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Der Hamlet und die Schokolinse

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Am in Rede stehenden Samstag kochte Großmutter vor: Es würde Eintopf geben, war ich mir sicher, mit Linsen oder Bohnen oder Erbsen … ach, da wäre vieles möglich … aber Kartoffeln, ja, die würden ganz bestimmt wieder mit hineinkommen in den blauen Topf aus Emaille. Aus meiner Perspektive des Dreikäsehochs – ich mochte fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein – kam mir Großmutters Pott übergroß vor; er fasste gewiss, so dachte ich, Mahlzeiten für einhundert, wenn nicht zweihundert Personen!

Mittags hatte es den Rest Kohleintopf mit Rindfleisch gegeben, von gestern oder vorgestern. Ja, bei Großmutter gab es zwei oder drei Tage hintereinander denselben Eintopf, was auch wirtschaftliche Gründe hatte. In den Sechzigern erwirtschafteten im Westen des Landes und dem Statistischen Bundesamt nach in Vollzeit beschäftigte Männer durchschnittlich knapp fünfhundert, Frauen gut dreihundert Mark. Demnach war es schon gut, dass sich Eintöpfe vergleichsweise preiswert zubereiten ließen und ergiebig ausnahmen.

Ich könnte, ein Sprichwort zitierend, auch sagen: Unterm Strich hatte Großmutter aus der Not eine Tugend gemacht. Denn je öfter sie das Mittagessen erwärmte, desto besser schmeckte es.

Als kleiner Junge war ich oft bei den Großeltern zu Besuch – von Freitag bis Sonntag. Von daher rufen Eintöpfe meine Kindheitserinnerungen wach und duften für mich nach wie vor nach Nestwärme. Mit fünfzig Jahren Abstand weiß ich nun nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob ich die Eintöpfe deshalb so mochte, weil Großmutter gut kochte, oder deshalb, weil ich Großmutter so mochte.

Hm – dermaßen schlängelt das Sinnieren über längst vergangene Tage. Das kann auch gar nicht anders sein – Memoiren … Gedanken laufen über einen Querfeldein-Parcours, und kein Weg der Erinnerung ist geradlinig im Niemandsland zwischen Wahrheit und Dichtung. Ja, mein Dilemma hat einen Namen: autobiografisches Gedächtnis. Das funktioniert in räumlicher, zeitlicher und personeller Hinsicht bedingt, auf alle Fälle nicht dokumentarisch, und kognitiv sowie emotional nur selektiv.

Tja, was soll ich da machen? Gedanklich reaktivierte Geschehnisse geben wenig Auskunft darüber, was einst wirklich geschah. Dafür illustrieren sie aber, wie Psychologen das – meines Erachtens etwas unsexy – nennen, ein »konstruiertes Selbstkonzept«. Immerhin das ist drin!

In Gänze verschollen sind indes die Geschichten, die sich zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr zugetragen haben: Sie sind meiner »infantilen Amnesie« zum Opfer gefallen, was ich jetzt, bitteschön, nicht als Individualproblem missverstanden wissen möchte. Danke!

Not und Tugend – im Fall meiner Großeltern tatsächlich nur ein Sprichwort. In ökonomischer Klemme steckten sie vermutlich deshalb nicht, weil Großmutter und Großvater gemäß ihren Verhältnissen lebten – das heißt auch, dass sie preiswerten Wohnraum unterhielten, dort in Neukölln: Altbau, Hinterhaus, erste Etage links. Zur Toilette mussten sie im Hausflur noch auf halbe Treppe steigen.

Die Umgebung des Domizils der Großeltern, geprägt von Mietskasernen aus der Gründerzeit, erinnere ich als mausgrau, obschon der Hinterhof begrünt war und Bäume die Hermannstraße säumten. Zwar gab es keinen Stadtpark dort, in unmittelbarer Nähe zur Einflugschneise des Flughafens Tempelhof, aber der St. Thomas-Kirchhof auf der einen und der St. Jacobi- sowie der Jerusalem-Friedhof auf der anderen Seite der Straße hielten auch für Spaziergänger ihre Pforten bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet.

