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1.1. Der Zerfall des totum – politische Implikationen
ОглавлениеIn der ersten Hälfte des 17. Jh.s überzogen die vielleicht grausamsten Kriegswirren der Geschichte den Kontinent. Das Drama von Millionen von Toten, von Seuchen und Hungersnöten – verstärkt durch eine »kleine Einzeit« in diesen Jahrzehnten – und einer Soldateska, der es nicht primär um Gesinnung, sondern alleine um Sold und Beute ging, haben Andreas Gryphius in seinem Gedicht von 1636, Tränen des Vaterlandes, und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem 1669 erschienenen Roman Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch eindrucksvoll beschrieben.
Dreißigjähriger Krieg
Der sogenannte Dreißigjährige Krieg war ein Komplex von nebeneinander und ineinanderlaufenden Kriegen. Kaiser Ferdinand II., dem die Jesuitenlehrer in Ingolstadt die rechte katholische Gesinnung eingeimpft hatten, stieß mit seiner Rekatholisierungsambition als böhmischer König (ab 1619) bei aufständischen Protestanten in Böhmen, die sich um ihre Rechte betrogen fühlten, auf heftigen Widerstand. Am 23. Mai 1618 – mit diesem Jahr lassen die Historiker den Dreißigjährigen Krieg beginnen – warfen sie drei der Statthalter der Habsburger, die ihnen das verbriefte Recht der Errichtung von protestantischen Kirchen entzogen hatten, im Prager Hradschin aus einem Fenster. Die Emissäre landeten (nach immerhin 17 Metern Fall) relativ unbeschadet im Graben. Dieser lächerliche Anlass des »Prager Fenstersturzes« stand am Anfang eines langen und grauenvollen Krieges. Als die böhmischen Protestanten sich – inzwischen gut organisiert – um Bündnispartner in England, Schweden und in den Niederlanden bemühten und den Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz 1619 zum böhmischen König machten (»Winterkönig«), ging Ferdinand militärisch vor. Dieser hatte sich mit Herzog Maximilian I. von Bayern, den er aus den Zeiten des gemeinsamen Studiums bei den Jesuiten kannte, verbündet und schlug die Aufständischen in der Schlacht am Weißen Berg vernichtend. Es kam zu Hinrichtungen, Ausweisungen und Konfiskationen von Grund und Boden. Zwar war der Aufstand in Böhmen niedergeschlagen und die Pfalz von einem spanischen Unterstützungsheer erobert, aber die Flucht Friedrichs in die Niederlande vertiefte den Riss quer durch Europa zwischen dem katholischen Spanien und den sich von Spanien abwendenden Niederlanden.
Die Sache geriet zu einem europäischen Flächenbrand, bei dem sich naturgemäß mehr und mehr politische Motive, darunter vor allem die Rivalität zwischen den Habsburgern und den Bourbonen, unter die religiösen mischten. Frankreich stand aus diesen Gründen, obwohl katholisch, auf Seite der Protestanten. Die spanischen Habsburger wiederum stärkten die Front gegen Frankreich. Kardinal Richelieu, von Ludwig XIII. 1624 als Leiter des Staatsrates in Frankreich eingesetzt, beteuerte immer wieder, dass er nicht die Kirche, sondern nur die Habsburger angreifen wolle. Solche feinen Differenzierungen wurden in Rom von Papst Urban VIII. (aus dem Geschlecht der Barberini), dem großen Förderer von Kunst und Architektur, gerne vernommen.
