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DIE SOLIDARITÄT DER AMEISEN

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Die Verse des deutschen Lyrikers Günter Bach beschreiben treffend die Zeit, in der unserer Jugend heute zu leben zugemutet wird, eine Zeit des Klassenkampfes von oben, in der die Reichen und Mächtigen bestrebt sind, sich das „Volk“ so herzurichten, dass es sowohl in der Produzent:innen- als auch in der Konsument:innenrolle funktioniert, wie es deren Profitinteresse und der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung am besten dienlich ist.

Um nur zwei Beispiele zur Untermauerung dieser pessimistischen Zeitdiagnose aufzuführen: In den Auslieferungslagern von Amazon werden die sogenannten Picker von einem ausgeklügelten elektronischen Überwachungssystem ständig kontrolliert. Dabei wird die Zeitdauer kleinster Handgriffe gemessen und mit der vorgeschriebenen Normzeit verglichen. Ist die Abweichung zu groß, wird ein Vorarbeiter vom System losgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen und den Abweichler wieder auf Linie zu bringen. Gleichzeitig observiert der Konzern mit Hilfe des berüchtigten amerikanischen Sicherheitsunternehmens Pinkerton Aktivist:innen von Fridays for Future und Gewerkschafter:innen, also Menschen, die den inhumanen und ausbeuterischen Praktiken des digitalen Kapitals kritisch gegenüberstehen (vgl. Rast in: Junge Welt vom 2. Dezember 2020: 1).

Das Geschäftsmodell von Amazon beruht auf der skrupellosen Ausbeutung seiner Mitarbeiter:innen und der professionellen Bespitzelung von Kritiker:innen. Der Konzern agiert damit nicht allein als Wirtschaftsunternehmen; er ist längst auch zu einem Akteur der Politik geworden, der in den politischen Wettbewerb durch Überwachung und Einschüchterung von politischen Gegner:innen und durch Lobbying eingreift. Amazon steht für Klassenkampf von oben, für den Aufstand der Reichen gegen die Armen.

In einer Marktgesellschaft, in die das Kapital in Kooperation mit einer konformistischen Politik unsere Lebenswelt verwandelt hat, diktiert vor allem das digitale Kapital den Gang der Dinge. Die sogenannten Big-Tech-Unternehmen schrecken nicht davor zurück, jedes Machtmittel, über das sie verfügen, gegen demokratische Staaten einzusetzen, um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.

Exemplarisch dafür die Auseinandersetzung zwischen Facebook und Australien im Februar 2020: Dem internationalen Konzern passte es nicht, dass das australische Parlament ein Gesetz beschloss, das auch Facebook dazu verpflichtet, für Nachrichten, die die Plattform von professionellen Anbietern wie Verlagshäusern übernimmt, Lizenzgebühren zu bezahlen. Als Reaktion darauf verhängte Facebook über Australien eine Sperre aller Nachrichteninhalte. Und was besonders perfide war, es wurden auch die Internetseiten von Hilfsorganisationen, dem Katastrophenschutz und von medizinischen Diensten gesperrt.

Die Australier ließen sich aber nicht erpressen. Vielmehr versuchten sie ein Bündnis mit anderen Staaten zu schließen, um dem arroganten und rücksichtslosen Internetgiganten entgegenzutreten. Der australische Ministerpräsident Scott Morrison meinte erbost, dass Big-Tech-Unternehmen agierten, als seien sie größer und wichtiger als demokratisch gewählte Regierungen und von Parlamenten beschlossene Regeln für sie nicht gelten würden. Riesige Unternehmenskonglomerate, deren Führung kein Mensch gewählt hat, tun so, als wären sie die Herren der Welt. Die Staatengemeinschaft wird ihnen, vor allem auch im Interesse der Generation Corona, einen Riegel vorschieben müssen, denn die überwiegende Mehrheit der Nutzer:innen von Facebook, Instagram und TikTok sind junge Menschen, Menschen im Alter von unter 40 Jahren, und es muss verhindert werden, dass diese jungen Nutzer:innen in 20 Jahren in einer Diktatur der Internetmonopole leben müssen (vgl. dazu Hein et al. in: FAZ vom 19. Februar 2021: 17).

Die großen digitalen Monopolbetriebe wie Google, Amazon und Facebook, um nur die bedeutsamsten Köpfe dieser epidemisch wachsenden Hydra zu nennen, bestimmen heute wesentlich, wer mit seiner Meinung zu Wort kommen darf und wer nicht. Die Begründung, warum Bücher aus dem Verkauf genommen oder Videos und Tweets gelöscht werden, sind gespickt mit Großbegriffen wie Wahrheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Ethik und Hass, Worte, die, obwohl allgemein und abstrakt, über so große moralische Wucht verfügen, dass sie sich zum Totschlagen jeder Meinung eignen, ohne dass dazu ein vernünftig überprüfbares Argument ins Spiel gebracht werden muss. Das Fatale ist, dass sich die digitalen Monopole dabei einer unschuldigen Sprache aus dem „Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie“ bedienen, mit der geschickt verschleiert wird, welchem antidemokratischen Vorgehen man hier „den Mantel sublimer Worte“ umlegt (Nietzsche 1986: 17).

Von YouTube angefangen über Twitter bis hin zu den Diskussionsforen der Tageszeitungen herrscht heute eine „Cancel Culture“, die mit religiösem Eifer durch die Reinigung der Sprache die Welt vom Bösen zu erlösen versucht. Und die digitalen Monopole beteiligen sich gerne an diesem lächerlichen Spiel, weil sie damit hinter der verlogenen Fassade moralischer Ziele ihr wahres Interesse verbergen können, das Erwirtschaften von Profiten, egal wie desaströs die Auswirkungen ihres hemmungslosen Wachstums- und Steigerungsspiels für Gesellschaft, Kultur und Natur sind.