Die Anwohner zwischen Jonas- und Thomasstraße waren, wie meine Großeltern, Leute von bodenständigem Schlag. Für einen Kiezbummel trimmten sie sich nicht auf schickimicki – so schnieke wie die flanierenden Touristen auf dem Westberliner Boulevard, dem Ku’damm, von dem ich im Übrigen annahm, dass dort einst phonetisch ähnlich klingende Nutztiere gegrast hätten.

Das jedenfalls antwortete ich Großvater auf seine Frage, ob ich im Bilde sei, warum der Ku’damm so heiße, während wir beide nach dem Mittagessen – Kohleintopf mit Rindfleisch, Sie erinnern sich? – durch den Kiez spazierten.

Großvater lachte laut und sagte, dass das mit den Kühen nicht stimme. Die Namensgebung, klärte er auf, habe mit dem Hause der Hohenzollern zu tun, also mit dem Hector, genauer gesagt Joachim II., seines Zeichens Kurfürst von Brandenburg.

Ach so – nun wusste ich Bescheid. Aber was waren bloß Hohenzollern? Und Hector klang für mich eher nach Schäferhund. Die Sache mit dem Ku’damm schien einigermaßen kompliziert zu sein. Sie interessierte mich aber nicht so sehr, dass ich nachgefragt hätte. Ich nahm es hin, merkte mir aber: Noch mal von Kühen zu reden, lässt du besser sein!

Jahre später las ich in einem Buch, dass das, was Großvater gesagt hatte, stimmte. Darüber hinaus erfuhr ich, dass sich der Ku’damm vom Berliner Stadtschloss bis zum Jagdschloss Grunewald schlängelt – als Reitweg für Hector. Wow!

»Echte Berliner gehen da nicht hin«, sagte Großvater. »Da treffen sich nur Touristen und Verbrecher.« Wie er zu dieser Einschätzung kam, blieb sein Geheimnis – auch das steckte ich weg. Was hatte ich mit Touristen zu tun oder mit Verbrechern? Eben.

Wir drehten unsere gewohnte Runde um die Häuserblocks der Hermannstraße, rechtsherum, schlenderten über die Thomas-, die Altenbraker- und die Jonasstraße.

Ich begleitete Großvater gerne, weil ich von ihm neben langweiligen Erklärungen zu Straßennamen auch für mich wirklich Interessantes erfuhr, beispielsweise, dass Geld auf der Straße liege, man müsse nur genau hinsehen. Tatsächlich entdeckte Großvater, kaum hatte er davon gesprochen, auf dem Trottoir vor sich eine Münze aus Kupfer. Er blieb stehen, bückte sich und hob das Geldstück auf. Lächelnd ließ er mich wissen: »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.«

Ich hatte zwar keine Ahnung, was ein Taler war, aber die Botschaft war angekommen: Immer schön die Augen auf, Junge!

Auf Höhe der Jonasstraße gab es für mich die dritte und, wie ich auch heute noch meine, nützlichste Lektion des Tages: Großvater brachte mir bei, wie man die mit rosa Zuckerguss ummantelten Schokolinsen – die er, wenn wir spazieren gingen, stets bei sich führte – ausdauernd im Mund behielt.

»Nicht zerkauen«, sagte er, »nur lutschen!«

Großvater hatte gut reden: Das war viel einfacher gesagt als getan, stellte ich fest.

Wohl zu meiner Motivation lobte Großvater spontan einen Wettbewerb aus: »Wer von uns beiden behält die Schokolinse am längsten im Mund?« Zu gewinnen gäbe es den eben gefundenen Pfennig, sagte er.

Ich gab mir alle Mühe – verlor aber. Das machte mir wenig aus, denn als Trostpreis bekam ich eine neue Schokolinse.

Großvater war klasse. Er kam immer wieder auf neue Geschichten, wohl um den Spaziergang für mich nicht langweilig werden zu lassen.

»Weißt du, was ein Charlottenburger ist?«

»So heißen die Leute, die in Charlottenburg wohnen.«

»Ja, aber nicht nur.«

Ich zuckte ratlos mit den Schultern.

