Читать книгу Gustave Flaubert: Goldenes Meer - Bernd Oei - Страница 10

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1 Prolog: Versuch einer Annäherung

Zu den Grenzgängern zwischen philosophischen Anspruch und poetischer Verarbeitung zählt zweifellos der vielleicht größte Stilist des 19. Jahrhunderts, Gustave Flaubert. Mit seinem Stil wird eine künstlerische Reaktion auf die Märzrevolution ersichtlich, ein autopoietisches Konzept der Moderne, das unter dem Phänomen der Tod des Autors1(Blanchot) eine neue Rezeptionsästhetik begründet. Exemplarisch veranschaulicht dies „Bouvard und Pécuchet“, ein philosophisches Experiment, das die zeitgenössische Wissenschaft belletristisch verarbeitet und hinterfragt. Die omnipräsente Stellung der Desillusionierung als Leitmotiv Flauberts ́ wirft erkenntnistheoretische Fragen auf und führt ihn über die phänomenologische Methode zum Genre des philosophischen Romans, der als Vorbild u.a. für Proust, Malraux und Camus diente.

Kaum ein Schriftsteller investiert mit ähnlich viel Aufwand Recherchen für einen Roman. Echt zu sein ging Flaubert über alles. Beispiellos erscheint die Akribie für einen perfekten Satz. Obschon Flaubert keinem Beruf nachging, schrieb er ein verhältnismäßig überschaubares Werk, klein gegenüber denen von Balzac, Zola oder Hugo, das allerdings seinen Fingerabdruck hinterließ. Für die meisten seiner Werke benötigte er durchschnittlich sieben Jahre.

Auf das Publikum bzw. seinen Geschmack verzichtete Flaubert freiwillig. Er sah sich allein dem Anspruch seiner Ästhetik verpflichtet und wirkte in diesem Sinn als erster Prophet der l´art pour l´art, zeitgleich mit seinem lyrischen Pendant Baudelaire, mit dem ihm nicht nur ein Prozess um die Sittenwidrigkeit ihrer Literatur und eine lose Freundschaft verband, sondern vor allem die gleiche ästhetische Gesinnung, die das Tor der literarischen Moderne aufstieß.

Die zwei Orientreisen für „Salambô“ und die lange Genesis des Ehedramas und Sittengemäldes „Madame Bovary“ verdeutlichen den Bildungsaufwand und die Vielzahl an Querverweisen auf den Kanon der Poesie und Philosophie.

Der Roman „Die Erziehung des Herzens“ zeigt, wie sehr die politischen Umstände das Konzept des Schreibens verändern und die Form der Karikatur zeitigen. Das mehrfach umgestaltete Lesedrama „Die Versuchung des Heiligen Antonius“ als Flauberts persönliches Lebensthema bewegt sich im Grenzbereich von poetischem, religiösem und philosophischem Diskurs: ohne entsprechende Vorkenntnisse bleibt sie unverständlich.2 Paradigmatisch steht der Antonius für ein eigenes Genre: das handlungsarme Drama, dessen Leitmotiv die Kraft der Illusion an sich ist. Für genau das hält Flaubert auch die Religion: eine kreative vergoldete Blase.

Der Großteil der Arbeit beruht auf textinterner Werkinterpretation, ergänzt durch biografisches Material (Briefe und Tagebuchnotizen), hauptsächlich in seiner Korrespondenz mit Sand3, Colet und Turgenjew. Die Romane bieten Vergleiche an mit seinen Vorgängern Stendhal und Balzac und seinen Nachfolgern Zola Maupassant und Roth.

Nietzsche sprach vom Fruchtbarwerden des Hasses auf die Bourgeoisie, der nicht konstruktiv zu werden vermag.4 Thomas Mann unterschied prinzipiell Romane, die etwas über das Leben des Autors aussagen, weil sie vorwiegend von Selbstdarstellung getragen sind, von jenen, die wenig über den Autor verraten und stattdessen ein Kaleidoskop der Zeit sind, wozu er Flaubert zählte.

„Moderne“ ist eine unpräzise Terminologie; paradoxerweise fühlten sich ihre wichtigsten Vertreter nicht wohl in ihr und müssten daher als Kritiker der Moderne bezeichnet werden, zumal Flaubert zu konservativen Ansichten neigte, obgleich er stilistisch mit zahlreichen Tabus brach. Seine immer wieder zitierte Selbstaussage: Madame Bovary c´est moi entbehrt nicht der tragischen Ironie, da ihr Schöpfer ein erklärter Feind der Emanzipation war und Sentimentalität verachtete. Begrifflich aber steht seine Literatur zwischen dem Realismus Balzacs, dem Psychologismus Stendhals und dem Naturalismus Zolas. Daher hat man, hierin Kafka vergleichbar, einen eigenen Gattungsbegriff erfunden: den Flaubertismus. Denn der Traum spielt die dominante Rolle in seiner Kunst und er währt mitunter über seine Entzauberung hinaus.

Zu den prägenden Begegnungen Flauberts, die ihn träumen ließen, gehörte auch Elisa Foucault (Madame Schlésinger), die als Frauenideal wesensbestimmend und leitmotivisch sein gesamtes Werk bestimmte, indem sie die innere Realität des Autoren besetzte. Illusionen erweisen sich in seinem Werk als realer und dauerhafter als die objektive Wirklichkeit. Flaubert: „Man muß sich daran gewöhnen, in den Menschen um uns herum nur Bücher zu sehen.“5

Zu den Grenzgängern zwischen Philosophie und Literatur gehört auch Rilke, der sich zu Flaubert bekannte: „Sie lesen Balzac. Ich habe mich immer an Flaubert gehalten. So las ich eine wunderbare frischere Fassung der Education Sentimentale, die mit dem späteren Roman kaum etwas gemein hat... unbesonnenes Herzwesen kommt darin nur in köstlicher Übersetzung vor.“6 Dem Zitat ist zu entnehmen, dass Rilke beide Versionen von „Die Erziehung des Gefühls“ kannte: um die Versionen leichter unterscheidbar zu machen, wird die erste Version „Die Erziehung des Herzens“ tituliert.

Wie für alle großen Stilisten gilt: Flaubert zu übersetzen ist nahezu unmöglich, seine Virtuosität geht immer verloren. Flaubert selbst rezipierte - vorwiegend antike Literatur - im Original, weil er um den substanziellen Einfluss der Grammatik wusste. Lesen bedeutet ihm, „Literatur machen“. Walter Benjamin sah sich durch seine Übersetzung Prousts zur Auseinandersetzung mit Flaubert genötigt; er merkte in seinen „Literarischen Notizen“ an, Flaubert habe neben Baudelaire das Konzept des Flaneurs und Voyeurs wie kein anderer umgesetzt und die „Verwichenheit der Naivität“ von dem Autoren genommen. Analog kommentierte Theodor Adorno, Flaubert wäre von „unverwelkter Aktualität“. Sartre unterschied in den Dienst der konkreten Veränderung der Gesellschaft stellen (littérature engagée) von jener Flauberts indifferenten Haltung (littérature desengagée), die sich in purem Ästhetizismus verliere und ohne gesellschaftlichen Wert bleibe, im Gegensatz zu Victor Hugo.

Sartre irrte, denn mit Flaubert setzte ein Bewusstsein dafür ein, dass sie sich keinesfalls ideologisieren lassen dürfe. Hugo schreibt über die Wissenschaft, Flaubert, der ihn einen Dilettanten heißt, schreibt mit wissenschaftlicher Akribie. Hugo macht Verlag und Verleger und dem Publikum zuliebe zahlreiche Kompromisse - Flaubert weigert sich, nur einen Satz für den Erfolg zu ändern - „nicht ein Komma“, schreibt er seinem Verleger Michel Lévy. Für die Autonomie der Kunst nimmt er Scheitern billigend in Kauf: eine solche Haltung ist politisch, auch wenn sie keine Partei ergreift.

Die vorliegende Monografie beginnt mit den historischen. politischen und biografischen Rahmen für die Kunst des Romanciers; dem sich die Kritiken Nietzsches und Sartres anschließen. Sie führt zur Interpretationen seiner sechs Romane, komplettiert durch drei Erzählungen. Jedes Werk wird mit mindestens einem anderen verglichen. Kommentare Flauberts aus seiner Briefkultur bringen eine weitere Facette Flauberts zum Vorschein.

1 I. Flaubert und seine Zeit

1 I. 1. Ein Grenzgänger – Analogien zu Camus

Grenzgänger zwischen den Epochen und fernab von Klischees „müssen ankämpfen gegen die neurotische Furcht, nicht perfekt zu sein – erinnern Sie sich an Flaubert, der seine Salambô mit neun Jahre Studium verdarb. Geschichte kann man nie genau reproduzieren-wer weiß denn die Wahrheit – wir müssen sie erfinden.“7 Stefan Zweigs Zitat verrät drei Elemente des Flaubertisme: das akribische Arbeiten, das neurotische Streben nach Vollkommenheit im Stil und den Zwang, es nächstes Mal besser zu sagen. Zweig, für den Balzac das Maß aller Dinge unter den französischen Romanciers beinhaltet, unterteilt in seinen drei Monografien über jeweils drei literarische „Baumeister der Welt“ in dämonisch-mephistophelische und faustisch-tellurische Figuren; dabei stellt er eine dionysische Grundhaltung bei Flaubert fest, die ihn in Nähe von, Kleist, Dostojewski, Hölderlin und Nietzsche rückt. Einen „kalten Romantiker“ heißt ihn Camus.

Zweig wird wie Rilke oder die Mannbrüder in jene Zeit der Moderne und des Realismus hineingeboren, die in Flauberts Werken gründet. Im Mittelpunkt seines Realismus steht nicht äußere Erfahrung, sondern das innere Erlebnis. Das Ringen um den wahrhaftigen Ausdruck seelischer Vorgänge tritt an die Stelle der Gesellschaftsbeschreibung und ihrer Veränderung.

Flauberts Grenzgänger-Persönlichkeit ist gespalten in einen melancholisch träumerisch veranlagten Teil und einen kulturkritischen Visionär, der „die Geschichte der Kunst als die des Fortschritts ihrer Autonomie begreift“ und Illusionstechnik induziert : „Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft."8 Er destruiert die Kulturindustrie und deren Behaglichkeit.

Flaubert lebt in der Industrialisierung; Telegrafen und Fotografen revolutionieren die Welt, die Eisenbahn verdrängt das Pferd. Raum und Zeit wachsen ineinander; das Gesicht Paris wandelt sich während der Hausmannisierung unter Napoleon III, so dass es der aus dem Exil zurückgekehrte Hugo nicht wiedererkennt. Ein Leitmotiv Flauberts bildet die zunehmende Entfremdung durch schrumpfende Entfernung, das Auseinanderklaffen von Lebenszeit und historischem Bewusstsein, die perspektivische Verlangsamung der Zeit durch rasende Beschleunigung. Mit Hegel und Hurra oder Glanz und Gloria zieht man in Kriege und erobert Kolonien, weil alles machbar ist und darum auch erlaubt erscheint. Nationen ersetzen Reiche, Erfindungen zerstören Traditionen. Kein Gebäude, keine Institution bleibt vom Wandel verschont. Soziale Brennpunkte führen zu Massenaufständen in Frankreich im Namen der Freiheit, doch was progressiv beginnt, endet in Restriktion und Restauration. Flaubert erkennt den Zusammenhang von Massengesellschaft, Massenvernichtung und Massenmobilität. Gegen so viel Realitätssinn setzt er die Einbildungskraft: „Imaginieren genügt, damit der die erträumte Gestalt sich vage verzehrt.“9

Bataille untersucht in seinem Werk die Wechselwirkung von Traum, Fantasie und Utopie. Er sieht in Flauberts Poesie den einzigen Weg zur Wiederherstellung des verlorenen Glücks: „In der Glückseligkeit der inneren Bewegungen ist die Existenz im Gleichgewicht. Das Glück verliert sich in der atemlosen, lange vergeblichen Suche nach dem Objekt.“ Das Sein ist nirgendwo und gleichzeitig überall und jederzeit. „Die Erfahrung erreicht schließlich die Verschmelzung von Objekt und Subjekt, indem sie als Subjekt Nichtwissen ist, als Objekt das Unbekannte.“ Flauberts Helden handeln passiv und fatalistisch, doch gleichen sie mehr Sisyphos als Prometheus. Nicht zu handeln muss nicht Aufgabe oder Gleichgültigkeit bedeuten, sondern Skepsis gegenüber der Fortschrittsideologie. Camus ist der optimistische Skeptiker, Flaubert der Misanthrop.

Camus' Maxime: „Ich bin, also empöre ich mich, aber wir sind allein10 trifft auch auf Flaubert zu. Daher nimmt der Gedanke der Erziehung des Herzens einen großen Raum in ihrer beider Literatur ein. Das Herz wird zur terra incognita als die unbekannte, verdrängte oder unbewusste Natur unseres Wesens. Sie zu erforschen ist nur über den Umweg der Beobachtung und des Selbstexperiments möglich, um die Einstellung zu verändern und polymorph zu gestalten. Drei Wege stehen zur Wahl: Mit dem Floß lässt man sich treiben, bleibt den Kräften der Natur ausgeliefert. Mit dem Segelschiff lernt man, auf Umwegen, doch mit Einflussnahme ans Ziel zu gelangen. Mit dem Motorboot gelangt man linear ans Ziel, entwickelt sich dabei aber nicht. Dialektik des Stillstands.

Nicht zufällig findet Flaubert im Maghreb, in der Wüste, seine ideale Landkarte (mind map). Das Licht ist seit der Antike Metapher für Erkenntnis, die Wüste die Geburtsstätte aller großen Weltreligionen, äußere Armut sieht sich häufig mit innerem Reichtum verbunden. Die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf Glück und Freiheit wird als Les Lumières bezeichnet. Camus und Flaubert beschreiben, wie das Licht die Vernunft den Menschen blendet, wie die Hoffnung täuscht, die Freiheit verkommt. Sein, Haben und Vorstellung machen den Unterschied.

Auf beide Autoren trifft Schopenhauers Aphorismus zu: „Der Mensch gleicht einem wilden Tier. Wir kennen ihn bisweilen nur im domestizierten Zustand.11

Was Flaubert das „paradoxe Schreiben“ heißt, weil die Erkenntnis erst Leiden erzeugt, nennt Camus das „Aushalten des Absurden“. Die Veränderbarkeit betrifft allein die innere Wirklichkeit, die Pascal als die Vernunft des Herzens bezeichnet. Man erreicht nie ans Ziel, aber man gelangt auf einen Weg. Für die wahre Erkenntnis wird Täuschung notwendig und der Irrtum erweist sich als die tiefere Wahrheit. Die Geschichte stilisiert häufig den Weisen (den Einäugigen unter den Blinden) zum Außenseiter. Flaubert ist ein Prophet ohne Lehre und konventionelle Moral. Die äußere Erscheinung trügt; dieselbe Erkenntnis vermag zu zerstören oder gebiert neues Leben. Er zwingt sich zu einer vorurteilsfreien Betrachtung und konfrontiert unablässig verklärende Romantik mit pragmatischer Sachlichkeit und unitaristischer Nüchternheit. Die Bewertung überlässt er dem Leser, nur so verbleibt die Reflexion rein. In seinen Tagebüchern und Briefkorrespondenzen dagegen kehrt er nostalgische oder sentimentale Seite hervor.

Das Absurde, so Camus besteht darin, mit logischen Mitteln die Irrationalität zu erforschen. Ein Gefühl der Ohnmacht ist beiden Autoren zu eigen. Zwei Willensformen, reduziert auf den zum Schein (Illusion) und zur Wahrheit (Desillusionierung) ringen miteinander. Dies führt zu einem Konzept der Täuschung, verbunden mit der Negation des Ideals. Für Flaubert liegt in einem Ideal wie Freiheit keineswegs Befreiung vor, sondern das Gegenteil, die Enttäuschung. Die Sehnsucht nach Einsamkeit ist gleichzeitig ein Erbe der Romantik (Kult des Genies und des Individuums) als auch real erlebter Kränkungen. Das Auseinandertreten von biografischen und künstlerischem Selbstentwurf ist unausweichlich: Schreiben ist nur in der Einsamkeit möglich.

Etwa hundert Jahre nach Flaubert erlebt Camus die dreifache historische Desillusionierung einer großen Idee (der Gerechtigkeit) und eines Ideals (der Freiheit) im Kommunismus, im Humanismus und im Existenzialismus. Die Tyrannen siegen, der Krieg hat das letzte Wort, seine Heimat versinkt im Terrorismus. Unentwegt solidarisiert er sich der Seite der Verlierer. Wie Flaubert während der Pariser Commune erlebt er ein okkupiertes Paris unter Deutschen, fühlt er sich als Chronist des Niedergangs, spürt den Verlust menschlicher Werte, wird zum Kritiker unbequemer Wahrheiten, ringt um den Wert von Freundschaft und ist tief bestürzt von dem politischen Verrat an seiner Generation. Camus und Flaubert verbindet die Ablehnung aller Dogmen und Vulgarität.

Bezüglich ihrer Ästhetik finden sich sowohl Parallelen als auch Unterschiede. „Kunst ist eine Bewegung, die gleichzeitig bejaht und verneint ... eine in Form gebrachte Forderung nach Unmöglichkeit.12

In „Kunst und Revolte“ bezeichnet Camus den Schriftsteller als Revolutionär und Schöpfer, der vor allem dem Stil und der Glaubwürdigkeit gegenüber verpflichtet ist: „In der Kunst, sagt Flaubert, soll man die Übertreibung nicht fürchten. Aber er fügt hinzu, die Übertreibung müsse stetig und im Verhältnis zu sich selbst sein. Wenn die Stilisierung übertrieben ist und sichtbar wird, ist das Werk reine Sehnsucht: die Einheit, die sie zu gewinnen sucht, ist dem Konkreten fremd. Wenn die Realität dagegen im Rohzustand geliefert wird und die Stilisierung unbedeutend ist, wird das Konkrete ohne Einheit dargeboten. Die hohe Kunst, der Stil, das wahre Gesicht der Revolte liegt zwischen diesen beiden Ketzereien.“

Der Widerspruch liegt darin, dass der Mensch die Welt ablehnt, aber nicht zurückweist, so dass er, wenn er sich empört und damit revoltiert, sich zur Stimme dessen macht, was gesagt und gehört werden muss und damit zum Anwalt der Gerechtigkeit. Er darf niemals die Gegner mit den gleichen Waffen der Gewalt unterdrücken, dem Ressentiment erliegen. Camus sieht in Flaubert einen expressiven „van Gogh der Sprache“. Einen Künstler, der den Schöpfer nicht nach der Welt beurteilt, die er hinterlassen hat, sondern nach jener Sphäre des Möglichen und des Traums. Ein „Rembrandt, der zwischen Schatten und Licht“ steht und diese Dissonanz für sich künstlerisch gestaltend zu nutzen versteht. In „Die Heilige Versuchung des Antonius“ liegen drei Aspekte zugrunde: Die Hölle ist die stete Versuchung des Schriftstellers, weil das Schöne die Moral nicht kennt. Doch diese Hölle des inneren Exils, der Verbannung, währt nur kurz. Nicht die Qual am Bewusstsein, sondern die Qual am Selbst ist die wahre Hölle menschlicher Existenz, denn sie inkludiert die Unfähigkeit zu lieben. Die Negation der politischen und historischen Epoche des Nihilismus führt dazu, dass er an nichts mehr glaubt und sich für nichts engagiert.

Der zweite Aspekt besteht in der Diskontinuität; wer sich selbst treu bleiben will, muss sich beständig wandeln, doch zumeist obsiegt die permanente Selbstverleugnung. Bei Flaubert wird deutlich: Die Kunst der Imagination tritt an die Stelle der Religion und des allwissenden Gottes. Sicherheit verkommt zur Zerstreuung und zur Zerfallenheit, doch in der Kunst vollzieht sich Neugeburt des Menschlichen. „Wer die Küste ablehnt, muss doch mit dem Meer übereinstimmen.“ Auf jede Negation folgt eine neue Affirmation, auf den Tod Gottes ein neuer Götze. Die Kunst, so Camus, tritt in Wettstreit zu Gott.

