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Der Holzstoß

Eingebettet zwischen Bergen und hohen Fichtenwäldern liegt der kleine Ort Erlabrunn. Hinter einer langen Häuserkette der Wohnsiedlung am Fuße des Märzenberges reihen sich die Wäscheplätze, und an der Berührungsstelle zweier solcher Plätze, auf einem Stück der kleinen Böschung, die die unterschiedlichen Höhenlagen überbrückt, befindet sich der Holzstoß.

Mit dem Holzstoß möchte ich beginnen, denn es ist Moritz’ Geburtsort. Von dieser Stelle aus sehe ich das Wohnhaus meiner Eltern. Und das linke Fenster in der ersten Wohnetage ist der Ausblick aus meinem Zimmer über den Wäscheplatz, über die dahinter liegenden kleinen Gärten und zu den steil aufragenden, bewaldeten Berghängen. Längst bin ich aus der Wohnung der Eltern ausgezogen. Aber das Zimmer mit dem schönen Ausblick ist mir geblieben. Und das ist gut so, wenn wir bei den Eltern zu Besuch sind.

Der Holzstoß ist ein großer Stapel aus überlagertem Rundholz, alten Brettern und dicken Fichtenästen. Er begrenzt den zum Haus gehörenden Wäscheplatz auf der linken Seite. Weil das aufgestapelte Holz keine Bodenberührung haben soll, befindet sich unter dem Berg von Stämmen, Brettern und Ästen ein flacher, ausgedehnter Hohlraum. Viele Kätzchen kamen hier zur Welt, denn der Holzstapel ist sozusagen ein kleiner Palast für Katzenfamilien. Darunter sind die Kleinen gut geschützt. Höchstens einem ganz kleinen Hund würde es gelingen, in den flachen Hohlraum einzudringen. Und ein Mensch, der der Katzenmutter ihre Jungen wegnehmen wollte, müsste sich die Mühe machen, einen ganzen Holzstoß abzutragen. Aber diese Mühe macht sich natürlich niemand. Und das wissen die Katzenmütter, denn sie sind schlau.

Wie schlau Katzen sind, habe ich auch von Helga erfahren. Sie hat mir oft von ihren Erlebnissen mit diesen intelligenten und anschmiegsamen Tieren berichtet.

Da drüben die Frau, die gerade in dem winzigen Garten meiner Eltern herumbuddelt – das ist Helga. Seit einem Jahr leben wir zusammen. Unsere Unterkunft ist vorläufig noch die kleine Einraumwohnung im neunten 0bergeschoß eines Neubaublockes. Und das große Neubaugebiet befindet sich 60 Kilometer von hier entfernt in der Bezirkshauptstadt.

An diesem Wochenende im Juli ist wieder unser Besuchstag bei den Eltern. Die Sonne scheint, und sommerliche Wärme macht das Arbeiten draußen angenehm. Ich bin mit dem Auto beschäftigt, und Helga hilft ein bisschen im Garten. Ab und zu sehe ich nach, was sie im Garten so treibt, und ich leiste ihr ein bisschen Gesellschaft. Sie ist sehr fleißig. Sie häckelt und pflanzt und hat kaum Zeit für mich.

Doch plötzlich hält sie inne. „Hörst du?“ „Was?“ „Na, hörst du nicht das winzige Stimmchen?“ Ich höre nichts.

Nach einer Weile fängt Helga wieder an. „Na, hör nur mal!“ Nun vernehme ich auch das schwache piepsende Stimmchen. „Eigenartig, was könnte das sein? Ein Vogel?“

Helga sieht sich um, sucht aufmerksam die Umgebung ab. „Ich glaube, es kommt von dort, von dem Holzstoß … Könnten es nicht Kätzchen sein?“

Sollten das Laute von Katzenjungen sein? „Ich glaube doch eher, es ist ein Vogel.“

Helga will es nun genau wissen und ist nicht mehr zu bremsen. Sie läuft schnell aus dem Garten und nähert sich behutsam dem alten Holzstoß. Da höre ich sie rufen: „Volker –Volker, komm mal her! Es sind Kätzchen – drei ganz kleine süße Kätzchen!“

Die Kätzchen konnten erst vor wenigen Tagen zur Welt gekommen sein. Ich kann sie nur wenige Augenblicke sehen. Sie lugen noch einmal kurz unter dem Holzstoß hervor und verschwinden sogleich wieder.