»So nennt sich auch das Schnauben ohne Taschentuch.« Wir blieben stehen. »Du musst das eine Nasenloch mit dem Daumen zuhalten und über das andere die Luft rauslassen – so kräftig, wie du kannst!«

Ich blickte ihn fragend an.

»Ich mach’s mal vor.«

Großvater legte sich ins Zeug: Er neigte seinen Kopf schräg zur Bordsteinkante, und es folgte ein kurzes, heftiges Zischen, das eindeutig von seiner Nase ausging.

»Ah!«, rief ich, als der Rotz so zielsicher den Rinnstein traf wie ein Pfeil ins schwarze Feld.

Er blickte mich herausfordernd an. »Ganz einfach«, behauptete er.

Aber von wegen! Mein Versuch, den Charlottenburger zu geben, endete mit dem Benetzen meines Jackenärmels.

»Probieren geht über Studieren«, tröstete Großvater. Er nestelte ein blaugraues Stofftaschentuch mit Karomuster hervor und rieb mir damit den Ärmel sauber, während er sich wie Bolle amüsierte. Ich glaube zu erinnern, dass das Tuch vorher schon einmal benutzt worden war: Großvater schlug es in der Luft heftig auseinander, denn der »Rotzwimpel«, wie er es nannte, schien etwas verklebt.

Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir ein, dass Großvater ganz allgemein ein eher ungezwungenes Verhältnis zu Körperflüssigkeiten hatte. Ich erinnere genau, dass er im Wohnzimmer unterm Tisch ein halbvoll mit Wasser gefülltes Einwegglas zu stehen hatte und röchelnd zu würgen pflegte, bevor er es, für mich gut sichtbar, anhob und hineinspuckte.

»Würfelhusten«, erklärte er. Das klang vielleicht annähernd ein wenig entschuldigend, mehr aber auch nicht.

Wenn Großmutter mit am Tisch saß, während Großvater ins Glas spie, verdrehte sie demonstrativ die Augen. »Du könntest dich mit dem Spucknapf ruhig mal wegdrehen«, sagte sie. »Der Junge isst noch.« Sie spielte auf den Griespudding mit Himbeersirup an, den sie mir in einem kleinen Glasschälchen kredenzt hatte.

Großvater, der passionierte Pfeifenraucher, erwiderte dann immer: »Nächstes Mal. Guten Appetit, Junge!«

Den hatte ich. Dass Großvater auch nur ein einziges Mal seinen Spucknapf samt Auswurf aus Großmutters oder meinem Sichtfeld gedreht hätte, erinnere ich nicht.

Was aber, fragte ich mich, sollte Spucken mit einem Würfel zu tun haben? Ich kannte nur die Dinger aus Holz, mit eins bis sechs Punkten auf den Seiten. Der gelbliche Schleim, den Großvater zuerst geräuschvoll hochzog und dann ins Glas spuckte, sah nun wirklic nicht danach aus. Ich stellte Großvaters »Würfelhusten« in die Reihe der für mich unerklärlichen Aussagen von Erwachsenen und konzentrierte mich auf das Löffeln meines Grießpuddings.

Als wir zur Wohnung der Großeltern zurückgingen und den Hausflur betraten, roch es nach Großmutters neuem Eintopf. Ich schnupperte Süßliches.

»Möhreneintopf«, sagte Großvater. »Magst du doch.«

Ich nickte bejahend.

Wenngleich, ich wüsste auch jetzt nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob ich den Möhreneintopf deshalb so mochte, weil er mir schmeckte, oder deshalb, weil Großvater ihn mochte und ich Großvater so mochte. Erinnerungen – aber das sagte ich ja bereits.

Die Uhr hatte zwei geschlagen, als wir die Wohnung betraten.

