habe Kramer gegen 7.30 Uhr vor ihrer Tür gestanden und sein „Nümmerchen“ eingefordert. „Er hat mich nach dem Tod seiner Frau gefragt, ob wir heiraten wollen, aber das habe ich abgelehnt.“

Leutnant Köhler wird bei seiner Befragung deutlich: „Sie kennen ja seinen Geschlechtstrieb. Meinen Sie, dass Herr Kramer am Nachmittag erneut sexuelles Verlangen gehabt hat, nachdem sie morgens zusammen gewesen sind?“

Koczinsky winkt ab: „Der ist zwar ein alter Bock, aber der brauchte immer ein paar Tage zum Ausruhen, bis er wieder zu 23mir kam. Wenn er einen starken Geschlechtstrieb hätte, hätte er mich öfter in der Woche besucht.“

Als wichtiger Zeuge hat sich innerhalb des Befragungsmarathons der 66 Jahre alte Otto Lutz herauskristallisiert. „Was der Mann erzählt hat, passt genau zu den Beobachtungen anderer Zeugen am Nachmittag des 23. September“, stellt der Chef der Morduntersuchungskommission bei einer Lagebesprechung fest. „Nur die Darstellungen unseres speziellen Freundes Kramer stimmen damit hinten und vorne nicht überein. Einer der beiden sagt nicht die Wahrheit. Ich glaube, dass Kramer derjenige ist. Wir holen Lutz noch mal ins VPKA zur Nachvernehmung – speziell zur Person Kramers.“

Am 30. Oktober steht Lutz eine Stunde lang Rede und Antwort. Und das Protokoll vermerkt, dass er den Tag, an dem Christel verschwand, genauso schilderte wie zuvor. Es seien keine Widersprüche festzustellen. Der Befragte habe „weder einen unsicheren noch betont sicheren Eindruck gemacht“.

Besonders wichtig ist, dass Lutz es für ausgeschlossen hält, dass Kramer, den er unterwegs getroffen hatte, den Weg genommen hat, den dieser der Kripo geschildert hatte. „Er kann nicht den schmalen Pfad entlanggekommen sein, der von der Schleusenbrücke schräg über die Wiesen in Richtung Pappelallee zum Hauptweg führt. Als ich ihn hinter mir fahren sah, war er an einer Stelle, die auf den nach Kühnau führenden Hauptweg führt, fast rechtwinklig zur Schleusenbrücke.“

Lutz wird mit einem Funkstreifenwagen an den bezeichneten Ort gebracht. Der Zeuge ist sich völlig sicher: „Hier war das. Irrtum ausgeschlossen!“

Um ganz sicherzugehen, fahren einige Kriminalisten mit Lutz drei Tage später erneut die Strecke ab, die der Rentner am 23. September gefahren war. Er weicht keinen Zentimeter von seinen Aussagen zuvor ab.

Am 2. November wird aufgrund der Widersprüche, die sich aus den Schilderungen seines Weges ergeben, ein Ermittlungsverfahren gegen den 63-Jährigen eröffnet: „Kramer wird beschuldigt, 24am 23. September 1959 in dem Naturschutzgebiet bei Großkühnau die Schülerin Christel Kohnert getötet zu haben.“ Der Chef des Polizeikreisamts Dessau, Major Steinke, fügt hinzu: „Kramer befand sich zur fraglichen Zeit in dem Naturschutzgebiet in der Nähe des Tatorts. Seine Angaben über seinen Aufenthalt sind widersprüchlich und decken sich nicht mit den Aussagen von Zeugen. Da der Zeuge Lutz den Kramer aus Richtung Elbe kommen sah, obwohl Kramer behauptet, an der Schleuse gewesen zu sein, besteht der dringende Verdacht, dass Kramer mit der Tat in Zusammenhang steht.“

Bei der ersten Vernehmung Kramers als Tatverdächtiger thematisiert Oberleutnant Wolter auch die Sache mit den beiden Sowjetsoldaten, die angeblich eine Uhr verkaufen wollten. „Bei Ihrer Vernehmung am 24. September haben Sie davon kein Wort gesagt. Im Gegenteil, Sie unterschrieben im Aussageprotokoll, dass Sie von zu Hause bis zur Stelle, wo Sie Futter geholt haben, keinem Menschen begegnet sind. Wie kommt das?“

Er habe nicht gewusst, so der ehemalige Reichsbahner, dass er die sowjetischen Soldaten angeben darf. „Ich dachte, dass ich nur deutsche Personen angeben soll.“ Erst als er das seiner Tochter erzählt und die ihm geraten habe, das zu erwähnen, habe er es getan.