„Cancel Culture“ ist mehr, als dass dem durchgedrehten und letztlich abgewählten Präsidenten der USA, Donald Trump, der Twitter-Account gelöscht wird, obwohl er in den letzten Jahren durchaus als Erzeuger von Awareness der Marke Twitter willkommen und nützlich war. Auch das Video des Vorsitzenden der FPÖ, Herbert Kickl, das YouTube löschte, in dem er die tatsächlich erbärmliche Performance der österreichischen Bundesregierung in der Corona-Krise kritisiert, ist nur ein nebensächliches Ereignis. Viel relevanter ist, dass die weltweit herrschenden Wirtschaftsmonopole des digitalen Kapitals auf die Informationspolitik der Medien bereits so großen Einfluss haben, dass deren rücksichtsloser Umgang mit Menschen und Natur von den reichweitenstärksten Zeitungen und TV-Sendern nicht mehr thematisiert wird.

Als Beispiel, um zu zeigen, worum es beim Thema „Cancel Culture“ wirklich geht, sei wieder der Konzern des reichsten Mannes der Welt, Jeff Bezos (sein Vermögen wird von Forbes auf 121 Milliarden Dollar geschätzt), angeführt. Jeff Bezos gehört zu den 650 Gigareichen in den USA, die zusammen mehr als 4 Billiarden US-Dollar besitzen. Das Vermögen dieser Superkapitalisten ist damit doppelt so hoch wie das gesamte der ärmeren Hälfte der rund 330 Millionen Einwohner:innen des Landes (vgl. Rast in: Junge Welt vom 31. Dezember 2021: 1).

Jeff Bezos’ Unternehmen gehört zu den großen Profiteuren der Corona-Krise. Die in der Marktgesellschaft systematisch zu Dauerkonsument:innen erzogenen Menschen verlieren den Lebensgrund und stürzen in Depressionen, wenn sie nicht mehr konsumieren können. Im Corona-Lockdown, in Zuge dessen auch Geschäfte und Einkaufszentren, die Kult-Orte der von Gott verlassenen transzendental Obdachlosen, geschlossen blieben, war zum Glück Amazon da, um die leidenden Konsumsüchtigen mit ihren Drogen zu versorgen. Mit dem Lieferservice – auch die Branche der Zusteller:innen und Lieferant:innen wird im wachsenden Maße von Amazon kontrolliert – wurden die begehrten Güter an die Tür der aufgeregt auf Glücks- und Sinnnachschub wartenden Eingeschlossenen gebracht. So konnte Amazon die am Konsumentzug leidenden Verhaltenssüchtigen auch in Corona-Zeiten versorgen und sich selbst mit fetten Profiten noch reicher, mächtiger und einflussreicher machen.

Weniger fürsorglich als mit seinen süchtigen Konsument:innen geht Amazon mit seinen Mitarbeiter:innen um. So weigert sich der Konzern nach wie vor in Deutschland, Gewerkschaften als Verhandlungspartnerinnen zu akzeptieren und über Tarifverträge zu reden. Engagieren sich Mitarbeiter:innen gewerkschaftlich, haben sie mit Repressalien oder gar der Kündigung zu rechnen. Zudem hat Amazon im Jahr 2019 gezielt unter ehemaligen Soldaten um Mitarbeiter für Leitungspositionen geworben. Offenbar soll in den Logistikzentren im Befehlston und mit starker Hand geführt werden (vgl. Lindner in: Junge Welt vom 26. November 2020: 1).

Die letzte große Schlacht um die Mitbestimmung der Mitarbeiter:innen im Amazon-Konzern wurde in den USA, im Bundesstaat Alabama geführt. Im dortigen Logistikzentrum, so nennt man jetzt beschönigend die Auslieferungslager, wo „Picker“ unter größtem Zeitdruck die bestellten Waren zusammentragen müssen, haben Gewerkschafter:innen versucht, einen Betriebsrat zu gründen. Dieses Vorhaben hat die Unternehmensführung des Konzerns erbittert bekämpft. Um die Abstimmung über die Einführung des Betriebsrats unter den Mitarbeiter:innen negativ zu beeinflussen, wurde sogar auf den Toiletten Propagandamaterial ausgelegt und eine spezielle Internetseite eingerichtet, auf der gegen die Gewerkschaften gehetzt wurde. Am Ende war der Druck des Konzerns auf die Mitarbeiter:innen zu groß, die Mehrheit sprach sich entgegen ihrer eigenen Interessen gegen die Einrichtung des Betriebsrates aus.

Während der Konzern im Jahr 2020 seinen Umsatz um 38 % auf 386 Milliarden Dollar gesteigert hat und den Jahresgewinn verdoppeln konnte, knausert er bei den Löhnen, setzt seine Mitarbeiter:innen unter permanenten Leistungsstress und Kontrolldruck und ist nicht bereit, die Selbstorganisation seiner Angestellten zu akzeptieren. An diesem Beispiel zeigt sich der massive Unterschied zwischen der europäischen und der amerikanischen politischen und Wirtschaftskultur. Während in Europa eine soziale Marktwirtschaft besteht, die den Arbeiter:innen und Angestellten zumindest Branchenkollektivverträge und die Wahl von gewerkschaftlichen Vertretungen zugesteht, ist in den USA ein Markttotalitarismus am Werk, der auf den Klassenkampf von oben setzt und den Beschäftigten so viel wie möglich vom Mehrwert abpresst, den diese für das Unternehmen erwirtschaften. Während dem europäischen Kapital von der Arbeiterklasse in Klassenkämpfen der Korporatismus, eine Form der institutionalisierten Zusammenarbeit zwischen Unternehmer- und Gewerkschaftsvertreter:innen, aufgezwungen wurde, herrscht in den USA ein Manchester-Liberalismus, der den Arbeiter:innen und der Mittelklasse gerade so viel Subsistenzmittel zugesteht, dass sie überleben können, und mitleidslos dabei zusieht, wie Menschen in Trailer Parks hausen und sich nicht einmal eine Krankenversicherung leisten können. Diese Art Wirtschaftskultur hat den USA vier Jahre Trump beschert und noch bei den letzten Wahlen bewirkt, dass 73 Millionen Amerikaner:innen den republikanischen Wut-Politiker:innen ihre Stimme gaben. Trump war der Knüppel, mit dem die Armen und Unterprivilegierten auf das digitale Kapital und das Finanzkapital einzuschlagen versuchten.