Unser Interesse für die Kätzchen ist leicht zu erklären. Noch wohnen wir in einem dieser Neubaublöcke der Bezirksstadt. Aber wir haben Pläne und möchten unsere Wohnsituation verändern. Und dabei denken wir an ein kleines Einfamilienhaus. Schon seit Anfang des Jahres bemühen wir uns, und nun sieht es so aus, dass wir unserem Ziel schon ganz nahe sind. Im Mai gab uns Frau Petzold endlich die verbindliche Zusage. Wenn sie ihr Wort hält, ziehen wir schon bald in die kleine Stadt Frankenberg. Als Hausbesitzer würden wir dann am Rande der Stadt über ein Grundstück verfügen, das von seiner Größe her weit über unsere Wünsche hinausgeht. Wir könnten Schafe und Ziegen halten – und natürlich auch einen Hund. Tierliebend sind wir beide. Doch es sind die großen Aufwendungen zu bedenken, auch die Bindungen, die man durch das Halten solcher Tiere eingeht. Und so konnten wir uns bei diesen Überlegungen schnell auf eine Katze einigen – auf eine ganz normale, genügsame Katze, die im Grundstück herumstrolcht, Mäuse fängt und auch allein zurechtkommt, wenn wir am Wochenende einmal nicht zu Hause sind.

Ich gehe mit Helga zurück in den Garten. Helgas Augen verraten Anspannung und Freude. „Mal sehen“, sagt sie, „vielleicht wird eines von den dreien unser Kätzchen!“

Dies ereignete sich im Sommer 1989. Meinem Notizkalender kann ich den genauen Tag entnehmen und daraus auf die Woche schließen, in der unser Moritz unter einem alten Holzstoß zur Welt kam. Es war die zweite Woche des Sommermonats Juli.

Frankenberg, 22. Juli.

Das Haus von Frau Petzold ist schon seit Jahresbeginn unbewohnt. Trotzdem ist unser Vorhaben heute illegal. Es ist nur deshalb möglich, weil uns Frau Petzold den Schlüssel überlassen hat. Sie sieht es gern, wenn sich jemand um ihr Haus und das Grundstück kümmert, denn sie kann es von ihrem neuen Wohnort, dem 150 km entfernten Cottbus, nicht mehr.

Noch immer sind wir ohne Kaufvertrag. Wir müssen Enttäuschungen und Rückschläge in dieser Angelegenheit hinnehmen. Wir ärgern uns über die jetzige Besitzerin des Hauses, über ihre Unschlüssigkeit, das Hinhalten und versuchen, gelegentlich etwas Druck auszuüben. Mit ihrer halben Zustimmung haben wir den ersten Möbeltransport organisiert. Nun steht uns schon ein bewohnbarer Raum zur Verfügung – das Schlafzimmer. Wir nutzen die Gelegenheit für die erste Übernachtung in unserem neuen Heim und hoffen, dabei nicht erwischt zu werden. Wir sitzen mit Sektgläsern im Bett und sind sehr glücklich. Das kühle, sprudelnde Getränk und die Hoffnung, hier bald ganz legal wohnen zu können, bringen uns in die richtige Stimmung. Helga hat schon ganz konkrete Vorstellungen, wie die Wohnung eingerichtet werden soll.

Wir entwerfen die ersten Pläne zur Gestaltung des ausgedehnten Grundstücks. Und bald sind unsere Gedanken wieder bei den Kätzchen, die unter dem alten Holzstoß zu Hause sind. Erwartungsvoll sehen wir unserem nächsten Besuch in Erlabrunn entgegen. Wir beraten den Termin und einigen uns auf das nächste Wochenende.