Es ist kein Zufall, dass Flauberts intensivste Freundschaft Turgenjew gilt. Beider Kritik entzündet sich am Nihilismus, den die Wissenschaften auslösen. Obgleich Flaubert erkennt, dass Kultur nur dort möglich ist, wo der Nihilismus überwunden wird, bleibt er im eigenen Ressentiment gefangen. Besonders deutlich macht dies die Figur des Homais aus „Madame Bovary“ – weil der Apotheker in seiner maßlosen Vergottung des Wissens sich am Menschen vergreift und ohne es zu merken zum philisterhaften Esel wird. Sein vergoldetes Messingschild und der amputierte Gehilfe erscheinen als symbolische Absage an den Szientismus, dem Flaubert doch selbst unterliegt.

Politisch kann Flaubert die Wunden der gescheiterten Märzrevolution nie verschmerzen, während Camus´ Widerstand nicht erlahmt. Weder zieht sich nicht in die Isolation zurück, noch resigniert er und öffnet sich dem Neuen, während sich Flaubert dem kategorisch verschließt.

Flauberts´ größter Feind, die Langeweile ist ein Symptom der zunehmenden Dekadenz des Bürgertums im späten 19.Jahrhunderts. Camus´ inneres Exil bleibt fruchtbar, weil er trotz aller Enttäuschung immer den Dialog sucht und weil der Atheist Gott leugnet, niemals aber die Schöpfung, den Zauber der Natur. Der Katholik Flaubert, invers, glaubt an Gott, aber nicht an seine Schöpfung; der Mensch ist nur Makel oder Irrtum für ihn. Hinter allem steht mangelnde Selbstannahme und Selbstwertgefühl, die méchant, die bösartig macht und keine Lösungen mehr sucht, sondern nur Auswege. Während Flaubert den Menschen samt seiner Zukunft auf-und preisgibt, demzufolge in Pessimismus verfällt, nutzt Camus seine Skepsis, um mit dem Absurden, das sich aus der Welt nicht tilgen lässt, umzugehen. Er erkennt die Krisis als Chance zur Umkehr, nimmt die Katastrophe wörtlich als Umkehr hin zu eine, wie er es nennt, mediterranen Denken. Solche Inseln des Glücks kennt Flaubert nicht. Ein Satz wie „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“ kommt Flaubert nicht über die Lippen. Stattdessen formuliert er: „Es gibt Momente, … in denen ich getrost zusehen kann, wie die Menschheit untergeht.“13

1 I. 2. Sartre: Flaubert - der Idiot der Familie

Es muss überraschen, dass die detaillierteste Monografie über Flaubert von seinem Kritiker Sartre stammt, die sich auch in ihrem provokanten Titel niederschlägt. In seine fünfbändigen Studie, auf dreitausend Seiten „Flaubert-der Idiot der Familie“, schreibt Sartre im Sinn des historischen dialektischen Materialismus, er könne einen Autoren nur verstehen, wenn er alles über seine Zeit und die ihn prägenden Umstände wisse und bezeichnet dies als Totalisierung des Objekts. Als Summe aller ablaufenden Handlungen und prozessualer Verlauf der Bewusstwerdung „So ist also Dialektik totalisierende Aktivität ... als Einheit der totalisierenden Handlung, welche alle Prozesse einschließt, welche diese Handlung ermöglichen und bedingen und begrenzen.“ 14

Bereits in der „Kritik der dialektischen Vernunft“ äußert sich Sartre zum Fall Flaubert: „Madame Bovary erklärt Flaubert und nicht umgekehrt.“ Der Schriftsteller wird zur Projektionsfläche einer Selbstinszenierung und Fallbeispiel für einen gescheiterten Lebensentwurf. „Der Mensch ist niemals ein Individuum, sondern ein Allgemeines von seiner Epoche totalisiertes Wesen.“ Flaubert ist anti-hegelianischer „Schöpfer des modernen Romans ... am Kreuzpunkt aller heutigen literarischen Probleme.“

Sartre macht, wie auch in seiner Studie über Baudelaire, die extrem unglückliche Kindheit Flauberts verantwortlich für seinen Trotz und infantile Sturheit. Die Ablehnung des Vaters und Lieblosigkeit der Mutter prägen nicht nur seine Kindheit, sondern auch seinen missgünstigen Blick auf die Menschen. Sartre zentriert die Angst vor dem Wahnsinn als Ausgangspunkt für Flauberts wiederkehrende Selbstmordfantasien, die bis ins hohe Alter anhalten. Geprägt von Inferioritäts-und Minderwertigkeitsgefühlen, in den Augen seiner Familie nur der idiotische Versager und Stotterer zu sein, verkörpert Flaubert laut Sartre – angelehnt an la servitude volontaire den freiwilligen passiven Gehorsam, wie bei einem Sklaven, der sich nicht gegen seinen Herren empört. Indem er seinen Vater nicht anerkennt, verleugnet er zugleich sich selbst. In dieser doppelt negativen Negation hat Leiden Sinn und totalen Unterwerfung wird zum Selbsterhaltungstrieb. Flaubert will, sein Subjekt (das Ich des Kindes) durch Aneignung des Objekts (die Eltern) wiedergewinnen. Wenn Zustimmung und Revolte, wie in seinem Fall gleichermaßen unmöglich sind, bleibt die Unselbständigkeit zurück.

Gehorsam ist für Sartre zugleich Nicht-Sein der eigenen, verweigerten Existenz und Sein in Form von Selbstbestimmung, welche auf sich genommen wird und gesteigert in das Verlangen nach Selbstmord führt. Der Theorie nach nährt die Romantik diesen Trieb bzw. die Sehnsucht nach Auslöschung des Ichs. In seinem Frühwerk, exemplarisch in „Das Herz eines Irren“ thematisiert Flaubert den Freitod und auch „Die Verführung des Heiligen Antonius“ (drei Fassungen) inkludiert ihn in einer Version. Der imaginäre Suizid stellt die Kulmination der Zerstörung dar und diese ist nur die Folge einer negativen Schöpfung. Da jede Negation eine Affirmation voraussetzt hätte es aktiven Widerstands bedurft, um engagierte Kunst zu erzeugen.

Flaubert macht die Erfahrung, sein Traum als auch die Poesie bleiben von der Herrschaft ausgespart. Der Rückzug ins Innere wird so zu seinem übersteigerten Raum der Freiheit. „Auf dem Umweg eines möglichen Selbstmordes gewinnt das Kind seine Existenz aus sich selbst.“15 Suizidfantasien transformieren sich mit der Zeit in sexuelle Unterwerfung, die sich in lethargischen männlichen Protagonisten und dominanten Frauentypen widerspiegelt Flaubert, der „ständig von der Revolte träumt“, schiebt sie durch seine Passivität nur auf.

Die Erlösung folgt durch die unheilbare Krankheit der Epilepsie; das traumatisierte Individuum flüchtet sich in diese Krankheit. In der autobiographisch gefärbten Erzählung „November“, fallen Sätze wie: „Er dachte einen Augenblick daran, ob er nicht Schluss machen sollte“ Flaubert transformiert seine Selbstentfremdung in eine „unaufrichtige Unterwerfung“; er kokettiert mit dem Suizid als eine Freiheit, an die er im Grunde gar nicht glaubt. Für Sartre gefällt er sich wie viele von der Februar-Revolution Enttäuschte in der Rolle des Opfers,

Der Hass auf das Bürgertum ist folglich Selbsthass mit einem Vaterkonflikt als biografische Beigabe. Durch Verzichtet auf alles, was dem Vater gefallen würde, schadet sich der junge Autor selbst und bleibt trotz seines Künstlertums ein Bourgeois. Er verwirft sozialen Aufstieg, Karriere, Engagement, doch nur, um sich zu Hause zu langweilen: „Außerhalb des Familienentwurfs, in dem er sich entfremdet hat, gibt es bei Gustave keinen wirklichen primären Entwurf, er verweigert sich ... er ist einfach krank, faul und projiziert sich nur noch im Schreiben.“ Die Folgen sind Fatalismus und Abwertung der anderen, auf die Flaubert stets als Dilettanten herabschaut. Dabei verurteilt er sich zur Passivität. Mit Sätzen wie: „Ich bin nicht geschaffen um zu leben“ entwirft sich der Zwanzigjährige negativ, d.h. als machtlos gegenüber seinem stets wachsenden Unglück, das er selbst nährt. Dabei entsteht eine weibliche, an Madame Bovary erinnernde Grundhaltung, „alles bis zum Schlimmsten zu durchleiden“ und somit aus der Schwäche eine Tugend zu machen.

Hinter seiner Passion für das Altgriechische und Latein und der Weigerung, Shakespeare zu lesen, steht die Faszination der Ananke; Flauberts Kult, alles schicksalhaft und zwanghaft zu erleben. Dass er Momente der Erinnerung einfriert und alles vermeidet, um diese zu überprüfen oder etwas zu wagen scheint eindeutig, denn die erschaffene Traumwelt zeitigt keine Helden, sondern im Grunde nur Narren und Träumer, was für Sartre auf dasselbe hinausläuft. Hinter dem sich das Bedürfnis nach Ohnmacht verbirgt. Die Faszination für Okkultismus (Ägyptologie, Swedenborg) zeitigt einen bizarren Synkretismus mit der bereits jugendlich rezipierten Antike und Katholizismus.

Ein Hang zur Transsexualität die Frauenrolle, weil er sich mit ihrer unterdrückten Art und devoten Rolle identifiziert. Bereits seine erste Frauenfigur Marguerite in der Erzählung „Un parfum à sentir“ (1836), das noch im romantischen Stil gehalten ist und nichts von seiner Originalität verrät, spielt, wie der Titel verrät, mit der Doppeldeutigkeit der Sprache: sentir inkludiert riechen, empfinden, erinnern – der Duft amalgiert die drei Tätigkeiten, die allesamt rezeptiv sind. Die Handlung nimmt Madame Bovary vorweg: eine unglückliche Frau verliert sich zunehmend in einer Traumwelt, am Ende begeht sie Suizid.

Die Eigenschaften (plump, hässlich, voller Angst und Lebensekel) spricht er sich selbst zu. Sartres Maxime lautet: „Man muß handeln, um zu sein“; Flauberts könnte lauten: „Man muss träumen, um zu vergessen, wer man ist.“ „Diese gefestigten Träume ersetzten die unmögliche Revolte: er stillte in ihnen irreal seine sexuellen Triebe.“ 16 Flauberts künstlerisches Sendungsbewusstsein fordert die totale Identifikation mit der Kunst und das religiöse Opfer an sie.

Nach dem Balbutismus stellt sich im Alter von 22 Jahren Epilepsie ein, die Flaubert in reiferen Jahren voraussehen und sogar beeinflussen kann. Die Krankheit gewährt ihm alle Freiheiten. „Diederich Heßling ist ein ängstliches und sensibles Kind, das dennoch seine ebenso zarte Mutter für ihre Schwäche verachtet.“ Der erste Satz aus Heinrich Manns „Der Untertan“ könnte nicht treffender Flaubert portraitieren, dessen betont männliches Auftreten auf Imponiergehabe und Kompensations-Aggressivität hinausläuft. Dies gilt auch für seinen kultivierten Hass auf die Bourgeoisie als Spießertum, das er doch selbst in Vollendung praktiziert: „An die Stelle der Dialektik von Haben und Sein wird er die Frage von Sein und Tun setzen.“

Flaubert wählt bevorzugt Passivkonstruktionen: „sich schreiben lassen“ anstelle von lesen oder „sich arbeiten lassen“, wenn er das Gelesene reproduziert. Äußerlich bildet der Orient, innerlich der weibliche Eros das Zentrum seiner Idealisierung, die zugleich eine Illusion von der makellosen Schönheit ist. Man liebt nur, woran man leidet, schreibt Flaubert und Makellosigkeit liefert eine unstillbare Sehnsucht, traurig wie eine glückliche Erinnerung.

Die Rezeption von 27 historischen Studien zu „Salambô“ steht in keinem Verhältnis zu den Recherchen eines Romanciers über seinen Stoff. Sartre hält Flaubert für einen notorischen Sammler, der nach Vollkommenheit strebt. Was Hegel in der Vernunft verabsolutiert und Marx im Kapital wird für den Schriftsteller aus Rouen die Kunst der Improvisation auf der Basis von Wissenschaft. Bestes Beispiel für die Engführung von Fantasie und akribischer Suche des Details liefert seine Begegnung mit Elisa Foucault, der Frau seines Lebens, der vielleicht einzigen, die er liebt. Flaubert lebt, um von ihr zu träumen und sich an sie zu erinnern, nicht, um mit ihr zu leben oder um sie zu kämpfen. Elisa Schlésinger bleibt nur im Traum oder im Verzicht auf ein gemeinsames Glück Quelle für Inspiration. Flaubert gesteht seinem Intimus Maxime du Camp, „daß er sie nicht liebte, solange sie seine Träume in makelloser Schönheit durch ihre lästige Gegenwart störte.“ Die reale Liebe erscheint ihm banal.

Sartre wendet auf Flaubert wiederholt hegelianische Dialektik aus dem Kapitel „unmittelbares und mittelbares Selbstbewußtsein“ an, und verteilt diese Abstraktionen auf Herr (Selbst, Subjekt) und Knecht (Bewusstsein, Objekt) in dem Schriftsteller. „Die geduldige Negation des Knechts durchdringt und verwandelt also nicht nur die Ethik des Herrn, sondern eher der Knecht produziert den Herrn.“ Flauberts Bewusstsein reproduziert durch seine literarische Arbeit den Autoren und subsituiert Leben vollkommen durch den Traum. Der Sinn des Lebens besteht darin träumen zu können, um darüber zu schreiben.

Poesie impliziert das reine „für sich sein“, der Autor wird Gott, verweigert sich in der realen Existenz. Der unendliche Konjunktiv totalisiert sich ausschließlich im Schreiben. Besonders seine Briefen an Louise Colet untermauern die orgiastische Freude am kreativen Prozess „Man muß korrekt und genau schreiben und rasend und leidenschaftlich“ Die Form entspricht dem Traum, der Stoff dem Leben; folglich ästhetisiert Flaubert die Banalität. Keine seiner Geschichten glänzt durch Originalität und das Grundmotiv wiederholt sich, doch diese Langeweile füllt der Autor mit einer beispiellosen Schönheit seiner Vorstellungskraft und Wortfindungskunst. Nur die Imagination erlaubt Vollkommenheit.

Man muss sich an Details abarbeiten um in die Dingwelt sich einzuschreiben. Nichts ist schlimmer als etwas nicht vollkommen schön zu sagen. Melancholie und Langeweile sind grundbestimmend; fatras und ennui bilden existenzielle Grundlagen für Flauberts Flucht in die „Phantasmagorie“.

Kaum ein Schriftsteller ist frei von der Furcht zu scheitern, indem er den eigenen Ansprüchen nicht genügt. Flaubert erlebt sein Fiasko mit „Smarh“, dem ersten Versuch seines Saint AntoineIch werde noch so weit kommen, daß ich Angst davor habe, keine Zeile mehr zu schreiben. Die Sucht nach Perfektion läßt einen noch verabscheuen, was ihr nahekommt.“17

Mit zahlreichen Briefstellen ist nachweisbar, wie tief die Versagensängste in Flauberts wurzeln. Er fürchtet die künstlerische Sterilität durch ein Übermaß an Rationalität. Als Maxime du Camp ihm weniger Geschmack und weniger Talent wünscht, um weniger unglücklich zu sein, erwidert er: „Der Schrecken des Schlechten überfällt uns wie ein Nebel ... Egal. Sorgen wir uns nicht um das Ergebnis, das Nichts.“

Auffallend häufig verwendet Flaubert die Worte tant pis, rien und le vide. Sartre konstatiert Flauberts zunehmende Depression bei der „Versuchung des Heiligen Antonius“, die zwanzig Jahre geschichtliche Studien verschlingt. Am Ende erscheint das Drama unverdaulich und unaufführbar. Kontrollverlust und Machtrausch kollidieren „Das imaginäre Kind geht ganz im erwachsenen Mann auf. Die Flut der Bilder lassen sich nie in einen Kanal zwängen. Philosophische Schriften erfordern mehr Disziplin als Einbildungskraft.“

Wie aus seinen Briefen hervorgeht, glaubt er, dass sein Tod als Dichter die Folge eines engagierten Bürgers wäre. Er begreift sich als Mittel eines höheren Zweckes der esthétique pure. Sartre spricht vom „Ensemble inerter Verpflichtungen“, einer pränatalen Identifizierung, die ständigem Kontrollverlust und Versagensängsten ausgesetzt ist. Die Epilepsie befreit und zwingt zugleich zu einem Biorhythmus, der Kontrollzwang und Selbstbeobachtung unterliegt, die der Autor „Hygiene des Schreibens“ nennt. Flauberts écriture ist einem Moment der Fixierung geschuldet. Er macht sich zum Objekt, reinen Gegenstand seiner Schaulust, der „Lust am Masochismus“ (Sartre). Reaktion erscheint Sartre als hysterische Überreizung der Nerven, die zur Imitation des Todes führt.

Flaubert beschreibt seine Anfälle mit Bilderwirbel, Strudel oder Schaum, „als ob mein Bewußtsein unterginge. Man fühlt sein Leben entschwinden.“ Seiner Ohnmacht entspricht der Wunsch nach völliger Passivität; eine kaskadenartige Flut von Bildern strömt auf seine Nerven ein; äußerlich ist er gelähmt, innerlich hyperaktiv. Die apokalyptischen Visionen ermöglichen den Saint Antoine. „Flaubert empfand seine Krankheit als physischen Orgasmus, als Lust am Untergang.“

Die Ambivalenz und Polarität von Wunsch und Furcht der Ichauflösung gehen aus Flauberts Briefen deutlich hervor: „Mein Ich ging unter“ heißt es nach einem epileptischen Anfall. Der Masochismus wird elementarer Bestandteil seiner Poesie. Andere sollen die Entscheidung treffen, handeln, er will nur empfinden. Sartre beschreibt ausführlich die Lust Flauberts an der Illusion für die Erziehung seines Herzens.

Maxime du Camp schildert Flaubert als bereits vor seinem epileptischen Anfall, der sein Leben von Grund auf ändert und bestimmt, in Apathie und Wunsch nach Totsein gefangen: „So wie ich ihn Februar 1843 ... antraf, sollte er während seiner ganzen Existenz sein, 20 Jahre später bewunderte er dieselben Verse, hatte dieselben Meinungen und Vorlieben.“18

Diese Polarität widerspiegelt sich indem Flaubert sein Ich auf jeweils zwei Figuren im Roman verteilt. In seiner „Erziehung des Herzens“ setzt Sartre die Figuren Jules und Henri mit Flaubert gleich. Jules entfernt sich von dem Ideal der romantischen Poesie, wie Henri vom Ideal der romantischen Liebe, so „daß er sich fast das Herz versteinert hätteAn der Oberfläche fließt sein Leben in der Monotonie der gleichen Arbeiten und der gleichen einsamen Bewegung dahin.“ In der vermeintlich negativen Reaktion einer Verweigerung liegt eine Strategie. Flaubert verliert die Kontrolle, als er selbst zum ersten Mal die Droschke lenkt und damit die Zügel in die Hand nimmt. Anschließend empfindet er physisch die totale Abhängigkeit von Bruder und Vater, und zugleich eine absolute Erleichterung und ein nie gekanntes Gefühl der Geborgenheit. Die Ohnmacht verliert ihren Schrecken, gewinnt sogar Verführung und Anziehungskraft.