Doch Wolter widerspricht sofort: „Von allen Menschen, die sich am 23. September dort aufgehalten haben, hat niemand uniformierte Personen gesehen.“ Kramer streitet sowohl ab, Christel gesehen zu haben, als auch den Weg genommen zu haben, den der Zeuge Lutz beschrieben hat.

Am 3. November um 2 Uhr wird der Witwer ins Dessauer Untersuchungsgefängnis gebracht. Die Strafkammer des Kreisgerichts erlässt umgehend einen Haftbefehl.

Selbst als Kramer am 5. November dem Hauptbelastungszeugen Lutz gegenübergestellt wird, bleibt er bei seiner Aussage: „Die Angaben des Zeugen können nicht stimmen“, meint er.

Kramer wird zehnmal als Beschuldigter vernommen. Das letzte Mal am 12. Januar 1960. Stück für Stück rückt er mit der 25Wahrheit heraus. Meistens kommt es nach seinen Aussagen zur Gegenüberstellung mit Zeugen, die die Lügengebäude des Kindermörders immer wieder zum Einsturz bringen. Erst nachdem Kramer am 7. Januar 1960 den Ermittlern bei einem Ortstermin die Tat detailgetreu „nachgespielt“ hat und am Ende weinend zusammenbricht, sind sich die Dessauer Kriminalisten sicher, dass er die Wahrheit gesagt hat …

… Am 23. September 1959 steht Friedrich Kramer gegen 5.30 Uhr auf. Nachdem er sein Vieh versorgt hat, fährt er kurz vor 7 Uhr nach Dessau, um dort Ziegenmilch abzuliefern. Zuvor besucht er Anuschka Koczinsky und „gebraucht“ sie, wie er sich später beim Verhör ausdrückt. „Wenn ich zu ihr gekommen bin, wusste sie, was ich will. Die Sache hat nur fünf Minuten gedauert.“

Nachdem er gegen 9 Uhr zurück in Kühnau ist, kümmert er sich um den Haushalt. Seine Tochter teilt ihm mit, dass er am Mittag aus Dessau Futter abholen soll. Gegen 13.30 Uhr ist er wieder zu Hause.

Nach dem Mittagessen entschließt sich Kramer, Futter für seine Ziegen zu holen. Er fährt zur Lache an der Elbe gegenüber dem Hydrierwerk und schneidet Futter. Nachdem er den Sack gefüllt und auf dem Gepäckhalter geschnallt hat, fährt er auf dem Hauptweg zur Schleuse. Es ist kurz vor 16 Uhr. Er will Regenwürmer suchen. Er legt sein Fahrrad ab und stopft sich die Pfeife. Kurz darauf knattert ein Angelbekannter mit seinem Fahrradanbaumotor an ihm vorbei. Die Ausbeute an Würmern ist aufgrund der Trockenheit nicht sehr groß und seine Blechbüchse bleibt fast leer. Kramer entschließt sich daraufhin, Buschobst zu sammeln. Er geht ins Unterholz in Richtung Kühnau.

Zurück an der Schleuse zündet er sich die nächste Pfeife an. In einiger Entfernung fährt eine „Frauensperson“ vorbei. „Ob die sich wohl mit einem Kerl treffen will?“, schießt es dem Spanner durch den Kopf. Er steigt aufs Rad und nimmt die Verfolgung auf. Doch er sieht die Radfahrerin, bei der es sich um Christel Kohnert handelt, vorerst nicht wieder. Kramer fährt den Elbweg 26entlang. Am Waldrand unweit der Elbe setzt er sich hin und beobachtet das Gelände. Rund dreißig Meter weiter stehen zwei Eichen. Dort sammelt Christel Eicheln. Sie ruft dem Rentner zu: „Sie suchen wohl auch?“. Kramer antwortet: „Ja, aber es muss erst Frost kommen oder ein starker Wind.“


Tatrekonstruktion: Nachdem der Täter am Bruchgraben nach Regenwürmern gesucht hat, schiebt er sein Fahrrad entlang des Grabens zu einem Buschäpfelbaum

Völlig arglos geht das Mädchen zu dem Mann, den sie kennt, und setzt sich zu ihm. Kramer ist geschlechtlich erregt. Wörtlich sagt er bei seiner zehnten Vernehmung: „Ich war in Uffregung, und ich dachte, ich kann es bei dem Kind mal machen.“

Kramer greift der Achtjährigen unter den Rock und fasst mit der anderen Hand an Christels Hals. Er drückt ihr die Kehle zu. Sie wehrt sich mit Händen und Beinen. Er drückt stärker zu. Dann vergewaltigt er das Kind. Christel rührt sich nicht mehr.