Das sommerliche Wetter ist seit Wochen beständig. Unter den Strahlen der hoch stehenden Julisonne wirkt die kleine Wohnsiedlung meiner Eltern bei unserer Ankunft einladend und freundlich. Ich steuere den alten dunkelroten Lada um die Hausecke herum und nach hinten auf den Wäscheplatz. Mutti hat uns schon entdeckt und winkt uns vom Fenster aus zu. Wir winken zurück, doch wir haben uns zuerst um eine wichtige Sache zu kümmern. Es sind nur ein paar Schritte von dem am Garten abgestellten Auto bis zu dem alten Holzstapel. An seiner Rückseite entdecken wir Kinder und, halb unter die dicken Knüppel geschoben, einen kleinen Milchnapf. Es ist ein gutes Zeichen. Nur die Kätzchen bekommen wir nicht zu sehen.

„Sind die Kätzchen denn noch da?“, fragt Helga. „Ja“, antwortet ein kleines Mädchen aufgeregt, „sie sind da drunter – aber sie kommen nicht heraus!“ „Wie viele Kätzchen sind es denn?“, setze ich das neugierige Fragen fort. „Zwei. Eins ist gestorben“, erhalten wir als Antwort von einem schon etwas älteren Jungen. Er bückt sich, kriecht an der langen Rückseite des Holzstapels herum, um die beiden ausfindig zu machen. Aber er kann uns nicht helfen. Als nach einigen Minuten von den Kleinen immer noch jede Spur fehlt, brechen wir unsere Erkundung erst einmal ab. Wir nehmen die Taschen wieder auf und machen uns auf den Weg. Die Eltern werden sich gar nicht denken können, wo wir so lange bleiben.

Noch vor dem Kaffeetrinken versuche ich es mit Helga ein zweites Mal. Und diesmal haben wir Glück. Eine kleine Gruppe von Kindern drängt sich um das Mädchen, das uns vorhin so bereitwillig Auskunft gegeben hat. Liebevoll hält sie ein ganz kleines Kätzchen im Arm, und von allen Seiten wird sie bedrängt: „Ah, gib mir es mal!“ „Nein, mir!“ „Mir bitte!“

Helga tritt an die Kindergruppe heran und bittet das arg in Bedrängnis geratene Mädchen sehr freundlich, doch ihr einmal das kleine Kätzchen zu zeigen. Sofort stellen alle ihre Ansprüche zurück, und Helga bekommt das Kätzchen zuerst.

Es ist ein graues Kätzchen, ein ganz liebes kleines Ding. „Sieh mal!“, sagt Helga und weist auf die schwarze Zeichnung im Fell. Ich sehe nun deutlich die feinen schwarzen Linien und verstehe Helgas Freude. Sie hat eine genaue Vorstellung, wie unser Kätzchen aussehen soll. Ein Fell mit solch einer Zeichnung nennt man „grau getigert“. Man muss sich so die Urform unserer Hauskatzen vorstellen. Das Fell dieser Tiere war grau getigert, bevor der Mensch durch Züchtung die Vielfalt der Fellfarben und Zeichnungen hervorbrachte, wie wir sie jetzt kennen. Aber die graue Hauskatze blieb die Häufigste. Hunderttausend solcher Allerweltskatzen rennen herum. Ich hätte mich eher für eine Katze entschieden, die man weniger leicht mit anderen verwechseln kann. Aber es war nun einmal Helgas Herzenswunsch – grau getigert. Und ich war mir sicher, dass man zu guter Letzt ein unauffälliges graues Kätzchen ebenso lieb haben konnte wie ein weißes mit gelben Flecken oder ein schwarzes mit weißen Pfötchen.