Großmutter rief aus der Küche: »Wird Zeit, gleich beginnt für den Jungen das Fernsehen!«

Nach dem Spazierengehen durfte ich, der tendenziell als Stubenhocker Verschriene – dafür konnte ich nichts, so als Krebs, also mit astrologisch begründbaren und sehr ausgeprägten Rückzugstendenzen – als Belohnung Großvaters Stolz in Beschlag nehmen: Hamlet. So hieß tatsächlich das von Großvater gebraucht erworbene Fernsehgerät aus dem Hause Nordmende. Heute frage ich mich, ob der Bremer Fabrikant die Programmverantwortlichen der Fernsehsender damit ermuntern wollte, nicht nur auf leichte Kost zu setzen. Hatte der Gerätehersteller sich sozusagen Shakespeare auf den Schirm geholt, welcher seinerzeit zu bedenken gab: »Ein tiefer Fall führt oft zu hohem Glück«? Vielleicht.

Andererseits gab besagter William aber auch zu verstehen, dass man es mit der Qualität nicht übertreiben solle: »Der Handwerker, der’s allzu gut will machen, verdirbt aus Ehrgeiz die Geschicklichkeit.« Wie man’s auch macht.

Während Großmutter wieder, oder immer noch, am Köcheln war, zogen Großvater und ich die Jacken und Schuhe aus. Auf Socken schlurften wir – Großvater voran, ich hinterher – durch den relativ engen Wohnungsflur hinüber in die gute Stube. Erwartungsfroh setzte ich mich sogleich in Großvaters Ohrensessel, der neben dem Couchtisch stand, während Großvater Hamlet einschaltete. Die Bildröhre brauchte zwei, drei Sekunden, um das Fernsehbild aufzubauen.

Als dies geschehen war, machte sich Großvater auf dem Sofa hinter dem flachen Tisch lang und rollte sich in die Wolldecke ein. Das kannte ich schon von ihm: Nach dem Spaziergang hielt er samstags immer ein Nickerchen, während ich vor Hamlet saß, in dem »rauchende Colts« geschwungen wurden. So titelte eine US-amerikanische Westernserie, produziert von CBS zwischen 1955 und 1975, mit insgesamt sechshundertfünfunddreißig Episoden in zwanzig Staffeln. Ab 1967 klinkte sich da die ARD mit ein.

Weil mich die Geschichten aus Dodge City geschmacklich infizierten, wie ich im Rückblick konstatiere – ein ganz bestimmter Filmcharakter, so behaupte ich und mein späteres Schreiben grundlegend beeinflussten, gehe ich auf die »Colts«, wenn Sie gestatten, etwas ausführlicher ein. Gut!

Die aktuelle Folge war in Farbe produziert, was für mich jedoch insofern keinerlei Bedeutung hatte, als Hamlet, Baujahr 1964, mit einer Schwarzweiß-Bildröhre daherkam. Hamlet bot dafür aber ein Gehäuse aus »hochglanzpoliertem Nussbaum«, das, wie zumindest der damalige Verkaufsprospekt verkündete, »in aller Welt beliebt« war. Auch 1967 noch? – Denkbar. Zwar ging just in diesem Jahr im Land das Farbfernsehen auf Sendung, aber es existierten Wikipedia zufolge nur rund sechstausend Farbgeräte, weil diese Glotzen ein Vermögen gekostet hätten, genauer gesagt »zwischen 2.000 und 4.000 Mark«.

Die meisten Fernsehgucker bekamen von daher nicht nur nicht mit, wie es sich im Wilden Westen in Farbe schoss – vielmehr ging an ihnen auch vorbei, dass der offizielle Startschuss zum Color-TV damals Fake-News beinhaltete: Vizekanzler Willy Brandt hielt via Mattscheibe eine Rede, bevor er im staatsmännischen Ton – »in der Hoffnung auf viele friedlichfarbige, aber auch spannend-farbige Ereignisse« und so weiter – auf den Knopf drückte. Der Witz war, dass Brandt schon in Bunt über die Farbmattscheiben flimmerte, bevor er den knallroten Drücker berührt hatte. Das Ding rechts neben ihm war eine Attrappe, und die Inszenierung flog auf, weil dem Techniker, der hinter den Kulissen saß, um den echten Schalter umzulegen, vor Aufregung die Nerven abhandenkamen.

Während sich Großvater mit dem Gesicht zur Rückenlehne des Sofas drehte, trat Hilfssheriff Festus auf. Er würde, das wusste ich schon aus anderen Episoden, den Marshal von Dodge City, Matt Dillon, wieder blass aussehen lassen.