Über all das wird in den reichweitenstarken Medien wenig bis gar nicht berichtet. Um über die Arbeitskämpfe bei Amazon etwas zu erfahren, muss man zu medialen Nischenprodukten wie den Tageszeitungen Junge Welt oder Neues Deutschland greifen. Und genau das ist die wirkliche „Cancel Culture“ unserer Tage. Die Mainstreammedien blenden systematisch Nachrichten aus, die das Image der digitalen Großkonzerne schädigen und deren Profite schmälern könnten.

Während das digitale Großkapital seine Arbeitnehmer:innen überwacht, zu Niedriglöhnen arbeiten lässt und gewerkschaftliche Arbeit systematisch behindert, lässt Amazon am 27. November 2020 in einer ganzseitigen Anzeige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Geflüchteten als Vorzeigemitarbeiter zu Wort kommen, der in einem Auslieferungslager des Unternehmens offenbar sein großes Glück gefunden hat:

„Ich habe nicht ein Wort Deutsch gesprochen. Als ich aus Syrien hier ankam, habe ich niemanden verstanden. Ich musste von null anfangen. Das war schwer. Aber ich habe es geschafft. Ich wollte mich wirklich immer verbessern – für mich selbst und für meine Familie. Hier bei Amazon habe ich das Gefühl, dass ich mich immer entwickeln kann. Man traut mir zu, anderen etwas beizubringen, anderen zu helfen. Ein Flüchtling zu sein war sehr schwierig, aber jetzt bin ich Instructor bei Amazon.“

Was wir hier vorgeführt bekommen, ist ein Paradebeispiel für das Agieren des sogenannten Progressiven Neoliberalismus. Einerseits wird das gegenwärtig moralisch hoch aufgeladene Thema der Anerkennung von diskriminierten Randgruppen in einem kaum mehr an Pathos zu überbietenden Stil aufgegriffen, während der Konzern sich zur selben Zeit gegen Flächentarifverträge ausspricht und gewerkschaftliche Arbeit behindert. Amazon schmückt sich mit seinem Engagement für benachteiligte Gruppen, während das Unternehmen gleichzeitig die Ausbeutung der Arbeitnehmer:innen mehr denn je auf die Spitze treibt. Während Propaganda für die postmodernen Anerkennungs- und Identitätspolitiken gemacht wird, die besonders bei den kaufkräftigen urbanen Lifestylelinken gut ankommen, wird die Ausbeutung der Arbeiter:innen und der Mittelklasse weiter betrieben und alles getan, um die immer größer werdende soziale Ungleichheit unangetastet zu lassen und das Machtgefälle zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten.

Zudem atmet die Anzeige das Flair des kleinbürgerlichen Familienideals, gut abgemischt mit liberaler Wettbewerbsideologie und der Idealisierung der konformistischen Anpassung an das neofordistische Ordnungsregime in den Distributionszentren des Monopolunternehmens. Der erstaunten Öffentlichkeit wird eine fortschrittliche Fassade präsentiert, hinter der eine verstaubte kleinbürgerliche Werteordnung, neoliberaler Anpassungsdruck und unsolidarischer Wettbewerb munter weiterexistieren.

Die Anzeige verdreht zudem in einer impertinenten Manier die innerbetrieblichen Realitäten, indem sie von einer „Betriebsgemeinschaft“ erzählt, in der sich die Einzelnen geborgen fühlen können, ein Narrativ, welches der Realität des autoritär geführten innerbetrieblichen Kontroll- und Konkurrenzregimes des Unternehmens, das von autoritären Vorarbeiter:innen und ehemaligen Armeekadern beherrscht wird, diametral entgegengesetzt ist.

Die Amazon-Mitarbeiter:innen erleben die Betriebskultur des Konzerns dementsprechend auch völlig anders. Spricht man mit ihnen, dann ist von digitaler Überwachung die Rede, die die Belegschaft disziplinieren soll, von einer Atmosphäre, in der sich alle ständig beobachtet und unter Beschleunigungsdruck gesetzt fühlen. Hier zeigt sich deutlich die zutiefst widersprüchliche und gespaltene Welt eines Unternehmens des progressiven Neoliberalismus, welches einerseits die Lohnarbeiter:innen ausbeutet und unter Kontrolldruck setzt, wo es nur geht, und auf der anderen Seite linksliberale Anerkennungspolitiken dort unterstützt, wo sie Profit-Logik und Herrschaftsstrukturen des liberal-kapitalistischen Ausbeutungssystems nicht tangieren. Kaltschnäuzig hat Amazon in seiner Anzeige das Flüchtlingselend für die Aufrichtung einer humanitären Imagefassade missbraucht, hinter der sich eine gewerkschafts- und tarifvertragsfeindliche Unternehmenskultur verbirgt.