Die Kinder müssen warten. Helga übergibt das kleine Ding nun erst einmal mir. Zart und zerbrechlich liegt es in meinem Arm. Es ist so klein, dass ich es gar nicht richtig streicheln kann. „Ein hübsches Gesicht hat das Kleine“, sage ich zu Helga. „Gefällt es dir?“ „Ja, sehr!“

Nun ist aber noch eine Frage zu beantworten: Katzenweibchen oder Kater? Aus Gründen, die leicht einzusehen sind, möchten wir uns einen kleinen Kater zulegen. Ich halte das Kätzchen hoch, und Helga versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. „Was meinst du?“ Aus ihren Worten klingt Unschlüssigkeit. Aber ich kann es nicht besser beurteilen. „Sie sind eben noch zu klein!“ „Na, ich glaube doch, es ist ein Katzenweibchen!“, meint Helga und streichelt liebevoll über den kleinen grauen Kopf.

„Wo ist denn nun eigentlich das zweite Kätzchen?“, frage ich die Kinder. Das freundliche Mädchen bückt sich und fummelt mit einem kleinen Stock unter den alten Rundhölzern herum. „Es ist noch da drunter – es kommt nicht raus!“ Dann schiebt sie den kleinen Milchnapf noch ein Stück weiter unter den Holzstoß.

„Na, vielleicht hat das Kätzchen Angst vor euch!“, spricht Helga in einem Ton, als wäre sie die Lehrerin der kleinen Kinderschar. „Gehen wir doch alle mal ein bisschen weg. Vielleicht kommt es dann!“

Und Helga behält recht. Kaum ist für ein paar Minuten Ruhe vor dem Holzstoß eingezogen, lugt schon das zweite Kätzchen hervor. Ein wenig misstrauisch, aber von Neugier getrieben, bewegt es sich in der Nähe des Milchschälchens und untersucht aufmerksam so ziemlich alles, was in den Weg kommt. Aber nähern wir uns, verschwindet das Kleine sofort wieder unter dem Holzstoß. Das Spielchen wiederholt sich ein paarmal, und wir müssen viel Geduld aufbringen, um das Kätzchen endlich zu erwischen. Behutsam halte ich es in den Händen. Das ganze Ebenbild des Kätzchens, das wir uns eben betrachtet haben. Dass es Geschwister sind, ist nicht zu übersehen. Nur einen winzigen Unterschied bemerken wir. Das graue Köpfchen ist etwas größer. „Ich glaube, das ist ein kleiner Kater!“, sagt Helga. Aber ganz schlüssig sind wir uns wieder nicht. Und es ist auch niemand hier, der sich besser auskennt und es uns sagen könnte.

Das Kätzchen wird unruhig. Ich übergebe es Helga. Sie nimmt es auf ihren Arm, und ich streichle mit zwei Fingern über das graue Köpfchen mit den kleinen spitzen Ohren. Zwischen den Ohren laufen vier dünne schwarze Linien, und auffallend sind die schwarzen Streifen im Fell, die die Beine wie Ringe umschließen.

Zum ersten Mal vernimmt der kleine Kerl unsere Stimme. Er spürt die zärtliche Zuwendung und mustert uns mit seinen gelbgrünen runden Augen. Wir machen uns mit ihm ein wenig vertraut und geben ihn dann an die Kinder zurück. Die Kinder sind glücklich, dass sie nun beide Kätzchen zurückhaben. Besorgt um das Schicksal der Kätzchen, versuche ich auf sie einzureden: „Passt gut auf sie auf, damit ihnen niemand etwas zuleide tut!“ Ich bemerke Resonanz und sehe in ihren Gesichtern, wie ernst sie meine Worte nehmen. Man kann ihnen vertrauen – sie sind wie die meisten Kinder warmherzig und tierlieb.

Nur selten bin ich Kindern begegnet, die für Tiere nichts übrig haben oder gar zur Tierquälerei neigen.