Die „passive Zustimmung zum Schlimmsten“ befreit ihn vor Verantwortung und Enttäuschung. Sartre bezeichnet diesen Vorgang als „positive Strategie des Dolorismus“, denn die unmittelbare Folge des Sturzes ist das Entstehen des ersten bedeutenden Romans. Der schicksalsweisende Sturz in Folge des ersten epileptischen Anfalls ereignet sich im normannischen Dorf Pont l´Evêque, die Sartre die Spirale des Elbehnon bezeichnet nach dem Titel eines abgebrochenen Gespensterromans Flauberts im Anschluss an das Ereignis. Wenig später ereignet sich ein weiterer Anfall auf der Italienreise vor der Darstellung Breughels Heiligen Antonius; der ihn zu „Smarh“ inspiriert. Von Anfang an macht Flaubert die Erfahrung, dass er nach dem Anfall aufhört zu stottern und anfangen kann zu schreiben. Von Beginn an sieht er sich als Erfinder eines neuen Stils, denn sein wichtigstes Vorbild, Stendhal zu kopieren, genügt ihm nicht. „Der französische Stil ist nicht mehr aufrecht zu erhalten. Ich muss ihn neu erfinden“ schreibt er mit 24 Jahren.

Er sieht sich fortan nicht mehr als Visionär oder Moralist, sondern als akribischen Beobachter und substituiert das aktive Schreiben durch Ein-und Schreibenlassen (se faire écrire): „Man ist nicht mehr Mensch, man ist Auge.“19

Zu seinen Gewohnheiten gehört es niemals von Anfang an, sondern aus der Mitte aus zu lesen, zurück zum Anfang und dann bis zum Schluss. Aus Hamlet und King Lear entwickelt er deren Synthese „Madame Bovary“. Flauberts Aussagen gemäß, geht es bei Shakespeare darum, den Wahn nur vorzutäuschen, um zu reüssieren. Die Motive Stendhals Kristallisation durch Projektion Täuschung und Selbsttäuschung in der Liebe, behält Flaubert bei, montiert jedoch bekannte Motive, Zitate und Stücke hinzu. Er schafft aus Vertrautem Neues, entdeckt das Detail in seinem symbolischen mikroskopischen Gehalt.

Nichts überlässt er dem Zufall, alles ist kühl berechnet, folgt einer Architektur und präzisen Studien. Im Gegensatz zur spontanen und handlungsreichen Erzählkunst Balzacs und Zolas, deren Protagonisten siegen oder untergehen, handeln Flauberts Helden gar nicht, sondern sie sind Flaneure, Voyeure oder Dandys. Sachliche und emotionale Ebene interagieren synästhetisch.

Trotz der Wissenschaft, dem Spott und Sarkasmus lässt ihn die Religion mit Glauben als „passiven Entschluss“ (Sartre) nicht los „Sie ist ein weites Feld“, schreibt er an Louis Bouilhet - Fontane übernimmt den berühmt gewordenen Satz für „Effie Briest“, dem Pendant zu „Madame Bovary“ und bezieht ihn folgerichtig auf die Ehe. Flauberts Bibliomanie – auch der Titel seiner ersten veröffentlichten Erzählung 1836 lautet so - ist unerschöpflich: Der „Heilige Antonius“ enthält Sufismen, Veden, Sutren und christliche Mystik und die wiederkehrende Auseinandersetzung mit dem Tod. Aber auch alle anderen Romane erweisen sich als ein Zitatenlexikon für den gebildeten Leser.

Laut Sartre verarbeitet und konserviert Flaubert den Tod seiner früh, an der Geburt ihrer Tochter Caroline, verstorbenen Schwester20 als „materialistischer Platoniker21: sie dient ihm neben Schlésinger, der eine gewisse Ähnlichkeit zu Flauberts Schwester nicht abzusprechen ist, als Blaupause seiner romanesken Protagonistinnen, deren berühmteste Vertreterin Emma Bovary wird.

Nicht die Realität sondern allein die Vorstellung macht unser Sein. Obgleich Flaubert Schopenhauer erst nach 1848 zu lesen beginnt, kommt zeitgleich niemand seiner Philosophie, die Welt primär als Vorstellungskraft und die Wirklichkeit als konstruiertes Produkt der Idee zu konstituieren so nahe. Auf diese Analogie kommt auch Nietzsche in seiner Flaubert-Rezeption zu sprechen.

Die Wirklichkeit als antizipierte Möglichkeit vermag Hoffnung nie zu erfüllen, daraus resultiert Enttäuschung und Schmerz (Dolorismus). Flaubert hält die Torheiten der Ideen im „Lexikon der Dummheiten“ unter dem lakonischen Titel „Le Sottisier“ fest, deren Publikation posthum 1881 erfolgt. Die Übersetzung lautet amtsdeutsch „Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit.“ Die Grundidee lauter: wer viel redet hat wenig zu sagen. Verpackt im Bonmot: „Man muss bereit sein für ein Glas Wein zwei Gläser Essig zu trinken, vielleicht noch mehr“. Sartre wertet diese Aussage als negativen Agnostizismus, der Gebrechlichkeit nur vortäuscht, um die Krankheit in Pascals Wette zu transformieren: „Gott existiert, denn er allein macht Genie möglich durch totale Hinnahme des Leidens“.

Den Vergleich mit Pascal trifft bereits Heinrich Mann in seinem Flaubert-Essay; er ist der Metapher des deus absconditus (abwesenden Gottes) geschuldet, der den literarischen Stil Flauberts charakterisiert. Für einen angeblichen Atheisten beschäftigt er sich auffällig viel mit Religionen. ohne Krankheit und Unglück bilden den Preis für sein literarisches Genie. Ein weiteres Paradox: er liebt die Kunst, aber er glaubt nicht an sie. Im Gegensatz zu Baudelaire sieht er in der Kunst weder Religion noch Erlösung.

Sein Leiden an der Unvollkommenheit und Flüchtigkeit des Seins erklärt Sartre mit dem Verweis auf die Nähe zum Krankenhaus, in dem sein Vater als Chirurg tätig ist und dem Verlust zweier Geschwister in früher Kindheit. Schreiben wird zur Passion des Festhaltens „Er erfasst einen Gegenstand, eine dichte und reiche Bildergeschichte, die ihm eine ganze, leider verschwindende Welt zu totalisieren scheint und ihm eine vollständig befriedigende Sicht des Lebens bietet.

Flaubert nutzt die Wirklichkeit als Stimulation für das Mögliche und antizipiert in dieser ständigen Vorwegnahme (selbst der Erinnerung) Musils Möglichkeitssinn in „Der Mann ohne Eigenschaften“, der gleichfalls Erinnerungen erfindet. Sartre nennt dies die „chtonische Kraft“22, die auf das Gebären von Kunstwerken abzielt und die infernale Lust an der Selbstqual inkludiert. Flauberts historische Neurose, die Pathologie seiner Nervenkrankheit, führt (laut Sartre) zur l ́art pour l ́art, die auf Geringschätzung der gesellschaftlichen Wirklichkeit beruht. Sie mündet in eine „Dialektik des Nichts“, einer ästhetischen Evidenz, „sich in die Leere einzuschreiben durch die Dialektik des Unmöglichen“ 23: ein kontemplatives Wiedererkennen in der gestaltbaren poetischen Realität.

Flaubert schreibt, womit er sich identifiziert aus Mangel an Identifizierung mit der Wirklichkeit. Die Praxis ist ein Übergang vom Objektiven zum Subjektiven durch Verinnerlichung; dies gilt auch für die Neurose. Sie hat in Trauer, Krankheit und Scheitern konkrete Ursachen; diese führen über das Schreiben zu einer Neurose subjektiver Art. Erst nach 1848 erwächst daraus eine objektive Neurose, in der Flaubert Politik pauschal mit Korruption des Ideals gleichsetzt. Sartre setzt seine Obsession gleich mit subjektiver Neurose, Apathie mit objektiver Neurose – von beidem hat Flaubert zuviel. Sprachbewusstsein ist originär Subjektbewusstsein, politisches Bewusstsein primär Objektbewusstsein ist. Da er neurotisch bleibt, hasst er sich selbst und daher die Bourgeoisie.

Flaubert ist vielleicht der erste Autor, der sich körperlich „leer schreibt“, um seiner Um-und Mitwelt, die er le vide empfindet zu entgehen und um „sich zur Existenz zu bringen, und in der Kunst zu totalisieren24. Schriftsteller zu sein, impliziert eine Berufung zum Leser. In seiner Polemik gegenüber der zeitgenössischen Erfolgsautorin Louis(e)Colet sucht er den „großen Stil“ jenseits romantischer Phrasen, die „gefallen ohne zu sein.“

Flaubert schreibt gegen die Erwartungshaltung und Rezeptionsästhetik seiner Zeit. Im politischen Urteil bezichtigt Sartre ihn der Unaufrichtigkeit (mauvaise foi): „Aber Flauberts Unaufrichtigkeit kann niemanden täuschen: er studiert nichts, weder die Verfahrensweise noch den Aufbau, das hieße analysieren und dann wieder zusammenzusetzen, beobachten, Hypothesen aufstellen und überprüfen, alles Dinge, um die er sich kaum kümmert.“

Er ist desinteressiert und daher auch ohne Verständnis für soziales Engagement, wie seine Briefe, vor allem die an seine Kollegin George Sand, einer der ersten Schüler Saint Simons unter Napoleon III, dokumentieren. Zumindest einige seiner Aussagen über Politik sind so trivial wie die Colets über die Liebe. Dass Flaubert beides für austauschbar und vergleichbar erachtet, beweisen seine Romane, allen voran „Die Erziehung der Gefühle“.

Ein Bonmot: „Je suis gourmet et pas de gourmand“ (Ich bin ein Genießer und kein Vielfraß) dient Sartre dazu, den Ästhetizismus Flauberts näher zu untersuchen. Das Ziel ist zweifellos stilistische Perfektion durch und die Neutralität oder Abstinenz der Moral gegenüber, da sie mit dem reinen Geschmack unvereinbar ist. „Ich kehre mehr denn je in eine reine Idee zurück, ins Unendliche, ins Leere“.25

Eine reine Idee, das bedeutet die Inversion des cartesianischen „Ich denke, also bin ich“ in ein „Ich bin, also denke ich“ transformiert in „Ich schreibe, also ist es wahr.“ Man darf unter Berücksichtigung der Umstände von Verdrängung ausgehen, die sich in Zynismus entlädt.

Hinter der cogito-Formel steckt die Transformation Ich stelle mir Glück vor, also bin ich glücklich. Die Identifikation mit der Leere als Genuss an der poésie pure und die Absenz der äußeren Wirklichkeit für die Seinsbestimmung ist total. Das Nichts schlägt um in ein Alles, einzig Fantasie macht das Sein: „Auf die erlebte Selbstabwesenheit baut Gustave seine irrealen Eindrücke, daß er in der reinen Idee zurückkehren lies ... Die Weigerung zu leben als negativer Trieb zur Schaffung der Kunst und des Kunstgenusses als positiver Trieb verbinden Thanatos und Eros, Todes-und Lebenstrieb. Die Inspiration zieht Flaubert ausschließlich aus Langeweile, Unglück, Krankheit und Fatalismus. Daher kann er sagen: Qui perde, gagne.“

Sartre erweitert Flauberts Zitat: Wer verliert, gewinnt sich neu durch die Literatur. Der Autor opfert die bürgerliche Existenz und Persönlichkeitsentwicklung für sein Werk.

Summa summarum erklärt Sartre Flauberts mangelndes Engagement dialektisch sowohl aus ihm selbst heraus endogen als auch durch exogene Faktoren, die im Bürgertum und seiner Zeit verankert liegen. Er hält ihn jedoch für verantwortlich, sich dem Sozialen weitgehend entzogen zu haben.

1 I. 3. Nietzsches Flaubert-Rezeption

Flaubert gehört zu den Autoren, die Nietzsche ebenso wie Stendhal, Pascal, Voltaire, Rousseau, Montaigne, La Rochefoucauld und Baudelaire, für die kulturelle Vormachtstellungseiner Zeit anführt, mehrfach gelesen hat. Die erste Bemerkung über ihn, zwei Jahre nach seinem Ableben, lautet: „Die Psychologen Frankreichs ... haben noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet ... Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr: es war seine Art von Selbst-quälerei und feinerer Grausamkeit.“26

Flaubert gehört der Generation vor ihm an. Nietzsche, der zu den ersten Bewunderern seines Stils gehört, bezeichnet den Romancier wie Baudelaire wertschätzend als Décadent, lobt seinen feinen Instinkt eines wahrhaftigen Künstlers und Ausdruck der „intelligentesten Intelligenz“ auszeichnet.

In seiner Bestimmung des Verhältnisses des Künstlers zur Moderne betont er, dass sich dieser vor Idealen und Pathos freihalten müsse und die Kunst nicht für einen Zweck wie der Moral missbrauchen dürfe. Er arbeitet ohne Maske und mythologische Verkleidung und liefert damit das Gegenstück zu Wagner, der falschen Ikone der Moderne. „Würden Sie glauben, dass die Wagnerischen Heroinen samt und sonders, … zum Verwechseln Madame Bovary ähnlich sehen! – wenn man umgekehrt auch begreift, dass es Flaubert freistand, seine Heldin ins Skandinavische oder Karthagische zu übersetzen?“

Die Verachtung der Masse vereint (der Wagner zu gefallen hofft) beide, bewusst die Einsamkeit suchenden, Schriftsteller, wenngleich Nietzsche viel reist und Flaubert immer seltener sein normannisches Nest Croisset verlässt, um Paris aufzusuchen, weshalb der passionierte Wanderer den Franzosen auch als Stubenhocker bezeichnet. Während er verkündet, ein freier Gedanke könne nur an frischer Luft gedeihen, zitiert er den Franzosen, er könne nur beim Sitzen denken. »On ne peut penser et écrire qu ́assis G. Flaubert« – Damit habe ich dich, Nihilist. Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur ergangene Gedanken haben Werth.27

Der Unterschied bezieht sich gilt Flauberts eingeschränktem politischen Horizont, sein provinzielles Normannentum. Der Europäer Nietzsche glaubt, er habe die doppelte Bedeutung des Leidens nicht erfasst und kennt nur das passive Erleiden, das Aussitzen von Unannehmlichkeiten. Die Folge davon ist Ressentiment „Wenn ich Etwas vor allen Psychologen voraus habe, so ist es das, dass mein Blick geschärfter ist für jene schwierigste und verfänglichste Art des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter ... In Goethe zum Beispiel wurde der Überfluss schöpferisch, in Flaubert der Hass: Flaubert, eine Neuausgabe Pascals, aber als Artist, mit dem Instinkt-Urteil aus dem Grunde: Flaubert est toujours haissable, l ́homme n ́est rien, l ́oeuvre est tout. Er torturirte sich, wenn er dichtete, ganz wie Pascal sich torturirte, wenn er dachte – sie empfanden beide unegoistisch ... Selbstlosigkeit – das décadence Prinzip, der Wille zum Ende in der Kunst sowohl wie in der Moral.“28

Nietzsche stellt den Kontext zur Verdummung der Gesellschaft durch falsche Auslegung Epikurs und den Hedonismus (Gleichsetzung von hedone mit ordinärer Lust und Lustprinzip mit Egoismus) her, so dass er das Fehlen intellektueller Redlichkeit beklagt, auch bei Flaubert, aber weit mehr bei Wagner. Flaubert dient ihm als Exempel dreifacher Kritik: seine Lust an der Boshaftigkeit (Zynismus), seiner mangelnden (dionysischen) Begeisterungsfähigkeit und die inkonsequente Haltung zum Katholizismus, deren Mystik er bejaht und deren tiefere spirituelle Quelle er negiert. Offenbar weiß Nietzsche um Flauberts Reliquienkult und Vorliebe für Malerei mit Bezug zum Neuen Testament. Er hält ihn daher im Vorurteil und im Nihilismus befangen und vergleicht den Romancier mit einem morsch gewordenen Baum, hilflos und zerbrochen, der keine Früchte trägt. Wer nicht frei wird von Ressentiment, kann den Nihilismus nicht überwinden.

Die Auseinandersetzung mit Flaubert findet folglich 1882 bis 1888 in der letzten Schaffensperiode Nietzsches statt. In seinen Notizen und Fragmenten im Frühjahr 1884 akzentuiert er, die Welt sei eine Fabel und der wahre Realismus bestehe einzig in der Fiktion, womit er Flaubert als wesensverwandt erscheint. Paradoxales Denken und eine Vorliebe für Irrationalismen sind evident. Denken soll das Fühlen „einfärben“ (gestalten) aber nicht substituieren. Mit Flaubert schwingt sich der Autor zu einem schaffenden Demiurgen auf. Alle Werte müssen von Grund auf in Frage gestellt und neu bestimmt werden. Das Aufspüren von Fehlleistungen oder Fehleinschätzungen ist daher motivierend.

Einer der auffälligsten Unterschiede besteht im Umgang mit Irrtümern: Nietzsche erachtet sie als notwendig und fruchtbar für jeden Reifeprozess auf dem Weg zur Weisheit, während Flaubert sie schlicht bêtises (Dummheiten) und sottises (Albernheiten) nennt, weil er nur an verifizierten Wissen interessiert ist. Flaubert hat ein negatives Menschenbild, kultiviert das Ressentiment und zeigt kein Interesse an einer Belebung der Humanität. Nietzsche glaubt an die Renaissance, die Umkehr aller Werte und eine Philosophie der Zukunft.

Nietzsche kennt auch posthum von Louise Colet veröffentlichte Briefe Flauberts und dessen Korrespondenz mit George Sand, auf die er sich mitunter bezieht. Sie offenbaren Flauberts Lust zur Maske wie jemand, der seine wahre Identität versteckt. Da Nietzsche eine radikale Selbstbejahung des Lebens (amor fati) verlangt, missbilligt er diese Selbstflucht als Form des Selbstmitleids und betont: „Wir enthalten den Entwurf zu vielen Personen ist uns: Der Dichter verrät sich in seinen Gestalten.“ 29

Auch der Kult um das Objekt, die Pedanterie stoßen auf sein Unverständnis: „Das Objektiv-sein-wollen z. B. bei Flaubert ist ein moralisches Mißverständnis. Die große Form, die von allem Einzelreiz absieht, ist der Ausdruck des großen Charakters, der die Welt sich zum Bilde schafft: der von allem Einzelreiz weit absieht.“ Nietzsche ist Flaubert darin wesensgleich, dass er die Wissenschaft in ihrer zunehmenden akademischen Trockenheit (dem „Muff der Talaren“) verachtet, aber dies inkludiert den Anspruch auf Objektivität. Folge dieser Objektivierungsversuche ist eine eingeschränkte künstlerische Perspektive: „Die Psychologie dieser Herren Flaubert ist in summa falsch: sie sehen immer nur die Außen-Welt wirken und das Ego geformt (ganz wie Taine?) – sie kennen nur die Willens-schwachen, so désir an Stelle des Willens steht.“

Nietzsches Glaube an den Willen zur Macht schließt den zur Freiheit und evolutionären Entwicklung ein; Flaubert verlagert ihn nur auf das Wollen oder Wunsch, was im Französischen désir im Unterschied zu passion oder volonté zum Ausdruck gelangt. Für Nietzsche steht die Verlagerung des Schwerpunkts von Ereignis in die Erlebniswelt des Subjekts im Vordergrund, für Flaubert das Auflösen der Empfindung im Dinglichen: „Objektivität – als modernes Mittel, sich loszuwerden, aus Geringschätzung (wie bei Flaubert).“30

Der Gedanke, dass starke Individuen von Charakter aus Resilienz hervorgehen, indem sie sich Selbstliebe beibringen und zum Selbstwertgefühl erziehen, anstelle zu resignieren, ist vielleicht der wichtigste Kritikpunkt Nietzsches an Flaubert: das Subjekt soll sich selbst befehlen und gehorchen lernen und sein Schicksal (AMOR FATI) lieben.

Flauberts Mentalität - Pessimismus, Skeptizismus, Szientismus, Selbstkasteiung - führt Nietzsche auf seinen schlechten Lebensstil und diesen auf Mangel an Liebe zurück. Die Folge davon ist die Abhängigkeit vom Ideal und Weltflucht, Idealisierung anstelle einer realen Beziehung zur Welt. Der kämpferische Aspekt und Vitalismus fehlen; Nietzsche erblickt in Flauberts Lebensverneinung den allgemein um sich greifenden Nihilismus der Moderne.