Die Regierungen und die transnationalen Strukturen unserer Zeit betreiben immer unverhohlener eine Politik im Interesse der Konzerne. Besonders offensichtlich wird das anhand der Umgestaltung des Bildungssektors in eine verlängerte Werkbank der neoliberalen Wirtschaft. Es werden Bildungskonzepte umgesetzt, die sich nicht mehr an den Bedürfnissen der Menschen, ihrem Interesse an Persönlichkeits- und Selbstbildung, und schon gar nicht an den Grundsätzen einer kritischen Pädagogik orientieren, die jungen Menschen Werkzeuge für ein gesellschaftskritisches Denken an die Hand gibt. Im Gegenteil, nun geht es in Schulen und Universitäten nur mehr um praxistaugliche Fertigkeiten und wirtschaftlich verwertbare Kompetenzen. Die Menschen, die sie eingetrichtert bekommen, sollen zu funktionstüchtigen und konformistischen Rädchen im Getriebe des neoliberalen Wirtschaftssystems erzogen werden.

Die Umstellung des schulischen und universitären Unterrichts auf digitale Wissensvermittlung in Corona-Zeiten hat die Entfremdung, Entmündigung und politische Passivierung der Schüler:innen und Studierenden zusätzlich verstärkt. Erlebte man früher in den Schulklassen und Hörsälen wenigstens ab und zu noch lebhafte und kontroverse Debatten über die großen Themen unserer Zeit wie Klimawandel, soziale Ungleichheit, Massenarbeitslosigkeit, Islamismus oder die Monopolisierung der Medien, so sind diese in der Zeit der virtuellen Schulen und Universitäten nahezu ausgestorben. Die Studierenden sitzen mit abgeschalteten Mikrofonen und Kameras an ihren PCs oder auch nicht, Einwände oder sogar Rückfragen kommen selten, diskutiert wird nie. Die Generation Corona lernt gerade in den Bildungseinrichtungen, alles stillschweigend hin- und aufzunehmen, was Lehrerschaft, Politik, Wirtschaft und Medien ihnen vorsetzen.

Zugleich scheinen jegliche Begeisterung und Leidenschaft für Bildung bei der überwiegenden Anzahl der Studierenden an den Universitäten verloren gegangen zu sein. Sie sind trainiert auf das Sammeln von ECTS-Punkten, und die werden mitgenommen, wo immer sich eine günstige Gelegenheit bietet. Wie im Kapitalismus generell, geht es auch in den Bildungseinrichtungen heute darum, mit möglichst geringen Investitionen möglichst große Erträge zu erwirtschaften. Wie im Supermarkt ist man auch an den Universitäten und Fachhochschulen permanent auf der Jagd nach dem Schnäppchen. In den Bildungseinrichtungen gehen die jungen Smart-Shopper um, die, egal was im Angebot ist, primär nach dem Preis-Leistungsverhältnis entscheiden. Gesucht werden billige Scheine von lockeren Dozent:innen, die die Notengebung leger handhaben, egal, was auch immer in den Lehrveranstaltungen angeboten wird. Die ECTS-Punkte kommen vor dem Inhalt.

In den Schulen und an den Universitäten erleben wir das Wiederauferstehen des progressiven Lehrers der 1960er und 1970er Jahre, der mit dem Motorrad vor der Schule vorfuhr, mit Lederjacke und gepflegten langen Haaren, sich ständig mit den Autoritäten anlegte und immer lässig ein Büchlein von Alexander S. Neill bei sich trug. Diese Lehrertypen standen immer an der Seite der Schüler:innen, ließen sich gerne duzen und galten im Kollegium als unkonventionell. Unter der Oberfläche der rebellischen Fassade verbarg sich jedoch in der Regel ein braver Familienvater, der sozialdemokratisch wählte und den Katholikentag besuchte. Viele dieser politisch, sozial und vor allem emotional kastrierten James-Dean-Typen schlossen sich später den Grünen an, einer Partei, die, wenn es um substantielle Dinge wie Ausbeutung durch Lohnarbeit, Elitenherrschaft, imperialistische Kriegspolitik und kulturindustrielle Manipulation geht, völlig systemkonform agiert, in ihren programmatischen Äußerungen aber mit größtem Pathos ein Weltideal propagiert, in dem Mensch und Natur im harmonischen Einklang, wie in den Schäferidyllen der Romantik, zwanglos, ruhig und entschleunigt friedlich koexistieren. Diese naive Fantasie entspringt entweder dem schlichten Gemüt der handelnden Parteiexponent:innen oder ist eine ganz perfide und verlogene Kommunikationsstrategie von Politikberater:innen und PR-Strateg:innen, um leichtgläubige Menschen zur Stimmabgabe für die Ökopartei zu verführen.

In der realen Welt ist das menschliche Leben „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung der Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung“ (Nietzsche 2018: 61). Wer unter solchen Bedingungen, die vom Willen zur Macht aller Beteiligten geprägt sind, achtsam, mitleidig, solidarisch, vertrauensvoll und überströmend vor Liebe zu allen Menschen durch die Welt geht, hat eine gute Chance, am Ende tatsächlich zu den Opfern und Verlierer:innen des neoliberalen Konkurrenzsystems zu gehören und im Plattenbau Tür an Tür mit „Psycho Andreas“ aus der Sendung Frauentausch zu landen.

Die grünen Parteien waren immer dem „Wilden auf seiner Maschine“ ähnlich, einer Figur aus den Liedern des Wiener Kabarettisten und Schauspielers Helmut Qualtinger, der mit höchster Geschwindigkeit unterwegs ist, aber nicht weiß, wo er tatsächlich hinwill, dafür aber schneller dort sein möchte. Im wahrsten Sinne des Wortes war ihm der Weg das Ziel.

Wie die Grünen. Sie quellen über vor Emotionen, beschreiben theatralisch die gemeinschaftliche und nachhaltige Lebenswelt, die die Zukunft für uns bereithält; wie sie uns dort aber hinbringen wollen, erfahren wir nicht, weil sie dafür keinen Plan haben, ja, nicht einmal wissen, was und wo ihr Ziel ist und ob es das überhaupt gibt. Sie sind wie Utopist:innen, die sich selbst an ihren eigenen Idealen erhitzen, aber insgeheim nicht einmal selbst ehrlichen Herzens an ihre hochfliegenden Vorstellungen glauben.