Schlimm ist es, wenn sich junge Menschen schon durch Brutalität und Verrohung „auszeichnen“ und sich mit solch verkümmerten Seelen auch noch als Helden fühlen. Mit Abscheu erinnern sich hier viele noch der Gruppe halbstarker junger Männer, die vor zwei Jahren mit großen Stöcken durch den Ort zogen, um alle jungen Katzen umzubringen. Sie kamen auch hier her, an diesen Holzstoß. Von niemandem dazu beauftragt, erschlugen sie die Kätzchen brutal und richteten zum Entsetzen der Leute, die hier wohnten, ein regelrechtes Blutbad an. Ich wurde selbst nicht Zeuge dieser grausigen Aktion, die Eltern haben mir von dem Vorfall berichtet.

Es ist eine Aufgabe des Menschen, der unkontrollierten Vermehrung dieser Tiere zu begegnen. Erfolgt dieses mit humanen Mitteln und von der Notwendigkeit bestimmt, so handelt es sich um eine andere Sache, als wenn Brutalität und Freude am Töten im Spiel sind. Ich selbst würde es nicht fertig bringen, Katzenjunge zu töten, und Helga würde eine solche Aufgabe erst recht nicht übernehmen. Kater bringen keine Junge zur Welt, und so glauben wir, das Problem auf einfachste Weise gelöst zu haben. Man muss schon über einiges nachdenken, bevor man sich so einen kleinen Freund anschafft.

Wenn ich an den Vorfall denke, der sich hier vor zwei Jahren abgespielt hat, und an andere Gefahren, die auf die Kleinen lauern, so möchte ich unser Kätzchen am liebsten gleich mitnehmen. Aber wir wollen uns erst sicher sein, dass es ein kleiner Kater ist. Zudem sind die Kleinen noch keine drei Wochen alt und werden noch gesäugt. Man kann sie der Katzenmutter so früh nicht wegnehmen.

Weitere drei Wochen sollen vergehen, bis wir die Kleinen wiedersehen. Wir brauchen die Wochenenden, um mit den Arbeiten in unserem zukünftigen Heim vorwärtszukommen. Zimmer für Zimmer ist zu räumen und der Zustand der Räume in Ordnung zu bringen. Auch mit dem Grundstück müssen wir uns beschäftigen. Es wirkt wild und verwahrlost, übermannshohe Brennnesseln haben sich überall breit gemacht, und wir entdecken immer neue Ecken mit Abfällen und Gerümpel. Ein Ende der Arbeiten ist noch nicht abzusehen. Wir räumen allen Unrat beiseite, beginnen zu verändern, was uns nicht gefällt. Es ist noch nicht einmal ganz sicher, dass uns das Haus eines Tages gehören wird. Doch voller Optimismus scheuen wir weder Mühe noch den großen Zeitaufwand, um unserem Ziel ein Stück näherzukommen. Oft zwingt uns erst der Einbruch der Dunkelheit, Schluss zu machen und die Heimfahrt in das fünfzehn Kilometer entfernte Wohngebiet in der Bezirkshauptstadt anzutreten.

Es ist der letzte Besuch bei den Eltern vor unserem Jahresurlaub, den wir für die Zeit von Ende August bis Mitte September geplant haben. Wir nehmen uns diesmal etwas mehr Zeit für den Besuch und fahren schon am Freitagabend. Wie immer stelle ich den alten Lada auf dem Wäscheplatz neben dem Garten meiner Eltern ab. Nun sind wir wirklich gespannt – keine Frage, wo es uns zuerst hinzieht. Wir laufen den kleinen Umweg, der am Holzstoß vorbeiführt. Aber diesmal sind keine Kinder hier. Nur die kleine Milchschale steht etwas verlassen vor dem Holzstoß. Ich muss mich fast auf den Boden legen, um in den kleinen flachen Hohlraum unter den alten Rundhölzern hineinblicken zu können. Nichts zu sehen – niemand da! Aber im Schälchen ist noch ein bisschen Milch. Ein Zeichen dafür, dass die Kätzchen noch nicht weg sind und von den Kindern versorgt werden.