Die anstehende Folge hieß »13 im Dutzend«, was ich schon damals nicht verstand. Klar kann ich heute nachvollziehen, dass dreizehn rein rechnerisch einer zu viel sind für ein Dutzend – aber von wem da die Rede war, kapiere ich trotzdem nicht. In der Programmzeitschrift stand zu lesen: »Die Postkutsche wird überfallen. Unter den Passagieren befindet sich eine hochschwangere Frau, die wenig später bei Doc Adams Drillinge bekommt. Die Frau stirbt und über den Verbleib der Kinder entbrennt ein Streit.«

Wer warum mit wem um die Kinder stritt, weiß ich heute nicht mehr, aber das scheint mir sowieso unwesentlich für die Beleuchtung der Frage, weshalb mir die »Colts« so gut gefielen. Zweifelsohne hatte es mir der Deputy angetan – die erste fiktionale kauzige Type, die ich bewusst wahrnahm. Festus Haggen war ein schlaksiger, nicht mehr ganz junger Mann, ein wenig windschief ins Leben gebaut und mit einer charismatischen Fistelstimme gesegnet. James Arness, der den Boss von Festus spielte, also Marshal Dillon sein Gesicht lieh, konnte Folge für Folge immer nur zweiter Sieger sein. Auch die markante deutsche John-Wayne-Stimme von Arnold Marquis konnte das Blatt für Dillon alias Arness nicht wenden.

Apropos John Wayne: Der zu seiner Zeit weltweit bekannte Haudegen wurde vor Serienstart gefragt, ob er die Rolle des Marshals übernehmen wolle. Wayne winkte ab und empfahl den Produzenten seinen Kollegen Arness. Wayne hat Arness empfohlen! Hm. Im Nachhinein drängt sich zumindest mir die Frage auf, ob Wayne vielleicht nach der Lektüre des Drehbuchs geahnt hatte, dass selbst er, der Super-Cowboy, gegen Festus keine Schnitte hätte, wenn diese Rolle nur richtig besetzt würde. Und wenn Wayne das tatsächlich geahnt hatte, dann drängt sich die Zusatzfrage auf: Wieso hat Wayne die Filmrolle an Arness weitergereicht? Ließ er ihn vielleicht bewusst ins offene Messer laufen, weil er mit ihm ein Hühnchen zu rupfen hatte? Um Himmels willen! – In was für einer konfliktbeladenen Beziehung standen Wayne und Arness? Fragen über Fragen!

Unabhängig davon, dass sich die aufgeworfenen Fragen nicht beantworten lassen, da keiner der Beteiligten mehr unter uns weilt, sei unterm Strich festgestellt, dass »Rauchende Colts« – im Übrigen einst als Radioserie erfunden – ein Glücksfall für den launigen Western war. Ein Brüller!

Debuty Festus klang so, als hätte er nie den Stimmbruch überwunden. In der deutschen Synchronisation wurde er von Gerd Duwner gesprochen, der – aber dies nur am Rande für Leser, die Festus nicht mehr im Ohr haben oder, bedeutend schlimmer, ihn nicht kennen – auch Barney Geröllheimer seine brüchige Stimme lieh. Ehrlich gesagt bin ich immer noch hin und weg, wenn ich mir über YouTube dann und wann die »Colts« vergegenwärtige – genauer gesagt Festus, noch genauer gesagt Gerd Duwners Stimme.

Aber weiter vor in die Vergangenheit! Derweil der Deputy dem Marshal die Show stahl, signalisierten mir rasselnde Atmung oder atmendes Rasseln nebst schnarchenden Verschluckern oder verschluckten Schnarchern im Raum, dass Großvater eingeschlafen war.

Eine Dreiviertelstunde später rauchten die Colts nicht mehr. Ich rutschte von der für mich relativ hohen Sitzfläche herunter und flitzte in die Küche, zu Großmutter. Großmutter rührte im Topf, der auf den gusseisernen Ringen des an die Wand gemauerten Kachelherdes stand.