Dank dem genialen Feldherrn Albrecht von Wallenstein, der 1606 zum Katholizismus übergetreten war, blieb die kaiserliche Armee militärisch erfolgreich und das Reich katholisch. Der Preis dieses Erfolges war hoch. Zahlreiche europäische Kulturzentren, Prag, München, Augsburg, Heidelberg, brachen zusammen. »Um 1630 ist Zentraleuropa kunstgeschichtliche Provinz geworden, nicht nur dort, wo der Krieg tobt, sondern auch im Norden.«
Hubala 1970, 98
1634 war Wallenstein unter undurchsichtigen Umständen ermordet worden, nachdem ihn Ferdinand auf Druck der Reichsfürsten entlassen hatte. Ihnen war der Kaiser durch Wallensteins Erfolge zu mächtig geworden. 1637 starb Ferdinand II. Sein Sohn wurde im gleichen Jahr als Ferdinand III. Nachfolger. Dieser »unbekannte Habsburger« war eine interessante Erscheinung, hochgebildet – er soll sieben Sprachen beherrscht haben – und feinsinnig. Er komponierte, dichtete und interessierte sich für die Naturwissenschaften. Obwohl von Jesuiten ausgebildet, hatte er nicht viel Sympathie für den Orden. Er hatte auch kein besonderes Interesse am Reich, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf das Haus Österreich. Den geerbten Krieg indes konnte er nicht beenden, zu sehr hatte dieser eine Eigendynamik entwickelt. Zuletzt geriet selbst Wien in Gefahr, als die Stadt von schwedischer Artillerie beschossen wurde.
Pohl/Vocelka 1992, 220
Der schließlich 1648 im Rathaus von Münster ausgehandelte Westfälische Friede, wohl einer der wichtigsten europäischen Friedensschlüsse, tastete zwar das Prinzip des Augsburger Religionsfriedens cuius regio, eius religio (der Herrschende bestimmt die Religion) nicht an, sah aber – sehr zum Ärger Roms – einen großzügigen Schutz für religiöse Minderheiten vor und erkannte die reformierte Lehre nach Calvin und Zwingli als dritte Religion an. Die Aufklärer demgegenüber, unter ihnen Moses Mendelssohn in der Vorrede zur Rettung der Juden (1656), beklagten, dass die Toleranz auf die christlichen Konfessionen eingeschränkt war.
Die Glaubensspaltung wurde durch den großen Krieg nicht beseitigt, sondern institutionalisiert. Die Habsburger erlaubten in Schlesien den Protestanten den Bau dreier Kirchen, allerdings mit strengen Auflagen. Sie durften nur aus Holz oder Lehm sein und mussten außerhalb der Stadtmauern liegen. Es entstanden die weltweit größten Fachwerkkirchen mit reicher Ausstattung, die sogenannten Friedenskirchen. Die Basilika in Schweidnitz (1657) von Albrecht von Saebisch bot über 7000 Gläubigen Platz. Eine ähnliche Größe hatte die Kirche in Jauer (1656) vom gleichen Baumeister. Die Kirche in Glogau brannte 1758 nieder.
Der Friedensschluss von Münster hatte eine neue, gleichsam eine neuzeitliche Qualität. Er war ein »[…] gemeinsam vereinbartes Menschenwerk, im Kompromißwege und nach rationalen Grundsätzen ausgehandelt, […].« Als eine der vielen komplexen Fragen rund um diese Geschehnisse kann jene nach dem Ganzen des Reichs gegenüber den vielen Einzelteilen erwähnt werden. Im Rückblick entpuppte sich der Krieg als ein »Staatsbildungskrieg«, der die kleinen Einheiten stärkte und das totum des Reichs schwächte. Österreich ging leidlich aus dem Ringen hervor. Spanien hatte sich erschöpft. Am besten kam die französisch-schwedische Allianz davon, ebenfalls mit Vorteilen blieben die Niederlande und Friedrich Wilhelm, der bedeutende Kurfürst Brandenburgs, zurück. Es waren nicht die großen alten Fronten, etwa jene zwischen Frankreich und Deutschland, die jetzt die Dynamik aufrecht erhielten, sondern die kleinen innerdeutschen, von der Kleinstaaterei geförderten Rivalitäten. Der Habsburgerkaiser versagte dabei beim Bau einer europäischen Reichseinheit. Auch ihm lag mehr an einem kurzsichtigen österreichischen Sonderinteresse.