Am 12. Januar, bei seinem letzten Verhör bei der Morduntersuchungskommission, wird er von Hauptmann Düben gefragt: „Warum fassten Sie das Kind an den Hals und würgten es, obwohl 27Sie durchaus die Möglichkeit hatten, den Mund des Kindes zuzuhalten und somit das Schreien zu verhindern?“


Tatrekonstruktion: Das Kind (dargestellt durch eine Puppe) setzt sich völlig arglos zu dem „freundlichen Onkel“

Kramer: „Ich habe so lange den Hals zugedrückt, dass das Kind gestorben ist. Ich hatte kein Interesse daran, dass die Tat bekannt wird, und habe deshalb so lange zugedrückt.“

Nachdem sich der Invalidenrentner an dem Kind vergangen hat, rafft er die Bekleidung des Mädchens zusammen, säubert sich damit und trägt sie zum nahegelegenen Waldrand. Dabei sieht er ein rotes Mädchenfahrrad, das dort liegt. Doch das interessiert den Vergewaltiger nicht, er will schnell zurück zur leblosen Christel. Er befürchtet, dass jemand vorbeikommen und seine Tat entdecken könnte.

Er fasst das Kind unter den Kopf und an den Arm. Er schüttelt es, springt wieder auf, läuft hin und her. Langsam wird ihm klar, was er getan hat. „Was machst du nun bloß?“, hämmert es in seinem Kopf. Da fällt sein Blick auf die Elbe, die in Sichtweite vorbeifließt. Er fasst das Kind am rechten Arm und rechten Bein 28und trägt es zum Wasser. Zwischendurch muss er mehrmals kurz Pause machen. Auf einem Buhnenkopf legt er Christel ab und rollt sie von dort ins Wasser.


Tatrekonstruktion: Der Mörder würgt Christel

„Warum haben Sie das Kind in die Elbe verbracht? Wenn Sie der Meinung waren, dass es tot ist, hätten Sie es doch liegen lassen oder Hilfe holen können“, fragt Düben sein Gegenüber am 12. Januar.

„Es sollte doch niemand sehen. Ich hatte Angst, dass ich eine Strafe kriege, wenn das rauskommt“, so der Mörder. „Ich wollte, dass die Leiche untergeht oder irgendwohin abgetrieben wird.“

Kramer geht zum Tatort zurück, setzt sich hin und zündet sich eine Pfeife an. Er weiß genau, was er getan hat, kann sich seine Tat jedoch nicht erklären. Dass die Wäsche des Kindes und das Fahrrad am Waldrand liegen, hat er vergessen. Er will nur noch so schnell es geht vom Ort seiner grausamen Tat verschwinden. Er schnappt sich sein Fahrrad und geht zum Weg. Er fährt nach Großkühnau. Auf seiner Fahrt sieht er in 150, 200 Metern Entfernung einen Mann, der ebenfalls in Richtung Kühnau unterwegs ist. Es ist Otto Lutz. Kurz vor der Pappelallee 29holt er den Mann ein. Dort, wo sein Schwiegersohn und andere Kies aufladen, hält er an. Sein Enkel kommt freudig auf ihn zugelaufen. „Opa, ich habe dich schon von Weitem erkannt“, freut sich der Kleine. Kramer streichelt dem Jungen mit der Hand über den Kopf, mit der er Minuten zuvor Christel erwürgt hat.


Auf dem Weg fuhr der Täter mit dem Rad; Tafel 1 (v. l. n. r.): dort legte Kramer sein Fahrrad ab; Tafel 2: dort setzte sich der Täter hin und beobachtete das Gelände; Tafel 3: Eiche, dort bemerkte Kramer Christel beim Eichelnsammeln; Tafel 4: dort, einige Meter im Wald, versteckte der Mörder die Bekleidung des Kindes; Tafel 5: dort wurde das Mädchenfahrrad gefunden. Der Pfeil (zwischen Tafeln 3 und 4) kennzeichnet die Waldschneise zwischen „Blauen Heger“ und „Lange Hau“.