Der Motor der grünen Maschine läuft durchgehend im höchsten Drehzahlbereich, nur bleibt er unverbunden mit dem Getriebe. Man hütet sich davor, den Gang einzulegen, weil man keine Ahnung vom Weg hat, der ins gelobte Land führt, und zudem nicht den Mut, das kapitalistische System, das die Grundursache aller Krisen unserer Zeit ist, infrage zu stellen.

Und selbst kleine Vorhaben, die man vielleicht im Stillstand erledigen könnte, werden in Kompromissen erstickt, die man bereitwillig mit bürgerlichen Parteien schließt, mit denen man im Spiel um die politische Macht koalieren muss, damit man die Bühne behält, von der herab man weiterhin die Fantasien vom gelobten Land predigen kann. Die Grünen wollen die Erlösung der Gesellschaft zum Diskontpreis, die Umwälzung der Verhältnisse ohne Anstrengung und Risiko, eine gerechte Gesellschaft, ohne sich mit den Verantwortlichen für Ungerechtigkeit und Ungleichheit in eine fundamentale Auseinandersetzung zu begeben.

Genau so ist der progressive Lehrer der kapitalistischen Aufschwung-Phasen gewesen, der jetzt groteskerweise in einer Abschwung-Phase als Grünen-Politiker wiederkehrt, eine antiautoritär und fortschrittlich gestylte Mogelpackung, die am Ende keine andere Funktion erfüllt, als die ungestümen und unangepassten Teile der Jugend in die systemtreuen linksliberalen oder grünen Weltverbesserungsbewegungen zu integrieren, die sich immer im Zustand des rasenden Stillstands befinden und dabei ständig so tun, als würden sie sich rasant auf das Ziel hinbewegen, an dem das gute Leben wartet.

Wenn Bildung nach der Logik der neoliberalen Erfolgsvorstellungen funktioniert, kann es den Lernenden nicht mehr um die Sache selbst gehen, um Inhalte, für die man „brennt“, es geht nur noch um günstige Gelegenheiten, bei denen man für möglichst wenig Aufwand die größte Zahl an ECTS-Punkten mitnimmt.

In den Jugendstudien der letzten 15 Jahre wurde diese sich schon damals abzeichnende neue Emotionslosigkeit und ideologische Abgeklärtheit als „Pragmatismus“ gefeiert. Eine pragmatische Jugend ist im Zeitalter des progressiven Neoliberalismus gerne gesehen, weil man keine Zwangsmittel anwenden muss, damit sie sich den Werten, Normen, Konventionen und Regeln des herrschenden Systems unterwirft. Sie hat die Prinzipien des Marktes und des Wettbewerbs bereits internalisiert.

Musste man die 1968er und ihre Nachfolger:innen noch auf der Straße deftig niederknüppeln, so hat der Mainstream der heute lebenden Jugend, vor allem die aus den bildungsnahen Schichten, das brave Mitmachen und Apportieren der Stöckchen gelernt, die die immer freundliche und positiv gestimmte Herrschaft ihnen wirft. Sie halten sich brav an das Achtsamkeits- und Schönsprech-Gebot der links-bürgerlichen Kommunikationseliten, ziehen sich die modischen Business-Klamotten an, die sie brav im Internet bestellen, wenn sie zur Prüfung gehen – auch die Omama freut sich über so viel affirmative Adrettheit –, und haben depressive Episoden, wenn sie nicht 14-tägig ihre akkurate zeitgeistige Einheitsfrisur vom Friseur ihres Vertrauens modellieren lassen können. Und was das Wichtigste ist, sie begehren nicht auf und stellen den gesellschaftlichen Status Quo, dem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zugrunde liegt, nicht infrage.

Dass man nicht zum Friseur gehen kann, ist offensichtlich tatsächlich die Einschränkung des Lockdowns, die der Generation Corona am meisten zu schaffen gemacht hat. Die Regierung hat die untergründig bebende Unzufriedenheit in den Jugendszenen gespürt und schnell die Friseurläden öffnen lassen. Hätte man damit noch einige Wochen länger gewartet, wer weiß, ob nicht gar eine revolutionäre Situation entstanden wäre.

Auch die weniger Pragmatischen, die noch einen Rest an Ehrgefühl und lebendiger Überzeugung in sich haben und die an den täglichen ideologischen Sermon von Individualismus, Selbstverwirklichung, Aufstiegsversprechen, Achtsamkeit und Nachhaltigkeit nicht mehr glauben, halten aus taktischen Gründen den Mund, weil sie sich keine Schwierigkeiten einhandeln und Nachteile in Kauf nehmen wollen. Und so ist die Generation Corona pflegeleicht, anpassungsfähig, immer konstruktiv und meistens freundlich.

Diese immerwährende Artigkeit kommt auch in der Demonstrationskultur der postmodernen Jugendbewegungen, nimmt man die linksradikale Antifa einmal aus, zum Ausdruck. Während die 1968er untergehakt als rhythmisierte Masse unter „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“-Rufen durch die Straßen hüpften und so den Kleinbürger:innen eher als militanter und entschlossener Kampfverband denn als um die Zukunft besorgte depressive Weltrettungsbewegung erschienen, sind die heutigen Jugendbewegungen bis zum Überdruss konstruktiv und gesprächsbereit. Während die 1968er wussten, dass der repressive bürgerliche Staat nur durch einen Machtkampf auszuhebeln ist, der auch konfrontativ auf den Straßen auszutragen ist, glauben die jungen Klimaschützer:innen unserer Tage, dass man mit einem ständigen besorgten Blick und vernünftigen Argumenten die Herrschenden dermaßen beindrucken kann, dass sie auf eine gemeinschaftliche und weltbewahrende Achtsamkeitspolitik umschwenken. Deshalb sitzen sie ja auch ständig mit den Staats- und Regierungschefs zusammen, gehen in den Büros der EU-Kommission ein und aus und nehmen unausgesetzt an irgendwelchen Versammlungen der UNO teil. Das Einzige, was ihnen das bringen wird, ist ein guter Job in der Politik oder in einem internationalen Konzern, wenn sie irgendeinem Lobbyisten in Brüssel positiv auffallen. Die Weltwirtschaft werden sie aber keinesfalls in ein nachhaltiges und sozial gerechtes Wunderland transformieren.