Wir wollen gerade weitergehen, da nähert sich eine ausgewachsene graue Katze vorsichtig dem Holzstoß. Die Ähnlichkeit in der Fellzeichnung ist ganz auffällig. Es besteht für uns kein Zweifel – das ist die Katzenmutter. „Na, wo hast du denn deine Kleinen?“, spricht Helga sie in so freundlichem Ton an, als müssten wir uns mit ihr gut stellen. „Miau“, ist die Antwort der grauen Katzenmutter. Sie bleibt stehen und mustert uns mit großen gelbgrünen Augen. Wir verstehen die Katzensprache nur ungenügend und wissen nun immer noch nicht, wo ihre Kleinen stecken.

Eine Stunde später versuchen wir es ein zweites Mal. Wir gehen auf den Wäscheplatz und erkundigen uns bei ein paar Kindern, die hier spielen, nach dem Verbleib der Kätzchen.

„Sie sind bei Hofmanns im Garten!“ Ein Junge mit dunkelblonden, zerzausten Haaren führt uns einen schmalen Fußweg entlang, der in der Nähe des Holzstoßes beginnt und schräg durch die Gärten in Richtung des angrenzenden Hochwaldes führt. Es ist nur ein kurzes Stück bis Hofmanns Garten. Der Junge bleibt vor uns stehen und schaut zwischen den Zaunlatten hindurch. Und tatsächlich – hier sind die beiden. Und wie groß sie schon geworden sind! Die beiden grauen Kätzchen spielen und tollen im Gras herum. Sie balgen miteinander und drehen vor lauter Übermut Purzelbäume. „Süß sind die beiden!“, sagt Helga. Ich finde auch, dass es zwei ganz hübsche liebe Kätzchen sind.

„Die Katzenmutter gehört wohl Frau Hofmann?“, frage ich den Jungen mit dem dunkelblonden Haarschopf. Seine Antwort kommt ohne Zögern: „Ja!“

Nun ist uns klar, dass wir nicht so ohne Weiteres eines der Katzenjungen mitnehmen können. Frau Hofmann möchten wir schon erst einmal fragen. Und dann müssen wir natürlich auch die grau getigerte Katzenmutter fragen. Es kann kein Fehler sein, wenn wir uns vorher mit ihr ein bisschen anfreunden. Wie sollte sie uns sonst ihr Kleines anvertrauen?

Am nächsten Tag steht eine kleine Ausfahrt mit den Eltern auf dem Programm. Wir nutzen das sommerliche Wetter zum Besuch eines idyllisch gelegenen kleinen Ortes an der Grenze zur Tschechoslowakei. Wir spazieren durch Wälder und zwischen ausgedehnten, blumengeschmückten Wiesen und sind fasziniert von der friedvollen Ruhe dieser in den Wintermonaten oft gänzlich abgeriegelten Ortschaft.

Als wir am Abend zurückkommen, herrscht reger Betrieb am alten Holzstapel. Die Kätzchen sind wieder zu ihrem Wohnort, dem großen Katzenpalast aus dicken Stämmen und alten Brettern, zurückgekehrt. Mir wird klar, welchen Weg sie für ihre ersten kleinen Wanderungen ausgewählt haben. Es ist der schmale, leicht ansteigende Trampelpfad zwischen dem Wäscheplatz und Hofmanns Garten.

Und das ist die Chance der Kinder. Auf diesem Weg kann man die Kätzchen leicht erwischen. Dann werden sie von Hand zu Hand gereicht. Alle wollen die Kleinen mal streicheln und mit ihnen schmusen.

Erwachsene gesellen sich zu den Kindern am Holzstoß. Zwei davon sind Bekannte aus dem Haus meiner Eltern. Günter ist selbst Besitzer eines stattlichen Katers. Nun können wir gemeinsam die strittige Frage klären. Günter schaut sich das etwas kräftiger gebaute Kätzchen genau an. Es ist zweifellos ein Kater. Unsere Entscheidung ist damit gefallen, und wir erläutern allen unser Interesse für die Kätzchen und was wir mit dem kleinen Kerl vorhaben.