Kritik an seinem Lebensstil hindert Nietzsche nicht an der Wertschätzung seiner künstlerischen Genialität. Er sieht ihm wie in Zola einen Schüler Hippolyte Taines und seiner Milieutheorie, der Nietzsche ablehnend gegenübersteht, auch, weil er auf eine Verallgemeinerung der Rasse zu kollektiven Aussagen und „Rassenschwindel“, neigt. Ein interessanter Vergleich liefert sein Verweis auf Victor „Hugos Maler-Augen, auf alles Sichtbare sehend“. Der visuelle Flaubert malt oder portraitiert das Unsichtbare. Der Verweis deutet auf den Untertitel zu „Madame Bovary“ hin: moers de provence. Die Gefahr besteht durch Übertreibung die Literatur doch zum Zerrspiegel gesellschaftlicher Missstände zu gebrauchen „Ich lache über Flaubert, mit seiner Wut über den bourgeois, der sich verkleidet, ich weiß nicht als was!“

Philosophisch rechnet Nietzsche Flaubert den Positivisten um Taine zu. Dies ist nachweislich falsch, obgleich Flaubert Kontakt zu diesen durch Zola unterhält, so trifft der Spott des Normannen auch die Milieutheoretiker. Zudem offenbart Nietzsche philosophische Defizite, wenn er ihre Schule kurz mit Wirklichkeits-Philosophen gleichsetzt. Flaubert ist ein Begründer dieses unverstellten neuen Realismus und Wegbereiter des Naturalismus, doch steht er mit mindestens einem Bein in der Antike. Nietzsches Hauptinteresse gilt auch nicht dem apollinischen Roman „Madame Bovary“, der zweifellos gelungener ist, sondern dem dionysischen „Salambô“, den er nicht zu Unrecht als „Maskerade des bourgeois“ bezeichnet. Er erkennt darin regulative Funktionen; er nennt den Stil süßlichen Verwesungsgeruch, auf dem die Décadence-Literatur folgt.

Andererseits begreift er Flaubert als Teil und „Sitz der geistigen und raffinierten Cultur Europas“ und betont seinen Geschmack für das Schöne der Grammatik und seinen Humor bzw. esprit. Ist Flaubert auch ein Genius der Sprache: „Er hat das klingende und bunte Französisch auf die Höhe gebracht“, so argumentiert er pädagogisch unredlich durch sein „Bedürfnis nach Gelehrsamkeit und instinktivem Pessimismus31.

Nietzsche vergleicht Flaubert mehrfach mit Baudelaire hinsichtlich des Begriffspaares spleen et idéal, was für seine Zeit, in der beide kaum über Paris bekannt sind, eine Pionierarbeit bedeutet. Durch zu viel Schopenhauer im Blut missrät beiden das Gleichgewicht aus dionysischem und apollinischem Kunsttrieb und somit mangelt beiden die Liebe zum Leben. Das letzte große Ereignis französischer Literatur und Maß der Dinge des 19. Jahrhunderts ist für Nietzsche Stendhal, als dessen Schüler er Flaubert rezipiert.

Le bon sens (der gute Geschmack) ist ein wichtiges Kriterium Nietzsches, wenn es um Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit geht. Vielleicht versteht man Nietzsches Hassliebe zu Flaubert am besten im Rückgriff auf Stendhal und mit Blick auf Dostojewski, die er als die bedeutendsten Psychologen betrachtet, auch weil sich in ihnen am Ende Liebe und nicht Verbitterung oder Hass triumphiert. „Jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert unter Deutschen R. Wagner das deutlichste Beispiel abgibt: zwischen 1830 und 1850 wandelt sich der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts.32

Nietzsches immoralischer33 Kampf um Selbstbejahung schließt jede Form von Lebensfeindlichkeit und Moralisierung und Passivität kategorisch aus. Flaubert ist nicht frei vom Ressentiment, sondern scheint „Rache für eine tief eingenistete Selbstverachtung nötig zu haben“. Die Epoche begünstigt nihilistische Gleichgültigkeit dem Leben außerhalb der Kunst gegenüber. Er verabsolutiert das Nichts, wo Nietzsche das Gesetz ewigen Werdens statuiert und wirkt auf ihn als „Reizmittel, in dem selbst das Hässliche und Ungeheure Emotion erweckt.“ Nietzsche spricht vom Gesetz der Entropie als Bestehen der Energie und ewiger Wiederkehr in steter Verwandlung, Flaubert hingegen begnüge sich mit destruktiver Kritik. „Flaubert hielt weder Mérimée noch Stendhal aus ... Der Unterschied liegt darin: Beyle stammt von Voltaire, Flaubert von Victor Hugo. Die Männer von 1830 (- Männer?) haben eine unsinnige Vergötterung mit der Liebe getrieben … auch mit der Ausschweifung und dem Laster.“34 Nietzsche zitiert einen pathetischen Appell Flauberts im Nachruf auf Hernani, mit dem Hugo 1830 das romantische Drama begründet. Bei der Aufführung kommt es zu einem Skandal, den auf deutschen Bühnen nur Schillers „Räuber“ gleichkommt; Flaubert begeistert sich als Vorpubertierender für das Stück. Dieser pubertierende Trotz ist ihm nach Ansicht des Philologen geblieben.

Nietzsche verweist auf den fundamentalen Unterschied der Generation um Napoleon, zu der u. a. Stendhal gehört, wohingegen der neunzehn Jahre jüngere Hugo zur Übergangsgeneration vor Flaubert gehört, mit dem das moderne Zeitalter der Dekadenten und des Nihilismus beginnt. Stendhal steht noch für eine Wertekultur und als Sympathisant Napoleons für eine elitäre Geistesaristokratie. Flaubert hingegen durchläuft eine Phase der Demokratie, um nach dem Scheitern der 48er Revolution in apolitische Starre zu verfallen. In seiner Haltung, jegliches Ideal zu verspotten, erscheint er Nietzsche vergreister als Stendhal, der sich noch im hohen Alter zu begeistern vermag. Es ist jener Optimismus, das Leben zu feiern, die der Generation Flauberts fehlt. Die „Literatur-Pessimisten“ setzen ihr außergewöhnliches Talent falsch für die mélancholie contemporaine ein. Dieser Rückfall in Romantizismus hat nichts mit jener von Nietzsche geforderten Heiterkeit und Leichtigkeit gemein, jenem Maßhalten der griechischen Tragödie. Die einseitige Desillusionierung ist ihm zu wenig.

Mit „rien“ zu enden entspricht „le sens mal“, (dem schlechten Geschmack), einer „historischen Krankheit“, an die der Mensch zugrunde geht. Ressentiment und Langeweile prägen die Moderne, die Generation der gescheiterten Märzrevolution: „Der Typus von 1830: … Die politischen Ideen von 1848 haben ihn einen Augenblick wieder in Fieber gesetzt. Seitdem die Langeweile und die Nichtbeschäftigung seiner Gedanken und Aspirationen. Ein distinguierter Geist, an einem friedlichen Heimweh nach einem Ideal in Politik, Literatur, Kunst leidend, sich mit halber Stimme beklagend und nur an sich selbst rächend für die Vision der Unvollkommenheit der Dinge hier unten.“35

Ein derartiger Rückzug ins Private führt zur Resignation und fördert die Langeweile; jene von der Politik gelangweilten Schriftsteller stammen aus dem bürgerlichen, nicht der aristokratischen Gesellschaft und zehren das Geld ihrer verhassten Väter auf. Da sitzen sie friedlich auf Bänken, spielen Karten oder besuchen Bordelle und erfinden geistreiche Bonmots. Harmlose Biedermänner, verkleidet, keine „Übermenschen“, die „nach neuen Meeren Ausschau halten“- geschweige denn bereit sind, sie zu überqueren. Weil sie nichts wagen, erregen sie Nietzsches Missfallen. Flaubert verweilt lieber auf festem Boden irgendwo in der behaglichen Provinz und wähnt die Liebe für abgeschafft. Verliebt in factice et artificiel ... analytisch-phantastisch … mehr von der Geschichte im Kopfe erzählend als von der im Herzen.“ (fatice: unecht, artificiel: künstlich)

Nietzsche zitiert einen Brief Flauberts an die Brüder Goncourt der belegt, dass eine hoffnungs-und antriebslose Haltung nur fördre, was man verachtet: Langeweile. Mit Menschen wie Flaubert ist keine Revolte zu machen. „Er hat den Saft der Bäume in den Adern.“ Nietzsche rezitiert Flauberts Kritik an Hugo und unterstellt ihm Eskapismus: »Après tout, le travail c ́est encore le meilleur moyen d´escamoter la vie. « (Alles in allem ist Arbeit noch der beste Weg, dem Leben zu entkommen).

Die romantische Kunst ist eine Folge des Ungenügens am Wirklichen, Realismus eine Folge der Dankbarkeit genossenen Glücks. Nietzsche kritisiert auch Flauberts Tartüfferie. In seinen Romanen tritt er als Verächter der Geldgier, des Geizes und des Konsumverhaltens, übt teilweise marxistische Kritik und stellt die Kirchenvertreter bloß. Im eigenen Leben erweist er sich als kleinkariert, bigott und eitel. Er sammelt Trödel, Kitsch und Klischee, während er echte Künstler verspottet, unter ihnen Vater und Sohn Dumas. Er gibt vor, die Nostalgie zu verachten, doch sind seine Werke ohne sie kaum zu denken.

So verkörpert Flaubert die „bloße Ökonomie des Künstlers mit der Unendlichkeit im Busen“ ohne Vitalität, Fruchtbarkeit und kreativer Zeugungskraft. „Man bemerke, daß die delikateren Naturen in ihren Abneigungen vergröbern, die starken in ihren Abneigungen verdünnen, verzärteln, verkränkeln.“36

So stehen Wagner und Goethe für den vitalen Eros und Vereinbarkeit von Kunst, Genuss und Leben, Baudelaire und Flaubert hingegen, wenngleich unterschiedlich, für eine Form der Selbstaufgabe durch Hingabe an die Kunst. Der Vergleich der „Madame Bovary“ mit Wagners intensiver Libido mag befremden, doch bezieht sich der Vergleich auf die Kunst zu komponieren. Wagner, wie Flaubert beginnen mit dem Mittelstück und suchen von ihrem Leitmotiv aus nach einem Anfang und einem Ende. Es handelt sich aber lediglich um subjektive Wertgefühle, die sich hinter der Maske der Objektivität tarnen.

Gott, so Nietzsches Credo, muss zumindest in der Form des guten Willens, der Redlichkeit und edlen Gefühle überleben, weil eine Welt ohne Glauben, Liebe und Wärme am Geist der Schwere zugrunde gehen muss. Diese Leichtigkeit fehlt Flaubert: „In Salambô kommt Flaubert zum Vorschein, geschwollen, deklamatorisch, melodramatisch, verliebt in die dicke Farbe.“

Wenig später urteilt er, es handle sich um eine »mélancolie non suicidante, non blasphématrice, une tristesse qui n´est pas sans douceur.« (eine nicht selbstmörderische Melancholie, nicht gotteslästerlich, eine Traurigkeit, die nicht frei ist von Süße). Seine eigene Willens-und Genussphilosophie kollidiert mit Flauberts Passivität und Determinismus, aus der Lebensekel spricht.

Wenn man Nietzsches Emanzipation von Schopenhauer und Wagner betrachtet, dann fällt es nicht schwer, die Vorbehalte gegenüber Flaubert nachzuvollziehen: mit Schopenhauer verbindet ihn leitmotivisch Pessimismus, eine lebensverneinende Grundhaltung und Ressentiment, die mit dem Argument der Dummheit xenophobe Züge annimmt. Darüber hinaus schrieb Flaubert meist verächtlich über die Frauen und gefiel sich im Sarkasmus. Die alles ist mit der Konzeption von amor fati unvereinbar. Mit Wagner verbindet Flaubert ein eingeengtes und auf Feindbilder beschränktes Weltbild, die sich nicht mit dem europäischen Geist und Liberalismus in Einklang bringen lässt.

1 II. Der Schriftsteller Flaubert

2 II. 1. Das Herz eines Irren – Mémoires d´un fou

Ich liebe den Herbst. Seine Traurigkeit stimmt mich gut zu Erinnerungen.“37November-Fetzen trunkener Blätter und absterbender Triebe. Notizen eines einfachen unglücklichen Herzens. Un coeur simple, wie Flaubert über sich selbst schreibt, das der Titel seiner bekanntesten Erzählung wird. Jenes einfache Herz, das er im Inneren schlagen hört. Alles wiederholt sich in seinem Leben, doch die besten Worte, um es zu sagen, spart er sich auf für das Ende. Die Normandie ist die graue Grenze seiner Welt. Es ist der Herbst 1837, der Herbst seines Lebens, der Sechzehnjährige weiß es nur nicht. Er hat sich verliebt, die Sommerfrische von Trouville an der normannischen Meeresküste. Flaubert durchträumt die Tage und liegt in den Nächten fiebrig wach, schwer atmend, manchmal den Tod erwartend, um sich dann eilig Notizen zu machen, schreibend gegen sich und die Langeweile und die schwere Leere einer Zeit, die nur sich selbst gehören will. Er sieht sich vor ihr stehen, wie ein eingefrorener See, eine im Sand sich vergrabende Muschel oder ein zu Boden fallendes taumelndes, im Herbst vermoderndes Blatt, wenn sie sich ihm nähert. Einer Erscheinung aus Licht, gebrochen in einem Raum, der das Fenster hinaus mit Blick auf das weit freigibt. So sehr rast sein Herz, das er nicht aufhören kann, an das Gefühl im Inneren, das ihn zerschmettert, zu glauben, der dann im Regen stehen bleibt, stundenlang, sich und die Zeit vergessend, einer Regung nachspürend, die er nicht loszuwerden vermag und nicht loslassen will: Der Eindruck eines hellblauen Sommerkleides, wie es in der Düne von Trouville vor sich hin flattert. Erinnerung an die Gischt des Meeres, die Wellen, ihren Schaum, durchstoßen von der porzellanweißen Hand, einer feindgliedrige an Porzellan reichende Hand, die meist ein Handschuh ziert, mit sandfarben Perlen daran. Erinnerungen an den Saum ihres Kleides, aufgeschäumt wie Milchkaffee, das Hellblau, getragen vom Duft einer Frau, deren Geschmack alle Sommer hin-durch ihn begleitet. Schwere sanfte feine Locken, dunkel gerollt, von einer Haarnadel mit Bernsteinfassung gebändigt und Mandolinen-Augen mit venezianischem Klang. Ein Geschmack, in dem die Welt tanzt und sich spiegelt, so vollkommen rein, dass er es nicht wagt, diesen Geschmack zu verunreinigen mit seiner Gestalt.

Die Suche nach des Herzens erster Regung gleicht dem Versuch, Unsagbares, Unsägliches vielleicht in Buchstaben zu kleiden wie Futter eines Mantels; innere Realität, die sich in nach außen kehrt. Eine Badeausflug, das das schäumende Meer, Belichtung seiner Erinnerung. „Jeden Morgen ging ich weite Wege, nur um sie baden zu sehen. Ich beobachtete sie fern vom Wasser, ich beneidete die sanfte und friedliche Welle, die ihren Körper berühren durfte und die wogende Brust mit ihrem feuchten Schaum berühren durfte.“38

Auf solche Art beginnt Gustave zu lieben, während er von Flaubert beobachtet wird. Manche Liebende vermögen nur einmal lieben und dann wiederholen sie oder versuchen ihre Gefühl von einst zu wiederholen und zurückzukehren zu diesem ersten Mal wie sie zu einem Strand zurückkehren, um nach den Spuren im Sand zu suchen, die sie hier irgendwo vergraben haben. Der Verliebte spürt nur, wie etwas Unerhörtes und Unstillbares von seinem Herzen Besitz ergreift. „Als ich sie sah, fühlte ich zum ersten male mein eigenes Herz und ein geheimnisvolles mystisches Gefühl unerreichbarer Ferne darin, als hätte ich einen neuen Sinn empfangen. Durchströmt von diesen zärtlichen Empfindungen war ich gleichsam wahnsinnig.“ Trouville, der feine Sand und ein blauer Hermelin.

Er sieht zum ersten Mal Elisa Foucault, die später auf den Namen Madame Schlésinger hört. Hauch einer fernen, anderen, unbetretbaren Welt, die ihm alles ist. Sie kennt ihren stillen Begleiter nicht, der ihr überallhin mit seinen Blicken folgt, der sie aufsaugt, in den Gärten seiner erwachten Lust, der auf ihren Spuren im Sand geht, bevor sie die Flut zu sich nimmt, der ihre Lippen studiert, so dass er ihr jede Silbe aus der Entfernung abpflückt, der ihren Schatten aus der Ferne ausgräbt, jede Münze, die sie bei einem Kauf hinterlässt, im eifrigen Tausch dem Krämer gegen eine größere einzuhandeln versteht, indem er wenig später denselben Laden betritt, eine Kleinigkeit kauft, um genau jene Münze zu erhalten, die ihre kleine Hand zuvor verlassen hat. Sein Herz, eingefroren von Träumen und Sehnsucht, einem kühlenden Feuer gleich den im Meer zerfließenden Strahlen im Sonnenuntergang. Die leere Schwere seiner Erinnerungen vereitelt das erfüllte Glück in der Gegenwart, weil alles verblasst gegen die Vorstellung vom wahren Glück eingefrorener Gefühle. Gleich Ampullen liegen sie bereit, wie das Meer weit und breit vor ihm liegt. Er träumt einen Traum, von dem er nie erwacht mit Trouville, dem blauen Kleid, dem Schaum und Elisa als unauflösbare Einheit.

Elisa wird zu Maria in „Mémoires du´un fou“. Dort, wo Himmel und Meer miteinander verschmelzen, ist sein Land, sein Glück, sein ganzes Herz. „Es gibt Dichter, deren Seele ganz voll von Düften und Blumen ist, die das Leben als Morgenröte des Himmels betrachten. Jeder von uns hat ein Prisma, durch das er die Welt wahrnimmt.“39

Erinnerungen eines Verrückten, er ist gerade einmal 17 Jahre alt. Die Zeit vergeht, so schön, dass er glaubt, dass Herz wird ihm zerspringen, wird es nicht mehr, nie mehr. Er liest, ohne Befriedigung, besucht ein Bordell mit seinem Freund Maxime du Camp, ohne das zu machen, was andere dort tun, es ist noch wie mit dem Lesen, er kann nicht alles verstehen, was er fühlt. Etwas zwingt ihn, mehr zu lesen, er sieht viele Dinge vor sich, greift danach, doch nichts berührt ihn wirklich. Was ihn berührt, kann man nicht mit Händen greifen. Es ist in ihm und nur in ihm. Wenn er versucht, es zu beschreiben, gelingt es ihm nicht, das Papier füllt sich, doch es ist nur Tinte, nicht mehr.

Nach Elisa kommt das Abitur und nach der Matura beginnt er sein Jurastudium in Paris. Der Vater will es so und Vater, ein mächtiger Chirurg, ist Gott, dem kann man nicht wiedersprechen, der herrscht über Leben und Tod. Er verzweifelt, die Paragraphen tanzen, er bekommt sie nicht zu fassen, immer ist da das dunkle volle Haar, die Locken auf dem himmelblauen. In sein Tagebuch schreibt er: „Ich werde auf alle Fälle Jura studieren, ich werde meine Zulassung als Anwalt erlangen und sogar meinen Doktor machen, um ein Jahr länger bummeln zu können. Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich niemals plädieren werde, es sei denn, es handle sich darum, einen sehr berühmten Verbrecher zu verteidigen oder um eine entsetzliche Untat.“

1842. Er ist 21, volljährig. Wenn er mit Prostituierten schläft, schließt er die Augen und stellt sich den Hermelinmantel vor oder die weißen Porzellanhände und er hört nichts anderes als das Rauschen von Trouville. Er spricht wenig, seine Zunge stolpert wie über Pflastersteine von Paris. Dem Saum des Vaters kann er nicht entkommen, sein Wille ist überall, in den Kathedralen und auch unter seinem Bett. Er fühlt sich gesichtslos, die kurzen Stöße befriedigen nicht, Bordellbesuche machen ihn arm. Über jeden Sous, den er ausgibt, verlangt der Vater Rechenschaft. Er ist ein Bittsteller in ewiger Schuld, wünschte, er wäre tot, dieser kalte Gott in weiß, der immer nach Äther riecht. Misstrauisch über die hohen Summen der vermeintlichen Buchausgaben besucht Achille Flaubert den missratenen Jungen in seiner Mansarde, als er gerade von einer Dirne kommt. Um sie sich leisten zu können, hat er seine juristischen Bücher verkauft. Kein Wort zwischen ihnen fällt, sie starren leere Regale an. Jede einzelne Falte seiner Haut gräbt sich tief in sein Gedächtnis ein. Er kann einfach nichts vergessen, keinen Knopf, keine Zahnlücke, erst recht nicht Elisas Lächeln, das ist sein Schicksal. Schweigen. In den Augen seines Vaters spiegelt sich das Urteil: Idiot.