Es ist schon richtig, wenn da und dort immer wieder festgestellt wird, dass die neuen Jugendbewegungen wie Kreuzzüge erscheinen. Davon haben sie schon etwas an sich, wenn man beobachtet, wie die in nette und saubere „Casual Couture“ eingekleideten juvenilen Protestumzüge, in denen schul-kreative Transparente und Protesttäfelchen mitgeführt werden, die so aussehen, als wären sie gemeinsam mit engagierten Lehrer:innen und Dozent:innen im Unterricht angefertigt worden, an einem vorbeiziehen. Die jungen Menschen sind zwar freundlich lebensbejahend gekleidet und ab und an stimmen sie auch fast hitzige und herausfordernd klingende Protestchöre an, aber im nächsten Augenblick zeigen ihre Gesichter wieder den depressiv-besorgten Ausdruck von zukunftsbesorgten angepassten Lehrerlieblingen. Ja, die postmodernen Jugendbewegungen sind Opferbewegungen, die ihr kollektives Erscheinen in der Form von Opfermärschen pflegen, oder sie halten es zumindest für zielführend, sich als Opferinitiative zu inszenieren.

Überhaupt scheint heute jeder Protest nur mehr dann legitim und bemerkenswert zu sein, wenn gekränkte, beleidigte, verletzte, zutiefst in ihrer Ehre herabgewürdigte Menschen und Menschengruppen aufmarschieren. Und diese protestierenden Opfergemeinschaften empfinden sich zudem selbst nicht als materielle Macht, die an ihre eigene Stärke glaubt und ihr massives quantitatives und qualitatives Gewicht selbstbewusst in die Auseinandersetzung mit den Herrschenden in die Waagschale wirft, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verändern. Vielmehr sind die neuen Jugendbewegungen immer appellierende Bewegungen, die nicht fordern, sondern bitten und betteln. Die Folge ist, dass die führenden Exponent:innen der Bewegungen überall als Bittsteller:innen vorsprechen und ihre Anliegen, wie immer konstruktiv, vortragen. Denn man empfindet sich, selbst wenn hinter einem 100.000 Leute vor der Tür eines Ministeriums stehen, nicht als mächtig und stark, sondern sieht sich als Abordnung einer Gruppe von immer wieder ans Kreuz genagelten Gekränkten und Beleidigten.

Dieses Opferselbstverständnis führt dazu, dass niemals Aktionsformen entstehen, in denen junge Menschen im Bewusstsein ihrer Macht und Stärke im Kollektiv souverän und selbstbewusst auftreten. Gerne verstecken sich die Angehörigen der postmodernen Opferbewegungen in der Masse, und wenn sie in den sozialen Netzwerken auftreten, dann selten mit offenem Visier, sondern gut verborgen hinter der Anonymität eines Pseudonyms.

Das wichtigste Kriterium für den Erfolg der alten Arbeiterbewegung war, dass sie sich selbstbewusst als die aufsteigende Klasse gesehen hat, mit der die neue Zeit zieht. Niemals war die Arbeiterbewegung eine Opferbewegung. Bis zum letzten kleinen Gewerkschaftsfunktionär waren dort alle davon überzeugt, dass, auch wenn es immer wieder Rückschläge gibt, am Ende der Sieg der Arbeiter:innen stehen wird, weil er eine historische Notwendigkeit ist. Genauso wie der Sturz der herrschenden Klassen, der Eliten des alten Systems, als die notwendige Voraussetzung für einen Neubeginn gesehen wurde.

Die neuen Opferbewegungen haben nichts von diesem Selbstbewusstsein der alten Arbeiterbewegung. Ihnen fehlt auch der Sicherheit gebende verlässliche Zusammenhalt innerhalb der Bewegung. Eine Ansammlung von Individualist:innen kann keine stabile Gemeinschaft sein, in der sich die Einzelnen aufgehoben und getragen fühlen. Und so besteht die Kernstrategie des Handelns dieser Pseudobewegungen immer darin, sich mit den Herrschenden zu verbünden, um die eigenen Ziele zu erreichen. Darin gleichen sie den Nerds in der Schule, die nicht gegen den Lehrer aufbegehren, sondern im Gegenteil das Bündnis mit ihm suchen. Immer nur die Schwachen sind es, die die Starken dafür zu benutzen versuchen, dass sie stellvertretend für sie Auseinandersetzungen führen. Die, die sich stark fühlen, erledigen das selbst.

Und so suchen die neuen Opferbewegungen das Bündnis mit dem digitalen Kapital, mit den Herrschenden der Politik, mit den Gewerkschaften, den Generaldirektoren der internationalen Monopole, mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, mit allen denen, die die Eigenschaften haben, die ihnen fehlen, Selbstvertrauen, Rückgrat und Stärke.