Nun ist noch zu klären, von welchem Zeitpunkt an so ein Kätzchen ohne die Katzenmutter auskommt. „So nach acht, neun Wochen könntet ihr es mitnehmen“, meint Günter. Aber er rät uns ab. „Das wird nichts! Sie sind hier unter dem Holzstoß aufgewachsen und unheimlich scheu. Man bekommt so wild aufgewachsene Kätzchen nicht zahm.“ Er macht ein nachdenkliches Gesicht und bekräftigt dann noch einmal seine Auffassung: „Ich glaube nicht, dass man sie jetzt noch woanders eingewöhnen kann!“

Ich rechne die Zeit ein, bis wir von unserem Ostseeurlaub zurück sind. Es wäre dann schon die zehnte Woche! Helga sieht mich an und fühlt, dass ich genauso denke: Wir lassen uns nicht abbringen. Wir nehmen den Kleinen mit zu uns und versuchen es.

Aber nun muss ich erst einmal bei Frau Hofmann vorbeigehen, um sicher zu sein, dass sie nichts dagegen hat. Ich treffe sie auch gleich an.

„Natürlich können sie ihn mitnehmen!“ Sie freut sich, dass jemand das Kätzchen in seine Obhut nehmen will. Ich erkläre Frau Hofmann unser Anliegen ausführlich, dass wir ein großes Grundstück erwerben und dass es der Kleine bestimmt gut bei uns haben wird. Ich teile ihr mit, wann wir aus unserem Urlaub zurückkommen und an welchem Wochenende wir voraussichtlich den kleinen Kater mitnehmen. Es ist auch Frau Hofmann klar, dass es vor dem Urlaub nicht geht. Können wir ihn doch nicht gleich in einer fremden Umgebung vierzehn Tage sich selbst überlassen.

Noch oft schleichen wir an diesem Wochenende an dem Holzstoß vorbei, um nach den beiden Kätzchen zu sehen. Sie halten sich am liebsten dicht neben dem Eingang auf, um schnell unter dem Holz entwischen zu können, falls sich jemand nähert und sie fangen will. In der Nähe des kleinen Milchnapfes spielen sie miteinander, und es macht großen Spaß, ihnen dabei zuzusehen.

Sonntag nach dem Mittagessen bin ich als Erster wieder auf dem Weg in den Garten. Es ist still um den großen Holzstapel geworden. Ich nehme an, dass die Kleinen wieder einmal ausgewandert sind und sich in Hofmanns Garten aufhalten. Aber da entdecke ich, wie an der den Häusern zugewandten Schmalseite des Holzstoßes, an ganz ungewohnter Stelle, so ein graues Kleines herausgekrabbelt kommt. Ich nähere mich behutsam, und siehe da – es ist unser kleiner Kater. Er klettert auf der kurzen steilen Böschung an der Längsseite der Holzstämme herum, beschnuppert da einen Grashalm, da ein Blümchen, und dann interessiert er sich wieder für ein kugeliges Stück Erde, das er mit dem Pfötchen anstößt und ins Rollen bringt.

Plötzlich aber erschlafft seine Tätigkeit. Gähnend zeigt er die kleinen spitzen Zähne. Die Augen verkleinern sich zu Schlitzen, durch die er nur noch ein wenig hindurchblinzelt. Schließlich liegt er ausgestreckt auf der Böschung, um im Schatten des Holzstoßes seinen Mittagsschlaf zu halten.

Es ist noch keine Minute vergangen, dass der kleine Kerl vom Schlaf überwältigt in das spärliche Gras gefallen ist, da krabbelt auch schon das zweite Kätzchen an derselben Stelle unter den Rundhölzern hervor. Es ist auf der Suche nach dem Spielgefährten. Und dieser liegt faul im Gras und schläft. Schade, dass ich keine Filmkamera oder wenigstens einen Fotoapparat bei mir habe. Denn nur selten besteht die Gelegenheit, eine solche Szene, die den liebevollen Umgang zweier Kätzchen in so eindrucksvoller Weise belegt, festzuhalten. Die Kleine läuft geradewegs auf den vermissten Spielgefährten zu, legt sich daneben und kuschelt sich an. Eine Vorderpfote kommt auf den Körper des Brüderchens – wie bei einer Umarmung. So vereint schlafen sie im Schatten der Mittagssonne – am Rande des alten Holzstoßes.