Mazohl-Wallnig 2005, 132
Der Drang zum Individualismus auf staatlicher Ebene entsprach ganz allgemein der immer prägnanteren Herausbildung des Individuums. Die sich aus verschiedenen Bindungen religiöser oder ständischer Art befreienden bürgerlichen Individuen gerieten untereinander in eine Konkurrenzsituation. »Der viel mißdeutete ›Faustische Mensch‹ in seinem unbändigen Streben ist seinem innersten Wesen nach eine radikal bürgerliche Existenz.«
Pütz Peter in Toman 2009, 9
Revolutionen und Aufstände
Ferguson 2011
Dieser »Faustische Mensch« zeigte sich nicht nur in den Kriegswirren, sondern in unzähligen Revolutionen und Aufständen, die Europa im 17. Jh. überzogen. Sie waren Ausdruck sozialer, politischer und religiöser Umbrüche, welche die Gesellschaft neu sondierten. Die Profilierung des Individuums rief nicht zuletzt deshalb meist Philosophen auf den Plan, die mit systemischen Antworten dagegenhielten. Auch im 17. Jh. wurden noch etatistische Staatsutopien formuliert. Moderner waren da schon die Antworten der Empiristen auf das erstarkende Individuum. Sie stellten sich diesem Wettbewerb und gaben ihm auf der Basis von Verträgen einen Rahmen. Es war genau dieser Wettbewerb, der im 18. Jh. zu dem bislang größten technischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Entwicklungsschub führte. Wettbewerb, wissenschaftliche Neugier, verbunden mit dem sich befreienden Individuum, waren das Elixier, mit dem sich Europa gegenüber dem »Rest der Welt« ab der frühen Neuzeit eine Sonderstellung erarbeitete. Diese Einschätzung Niall Fergusons kann man nur unterstreichen und noch einen Schritt weiter gehen und im 18. Jh. die beginnende Abnabelung Europas von den orientalischen Quellen sehen. Europa fand nun zu sich selbst und ergriff – selbstständig und mündig geworden – beherzt die Chance, welche die Geschichte anbot.
Am Beginn dieses 18. Jh.s wurden viele Friedensverträge unterzeichnet, die das konfliktreiche 17. Jh. beendeten. Zwar dürfen blutige Erbfolgekriege und der Siebenjährige Krieg (1756–1763), der nach verlustreichen Schlachten zwischen Preußen (mit der Unterstützung Englands) und einer Allianz von Österreich, Frankreich und Russland mit dem status quo ante endete, nicht ausgeblendet werden, zumal man über große und gut ausgerüstete Heere verfügte. Die wissenschaftlich-technische Entwicklung hatte die Militärtechnik vorangetrieben, was das Kriegführen empfindlich verteuerte. Die Kosten überforderten die privaten Kriegsunternehmer, das Ende der Condottieri war eingeläutet. Es wurden erste stehende Heere als Einrichtungen des Staates üblich.
Dennoch erfreute sich Europa ab dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zu den Wirren der Französischen Revolution langer drei Jahrzehnte des Friedens. Es war eine Zeit wirtschaftlicher Prosperität, reger Reisetätigkeit durch wachsende Freizügigkeit, reicher Buchproduktion, der Dominanz der sich über ganz Europa ausbreitenden französischen Sprache, kurzum: Der Kontinent war gekennzeichnet durch Weltoffenheit und einen geistigen und kulturellen Kosmopolitismus, wie ihn »[…] Europa seither bis zur Gegenwart nicht wieder erreicht hat.«
Wandruszka Adam in PWG VII, 449
Dazu beigetragen hat unter anderem die durch die vielfältigen Lasten der zahlreichen Kriege und internen Aufstände des abgelaufenen Jahrhunderts aufgekommene Antikriegsstimmung in der Bevölkerung. Ein Beispiel der Kriegsmüdigkeit ist das Plädoyer des Philosophen und Aufklärers Abbé Charles Irénée de Saint-Pierre für einen dauerhaften Frieden in Europa (Projet pour rendre le paix perpétuelle en Europe; ab 1712). Diese erste neuzeitliche Idee einer Union europäischer Staaten inspirierte Rousseau und Kant und erinnert an die Institutio principis Christiani des Erasmus von Rotterdam, sein Karl V. gewidmetes Handbuch für die Erziehung eines christlichen Weisen und friedfertigen Fürsten. Der verbreitete Wunsch nach dauerhafter Prosperität bemächtigte sich schließlich auch der Herrscherhäuser und die Absicht war, diesen Frieden durch ein ausgeklügeltes Gleichgewichtskonzept der europäischen Mächte abzusichern. Der auf den Schreibtischen von Philosophen ausgebrütete Umgang mit der Dynamik ließ sich für solche politische Ziele vorzüglich nützen. Gestört wurde dieses Gleichgewichtsdenken in der Politik allenfalls durch Mächte außerhalb Kerneuropas wie dem Osmanischen Reich, das seinerseits zu einem Spielball europäischer Politik wurde.