Wenn ich drei Stunden meine Nase in das Gesetzbuch gesteckt habe, während derer ich nichts begriffen habe, ist es mir unmöglich, noch weiter fortzufahren: ich würde sonst Selbstmord begehen. Am nächsten Tag muß ich mit dem wieder anfangen, was ich am Tag vorher gemacht habe, und in diesem Tempo kommt man kaum vorwärts. Wie ein Schwimmer in starker Strömung mag ich einen noch so kräftigen Stoß machen, die Schnelligkeit der Strömung bringt mich um zwei zurück, so daß ich noch unterhalb meines Ausgangspunkts lande.“

Wenn er nur Talent zum Selbstmord hätte. Aber zu einem Freitod gehört die Freiheit wie zu einem Selbstmord das Selbst. Trotzig meint er, einzig das Schreiben gehöre ihm. Nichts davon ist für die Öffentlichkeit bestimmt. Aber seine Neugier zu wissen, wie es die Freunde finden, zwingt ihn, seine literarischen Versuche doch zu teilen. „Smarh“ wird ins prasselnde Kaminfeuer geworfen. Zum Dramatiker à la „Hernani“ taugt er also nicht.

Er ist vernichtet. Absolut. Vorerst. Man könnte ja, vielleicht. Die Poesie bleibt sein Geheimnis, eine heimliche Braut unter der Robe des Justiziars. Er stottert, fällt durch das erste Examen. Tant pis. Für den Vater eher eine Bestätigung seiner Ansicht, weniger ein Ärgernis. mehr Genugtuung als Überraschung, die er ohnehin nicht schätzt. Zum Anwalt taugt der Idiot nicht. „Das Studium der Rechte verbittert meinen Charakter im höchsten Maße: ich knurre unaufhörlich, wettere, murre und brumme sogar gegen mich selbst und auch wenn ich ganz allein bin. Vorgestern Abend hätte ich hundert Francs (die ich nicht besaß) darum gegeben, wenn ich irgend jemand eine Tracht Prügel hätte verabreichen können. Stattdessen ließ ich fünfzig bei einer Dirne.

Es ist passiert. Ein weicher Sturz, fast wie im Nebel, eine Spirale, auf deren Grund er hat blicken können. Wer hat das Meer gemacht? fragt er sich, als er aufwacht, seine Lippen noch feucht vom Schaum aus seinem Inneren. Wer hat es aufgetürmt in seinen wogenden Wellen? Spricht er plötzlich ohne Stottern? Ist das Meer dazu bestimmt, den Sonnenuntergang zu spiegeln? „Die einen entdecken in der Schöpfung einen erhabenen Plan, die anderen nur eine obszöne Farce. Kunst ist von allen Lügen doch die am wenigsten verlogene.“

Wenn es nach der Mutter geht sollte er Theologie studieren, damit der Segen sicher ist, der Vater hat das Nächstliegende vor Augen, die Medizin. Krankheit ist immer, krisensicher. Man hat sich in der Mitte geeinigt und das bedeutet Rechtswissenschaft. Im Kreis der Familie gilt er als unfähig, besonders, nachdem er erneut durch sein Examen fällt. Da kommt der erste epileptische Anfall gerade recht. Er ist gerettet – vorerst. „Nach solchen Anfällen öffnete sich das Leben für mich wieder in der ewigen Monotonie seiner Stunden.“ Gegen dieses grauenerregende Grau hilft einzig das Schreiben. Er lernt, die Feder wie ein Skalpell zu führen.

Die Seine führt wieder Hochwasser. Der Gare du Nord wird eingeweiht, bald wird er mit dem Zug nach Rouen fahren und nur noch einige Stunden unterwegs sein, die Pferde werden keine Droschken mehr ziehen, sondern zu Wurst für die Fahrgäste verarbeitet. Manche Tage beginnen hell und enden dunkel, so, als ob die Nacht nie enden wollte. Der 15. 1. 1846 ist so ein Tag. Die Schwester liegt in ihren letzten Wehen, niemand hat den heftigen Blutverlust vorhergesehen, das Kind liegt falsch in ihrem Leib und am Ende kommt es atmend, schreiend zur Welt, nur die Mutter, fast ein Mädchen noch, die ist still und stumm und sagt kein Wort, nie mehr. Der Vater, Gott von Beruf, kann ihr nicht helfen. Als sein Kleinod ihm unter den machtlosen Händen wegstirbt, entscheidet er sich und lässt sich neben sie sinken. An einem Tag zwei Tote und ein Neugeborenes, während Gustave heftig niest und ein Dampfbad nimmt, irgendwo in Paris, zwei Karten für die Uraufführung von Halévy liegen auf einem Nussbaumtisch, die Musketiere des Königs, er wird sie nicht sehen, sondern die Grabrede hören.

Die Schritte im Kies werden Trauermusik, wie sie zu alten Friedhöfen gehört, ein Knirschen, das mit den kratzigen Arien der Krähen harmoniert. Viele umgesunkene Kreuze, doppelte Ruinen, die der Gräber und die der vergessenen Körper. Alles duftet nach einem verschwundenen Frankreich, den Spinnweben des 19. Jahrhunderts; schmal und weiß wirkt die Fläche neben dem breiten, Aushub, aus dem dunkle Erde quillt. Das seiner Schwester, um der Symmetrie willen ist wieder schmal, auf der anderen Seite wird er dann liegen, ebenso schmal, alle zusammen von einer kleinen Einfriedung umgeben, so muss es sein.

Beim Anblick ihrer Särge wird ihm gewahr, dass die Bourgeoisie immer mächtiger sein wird als er, der ihr entkommen will und er muss lachen, keiner kann das verstehen, er ist ein Idiot, er weiß es, aber Louis, der alte Sack, der lacht mit.40 Im selben Jahr wird zweimal auf den König geschossen und verfehlt, das Schicksal hat andere Pläne mit ihm.

Der ältere Bruder trägt den gleichen Namen, das gleiche Gesicht, den gleichen Titel wie der Vater, er erbt seine Praxis und er, der Idiot der Familie erbt ein kleines Vermögen, das dafür sorgt, dass er nie arbeiten muss. Er ist nicht frei, seine Ängste und Zwänge halten ihn fest umarmt, doch unabhängig. Er kauft sich sofort eine Wohnung in Paris, so ist er nicht mehr auf Stundenhotels angewiesen, kann er endlich Besuche empfangen, auch von Damen. Seinen Vater hat er nur gefürchtet, keine Trauer mag sich einstellen. Die Schwester dagegen hat er fast verehrt, die kleine Göttin. Die ungeschminkte Wahrheit ist eine Provokation. Er möchte nur schreiben, was er denkt. Ein paar schöne Stiefel, das genügt doch schon, das ist die eigentliche Wahrheit, die er fassen, begreifen und wieder wegstellen kann. So wie die lästigen Gesetzestexte. Das Studium bricht er ab. „Ein paar schöne Stiefel, ein schönes schlankes Frauenbein, gleichviel. Unser Erdball, ein großer oder kleiner, aber doch bunter Dreckhaufen.“

Die Poesie verleiht ihm Flügel. Draußen stottert er meist, stößt gegen diesen Stein oder tritt in jene Pfütze, Abbild eines gewissen Charles Bovary, den er noch nicht erfunden hat. Bis zu ihrem Tod lebt er bei der Mutter, ganz wie Charles. Sein Herz ist früh verzweifelt, das Gesicht alert rasend schnell. „Niemand ist frei. Von Geburt an sind wir väterlichen Gebrechen und mütterlichen Torheiten unterworfen.“ Er ahnt bereits, dass er dem despotischen Vater im Sarg immer ähnlicher wird. Viele Jahre später wird ein irregeleiteter Brief seine Ahnung vom Fluch des Blutes bestätigen, dass auch sein Vater oft in Bordellen verkehrt hat. Er findet eine Notiz aus dem Jahr 1838, die er noch im Stadium der Unwissenheit geschrieben hat, damals als er siebzehn und Elisa Foucault de la Motte neunundzwanzig Jahre alt: „Alles was dich umgibt, spiegelt nur dein Selbst nach jenem Vergleichsschema und dem Maß, das du in dir trägst. Bist du es, der deine Erziehung leitet?“

Manchmal sieht er sie in Paris, sie ist die grande dame eines gewissen Maurice Schlésinger geworden, sie wird ihn überleben, wie sie seine unendliche Liebe überlebt hat, doch überdauern kann sie nur dank seiner Romane: Madame Renaud, Madame Arnoux und die Madame Bovary verlieren nie ihre Schönheit, weil es ihnen vorbehalten bleibt, keine grauen Haare zu tragen und nie gebückt am Stock zu gehen. Elisa ist irregeworden - nicht er, sondern sie wird seinen Alptraum aus „November“ erfüllen und in einer Nervenheilanstalt ihre Jahre verbringen mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit: Schizophrenie. Der junge Flaubert taugt nicht zum Werther: er erzieht sich, nicht zu sterben und nicht irre zu werden, sondern zu träumen.

Nach dem ersten epileptischen Anfall beginnt Gustave mit der Niederschrift von „Jules und Henri“, der ersten „Erziehung des Herzens“. Auf der Frage nach dem Ich bleibt er in den Vorbereitungen stecken und findet alles viel zu ungeschickt gesagt. Daher verteilt er sich auf zwei Personen, das ist persönlich, aber nicht so intim. Die Frage nach seinem Selbst verzehrt ihn, sie verlangt wie sein Spiegelbild nach einer aufrichtigen Antwort. Im Orakel zu Delphi heißt es: Erkenne dich selbst und du wirst sein. Verkennst du dich, wird Gewesenes niemals dein. Werder, der du bist oder du wirst niemals sein.

Aus dem Nichts ist sie da und ergreift von ihm Besitz. Er hat diese trichter-nein, diese spiralförmige, ihn in einen Strudel spasmatischer Zuckungen werfende Krankheit. Ein ihm Schwindel erregendes Entzücken folgt. Ekstase, die zugleich Verhängnis für ihn ist: „Bist du es, der mit einem schwindsüchtigen, sanftmütigen oder bösartigen Charakter geboren wurde? Bist du es, der es gewollt hat, geboren zu werden? Der sich vor dem Tod fürchten will? Du bist da, weil dein Vater eines Tages von einer Orgie aus irgendeinem Bordell heimkehrte und deine Mutter alle List einer Frau ins Spiel brachte, getrieben von ihrem Instinkt nach Schwangerschaft.“ Sie wollte neben einem Gott aufwachen in einem großen Haus mit duftenden Rosen und keine Sorgen mehr haben.

Ich möchte nie geboren worden sein oder sterben“. Niemand darf das lesen. Es sind Aufzeichnungen eines Irren und doch hat er nicht die Kraft, sie zu verbrennen. Die Krankheit schwitzt diese Fantasien aus ihm heraus. Es sind Metamorphosen, durch die er geht. Manchmal zuckt er zusammen beim Anblick seines Schattens, und manchmal denkt er, die Welt gehört ihm allein. Er hat sein Gleichgewichtverloren, taumelt, stürzt. Sein tiefer Fall gleicht einer Seelenreise. Er sieht Dinge, die er nicht für möglich hält und die er deutlicher spürt als die Welt, die ihn umgibt. Alles schwankt und braust, im Fieber ist er innerlich aktiv, glühend, äußerlich aber nur leblose Ansammlung von Nerven und Muskeln. Was ihn an einem Tag entzückt, ekelt ihm am nächsten Tag. Alles, was er schreibt, muss ins Fegefeuer dieses Fiebers. „Und du spürst, du bist frei, aber jeden Tag handelst du von tausend Dingen getrieben. Bist du frei, deinen brennenden Kampf zu besänftigen, dieses lodernde Herz einzuschnüren, dies irrsinnige Glut zu beruhigen, die dich nächtlich verschlingt?“

Sein Herz ist verblendet von der Sehnsucht, geliebt zu werden. Er zweifelt an allem, sogar an seinem eigenen Zweifel. „Ich möchte das Schöne und Unendliche und ich finde nur den Zweifel darin.“ Liebe außerhalb des Traums bleibt seinem Wesen fremd, wie er schreibt, nur für die kleine Schwester Caroline empfindet er eine närrische Zuneigung, als könnte er durch sie seiner Schwester noch einmal beim Wachsen zusehen. Ernsthafte Gespräche bringen ihn schnell ins Stocken, einzig über die Kunst zu reden geht ihm stotterfrei über die Lippen. Er hat entsetzliche Angst vor der Ehe und ihren Konsequenzen. Nur keine Silbe zu den Damen, Geld genügt. Die Verderblichkeit seines Fleisches als Pfand für die Reinheit seiner Seele. Er will nichts wissen von Liebe, sein Herz ist mit Blattgold beladen. Allein in ihrem parfümierten Leib zu sich selber finden und gleichzeitig fort sein von alledem. Die Wollust zerreißt ihn, aber ohne sie kann er nicht sein, sie gehört zu ihm als andere Seite seiner Epilepsie, ihren konvulsivischen Zuckungen die er als bewussten Kontrollverlust erlebt.

Der Mensch ist ein Raubtier, das mit Messer und Gabel seine Beute tranchiert und bisweilen fähig ist, einen Hugo fehlerfrei zu rezitieren. Er schenkt einer Bettlerin 100 Sous und am Abend bleibt er denselben Betrag einer Dirne schuldig. Mit fast leeren Händen speist er sie ab und freut sich, so kostenfrei sich an ihr schadlos gehalten zu haben. Wie dicht liegen Verschwendung und Geiz beieinander? Niederträchtig sind sie beide. „Ich fühle eine unermessliche Leere, die ich mit allen Dingen, die ich in sie hineinwerfe, ausfüllen möchte. Sind wir frei, Gutes oder Böses zu tun? Wenn das Gefühl des einen überwiegt, weshalb tun wir dann oft das andere?“41

Er sieht den anderen beim Leben zu, wird zum genauen Beobachter. Frauen kann er nicht treu sein, der Erinnerung an Elisa aber ewig. Hätten sie sich nur einmal geküsst, wer weiß, vielleicht wäre es eine sterbliche Liebe, eine dumme Sache geworden. Aber so. Die unendliche Lust, sich treiben zu lassen und nur zu beobachten, was um ihn herum geschieht. Wieder eine fiebrige Nacht ohne Ruhe und ein Tag dahingeträumt wie tausend andere. Pläne gemacht und verworfen. Geschrieben, doch nichts Taugliches will aufs Papier. Der Schriftsteller will Gefühle im Detail ergründen, ganz wahrhaftig sein, nicht pathetisch. Die Romantik wird auf dem Seziertisch obduziert. Doch was er schreibt ist großer Mist. Der Schriftsteller in ihm ist gut, der Mensch böse oder verhält es sich umgekehrt? Ob gut oder böse, sie riechen nicht, es bleibt doch nur die Frage, welches von beiden Fiebern das stärkere ist und für einen kurzen Moment die Oberhand gewinnt.

Wie sonst kommt der Mensch, dieser elende Wurm, zu religiösen Empfindungen? „Aber der Mensch hat eine unsterbliche Seele nach dem Bilde Gottes: zwei Ideen, für die er sein Blut vergossen hat und ewig vergießen wird. Zwei Ideen, die er nicht versteht: einen Gott, den er weder sieht noch hört, von dem er aber überzeugt ist, selbst wenn er nicht glaubt. Und eine Seele, die er gleichfalls nur fühlt und nirgendwo festmachen kann.“

Wenn es keinen Himmel gibt, dann auch keine Hölle und vielleicht ist alles ein göttlicher Plan, der den Zufall gewähren lässt. Es gibt nur Schicksal oder Vorsehung, nur Liebe als Aufgabe oder verliebt sein als Rausch und Illusion. Er starrt in die Pariser Wolken, von Ruß getränkt, schwer wie ein Moloch über den Gassen. Aus den Häusern lodert das Feuer und auf den Straßen lärmen Handwerker. Gebaut wird überall, Vertrautheit stirbt in Raten, Liebespaare stündlich.

Sein Leben, aufgeteilt in Paris und Croisset, gleicht zwei getrennten Wegen, die sich manchmal und unerwartet kreuzen. Seine ganze Aufmerksamkeit wendet er der Vorhersehung seiner Anfälle zu. Schließlich will man wissen, wo und vor wem man fällt. Epilepsie ist weder teuflisch noch göttlich, nicht einmal ansteckend, ganz der daimon, wie ihn Pindar verstand42 tierisch und göttlich. Mit Worten stammeln wir doch nur. „Wir definieren Gott, die Schöpfung, die Natur und doch können wir weder Freude noch Schmerz wirklich tief damit sagen. Welche Lust dir eine nackte Frau bereitet oder Plumpudding.“

Elisa hat eine Affäre mit dem deutsch-jüdischen Musikverleger Schlésinger, als sie noch verheiratet ist. „Es gab damals ein Wort, das mir schon immer schön erschien: Ehebruch.“ Noch immer ist er geplagt von dem Verlangen, sie zu lieben, doch an das Ideal der Reinheit zu glauben, hat er bereits verloren wie der November seine Farben. Flaubert forciert den vollständigen Umzug nach Croisset. Das Landgut der Eltern wird der neue alte Mittelpunkt seiner Welt. Das Meer von Trouville ist ihm ganz nahe, er kann es atmen. Er ist nun Gutsherr, erteilt Befehle an Dienstboten, deren Gesichter ihm von Kind an vertraut sind, um das Anwesen zu bestellen, er kümmert sich nur um so viel, dass es nicht verkommt. Immer wieder reitet er zum Meer hinaus, als ob dort eine Antwort auf seine Fragen, fände. Der Eindruck jenes Sonnenuntergangs stellt sich nie mehr ein. „In jener Zeit schien mir jeden Morgen, wenn ich aufwachte, daß sich an jenem Tag ein großes Ereignis erfüllen werde und mein einfaches Herz schwoll vor Hoffnung an, als wenn ich von einem fernen Land eine Ladung Glück erwartet hätte.“

Eines Morgens wacht er auf und weiß, was zu tun ist. Der Westen ist müde, verlebt, grau geworden, er muss an die Quelle der Sonne, der muss in den Orient. „Es gibt Dichter, deren Seele ganz voll von Düften und Blumen ist, andere, die nur Düsteres haben, nur Bitterkeit und Wut. Jeder von uns hat ein Prisma, durch das er die irdische Welt wahrnimmt.“

Tagelang sieht er den einst frischen Rosen beim Welken zu, wie sie das Unvermeidliche hinnehmen, klaglos, wie es scheint. Neben ihm liegt ein fast fertiges Manuskript. Sein Kopf ist unklar, verworren, wie kurz vor einer erneuten Spirale, träge Gedanken, wie Mürbeteig, aus denen Bilder auftauchen. Er nimmt die Feder, streicht ihr zärtlich über den Schaft, streut Sand über das nach Sandelholz duftende Papier und beginnt eine Arbeit, deren Szenen und Titel häufiger Änderungen unterzogen werden. Er kennt die Richtung nicht, die erste Regung des Herzens nennt er den Roman zunächst und immer hat er Elisa vor Augen. Er muss die Worte tanzend machen, damit er einen unterdrückten Schrei für die absolute Schönheit, die ihn leitet in die Welt bringt, jenen Schrei, den Worten nie eingefangen.