Als ich Helga mein kleines Erlebnis erzähle, errät sie gleich, worauf ich hinaus will. „Meinetwegen“, sagt sie, „nehmen wir beide! Es wäre bestimmt sehr schön … Aber du musst dann mit einem von beiden zum Tierarzt gehen. Du weißt, was passiert, wenn sie größer werden.“ Helga lässt mir Zeit zum Überlegen. „Wenn du das machen willst … Ich mache es nicht!“, sagt sie dann. So liegt die Entscheidung also bei mir, und man kann sich schwer für eine Sache entschließen, die man nicht richtig kennt. Die Unsicherheit macht mich schnell wankelmütig. „Das Beste wird wohl sein, es bleibt dabei. Wir nehmen den kleinen Kater!“

Der milde Abend verlockt zu einem Spaziergang. Durch ein kleines Tal des hier angrenzenden Hochwaldes fließt der Milchbach. Dort könnten wir nach ein paar größeren flachen Steinen für unseren Garten suchen. Wir wählen den Weg über den Wäscheplatz und biegen von da aus auf den schmalen Fußweg ein, der schräg durch die Gärten in den dahinter liegenden Fichtenwald führt. Linker Hand taucht Hofmanns Gartenlaube auf. An der Rückwand sind Bretter zu einem kleinen Stapel aufgeschichtet und mit Dachpappe abgedeckt. Ich schaue beim Vorübergehen über die Zaunlatten hinweg.

„Sieh mal, wer da sitzt!“ Es ist unser kleiner Kater. Auch Helga hat ihn nun auf dem Bretterstapel entdeckt. „Da ist ja unser Kleiner!“ Ich lege meinen Arm über Helgas Schultern, und wir schauen uns den kleinen Kerl noch einmal richtig an. Als wir dicht an den Gartenzaun treten, um in seine Nähe zu kommen, steht er auf, weicht ein paar Schritte zurück und beobachtet uns. „Weißt du denn, dass wir dich mit zu uns nehmen? Weißt du das?“, fragt Helga, als würde sie wirklich eine Antwort von dem Kätzchen erwarten. Der Kleine aber setzt sich wieder und schaut uns mit seinen großen runden Augen ungläubig an.

Man merkt schon deutlich, wie die Tage kürzer werden – in der zweiten Hälfte des Monats August. Als wir uns zum Schlafengehen in mein Zimmer begeben, liegt längst Finsternis über dem alten Holzstoß. Wir kuscheln uns auf der schmalen Couch aneinander wie die beiden Kätzchen.

„Hast du dir denn nun überlegt, wie wir unseren kleinen Kater nennen wollen?“ Schon ein paarmal drängte Helga mit dieser Frage. „Ich habe das Kätzchen aussuchen dürfen, und du bist für den Namen verantwortlich!“ „Charli“, schlägt sie vor. „Das klingt doch sehr lustig!“ Ich bin schon ziemlich müde und möchte das schwierige Problem gern noch einmal verschieben. Aber Helga lässt nicht locker, als wäre es nun unaufschiebbar. Ich will sie nicht verärgern. Wir gehen noch einmal alle Katzennamen durch, die uns gerade so einfallen. Peterle, Purzel, Mingo, Mohrle. „Na, Mohrle passt ja nur zu einem schwarzen Kätzchen.“ Ich überlege: Mohrle? Mohrle?

Über den Anfangsbuchstaben M komme ich schließlich zu dem Namen. „Ja, der Name würde mir gefallen!“ Helga ist auch sofort einverstanden. „Da wird er bestimmt ein ganz Frecher!“ Ich merke, wie sie sich freut, dass das Problem nun endlich gelöst ist. Wir haben den Namen für unseren kleinen Kerl: MORITZ!

Unser Moritz

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