2.2.1.
Hatten im 17. Jh. Kriege, Hungersnöte und Seuchen die Bevölkerung dezimiert, gab es im 18. Jh., vor allem in der zweiten Hälfte, einen markanten Bevölkerungszuwachs, der durch neue Produktionsverfahren und Wirtschaftssysteme aufgefangen werden konnte. Geld war billig zu haben und löste große Investitionen, damit beständiges Wachstum aus. Die neuen Handelswege lagen auf dem Meer. Sie lösten die beschwerlichen und teuren Routen durch den Orient ab. Vor allem die Städte entwickelten sich rasant, sowohl ihrer Zahl als auch der Einwohnerdichte nach. Die hygienischen Zustände waren durch diese Überbevölkerung freilich nach wie vor katastrophal. »Mozarts Wien […] ist seit dem Neubau der Befestigungen im Jahr 1704 eine stickige, übelriechende Siedlung von engen und weitgehend ungepflasterten Gassen geblieben, in deren Dreck Bedienstete und Handwerker aller Art die habsburgische Hofhaltung umschwirren.« Ähnlich war es in Prag. Die Versorgung mit Lebensmitteln und frischem Wasser war mühsam, immer wieder hatte man gegen Hunger zu kämpfen. Infektionskrankheiten, Diebe, Bettler gehörten zum Stadtbild, was aber der guten Stimmung wenig Abbruch tat.
Anwachsen der Städte
Felsner 2010, 33
Nur die Intellektuellen sahen das Anwachsen der Städte mit Sorge. David Hume etwa glaubte, dass das zeitgenössische London mit seinen etwa 700.000 Einwohnern die natürliche Grenze erreicht habe. Auch Daniel Defoe kommentierte die Expansion der damaligen Megastädte mit Stirnrunzeln. Selbst im 18. Jh. hatten Europas Städte noch nicht die Qualität der Metropolen des spätantiken Orients erreicht. Deshalb begannen große Stadterneuerungen unter barocken Systemgesichtspunkten. Rom hatte diese Ambition bereits im 16. Jh. vorgespurt. Andere Städte folgten 200 Jahre später mit der Begradigung von Straßen, Verbesserung der Infrastruktur, Sicherheit und Hygiene und der Freilegung von Blickachsen für zentrale Bauwerke. Der Hygiene-Diskurs spielte allerdings erst im 19. Jh. eine zentrale Rolle in Architektur und Städtebau. Der antike Komödiendichter Aristophanes spottete in seinem Werk Die Vögel über den fiktiven Stadtplaner Meton, der mit Zirkel und Lineal eine Stadt entwirft: »Im Mittelpunkt liegt der Marktplatz, in den alle geraden Straßen münden, die in diesem Mittelpunkt wie ein Stern zusammenlaufen […].« Lewis Mumford sah hier das Urbild des Stadtplaners und einen abenteuerlichen Einfall des Aristophanes, der »zweitausend Jahre später zur charakteristischen Mode barocken Denkens« wurde. 1753 legte Marc-Antoine Laugier in seinem Essai sur l’architecture ein solches Programm vor.
Rudé 1983, 110
VIII.2.2.2.
Aristophanes, zit. nach Mumford 1961, 203
Mumford 1961, 203
4.2.4.3.1.