Ein anderes Beispiel: Die Türk:innen, auch wenn sie Österreicher:innen oder Deutsche geworden sind, stehen mit Begeisterung zu ihrem Herkunftsland, und bei jeder Gelegenheit packen sie die türkische Fahne aus, während den mitteleuropäischen Bildungsbürger:innen Patriotismus und Nationalstolz als antiquiert gelten, den Linken unter ihnen sogar als politisch rechtsstehend, wenn nicht gar als rechtsextrem. Was vor allem den bildungsnahen Schichten bei Strafe der Ächtung und Ausschließung aus der Gemeinschaft der zivilisierten Menschheit verboten ist, bewundern sie insgeheim an den Migrant:innen, eine Art naturwüchsigen Nationalismus, der nicht einmal im Traum auf die Idee kommen würde, seine patriotischen Gefühle kritisch zu reflektieren. Wenn man sich fast nichts mehr spontan und mit dem Gefühl der Selbstverständlichkeit zu tun erlaubt, dann beginnt man jene insgeheim zu bewundern, die sich ein Leben ohne die ständige Kontrolle durch ein grausames, normopathisches, kollektives Über-Ich erlauben.

Die selbsterdrückende Reflexivität, die alles unter Verdacht stellt, was bisher selbstverständlich gedacht oder gesagt wurde, quält vor allem die bildungsnahen Schichten der Generation Corona, die Jugendlichen, die aus dem obersten Gesellschaftsdrittel kommen. Die Jugendlichen aus der Arbeiterund Mittelklasse haben einen weit weniger kritischen Zugang zum kulturellen Erbe, sowohl was überlieferte Lebensweisheiten, Weltbilder und Ideologien als auch ästhetische Formen und traditionelle Sprechakte betrifft. Im Gegenteil, sie finden die neuen Sprachnormen der linken Bourgeoisie grotesk, wenn sie zum Beispiel davon hören, dass man heute nicht mehr das Wort Muttermilch verwenden darf und stattdessen von der „Milch des Menschen“ zu sprechen hat, damit man die nicht kränkt, die von der weiblichen Elternrolle in die männliche gewechselt sind und ihr Kind stillen.

Das Verhalten von Schüler:innen und Studierenden auf ihrer Jagd nach ECTS-Punkten erinnert frappant an das Investitionsverhalten der Start-up-Kultur. Den Investor:innen ist es völlig egal, womit die Unternehmen, an denen sie beteiligt sind, ihr Geld verdienen. Hauptsache, sie verdienen es üppig und werfen hohe Renditen ab. Ist die Plattform, die Partnerschaften oder geile kurzfristige Dates vermittelt, genug wert, wird sie verkauft, um dann das Geld vielleicht in ein Medizin-Technik-Unternehmen zu investieren. Wichtig ist allein die Kohle, unwichtig, womit man sie verdient. Der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdaire MacIntyre würde sagen, hier wird nur mehr nach dem äußeren Gut entschieden, das inhärente Gute, die eigentliche Sache, ist völlig neutralisiert (vgl. MacIntyre 1995).

Interessant ist, dass auch viele Angehörige der Generation Corona ihre Studien- und Berufswahl nach der neoliberalen Logik treffen. Es wird nicht das Fach gewählt, für das man sich am meisten interessiert, sondern jenes, in dem die späteren Verdienstmöglichkeiten am höchsten sind. Ein Trend, den man jetzt auch schon unter Auszubildenden finden kann, wie Berufsberater:innen erzählen. Begeistert man Schüler:innen zum Beispiel für einen Lehrberuf im Gesundheitswesen, so schwenken sie, nachdem man ihnen einen Überblick über den Monatsverdienst aller Ausbildungsberufe gegeben hat, auf die lukrativeren Branchen um. Die Logik des neoliberalen Materialismus hat alle Schichten und Milieus der Gesellschaft ergriffen. Es zeigt sich, dass die von Gilles Deleuze schon in den 1980er Jahren getroffene Feststellung zutrifft, dass der Neoliberalismus wie ein Gas funktioniert, das in alle Poren der Gesellschaft eindringt und binnen kürzester Zeit allen Institutionen, von der Familie über die Politik bis zu den kommunalen Einrichtungen, seine Prinzipien aufzwingt (vgl. Heinzlmaier 2013).

Der Neoliberalismus „geht viral“, wie man heute holprig sagt, und verhält sich wie das gefürchtete Corona-Virus. Wenn zum Beispiel ein Lehrer vom neoliberalen Virus befallen ist und die persuasiven Fähigkeiten zum „Superspreading“ besitzt, so kann er in einem Schuljahr hunderte Schüler:innen anstecken. In der Regel ist bei allen Befallenen der Krankheitsverlauf ein schwerer. Sie verlieren völlig den Respekt vor humanistischen Werten, Traditionen, Kulturgütern, Gemeinschaftseinrichtungen, sozialen Initiativen. Was für sie zählt, ist am Ende immer nur der individuelle Erfolg, das persönliche Image, das Einkommen, der demonstrative Konsum.

Die postmoderne Start-up-Kultur, in der man, aus Mangel an kultureller und humanistischer Bildung, über „schöpferische Zerstörung“ und „Disruption“ vor sich hin salbadert, diese hohle markttotalitäre Gesinnungsgemeinschaft, auch sie ist ein Teil der Generation Corona. An ihr zeigt sich, dass das allgemeine Gerede über „die Jugend“ völlig verfehlt ist. Auch die pathetische Rede von der Jugend, „die unsere Zukunft ist“, liegt weit daneben. Mit der Start-up-Kultur sehen wir einen veränderungsaggressiven Teil des Jugendsegments, der nicht unsere Zukunft ist, sondern unser Untergang, weil er der Gesellschaft alles das entzieht, was eine Zivilisation ausmacht: Solidarität, Toleranz, soziale Empathie, das Streben nach Gerechtigkeit, den Kampf gegen soziale Ungleichheit und den Respekt vor dem kulturellen Erbe, das von den Vorfahr:innen weitergegeben wurde. Wir haben heute zurecht Angst vor dem Corona-Virus. Aber zu unserem Glück gibt es dagegen eine Impfung. Ein Gegenmittel, um das Virus des Neoliberalismus zu stoppen, ist noch nicht gefunden.