Während die Kelle im Möhreneintopf ihre Runden drehte, schaute sie zu mir und fragte rhetorisch: »Zu Ende?«

Ich nickte bestätigend.

»Schön«, sagte Großmutter und angelte mit einem Esslöffel ein Scheibchen Möhre heraus. Sie balancierte Löffel samt Inhalt zu mir herunter, auf die Höhe meines Mundes.

Nach dem Kosten verzog ich die Mundwinkel gen Süden, und Großmutter schlussfolgerte: »Da muss noch Zucker ran.«

Aber dass ich vom Essen überhaupt hatte kosten dürfen, empfand ich als Privileg. Naschen durfte sonst niemand – nicht einmal Großvater, der, vom Mittagsschlaf erwacht, auf leisen Sohlen in die Küche geschlurft kam und vielleicht gerade noch gesehen hatte, wie ich mir die Möhrenlippen leckte. Er schlich sich von hinten an Großmutter heran und klaute ihr die Schöpfkelle, um auch mal zu probieren.

Aber Großmutter eroberte sich das Kochgeschirr sogleich zurück, indem sie Großvater, ohne sich überhaupt zu ihm umzudrehen, mit dem Löffel auf jene Hand schlug, die die Kelle hielt.

»Autsch!«, rief Großvater. »Wollte auch mal probieren«, maulte er und gab die Kelle zurück.

»Kommt nicht in Frage!« Großmutter drehte sich zu mir und zwinkerte verschwörerisch.

Großvater schien auf einmal verärgert, vermutlich wegen der Löffelattacke. Er strich sich mit beiden Händen durch seine vom Schlafen in Unordnung geratene Fasson-Frisur und legte sich den dunklen glatten Schopf streng nach hinten. Rückblickend denke ich, er bürstete sich sinnbildlich auf Krawall. Sein Zweifingerbärtchen unter der Nase, das zu der Zeit, von der hier die Rede ist, nicht mehr wirklich en vogue war – was Großvater aber, wie ich vermute, schnurzpiepegal war –, hüpfte auf und nieder. Ungemach zog auf! Großvater tat dann sogleich noch etwas, das die Großmutter noch viel weniger mochte: Er schlurfte zum Spülbecken, das an der gleichen Wand hing, an der auch der Herd stand, und urinierte in den Abfluss.

»Ferkel!«, rief Großmutter und hob drohend die Schöpfkelle in die Luft.

Großvater blickte gleichmütig zu ihr hinüber, senkte den Kopf dann aber wieder zum Waschbecken hin. »Wa soll ich denn machen?«, brabbelte er im hauchenden Tonfall körperlicher Erleichterung.

»Schäm dich!«, echauffierte sich Oma. »Vernünftige Leute gehen dafür aufs Klo!«

»Zu knapp.«

»Aber Zeit, mir die Kelle zu mopsen, hattest du schon. Und das vor dem Jungen!« Großmutter schüttelte angewidert den Kopf, soweit ich ihren Gesichtsausdruck richtig erkannt und korrekt gedeutet hatte. »Mach dich lieber mal nützlich.«

Großvater, der sich inzwischen erleichtert hatte, erwiderte nur: »Hatte ich sowieso vor.« Er holte seinen braunen Lederschurz, der an der Tür zur Speisekammer hing, und band ihn um die Hüfte, bevor er sich ans Fenster setzte. Zu seinen Füßen stand eine Apfelsinenkiste.

Was dann kommen sollte, kannte ich schon: Es galt, das Anmachholz zu zerkleinern, für den Herd. Außerdem war Spätsommer, und schon bald würde er den Kachelofen im Wohnzimmer heizen, das den beiden auch als Schlafstube diente.