Der Fluch des Blutes, der Chirurg steckt in ihm. Ständig misst er Fieber und diagnostiziert seinen Leib. Er sei schizophren, vertraut er seinem engsten Freund Louis Bouilhet an, schließlich sehe er sich stundenlang stumm beim Schreiben zu. Dieser wirft einen zweiten Blick über das Gelesene. Es könnte doch ein Meisterwerk sein, gibt er zu bedenken. Flaubert erwidert, offensichtlich irr geworden: „Alle Meisterwerke sind dumm. Ein bunter Misthaufen farbloser Geschichte.“

Etwa sechs Seiten schreibt er pro am Tag, wenige Zeilen behält er über, manchmal gar keine oder nur ein Wort. Alles um ihn herum verschwindet, er sitzt ungekämmt im Bademantel auf dem Sofa, träumend, wie es scheint, darauf vertrauen, dass ein Bild hinter dem Vorhang auftaucht. Dann wieder liest er eine Zeitung nach der anderen, ein Buch und noch eines, unterbrochen nur von der Notdurft. Die Mutter sitzt unten, schon früh zu einem wertvollen Möbelstück verkommen, das besorgt von einem Zimmer ins andere gestellt wird.

Februar 1848. Das Jahr, das alle seine Hoffnungen auf Revolution zunichtemacht. „Die Märzrevolution ist einer der schärfsten Einschnitte der französischen Geschichte mit einem romantischen Drang zur Totalität. Flaubert wurde zum Erfüllungsgehilfen eines Prozesses degradiert, der das skrupellose Kalkül, den Egoismus, der Individuen und Gruppen an die erste Stelle rückte.“43

Neue Rosen auf dem Tisch, gen Osten ausgerichtet. Vorbereitung ist alles, täglicher Schlaf und Traum, der Rhythmus des Leibes, dürfen nicht gestört werden. Vom Frühstücksei bis zur Nachtglocke ist alles geregelt. La Préparation du roman, diätetische Ethik,44 die Neurose ist immer anwesend. Der Schriftsteller Flaubert ist Perfektionist, getrieben von dem Verlangen Wunsch, einen perfekten Roman zu schreiben, in dem kein Wort fehlt und keines überflüssig erscheint. „Mein Leben ist kein Tun, nur Gedanke und Illusion.“ Schreiben ist ewiger Selbstbetrug und doch geht sein Verlangen nach ihm tiefer als zu einer Frau.

Die Beziehung zu Louise Colet geht zu Ende. Angefangen hat es mit Kerzenschein, Kaminfeuer, geendet hat es in der immer selben Tinte, dem ewig gleichen Fliederduft-Papier, dem roten Federkiel auf dem Schreibtisch. Wenn ihm etwas misslingt oder er eine Blockade hat, nimmt er Platz auf einem grünen Plüschsofa. Rituale, Fetisch, Disziplin. Immun gegen zeitgenössische Kritik hört er nur auf seine Freunde Bouilhet und du Camp. Entscheidend für die Poesie ist das Streichen von Überflüssigem, ein misslungener Satz und die sorgsam aufgebaute Atmosphäre ist ruiniert. sagt Flaubert. Auch die Materie hat Herz. Um das Ganze zu retten, muss das Einzelne sterben. Er streicht eine Blüte, einen Satz und dann, nach kurzer Überlegung einen zweiten. Alles muss beobachtet werden. Schließlich lebt er für das Schreiben oder gar nicht.

Nur einmal fragt ihn der Freund, ob er noch an die Demokratie glaube. Sie sind zusammen nach Paris gereist, als geschossen wurde, damals, am 23. Februar. „Wir haben heiße Maronen gegessen“ Er scheint sich zu erinnern, der Blick hellt sich kurz auf, die Mundwinkel zucken leicht, als spüre er den Geschmack von damals nach. Louis denkt an die Schüsse, als sie in die Palais des Tuleries eingebrochen sind. „Du hattest einen roten Schal auf, den du dann mir gegeben hast, weil ich so fror.“ Gustave fasst sich an den geschwollenen Hals. Er ist dickleibig geworden, lässt sich gehen, seit er nicht mehr mit der Colet zusammen ist. Er hat wieder an seinem Smarh gesessen, dieser Geschichte mit dem Heiligen Antonius, die keiner kapiert. Dann hat er angefangen über die Revolution zu schreiben, aber auch lethargisch, ohne wirklichen Antrieb. „Du hast mich auf die Idee von Emma gebracht“ sagt Gustave.

Zwei Jahre hat er sich mit ihr herumgetragen, dann hat er den ersten Satz geschrieben. Vorher sind er und Maxime du Camp in den Orient aufgebrochen. Süchtig nach Luxus ist sie, sagt er, als er Louis zum ersten Mal nach über einem Jahr Reise in die Arme schließt. Er meint nicht die Schlésinger und auch nicht die Colet, er meint Emma Bovary, die eigentlich Delphine Dalamare heißt. Das hat ihn motiviert, den Roman wirklich zu schreiben. Nicht das Rattengift und auch nicht der doppelte Ehebruch, der versuchte Gattenmord, nur die Tatsache, dass sie den Stadtplan von Paris auswendig kannte, jedes Geschäft, das sie nie betrat, jede Gasse, jede Straßenlaterne darin. Ob er noch an die Demokratie glaube, fragt Louis nach, als ihm das Schweigen des Freundes zu laut wird. „Pah“, antwortet dieser. Die Literaten von heute träumen vom Meer, wenn es im Sturm liegt, doch sie lassen ihre Boote im Hafen, bis er sich gelegt hat.

1 II. 2. Flaubertismus

Das Wort flaubertisme kreiert Léon Daudet, dessen eigene Romane erfolglos bleiben und der sich in der Dritten Republik einen Namen als antisemitischer und xenophober Deutschlandhasser macht und der eine glücklose Ehe mit einer Enkelin Victor Hugos führt. Als Sohn des Zeitgenossen Flauberts und Schriftsteller Alphonse Daudet sind ihm einige Interna Flauberts bekannt, vielleicht ist er ihm als Kind begegnet. Während der Dreyfus-Affäre in strikter Opposition zu Zola schreibt er für rechtspopulistische Zeitungen. 1914, kurz nach Kriegsausbruch schreibt er, es bedürfe in Frankreich wieder mehr flaubertisme. Dass er damit die Art, wie Flaubert zu schreiben meint, ist selbsterklärend. Er selbst fügt nur ironisch-rustikal als Synonym dafür an. Inzwischen ist der Begriff, zumindest in Frankreich, ein fester Bestandteil des Literaturkanons, um ihn von dem Realismus eines Balzac oder eines Naturalismus eines Zola abzugrenzen.

Corneille und Racine hatten ihren Querelle du Cid45 und ihren Streit über die wirkliche und die vorgestellte Wirklichkeit, die Präsenz im Präsens. Flaubert und Baudelaire haben ihren Prozess. 1856 und 1857 werden sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt. Die Revue de Paris veröffentlicht am 1. Oktober 1856 einen Auszug aus „Madame Bovary, den ihr Autor nach sieben Jahren Arbeit für abgeschlossen erklärt. Wegen der detaillierten Schilderung des Ehebruchs der Protagonistin, hinter der ein authentischer Kriminalfall steckt, werden Flaubert und die führende Zeitung eines Verstoßes gegen die Moral und die Religion angeklagt. Flaubert wird schließlich am 7. Februar 1857 freigesprochen, zum einen, weil er einen guten Anwalt hat, zum anderen, weil der Staatsankläger unvorbereitet ist und den Roman gar nicht kennt, darüber hinaus hat Flaubert Geld und kann glaubhaft machen, dass er nicht auf Tantieme angewiesen ist. Das Werk wird nicht zensiert und ein Erfolg, denn er hat durch den Prozess ungewolltes, doch wirksames Aufsehen erregt.

Baudelaire hingegen, mit dem Flaubert zu dieser Zeit in enger Korrespondenz steht, wird zu einer Geldstrafe und Auslassung von sieben Gedichten verurteilt. Der Staatsanwalt hat seine Texte wirklich gelesen, der Dichter ist verarmt und sein privates Leben durch bekannte Opiumsucht nicht bürgerlich redlich wie das des Gutsherren Flauberts. Noch wird in Paris mit zweierlei Maß gemessen. Noch hat niemand begriffen, dass beide Schüler eines Geistes sind.

Im April 1857 wird Madame Bovary veröffentlicht und es bleibt Flauberts einziger Erfolg, nicht vergleichbar mit seinem heutigen Ruhm aber man kennt ihn. Seine Maxime: »L ́auteur dans son oeuvre doit être comme Dieu dans l ́univers, présent partout et visible nulle part.«46 (Der Autor muss in seinem Werk so sein wie Gott im Universum, überall gegenwärtig und nirgends sichtbar) wird zum Mantra des Flaubertisme. Das und das Streben nach Wahrheit, nicht nur Glaubwürdigkeit in einem Roman zeichnet Flauberts Realitätssinn aus. Da Subjektivität ein Filter, mitunter auch eine Blende ist, darf sie nicht in das Werk einfließen. Persönliche Überzeugungen haben ebenso wenig wie Geschmack oder eigene Erlebnisse einen Platz bei ihm. Der Autor muss das, was ist beschreiben und gleichzeitig Gefühle vermitteln, so als stünde der Leser im gleichen Raum, trüge das gleiche Kleid, feiere die gleiche Hochzeit.

Flaubert wehrt sich gegen den Begriff réalisme, nicht weil er sich für einen Idealisten oder Romantiker hält, sondern weil er die Wirklichkeit für tiefer erachtet als sie zu seiner Zeit dargestellt wird. Der Beginn des psychologischen Romans wird gemeinhin Stendhal zugesprochen, doch Flaubert geht weiter, da er auf jeglichen Kommentar verzichtet. In der Wirklichkeit gibt es schließlich auch keine Stimme, die erklärt, was der Leser sehen sollte. So detailgetreu wie er hat die Welt noch niemand abgebildet. Es genügt ihm nicht, sich in Madame Bovary einzufühlen, er will sie sein, ganz und gar. Das und nicht die Identität mit seiner Protagonistin ist gemeint, als er vor Gericht zu Protokoll gibt: „Madame Bovary, das bin ich.“ Eine Identifikation mit einer Ehebrecherin mit Mordabsicht und Selbstmörderin hätte ihn ins Gefängnis gebracht. Flaubertisme, im Gegenteil zu Balzac, bedeutet Freisein von jeglicher Meinung oder gar Sympathie mit einer Idee. Balzacs Realismus, die sich in dem epochalen „Comédie Humaine“ niederschlägt, wird getragen von einer gesellschaftlichen und politischen Vision, einem klaren Bekenntnis und persönlichen Überzeugungen des Autors. Bei Flaubert trifft dies alles nicht zu. „In seiner ausweglosen Lage sieht Flaubert den Künstler des 19. Jahrhunderts die Hierarchien zugunsten des Ideals der Gleichheit eingebettet und damit die Voraussetzungen, die Kunst verschwinden macht.“47

Die Kongruenz von innen und außen entstammt im Ansatz der romantischen Schule, der absoluten Identität von scheinbaren Antinomien (These, Antithese, Synthese). Man könnte hinsichtlich des Absolutheitsanspruchs von Wirklichkeit auf Hegel schließen, wenn Flaubert ihn nicht so abgrundtief gehasst hätte. Für ihn geht es nicht um das Verstehen oder die Vernunft, sondern darum, die Notwendigkeit der Wirklichkeit im Einzelnen und im Besonderen, zu erfassen, das Absolute konkret und nicht abstrakt zu formen Konkreten zu erfassen. Gerade aufgrund der Erfahrung von 1848 teilt er Hegels Fortschrittsoptimismus, seine progressive Dialektik nicht, sondern setzt ihm Flaubertismus entgegen »une manière absolue de voir des choses, sans s ́engager«48 (eine absolute Art, Dinge zu sehen, ohne sich einzumischen), wie Flaubert schreibt.

Während Hegel die Materie und damit die Dingwelt aller Erscheinungen nimmt, um dahinter eine geistige Tätigkeit, eine Idee zum Vorschein zu bringen, geht es ihm um absolute Neutralität. Er bringt die Ideen zum Verschwinden, was bleibt sind Gefühle, Triebe, Dinge: «Une phrase est viable, quand elle correspond à toutes les nécessités de la respiration.« Ein Satz ist wahr, wenn er allen Notwendigkeiten der Atmung entspricht. Der Text ist organisches Gewebe, Flaubert vergleicht es mit einem Spinnennetz.

Seit der gescheiterten Revolution hält Flaubert die Hoffnung auf Veränderung oder gar Erlösung für eine ausgemachte Dummheit. Hermann Bahr (1890), quasi der Entdecker der Genialität des zu seiner Zeit kaum beachteten Sonderlings aus Rouen, bezeichnet Flaubert als Besessenen einen, „für sein Werk sich opfernden Mönch und nur für das Schreiben lebenden Künstler, dem alles andere egal ist“49 Ohne Flaubert ist die Wiener Secession undenkbar.

Mag diese Technik auch für „Die Erziehung des Herzens“ und in „Salambô“ gelten, der „Heilige Antonius“ geht darüber hinaus durch die Integration des Fantastischen. Der Autor sieht es als philosophisch unerfüllte Wahrheitssuche, keinesfalls als Eskapismus in reine Ästhetik, im Gegenteil, als pure Unbehaglichkeit an der Zeit: »Dans Saint Antoine j’étais chez moi. Ici, je suis chez le voisin. Aussi je n’y trouve aucune commodité.« „Im Heiligen Antonius blieb ich ganz bei mir. Hier bin ich beim Nachbarn. Auch habe ich keinerlei Behaglichkeit darin gefunden“ schreibt er an Louise Colet am 13. Juni 1852, als die zweite Version abgeschlossen ist. Würde Flaubert nicht eine innere Wahrheit gesucht haben, weshalb hätte er sich dieser Tortur einer dritten Version unterwerfen sollen?

Die von ihm geforderten und gesetzten Maßstäbe beurteilt auch Hermann Hesse als unerhörte Instanz für alle Schriftsteller. Die Geschichte tritt in den Hintergrund; einzig der Stil entscheidet über das Gelingen der Literatur. Tauscht man nur einen Satz aus, manchmal ein einziges Wort, ist der Flaubertisme, dieser einzigartige Sprachrhythmus, musikalischer als Musik, zerstört.50Die Schule der Empfindsamkeit ist an sprachlicher Schönheit nicht zu überbieten oder zu übersetzen. Die ganze Pariser Moderne hat nicht annähernd so Großes hervorgebracht … Flaubert zeigt, dass Traum und Fantasie realer sein können als die Wirklichkeit.“51

Flaubert schildert die unausweichliche Kollision von Traum und Wirklichkeit. „Vier Seiten, wie sie die französische Literatur nicht besser hat“52 urteilt Stefan Zweig über dasselbe Werk und meint mit den vier Seiten die Begegnung mit der ergrauten Madame Arnoux alias Elisa Schlésinger. Aus dieser Synthese von Wirklichkeit und symbolischer Bedeutung für das Seeleninnere werden „Bücher wie Statuen, kalt, ehern, unvergänglich, klassischen Angesichts ... nur bezeugend durch die Fehllosigkeit ihrer Kunst“.

Flaubert besitzt keine Theorie wie die Brüder Goncourt und Zola, vielleicht nicht einmal eine Meinung, aber er arbeitet methodisch, vertraut sich keinesfalls der Inspiration an wie Balzac oder Stendhal. Die Nichtigkeit der äußeren Wirklichkeit und das Nichts ihrer Ideen führen zu seiner Abkehr innerhalb der Beschreibung, die mit dem Realisten im Widerspruch steht. Sein Hass auf die Philister, allen voran Hegel, aber auch die Saint-Simonisten, auf die Theaterzensur und die politischen Institutionen, der Förderung von staatlichen Kunstwerkstätten und damit Subventionierung der Künstler unter staatlicher Kontrolle ist so gewaltig, dass er Politik komplett ablehnt. Setzt man Realismus mit rationaler Wiedergabe gleich, mit Faktizität der Geschichte, ist Flaubert kein Realist, was „Salambô“ eindrucksvoll beweist. Dennoch hat er die Fakten studiert. Ihm ist die präzise Beschreibung einer Sandale oder des verwendeten Marmors bedeutender als die Historie selbst. Ganze Tage hüllt er sich in einen Mantel aus Kaschmir, um das Gefühl auf der Haut zu spüren, um sich ganz sicher zu sein, wenn er ihn beschreibt.

Flaubertisme erfindet nichts, er setzt nur aus Vorgefunden neu zusammen. Er sondiert Quellen, aber er transformiert die Realität in einer anderen Dimension als der Kausalität. Seine Grundüberzeugung, dass der Mensch unreif für die Demokratie ist und der da-aus entwickelte Kulturpessimismus haben auch nichts mit Schopenhauer gemein, wie man vermuten könnte. Flaubert interessiert sich allein für die Ästhetik, keinesfalls den Geschmack der Zeitgenossen, denn er fordert eine Scheidung zwischen der Geschichte, dem Schriftsteller und der Öffentlichkeit: »une divorce unique dans l ́histoire de l ́écrivain et du public«.

Der Autor besteht zudem auf einer Trennung von künstlerischem, produzierendem und historischem Ich, was für Sartre eine affektierte und neurotische Komponente hat, da sich seiner Auffassung nach das Subjekt nie aus dem Kontext des Schreibens lösen kann. Gerade Flaubert darf man nicht auf sein Leben reduzieren, obgleich er zu den Schriftstellern gehört, die nichts anderes tun, als ihr eigenes Leben künstlerisch zu verarbeiten, worin er Kafka vorwegnimmt.

Zu Zeiten des Bürgerkönigs Louis Philippe lässt man generell die Bilder nach Wandmaß anfertigen und bezahlt sie nach Fläche, d.h. Leistung nach Quadratmetern. Die Künstler sind Fabrikarbeitern gleichgestellt, Qualität wird berechenbar und nach Produktionsaufwand vergütet. In keinem Roman außer in Flauberts „Die Schule der Empfindsamkeit“ ist dies erwähnt. Zum Flaubertisme gehört auch Anachronismus der Geschichte. So sagt der Autor, er schreibe über das Sein nur, um das „Nichts“ zu finden, die Leere hinter der dinghaften Welt.

„Madame Bovary“, der Jahrhundertroman, richtet sich gegen Stendhals Kristallisationstheorie der Illusionen, gegen Balzacs Willen zum Erfolg und gegen Hugos Sentimentalität der Selbstlosigkeit in der Liebe. „Salambô“ bricht mit dem gängigen Bild des Orients, das durch die Bilder Delacroix geprägt ist. Flaubert öffnet und weitet die Bühne für die Moderne, ungeschminkt aufzutreten. Er ist ein Décadent, wie Paul Bourget, der den Begriff les décadents prägt und der mit seinem Motiv „Verbrechen aus Liebe“ Emma Bovary zum Vorbild nimmt. Auch Zola in „Thérèse Raquin“ und Mauriac in „Thérèse Desqueyroux“ beziehen sich auf Flaubert, nicht nur auf Motiv und Typus von Madame Bovary, sondern auch auf ausbleibendes Bedauern oder Erklärung für die außergewöhnliche Tat.

Nietzsche bezeichnet diesen Aufstand gegen die sekundäre Welt durch Flaubert als Skeptiker an der (konstruierten) Wirklichkeit als „Schule des Misstrauens“, worunter er die „principielle Verachtung der Sphären“ versteht.

Flaubertisme repräsentiert eine ästhetische Revolution, wie sie im Impressionismus und Naturalismus ihre Fortführung erlebt, eine Wahrheit, die größer und tiefer ist als die Wirklichkeit, in der sie stattfindet, eine subtile Bewegung, die gegen die Verklärung der Realität protestiert. Flaubert zeigt, dass Realität selbst banal und an sich leer ist, einzig durch Illusionen lebendig und entzaubert wird wie jedes Glück. „Er setzt der Erzählung keiner Mimesis gleich, sondern den Denk-und Sprechweisen.“53 Die Vorlage für Proust.