Zu Hause geht Kramer seinen normalen Tagesarbeiten nach. Er melkt seine Ziege, schaut nach dem Feuer, siebt die Milch durch und stellt sie kalt, füttert sein Schwein. Er wäscht sich, isst Abendbrot und legt sich danach schlafen.

Am 12. Januar wird mit einer weiteren der vielen Lügen aufgeräumt, die Kramer den Ermittlern aufgetischt hat. Die Kripo befragt Helga Abraham* aus Großkühnau. Der Rentner und die Zeugin waren viele Jahre Nachbarn, bevor Kramer nach Kleinkühnau gezogen war. Die 25-Jährige sagt aus, dass Kramer und Familie Kohnert im selben Haus gewohnt hatten und der Rentner somit auch die kleine Christel gekannt hat. Kramer hatte beharrlich bestritten, dass er das Mädchen kennt.

Kramer wird in der psychiatrischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Herzberge-Berlin auf seinen Geisteszustand 30untersucht. Anfang Februar 1960 kommt Chefarzt Dr. Irro zu dem Schluss, dass der Tatverdächtige „in der Lage war, das Strafbare seines Handelns zu erkennen. Die Fähigkeit entsprechend dieser Einsicht zu handeln, war jedoch eingeschränkt.“ Diese Einschränkung sei „durch den gesteigerten sexuellen Affekt gegeben“. Allerdings sei die Persönlichkeit des Untersuchten noch weitgehend intakt, sodass die Voraussetzungen für den Paragraphen 51, Absatz II (Schuldunfähigkeit), nicht gegeben seien.

Am 23. März 1960 beginnt der Prozess gegen Kramer vor dem 2. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle. Bereits am zweiten Verhandlungstag spricht der Vorsitzende Richter Saebetzki das Urteil: „Der Angeklagte Kramer wird wegen Mordes gemäß Paragraph 211 Strafgesetzbuch zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.“

„Aus dem gierigen Verlangen, seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen, ist er über das ahnungslose, vertrauensselige achtjährige Kind hergefallen“, sagt Saebetzki in der Urteilsbegründung. Der Entschluss des Täters sei darauf gerichtet gewesen, ganz gleich mit welchen Folgen, mit dem Kind den Geschlechtsverkehr auszuführen.

„Charakteristisch für seine Einstellung in sexuellen Fragen und in seiner Einstellung zur Frau ist seine Äußerung, dass er ein zehn- bis zwölfjähriges Schulmädchen durchaus für einen Geschlechtsverkehr geeignet hält.“

Dann wendet sich der Richter dem Strafmaß zu. „Nach Paragraph 211 Strafgesetzbuch wird ein Mörder mit dem Tode bestraft. Es sind jedoch Verbrechen denkbar, die von noch größerer Gesellschaftsgefährlichkeit sind, zum Beispiel, wenn durch das Verbrechen mehrere Menschen vorsätzlich getötet wurden oder sich diese Tat gegen den Bestand unseres Arbeiter- und Bauernstaates in starkem Maße richtet.“ Der vorliegende Fall trage jedoch keines dieser Merkmale. Es könne deshalb nach Absatz 3 des Paragraphen 211 von der Anwendung der Todesstrafe „Abstand genommen werden“. Die verabscheuungswürdige 31Tat des Angeklagten mache es jedoch erforderlich, ihn „für die Dauer seines Lebens von der Gesellschaft zu isolieren“.

Rechtsanwalt Dr. Heine geht in Berufung. Der Jurist möchte, dass der Oberste Gerichtshof der DDR überprüft, ob eine „Tötungsabsicht“ seitens des Angeklagten mit „hinreichender Sicherheit“ festgestellt wurde.

Der 2. Strafsenat in Berlin verwirft die Berufung am 17. Juni 1960 als unbegründet. Die Beweisaufnahme in Halle habe eindeutig die Tötungsabsicht nachgewiesen.

Kramer kommt ins Zuchthaus Brandenburg. Am 1. April 1979 wird der 82-Jährige durch den Staatsrat der DDR begnadigt. Er wird unbefristet ins psychiatrische Bezirkskrankenhaus Bernburg eingewiesen. Das Haftkrankenhaus in Leipzig hatte dem Mörder pathologische Veränderungen im Gehirn aufgrund eines altersbedingten Abbauprozesses attestiert. Im Ergebnis dessen neige Kramer zu „aggressivem Fehlverhalten“. Um den Patienten vor sich selbst zu schützen, aber auch die Umwelt vor ihm, sei er einzuweisen.

Der Hammermord am Hansering

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