Nachdem ich damit einen – nach meiner Erinnerung allerersten – Anschauungsunterricht dazu erhalten hatte, was eine Geschichte zur Geschichte macht – nämlich Einführung, Konflikt und Auflösung –, informierte mich Großvater: »Nichts für kleine Jungen. Kann man sich Holzsplitter einfangen.«

Großvater ging konzentriert ans Werk. Sein Bärtchen tanzte bei zusammengekniffenem Mund mal nach links, mal nach rechts. Mit einer Flachzange zog Großvater dem Holz die Zähne. Die Metallklammern, die die Kiste zusammengehalten hatten, sammelte er in einem Einweckglas. Erst als die Apfelsinenkiste vollständig zerlegt war, hob er ein Brettchen nach dem anderen auf, um es bedächtig über sein von der Schürze geschütztes rechtes Knie zu brechen. Großvater war ein gründlicher Mann. Die erstaunlich gleich kurzen Brettchen legte er ordentlich über- und nebeneinander ins unterste Fach des in Griffnähe stehenden flachen Wandregals.

Meine Großeltern waren beschäftigt: Großvater mit dem Stapeln des Holzes, Großmutter mit dem Vorkochen des Möhreneintopfs für morgen und übermorgen.

Ich stand noch immer neben Großmutter, aber nun setzte ich mich an den Küchentisch – aus einem unbestimmten spontanen Impuls heraus. Auf dem Tisch lag ein Ausmalheft. Ich griff es mir zusammen mit dem Buntstift. Auf den unteren Rand des Heftes schrieb ich – oder malte vielmehr – große Buchstaben. Richtig schreiben konnte ich noch nicht, aber immerhin: Die aneinandergefügten Lettern ergaben Worte und eben diese Worte stellten schließlich einen Satz dar. Ohne selbst zu überblicken, was ich getan hatte, stand da nun auf wundersame Weise ein Aussagesatz geschrieben.

Inhaltlich wurde offenbar, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben versucht hatte, das Drama des Tages aus meiner Sicht schriftlich zu verarbeiten. Nein, meine Großeltern kamen dabei nicht vor – eher noch, im Subtext zumindest, die Frau, die zuerst drei Kinder gebar und dann verstarb, weshalb der Marshal dann alle Hände voll zu tun hatte. Wie Dillon das besagte Problem gelöst hatte, erinnerte ich, wenn ich mich recht erinnere, damals gar nicht. Aber deutlich stand mir immerhin offenbar vor Augen: »Festuss hadd Scherriff gehollfen!«

Die inhaltliche Komplexität und der ureigene Schreibstil meines Schaffens waren dokumentiert. Mutter bekam das Malheft dann von Großmutter zugesteckt und hat – gestatten Sie bitte das Pathos – diesen meinen schriftstellerischen Ursatz über viele, viele Jahre aufgehoben. Für mich!

Doch leider … der erste Satz, das Original ist mir abhandengekommen. Ich habe das Malheft nicht, wie andere Autoren ihre unbeendeten oder nicht an den Verleger gebrachten Manuskripte, fein säuberlich in der Schublade des Schreibtisches aufbewahrt. Das habe ich tatsächlich versäumt, was bei Lichte besehen – das sei zu meiner Entschuldigung vorgebracht – daran lag, dass mein Schreibtisch seit dem erinnerten Tag bei den Großeltern immer bloß ein Küchentisch war, der – ich schwöre! – keine Schublade hatte.

Folglich muss ich ebenfalls konstatieren, dass ich keinen einzigen meiner Texte, die nicht veröffentlicht wurden, in Schubladen aufbewahrt habe, auch nicht in Kisten. Und ich habe sie auch nicht gerahmt und als Erinnerungsstücke an den Wänden meiner Wohnung aufgehängt, wie das alternde und etwas in Vergessenheit geratene Burgschauspieler mit ihren Theaterfotos und lobhudelnden Premierenkritiken tun mögen.

Einerseits ist das schade, weil ich meinen – immerhin imaginierten – Kindern und Enkeln niemals werde zeigen können, was ich, ihr imaginärer Vater und Großvater, in der Gesamtschau meines tatsächlichen künstlerischen Schaffens so alles an Seiten gewuppt habe. Aber andererseits mache ich später meinem Nachlassverwalter nicht so viel Arbeit, richtig? Also, ich finde ja schon, dass auch diese Medaille zwei Seiten hat.

Was mir trotz alledem geblieben ist, ist schließlich eines: die Erinnerung an meinen ersten Versuch, erzählend zu schreiben.

Der Hamlet und die Schokolinse

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