„Salambô gibt Rätsel auf, denn nach einem so modernen Roman, der nicht nur die gegenwärtige Zeit zum Inhalt hat, sondern auch eine bis dahin unbekannte Erzählhaltung einnimmt, enttäuscht er die Erwartung. Das Werk ist romantisch, insofern sein Autor unsterblich in den Orient verliebt ist, dennoch steht die Desillusionierung der Antike, das Bild, das sich der Leser von ihr macht, im Vordergrund. Auch schreibt er entgegen der Zeit des Bürgertums keinen Entwicklungsroman; seine Charaktere erreichen nichts und entwickeln sich bestenfalls zu ihrem Nachteil, was formal den Anti-Bildungsroman im Expressionismus vorwegnimmt. Realismus, Positivismus, Fortschrittsgläubigkeit und technisches Interesse wie die Einbettung der Eisenbahn in die Belletristik gehören im 19. Jahrhundert zusammen. Ansatzweise geschieht dies, wenn Flaubert über die Fayencen in „L´Education sentimentale“ schreibt. Doch sein style évocatrice berauscht sich an den Formulierungen, nicht an den dargestellten Objekten.

Subjektivismus mit Objektivismus erscheinen in der Auflösung versöhnt, was dem deutschen Idealismus entgegensteht und Bergson (élan vital) oder Proust (rétour du temps perdu) vorauseilt: die Wirklichkeit führt bei ihm zur Verinnerlichung der Zeit. Die Räume haben qualitative Bedeutung und keine quantitative Ausdehnung. Vorstellung und Darstellung kollidieren und bilden keine Symbiose, Realismus mit seiner Richtigkeit oder Nützlichkeit werden gleichgültig. Flaubertisme impliziert esthétique pure, ungefilterte Empfindung. Der Ausdruck für zweckfreie Kunst l ́art pour l ́art stammt von Baudelaire, den Flaubert erstmals im Salon von Apolline Sabatier 1852 begegnet. Auch der Flaubertisme fordert Autonomie der Kunst, aber nicht wie die Entwicklung im Symbolismus Mallarmés kulminierend, auf Kosten des Inhalts und der Verständlichkeit. Für den Romancier bedeutet es Unabhängigkeit der Imagination vom „Ding an sich“ und auch von Ideen für sich wie sittlichen und politischen Gehalt.

Flaubert beschreibt die Ehe durch Auslassung und Nicht-Kommunikation. Er demaskiert die Liebe als Illusion, die scheitert, sofern sie sich realisiert und das Gegenüber erkannt wird. Als Beispiel dient Flauberts Adaption der Novelle „Une femme de trente ans54. Balzacs Schilderung der dreißigjährigen Gattin Julie d'Aiglemont und das Portrait ihrer unglücklichen Ehe mit einem oberflächlichen Reiteroffizier führt zum gleichen Ergebnis: dem Betrug, anschließendem Unglück und Selbstmord. Bis zu Tolstois Anna Karenina lässt sich die Liste erweitern, weil der Stoff so alltäglich und banal ist. Balzac erklärt das Scheitern der Ehe durch die ökonomischen, sozialen und physiologischen Determinanten (physiologie du mariage), die in seelisches Unglück (psychologie de mésalliance) hervorrufen. Dagegen scheitert die Ehe von Emma und Charles Bovary weder an Geld, Stand, Konfession oder Konvention, sie ist bedingt durch Emmas Naturell, ihre Hingabe an die Romantik bei Charles Nüchternheit eine Unmöglichkeit.

Vergleicht man Emma mit Stendhals „La Charteuse de Parma55, so wirkt Stendhals Roman als Tribut an einen Kanon, der sündiges Verhalten bestraft: Mutter und Kind sterben aufgrund des Ehebruchs. Flaubert ist ungleich moderner als seine beiden Vorgänger. Die Beliebigkeit der Dinge in Bezug auf die Bedeutung im Inneren steht im Vordergrund. Hugo von Hofmannsthal berücksichtigt dies und bezieht sein Theaterstück „Jedermann“ auf dessen Aussage „Jede könnte Madame Bovary sein.“ .Die Redewendung „Madame Bovary, das bin ich“ wird sehr häufig zitiert, aber falsch kommentiert. Es geht Flaubert niemals darum zu betonen, dass er hinter der Figur steckt und sich mit ihr identifiziert. Sein Konzept der Unbeweglichkeit, das nie Komplizenschaft oder Identifizierung mit einem Perspektiventräger erlaubt, nennt Flaubert impassibilité.

Maxime Du Camp verweist auf Descartes´ Maxime „Ich denke, also bin ich“ und die Frage nach der doppelten Identität aus Sein und Denken von Sein bzw. Leib und Geist. Denn ich bin ich ist eine Tautologie, wenn man die beiden Subjekte nicht substanziell unterschieden werden in res cogtitans und res cogitare. Flaubert will Subjekt und Objekt mit Prädikat voneinander trennen. Er dissoziiert. Selbiges Prinzip gesteht auch Flaubert: „Ich bin und bin doch nicht. Ich bin sie, weil sie nicht ich sein kann.“

»Bovary, en ce sens, aura été un tour de force inouï et dont moi seul jamais aurai conscience : sujet, personnage, effet, etc., tout est hors de moi.«56 („Bovary, in diesem Sinn, wird eine gewaltige unerhörte Anstrengung und dessen ich mir niemals bewusst geworden bin: Thema, Charaktere, Ergebnisse etc., alles liegt gänzlich außerhalb von mir.“) Baudelaire ergänzt in der Literaturzeitung L´ Artiste 1857: der Autor habe sich zur Frau machen müssen, um eine Heldin zu erzeugen, die im Grunde männlich handelt.

1 II. 3. Briefwechsel mit Louise Colet

Die Beziehung mit Beziehung mit der (wie Elisa Schlésinger) zehn Jahre älteren Louise Colet beginnt im Juli 1846, wenige Monate nach dem tragischen Tod seines Vaters und dem weit mehr betrauertem Kindbetttod seiner Schwester und endet nach zwei reisebedingten Unterbrechungen September 1854, als sie darauf besteht, ihn in Croisset zu besuchen und damit seiner Mutter vorgestellt zu werden. Dreifach ist die Liaison von Bedeutung: Flaubert verlässt sie zweimal für die Poesie, er entscheidet sich bewusst für das Schreiben und gegen die Liebe; eine Situation die auch Hölderlin, Kierkegaard und Kafka durchlaufen, die möglicherweise auch Nietzsche und Lou Salomé bzw. Rilke und Lou Salomé betreffen. Zweitens ist die Frau die wesentlich erfolgreichere Schriftstellerin von ihnen beiden, was den Zeitgeschmack dokumentiert und die Tatsache belegt, dass Genies gewöhnlich ihrer Zeit voraus sind; während Louise Colet die Romantizismen mit ihren klischeehaften Vorstellungen bedient, verweigert sich Flaubert der Massenästhetik und Sonntagsliteratur. Drittens liefern seine Briefe einen Nachweis seiner Ästhetik und seiner Arbeitsweise, so dass Flaubert aus sich selbst heraus verständlich wird.

Louise stammt aus Aix-en-Provence, das vom Temperament und Mentalität her Italien zuspricht und nicht dem rauen Norden der Normandie. Über erotische Gefälligkeiten steigt sie von der Muse bis zur erfolgreichen Dichterin und ersten weiblichen Mitglied der Académie française auf. Sie pflegt Freundschaften bis in den Hochadel und Regierungsämter hinein, gewinnt namhafte Preise für ihre Werke. Zweifellos ist sie nicht nur erfolgreicher, sondern im Leben auch moderner und aufgeschlossener als der normannische Dickschädel Flaubert, dem es unvorstellbar erscheint, mit seiner Mutter und der Geliebten im gleichen Raum zu sein. Als verheiratete Frau mit Kindern von verschiedenen Vätern wäre sie als persona non grata disqualifiziert. Als Gegenleistung für sein Stillschweigen sorgt Louise Colet dafür, dass ihr Gatte ohne die Voraussetzungen zu erfüllen zum Musikprofessor ernannt wird.

Zu den Geliebten und Verehrern, die ihren Salon angehören, zählen mehrere Literaten, u. a. Musset, de Vigny, Hugo und Cousin. Der Roman „Lui“ zwei Jahre nach der Veröffentlichung von „Madame Bovary“ enthüllt pikante Details über Flaubert, mit dem sie nicht nur eine leidenschaftliche, sondern auch eine poetische Beziehung pflegt. Allem Anschein nach hat sie seine künstlerische Überlegenheit anerkannt trotz der gesellschaftlichen Diskrepanz in ihrer Wahrnehmung. Revers dürfte ihre selbstbewusste und auch erotisch dominante Art als Vorlage für Emma Bovary gedient haben. Symbolisch fällt ihr Todesjahr mit dem George Sands, der zweiten bedeutsamen Autorin ihrer Zeit, zusammen.

Flaubert unterhält drei langjährige Brieffreundschaften zu großen Literaten: Colet, Turgenjew, Sand. Mit George Sand teilt er die Idee der Gleichberechtigung der Künstler (nicht der Emanzipation der Frau in der Ehe), mit Turgenjew findet er in den reifen Jahren einen Gleichgesinnten und späten Freund. Seine längste und intensivste Korrespondenz pflegt er jedoch mit Louise Colet.

Der Roman „Schule des Herzens“, spiegelt ihre Beziehung. Für den Künstler verfasst die Schriftstellerin nur Trivialliteratur: allein ihr Roman „Angélique“ verkauft sich zu Lebzeiten fünfzehnmal so viel wie alle Romane Flauberts zusammen. Nach Beendigung der Beziehung bleiben sie sich in Hassliebe über fast zwei Jahrzehnte aneinander gekettet. Bis zu ihrem Tod 1876 fürchtet Flaubert eine unverhoffte Begegnung. Indirekt und vielleicht auch nur unbewusst tritt er in Konkurrenz zu vielen anderen Günstlingen der scheinbar unerreichbaren Frau. Um vor ihr zu bestehen, schreibt er gegen sie an und substituiert sein erotisches Verlangen auf die Poesie. Ihr erotischer Briefverkehr fördert ihre Lust auf nächtliche und physische Annäherung, er offenbart auch die verletzliche Seite Flauberts. „Wenn ich sage, daß ich andere geliebt habe, so wäre das eine infame Lüge. Ich habe es jedoch geglaubt und mich bemüht, mein Herz an andere Leidenschaften zu hängen, es ist darübergeglitten wie Eis.“57

Sie begegnen sich das erste Mal im Salon de Refusés im Louvre, wo die von der Akademie verschmähten Bilder von Malern hängen, die mit den Konventionen ihrer Zeit brechen und über die Baudelaire schreibt. Sie ist in Begleitung ihres Mannes. Weil er ein wenig hinkt und auf einem Auge schlecht sieht, scherzt Flaubert, der seit seinen epileptischen Anfällen kaum noch stottert, er habe wohl seine ganze Sehkraft der Musik geschenkt. Dass Louise ihm Hörner aufsetzt ist bekannt, denn kurz bevor sie sich kennenlernen, sticht Louise dem Journalisten Karr einen arabischen Krummdolch in den Rücken. Keine tödliche Wunde, aber eine Zeitungsmeldung wert. Der Mann hat sie, der Auflage seines Feuilletons wegen, im Hôtel Pimodan bloßgestellt mit einem Liebhaber. Flaubert weiß es, weil Baudelaire im Zimmer nebenan Ohrenzeuge des Geschehens ist. Der Dolchstoß schadet der umschwärmten Poetin nicht, die Gesellschaft verzeiht ihren Lieblingen, was sie den gewöhnlichen Frauen nachträgt.

Aus heutiger Sicht erscheint die Stilisierung zur temperamentvollen Ikone als eine gezielte Marketingstrategie. Sie steht Phidias, dem berühmtesten Bildhauer von Paris, Modell für die Skulptur der Sappho. Die verwöhnte Frau scheint über Paris zu schweben, Flaubert hingegen, 25 Jahre alt, ist ein Niemand. Vielleicht reizt sie seine Dreistigkeit, vielleicht schmeicheln ihr die zehn Jahre Altersunterschied, vielleicht erkennt sie seine außergewöhnliche Sprachbegabung und sie möchte sich als Gönnerin bestätigt sehen. Zehn Jahre und gefühlte Tausend Briefe später ist sie um einige Erniedrigungen reicher und um Hunderte Hoffnungen ärmer. Flaubert muss immer damit gerechnet haben, mit einem Dolch in seinem Leib.

Manchmal erscheint der Himmel, gespiegelt in einer Wasserpfütze als ein silberner Mond. Vom Typ her, groß, schlank, dunkelhaarig, sportlich gleicht sie Elisa und auch der Schwester Caroline, den beiden wichtigsten Frauen in Flauberts Leben. Vielleicht reizt Flaubert die Freiheiten, die sich diese Frau in einer konservativen Gesellschaft nimmt und wünscht sich zu sein wie sie. Sicher ist nur, dass sie bald eine Affäre haben und aus dieser sich eine dauerhafte Beziehung entwickelt, die einzige, die sich der Bordellliebhaber Flaubert gestattet.

An diesem warmen Sommertag im Louvre steht er vor einem Bild von Delacroix, das die Frauen von Algier in ihrem Gemach zeigt. Er hat den Orient noch nicht bereist, träumt bereits davon, kann es sich leisten, denn durch sein Erbe hat er ausgesorgt. Delacroix ́ Farben werden von der fremden Schönen aufgefangen und berührt. Natürlich weiß er, wer sie ist, als ihr Blick ein wenig länger als der Anstand es gebietet auf ihm verweilt. Er empfindet sich noch immer für den Idioten, zu dem ihm der Vater erzogen hat, aber die Schüchternheit eines Mädchens legt er in den Bordellen ab. Vermutlich kennt er Baudelaires Essays über den Meister er Farben. Er vergleicht Delacroix´ Pinselführung mit den Linien, Schatten und Grübchen ihrer Haut. Er schreibt, wie Delacroix malt: mit expressiven Farben. In Gedanken hat er bereits eine Geschichte parat.

Gerade erst hat er die „Erziehung des Herzens“ begonnen, doch er ist keineswegs überzeugt von ihr. Maxime du Camp, der Colet bereits flüchtig kennt, übernimmt die Vorstellung. „Sie scheinen sich von den Frauen gar nicht losreißen zu können“ lauten die ersten Worte, die sie an ihn persönlich richtet. „Madame, für mich sind Delacroix und Rabelais die höchste Quelle erotischer Inspiration.“ - „Aber Rabelais versteht doch heutzutage kein Franzose mehr.“- „Gerade das Geheimnisvolle zieht uns doch an im Eros. Sehen Sie, physiognomisch bin ich eifersüchtig auf Sie, so vollendet erscheinen Sie mir, wie ein Buch von Rabelais mit tausend Worten, die ich nicht zu buchstabieren vermag.“ Ihr provenzalisches Lachen klingt, als hätte es sich im Pariser Himmel verirrt wie zarter Schmelz von Rosa. „Man muss so schreiben, wie man fühlt und nicht wie die anderen es verstehen.“58 Das Eis ist gebrochen. Manchmal verbindet das Ungesagte, manchmal das Gewagte. Am Ende erhält er ihre Karte und eine Einladung in ihren Salon.

Welche Farbe hat die Liebe? Mon Dieu, qui sache was er im ersten Moment ihrer Begegnung empfunden hat. Im Nachsinnen und der Erinnerung ist bereits alles mit einer zweiten Farbe überlagert. Schon am Abend nach der Einladung schreibt er ihr seinen ersten Brief. Er ahnt vielleicht, wie viel von ihm abhängt, und ist besorgt und beschäftigt mit der Auswahl des Briefpapiers und der Feder, mit der er schwungvoll die Buchstaben setzt. „Gott weiss, wie ich nach Hause gekommen bin. Der Schmerz unseres Abschieds ist süß, und ohne diesen Schmerz wüsste ich nicht zu leben. Ich erinnere mich an die Farbe der von den Laternen erleuchtenden Bäume und an das Schaukeln der Wagenfederung so inbrünstig wie an sonst nichts in meinem Leben.“59

Das Schaukeln im Wagen wird in der erotischen Szene, in der sich Emma und Léon lieben, noch in die Literaturgeschichte eingehen. Seine Mischung aus zurückgehaltenem Eros, wohlfeilen Worten und intimen Andeutungen erzielen ihre Wirkung. Noch in derselben Nacht verlässt ein in dunkler Seide gekleideter Bote mit lackierten Schuhen, rotem Livrée und weißen Handschuhen das Haus mit folgenden Zeilen: Ich fürchtete Sie kalt, trocken und egoistisch, nach dem, was ich von Ihnen las. Ich sehe, ich habe Ihnen noch geschmeichelt. Doch Sie schreiben gut, besser als ihr Ruf.

Er zögert, vielleicht um die Wirkung zu erhöhen, vielleicht, weil er seine Worte wiegt wie Gold, und antwortet Mir scheint, ich schreibe schlecht, Sie werden das ungerührt lesen, meine Zeilen sagen nichts von dem, was ich Ihnen sagen wollte und noch immer möchte. Touché. Am selben Tag noch erhält er ihre Antwort: Was trennt Sie dann von Paris und mir? Er begreift sofort, dass dies einer Aufforderung gleicht, ihr Galan zu werden. Der Hugenottenkönig Henri IV hat Recht, wenn er sagt: Kennst du eine Frau richtig, kennst du deren immer viele. Man muss viele Frauenbeine kennenlernen, um das Herz einer einzigen zu kennen und zu erobern. Er schreibt: „Bis jetzt mußte ich bei anderen Frauen die Wünsche befriedigen als bei denen, die mein Verlangen erweckt hatten.“

Ein gewagter Satz - es kommt darauf an, an wen er gerichtet ist. Manche Frauen schreckt er ab, anderen setzt er jenen Stachel ins Fleisch, Casanova zu bekehren. Louise Colet will wissen, weshalb er stets in den Armen der falschen Frauen die wahre Liebe sucht. Er: „Es liegt daran, daß meine Sätze sich brechen wie Seufzer. Um sie zu verstehen, muß man den Raum ausfüllen, der den einen vom anderen trennt …. Ja, ich fange an, mich selbst und meine Erinnerungen loszuwerden.“

Fortan vergeht kaum ein Tag ohne Nachricht von ihr bis sie sich zum ersten Mal in den Armen liegen. Nächtelang labt er sich an der Glut ihrer Wangen. Immer häufiger folgen Einladungen an seine Adresse in Paris, Gunstbeweise wie erlesene Zigarren und sündhaft teure Schokolade. Manchmal mischt sich ein betrübter, vom fürsorglich Mütterlichen ins fordernde oder warnende umschlagender Ton darunter. Ihre meist im Alexandriner vorgebrachten Klagen, er bleibe zu lange in der Provinz, nötigen ihn zu einer Rechtfertigung im Hexameter, weil er entgegen seiner Ankündigung sie nicht besucht hat, obgleich er in Paris weilt. Zeugen haben ihn mit gemeinsamen Bekannten gesehen und Louise ist derlei Unfug nicht gewohnt, seine Ziererei fängt an sie über das Poetische hinaus zu ärgern. Nicht immer führt die nackte Distanz zur Steigerung der Lust. „Sei mir nicht böse, mein liebstes Kind, die so jung und wunderbar nach mir ruft. Wenn du keine Briefe von mir bekommst, so heißt das nichts. Dagegen bin ich machtlos. Das sind die Tage, an denen ich vielleicht am meisten an dich denke und so überwältigt von Gedanken und Erinnerungen finde ich gar keinen Antrieb mehr zu schreiben.“

Sie antwortet mit Gedichten, deren Veröffentlichung sie plant. Schon nach wenigen Zeilen hat er das Gefühl, dass Louise vorzugsweise über Dinge schreibt, von denen sie nichts versteht, wie Entsagung oder Treue. Sie fühlt sich in jedem Genre zu Hause, verfasst Theaterrezensionen und Essays über Kunst, Dramen, Romane, Novellen. Die lyrische Göttin gefällt sich in der Rolle der verliebten Madame de Stael, um noch romantischer zu sein als ihre ewige Konkurrentin George Sand, deren Roman „Consuelo“ in aller Munde ist. Sie will kühner noch sein als die von ihr selbst erschaffene Heldin Angélique. Flaubert verspürt in ihr den Duft des Orients und seiner Salambô.

Seine Briefe enden häufig mit Zärtlichkeiten seiner Lippen auf den unterschiedlichsten Regionen ihrer Haut und beginnen meist mit der Anrede »Mon cher enfant« beginnen. Mit dem Instinkt eines brünstigen Raubtiers fühlt er, wo er sie berühren muss, wie lange und vor allem wann, um sie rasend zu machen. Letzteres wird er wiederholen müssen, wieder und wieder, nur leicht variiert und am meisten nachdem er ihr seine Tagebücher gezeigt hat, die Reisenotizen aus dem Orient und Ägypten. Louise wird immer rasend, weil er sie nicht erwähnt und er wird dann unter vielen betörenden Küssen sagen müssen, dass die Gedanken an sie sein Leiden nur verschlimmert hätten. Als Künstlerin vertraut sie ihm, die Frau in ihr bleibt misstrauisch und rachsüchtig, weil er anders als ihre Liebhaber partout nicht ihr Schoßhund sein will.

Ihm allein vertraut sie ihre unveröffentlichten Gedichte und auch Zweifel an, er allein darf sie korrigieren und mitunter sogar kritisieren. Der zartfühlend literarische erfolglose Epileptiker zieht sie mehr und mehr in ihren Bann.

Umgekehrt scheint Flaubert sich langsam von ihr zu entwöhnen und ihre Nähe als Klammergriff zu empfinden. Vielleicht ahnt sie, dass der Kitsch ihrer Poesie nicht überdauert und ihr seine Genialität fehlt. Vielleicht ist sie seinem Charme verfallen oder aber, wie Flaubert meint, dem Ideal, das sie sich von ihm macht. Im Laufe ihrer häufig unterbrochenen stand by Beziehung bezeichnet er die Salonlöwen als Rückfall in das finstere Mittelalter der Geschmacklosigkeit, die wie trotz aller Belesenheit ohne Funken Verstand (esprit) bleiben.

Vielleicht entwöhnen sie sich im Liebesakt der Liebe, zu verschieden schlagen ihre Herz im Takt, möglicherweise ist die offene Beziehung wider aller Versprechen doch Verrat am Gefühl. Vielleicht trennt Flaubert wirklich Feder und Bett, wenn er ihre Gedichte als banal und ordinär bezeichnet und sie ihm, trotz oder aufgrund ihres Erfolges auch Glauben schenkt. Als kluge Frau weiß sie um die Bestechlichkeit des Publikums und seine leichte Verführbarkeit zum Klischee. Sucht sie Anerkennung von einem Genie und sehnt sich nach seinem unbestechlichen Urteil? Finden sich da zwei Künstlerseelen und womöglich zwei, die im falschen Körper gefangen sind?

Meine Verse glühen vor Leidenschaft, schreibt sie ihm. Er antwortet distanziert: „Je persönlicher Sie die Verse machen, desto schwächer sind sie. Je weniger man die Sache fühlt, umso fähiger wird man, sie so auszudrücken, wie sie wirklich ist, aber man muß die Gabe besitzen, sie sich fühlbar zu machen.“ Manchmal wird er grob. Verse glühen ist trivial und geschmacklos. Louise dichte wie ein Pianist, der Stücke nachspiele, aber niemals etwas Eigenes wage, weil das den Mut zum grenzenlosen Scheitern einschließt. „Du bist mir eine ideale Muse“ Will Flaubert wissen, wie weit er gehen kann? Seine herablassenden Worte müssen für jede selbstbewusste Frau wie eine Kampfansage klingen. Doch sie kann nicht von seinen einfühlsamen Zeilen lassen, welche ihre eigene Vorstellung stimmen wie die Seite eines Instrumentes. Er ist ihr Magier, ihr Maestro.

Oktober 1849. Wozu will er reisen, allein, ohne sie? Mit ihr könnte er die Welt sehen, auch durch ihre Augen und noch vieles mehr. Er aber zieht seine Freunde als Begleitung vor. Den Orient, seine Bilder, Paläste und die Porzellansammlung in Croisset will er nicht mit ihr teilen, obgleich sie häufig darüber sprechen. Poe-sie muss ohne moralisches Vorurteil sein, darin gleicht sie der Liebe. Die Ästhetik verlangt Unparteilichkeit. Man sollte den Charakter eines jeden Menschen wie die Naturwissenschaft studieren. Irgendwann wird die menschliche Seele gleich der Physik ein Studium der Materie sein, prophezeit er ihr. „Es wird dann als ungeheurer Fortschritt gelten, eine nackte Frau nur noch als Ansammlung von Nerven, Muskeln und Gewebe zu sehen, weil es das einzige Mittel für den Mann ist, sich ein wenig über sich selbst zu erheben“.

Juli 1851. Nach seiner Rückkehr aus dem Orient, fühlt er keine Liebe mehr, nur noch eine Sache, die es abzuarbeiten gilt. Gefühlstaubheit ist der Preis seiner Fixierung auf die Kunst: „Ich kriege nicht einen Satz zu Ende, manchmal nicht einmal zustande, jede Minute tausche ich die Feder aus, weil ich nichts von dem ausdrücke, was ich sagen will.“

Er steckt in einer Krise. Wie die Sprache neu erfinden? Die Bovary, der Idee nach gerade erst geboren, steckt in ernsthaften Schwierigkeiten, so kurz nach ihrer Geburt. Nichts Halbes, nichts Ganzes will aus ihr werden. Alles blank, blass und blaukränklich, das widerlichste Gefühl von allen. Seine Bevorzugung der Schriftstellerei fängt an, die Erfolgsverwöhnte zu enervieren. Sie braucht nur wenige Wochen für ein Buch. Wieso lieben wir nicht ewig? fragt Louise in einem ihrer spärlich werdenden Briefe am Ende ihrer Beziehung. Seine Antwort trifft sie mit voller Wucht „Nie habe ich das Kind gesehen, ohne darin den zukünftigen Greis zu sehen, nie eine Wiege gesehen, ohne ans Grab denken zu müssen. Beim Anblick einer nackten Frau sehe ich bereits das tote Gerippe vor mir.“ 60

Dieser Realismus schockiert. Sie weiß selbst um die biologische Uhr und das sie gnadenloser bei Frauen ist als bei Männern. Manchmal schreibt das Leben die besten und zugleich die traurigen Seiten eines Romans. Flaubert sagt, er sei dazu geboren alles zu überleben, was um ihn herum zugrunde geht und mehr noch, bewusst zu beobachten, wie die ihm vertraute Welt zugrunde geht. Als Chronist des Untergangs scheint er Joseph Roth vorwegzunehmen.

Louise schminkt sich, gefällt sich in der tragischen Rolle Phaedras und will ihren Liebsten aus der Melancholie retten. Es gibt zwei Arten von Melancholie. Flaubert unterscheidet die resignative Schwermut, die in Larmoyanz und Depression endet und es gibt die kreative Schwermut, den Spleen, der aus den Ruinen ein Schloss imaginiert.

Vielleicht ahnt Louise Colet, dass ihr literarischer Nachruhm von diesem so rasch an ihrer Seite alternden Mann abhängt, der für nichts anderes lebt als die Schönheit der Sprache. Vielleicht stimmt sie ihm zu, dass die Kunst von allen Broterwerben noch die am wenigsten verlogene ist, wenn man ihr treu bleibt und nicht den Erfolg im Verkauf von Büchern sucht. Ganz sicher aber geht sie in der Poesie jene Kompromisse ein, die er niemals akzeptieren wird. Kunst hat die paradoxe Aufgabe, gleichzeitig wahr und illusionär wirken zu wollen; wie ein Schleier enthüllt sie, wo sie zu verhüllen vorgibt. Flaubert vermag der Langeweile nicht zu entkommen, die auf der anderen Seite des Spiegels auf ihn wartet. Die schärfste Rivalin der Liebe ist die Langeweile. Heißt es nicht: La petite mort61 und le grand ennui.

Er zieht sich zurück, die Aufenthalte in Croisset werden länger, die in Paris kürzer und seltener. Er erfindet Gründe, sie nicht zu besuchen, Lügen fallen ihm spielerisch und launenhaft zu, natürlich, wie Wetterwechsel. Einmal erleidet Flaubert einen schweren Unfall in seiner Droschke und kommt dabei unter die Räder. Sein Kutscher überlebt schwerverletzt, beide Beine sind gebrochen. Der entgegenkommende Fahrer aber verblutet vor Flauberts Augen, der eingeklemmt in seiner Kutsche wie einem Sarg begraben liegt. Er muss mit ansehen, wie der Fahrer auf der anderen Seite unter der Last des gestürzten Wagens zerquetscht wird. Beide Stuten sterben noch an Ort und Stelle. Seitdem hat sich der süßliche Geruch des Todes in seiner Nase festgesetzt. Flaubert selbst kommt nahezu unverletzt in Paris an. Er glaubt an Vorsehung. Ein Zeichen, dass er alt werden wird und einsam sterben muss. „Zum Genießen bin ich nicht gemacht. Ich werde dein Unglück sein. Ich überlebe alles und jedes. Ich bin verflucht.“ Es ist vielleicht sein traurigster und doch zugleich sein ehrlichster Brief.

Nach seiner Rückkehr aus dem Orient im Juli 1851 ist das Verhältnis merklich abgekühlt, doch Louise will nicht von ihm lassen. Schriftstellerisch stehen sie auf verschiedenen Seiten. Colet lebt in einer Welt der Kleinigkeiten, die für sie das Ganze ausmachen. Flaubert aber will totalisieren ohne Entpersonalisierung, zugleich das Ganze und seine Elemente retten, weil das Einzelne für ihn nie im Ganzen aufgeht. Er ist nie mit der Evokation der Gefühle zufrieden, den Bagatellen, die sentimental stimmen und die den Vorwand bieten, wahre Absichten zu überlagern. Für sie gehört die kleine Lüge zu den Waffen der Frauen und zum Liebesspiel, er aber will sich nicht verstellen. Was für die Liebe gilt, hat für die Poesie erst recht Bestand.

Flaubert gesteht in seinen Briefen offen und mehrfach, dass er nicht für Beziehungen taugt und nicht auf Dauer zu lieben versteht. Aber das will sie nicht hören. Du hast dich mit deiner Bovary gegen mich verschworen, sagt sie: die Rivalin Kunst ist für sie längst aus Fleisch und Blut.

Oktober 1851. Flaubert hat sich wieder an die Bovary gemacht und Colet damit beunruhigt. Sie fürchtet, er verleihe ihr die Züge der Elisa Foucault, um ihr ein literarisches Denkmal zu setzen. Die Seiten seines Manuskripts sind ihm wichtiger als ihr Unterrock und doch führt sie sein beharrliches Schweigen aus der Empörung in einen irrationalen Strudel zärtlichster Empfindungen und wonniger Ohnmacht. Dass er sich ihr entzieht ist der unbekannte Reiz, ihm wie ein Wild nachzujagen. Je weniger er präsent ist, desto mehr gewinnt er an Präsenz und füllt den leeren Raum um sie. „Die Vorstellung ist immer stärker als die Wirklichkeit.“ Weil auch sie ihn nur in der Vorstellung liebt, wie sie ihn haben möchte, bringt sie die Erkenntnis, dass er in Wirklichkeit gar nicht so zartfühlend, so sensibel und leidenschaftlich ist, auch nicht davon ab, ihn zu begehren und zu hoffen, er werde wie ein Kranker wieder gesund. Wie eine Auster, die ihre einzige Perle verschließt, schreibt er nun anders. Ein Gedicht bringt Flauberts Einsamkeit zum Ausdruck: „Noch einmal vor der Kunst stehen Mit solcher Nüchternheit und Ehrfurcht Wissend, daß der Ernst sie bewohnt Diese mühselige Arbeit An den Zügen des Menschlichen.62

Von Erinnerung wird sie nicht satt, Abendlicht erweckt in ihr keine libidinösen Regenschauer. Sie atmet, sie lebt, will der Liebe nicht entsagen. Seine nächtelangen Kämpfe mit der Grammatik, die Qual der Adjektive hat keinen Platz in ihrem Herzen. Was hat Sie, was ich nicht habe? Was ich dir nicht bieten kann? schreibt sie an diesem schicksalhaften dritten Juli, als ob die Poesie Beine hätte. Längst sind Madame de Renaud und später Emma Bovary Konkurrentinnen. Wie eine Rasende fordert sie Liebesbeweise, stellt unbedacht das Ultimatum: Entweder er zieht dauerhaft nach Paris oder es ist vorbei.

Als Antwort auf ihr rosarotes Briefpapier über sechs Seiten mit dem Signum „auf Leben und Tod“ schickt er ihr ein veilchenblaues Briefchen, mit nur einem Sätzchen und nur einem welken Rosenblatt darin. Die Rose trägt den Namen ihres Entdeckers, der neue Blumenarten in den entlegensten Winkeln der Erde gefunden hat, nicht aber die Untreue seiner Frau bemerkt. Seither steht diese Blume den Eingeweihten als Synonym für Verrat in der Liebe. Eine Rose ist schnell verblüht, so schickt er ihr eine mit dem schlichten Kommentar: „Ich küsse mit dieser Rose die Ihrige.“

Colets Antwort ist ein dramatisch inszenierter, doch nur vorgetäuschter Selbstmord, so verliebt ist sie in ihren Schmerz, dass sie den angekündigten Freitod in Reimen schmiedet. Keine von ihren Schwüren ist wahr, alles Theater. Sie liebt das Leben, ihre Tochter und sich selbst viel zu sehr, um von der Bühne abzutreten. Andere Liebhaber trösten. Flaubert ist ganz in sich selbst versunken. Mit dem untrüglichen Instinkt einer Liebenden weiß sie, dass er der erste Mann sein wird, der sie verlässt. Was zum Teufel fühlst du? fragt sie und er antwortet „Was ich lese, bewegt mich mehr als ein wirkliches Unglück, wenn es gut geschrieben ist. Und was ich im Geiste liebe, liebe ich mehr als das körperliche Glück.“63

Die Jahre gehen dahin. Noch immer hat Flaubert seinen Roman nicht veröffentlicht. Die plötzliche Wiederaufnahme der ersten „Schule des Herzens“ beschäftigt Louise Colet. Sie liest sich in jede seiner Figuren hinein, nun ist sie Madame Renaud, der sich Henri entwöhnt, Kuss für Kuss sein Ideal begräbt und die Erinnerung vorzieht. Gewiss, Falten kommen darin nicht vor und auch keine Phrase, die dem Alltäglichen geschuldet ist. Die schönt und glättet alles. Um ihre Schwäche mit einer Tugend zu kaschieren, schickt sie ihm das Exposé ihrer Rousseau-Biografie „Servante“. (Dienerin)

Er schreibt ihr den längsten seiner Briefe, aber er enthält wenig Löbliches: wie „Dieses Werk ist zur Veröffentlichung nicht reif ... entsetzlicher Pathos, der zur Monotonie erstarrt und das Lesen erschwert ... Dass Jean Jaques seine Kinder ins Waisenhaus gesteckt hat – was geht es Sie, was geht es uns an? Lernen Sie von seinem Stil ... es geht darum, Fakten darzustellen, aber wie Sie es tun, entbehren sie gänzlich der Kunst. Wir haben keine Rechte, nur Pflichten gegenüber der Kunst.“

Flaubert sitzt am nächtlichen Pult und schreibt, weil es Zeit zu schreiben ist, weil er schreiben muss. Er hat einen Brief von Louise erhalten, einen ihrer unzähligen parfümierten Liebesbeweise, die umso mehr Bosheiten besitzen. Sie befürwortet seine veränderte Fassung der „Première Education sentimentale“, rät aber zur Kürzung. Flaubert ist entsetzt: Nach all den Jahren ihrer Gespräche über Kunst sind es noch immer jene belanglosen Seiten, die Louise entzücken und die er streicht. Andere Sätze, die sie nicht versteht, weil sie die Handlung hemmen, findet sie geschwätzig. Sie hat kein Gespür für sein Konzept der impassibilité; jener Ästhetik, die in der Unfähigkeit wurzelt, das wahre Leben zu empfinden und lieber davon zu träumen

Ihre Bewunderung gilt der heroischen Banalität, wo er die Empfindungsfähigkeit durch Passivität steigert. Sie liebt den an Kolorit reichen Kontrast, wo er weiche Konturen zeichnet. Louise findet, er schreibe zu viel über Henri und zu wenig von dem Poeten Jules, der ohnehin besser zu Madame Renaud passe. Sie könnte auch schreiben: Du musst dich mehr mit mir beschäftigen, so offensichtlich ist ihre Identifikation mit der Romantik. Weshalb nicht gleich alles auf Renaud angleichen? „Man muß im Auge behalten, wie das Buch konzipiert ist. Der Charakter von Jules ist nur durch den Kontrast mit Henri einleuchtend.“

Die Doppelgeschichte zweier, sich in verschiedene Richtungen entwickelnden, Freunde bildet eine Analogie zu den Herzkammern und gegenläufigen Trieben. Ein Ich ist sentimentale Begeisterung für die rauschhafte Brandung der Lyrik, das andere Ich realistische Anwalt der Fakten. Wie die Charaktere, so führt er zwei Schreibweisen aufeinander zu und wechselt den Rhythmus, die Art des Schauens beim Erzählen. Louise sieht nicht, dass die zwei konkurrierenden Arten des Schreibens seine Form des Liebens bedingen: Die Suche nach Wahrheiten und Ideale demaskiert die geschworene Liebesschwüre. Die Grammatik macht keinen Unterschied zwischen blau und himmlisch, aber himmelblau ist ein Pleonasmus. Er macht alltägliche Dinge körperlich, die geistigen Dinge sichtbar.

Nie hat er die Unmöglichkeit sich mit Louise zu verständigen deutlicher verspürt, als sie ihm dazu rät, den Realisten Henri dem Romantiker Jules zu opfern. „Ich weiß, wie man es machen muß – wenigstens in der Kunst, meine Teuerste, vielleicht nicht im Leben und in der Liebe.“ Die Ironie ist doch die: der eine verachtet die Wahrheit und lebt doch in ihrer prosaischen Form, der andere sucht unablässig und verschleiert sie durch seine Poesie.

Er glaubt nicht an Wahrheit, doch die wahre Kunst muss es. Wie silberglänzendes Besteck mit der Zeit schwarz oxidiert, entzaubert die Zeit den Schleier: Was einst gedankenvoll erschien, wird als Trug enttarnt. In der Liebe verlieren zwei nackte Leiber ihr Geheimnis, dem Alltag preisgegeben schlagen sinnlichen Lippen in einen profanen Mund mit Zähnen um, die langsam verfaulen. Alle sehnen sich nach Dauer und dem großen glück, doch wenn es an der Tür klopft, Öffnen wir nicht, aus Angst, es könnte schon verschwunden sein.

Jeder Vergleich zerstört das Glück, es nicht bewahren zu können. Die Liebe verweilt nicht, sie entschwindet gleich einer verblühenden Rose, von heiligem Regen berührt. Nach ihr muss er häufig ins Bordell und die Ironie will, dass er sich bei seinen Gedanken über das Glück in Beatrix Person verliebt, einer Schauspielerin im Odéon, kaum fünf Minuten Fußweg von Louise Colets Wohnung entfernt. Das Schönste an ihrer Beziehung ist das Warten, das Ankommen und das Fortgehen, nicht das Bleiben und die wirkliche Berührung von ihr. Paris erscheint ihm nur erträglich, wenn es ein Wartezimmer seiner Vorstellung bleibt.

Er sagt ihr, dass er „ohne Sätze machen“ nicht existieren könne, wie groß die Qual des Schreibens und Regierens auch sei. Louise fühlt es nur zu gut: sie sagt Dinge, die weder poetisch noch geheimnisvoll klingen. Sie langweilt ihn. Es ist ein trister 7. April 1854. Louise spürt den Abgesang ihres Geliebten noch in der Feder, welche die Leidenschaft des jungen Henri beschwört. Le bonheur est un monstrosité. „Das Glück ist eine Ungeheuerlichkeit; die es suchen, werden bestraft.“ An dieser Stelle konvergiert der Roman mit ihrer Beziehung.

Gustave Flaubert: Goldenes Meer

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