Das wichtigste und bedeutendste Projekt, dass jetzt in den Schulen und auf den Hochschulen läuft, ist das der Entpolitisierung und Entdemokratisierung von Forschung und Lehre. Schulen und Universitäten werden gerade zu Lernfabriken umgebaut, in denen das neoliberale Denken unumschränkt herrscht. Es dominiert auch in den auf den ersten Blick gesellschaftskritisch erscheinenden Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Diese werden von der geschickt getarnten Variante des Neoliberalismus gelenkt, dem progressiven Neoliberalismus, den wir bereits anhand des Beispiels Amazon kennengelernt haben.

Nach der Ideologie des progressiven Neoliberalismus darf die universitäre Lehre und Forschung zwar links und progressiv sein, aber nur in Themenbereichen, die die wirtschaftlichen Grundlagen des herrschenden Systems nicht kritisch infrage stellen. So dürfen Schüler:innen, Studierende und Hochschullehrer:innen sich gerne gegen den Klimawandel, den grassierenden Rassismus und Sexismus und einzelne Facetten des Postkolonialismus engagieren, weniger gern gesehen wird aber, wenn sie gegen das ausbeuterische Großkapital, die hemmungslos gierigen Börsenspiele des Finanzkapitals oder gar die arbeitnehmer:innen- und gewerkschaftsfeindlichen Praktiken des digitalen Kapitals und großer Handelsketten, Mobilitätsanbieter und Lieferdienste auftreten.

Die soziale Ungleichheit und das immer größer werdende Machtgefälle zwischen den reichen und superreichen Tycoons aus dem Silicon Valley, den Finanz- und Start-up-Investoren, den Medien- und Industriemagnaten und den organisch mit ihnen verbundenen Beratungsunternehmen wird geflissentlich von der progressiv-neoliberalen Universitätselite nicht thematisiert, könnte man doch sonst das eine oder andere gewichtige Drittmittelprojekt verlieren. Denn das Finanz- und Investmentkapital kann sich heute alles und jede:n kaufen, wie immer es will, sind doch in Zeiten der Überakkumulation des Kapitals mehr liquide Mittel da als lukrative Investitionsmöglichkeiten.

Der Neoliberalismus ist deshalb so gefährlich, weil er die Eigenschaft der Wandelbarkeit des Baldanders besitzt, einer Figur aus dem Simplicissimus von Grimmelshausen. Der Baldanders kann jede ihm beliebige Form annehmen. Die eines Menschen, einer Sau, einer Bratwurst, eines Kleefeldes, eines Kuhfladens, einer Blume, eines Zweiges, eines Wandteppichs und vieler anderer Wesen und Dinge. Die Abbildung des Baldanders zeigt eine Momentaufnahme des sich in ständiger Transformation befindlichen Wandelwesens. Die abgebildete Gestalt trägt den Kopf eines Satyrs, hat den Oberkörper und die Arme eines Menschen, die Flügel eines Vogels und den Schwanz eines Fisches.

Ebenso verhält sich das neoliberale Kapital. Zumindest seine intelligenten Teile führen keine ideologischen Auseinandersetzungen mehr mit politischen Gegner:innen, entziehen sich der für sie unproduktiven ideologischen Debatte zwischen Links und Rechts. Anstelle dessen tritt man entweder gleich selbst in der Rolle des linken Kritikers auf, siehe das flüchtlingsfreundliche Inserat von Amazon in der FAZ, oder man kauft sich Symbolfiguren der Linken ein.

In der Praxis bedeutet das zum Beispiel, dass man einen grünen oder sozialdemokratischen Spitzenpolitiker engagiert, wie das in Deutschland mit Joschka Fischer geschah, der nach seinem Ausscheiden aus der Politik als Berater von Siemens, BMW oder RWE auftrat, alles Konzerne, deren Agieren nicht unbedingt auf den ersten Blick als kompatibel mit grüner Wachstumskritik und Energiepolitik erscheint.

Oder Gerhard Schröder, der heute Aufsichtsratschef des russischen Energiekonzerns Rosneft ist. Die frühere Vorsitzende der österreichischen Grünen Eva Glawischnig heuerte gleich bei einem der größten Glücksspielkonzerne Europas, der Novomatic, an, während sich fast gleichzeitig ihre Partei stolz dafür selbst auf die Schulter klopfte, dass sie gemeinsam mit den Sozialdemokrat:innen das kleine Glücksspiel in Wien abgeschafft hatte und so dafür sorgte, dass sämtliche Novomatic-Spielhöllen zusperren mussten.

Aber auch ideologisch zeigen sich die internationalen Konzerne und Monopole wandlungsfähig und vielgestaltig, wenn es um ihre Profitinteressen geht. Gerne beteiligt man sich an Initiativen gegen Rassismus, Sexismus und Neokolonialismus, weil man so ein liberales, tolerantes und weltläufiges Image aufbauen kann, das die „Performance“ der Marke verbessert, linksliberale Investor:innen und grüne Politiker:innen gewogener macht und sich damit so manche Tür zu den äußerst rentablen Public-Privat-Partnership-Projekten leichter öffnet.

Das antisexistische und antirassistische Engagement kommt darüber hinaus auch noch überwiegend den Angehörigen der Elite zugute, den Leuten aus dem oberen Gesellschaftsdrittel, denn von dort kommen die rassistisch oder sexistisch Benachteiligten, die dann in Vorstände, Aufsichtsräte oder andere Spitzenpositionen der Wirtschaft aufsteigen dürfen oder begehrte Professuren an Universitäten und Leitungspositionen in Exzellenzclustern bekommen. Betrachtet man nämlich die Nutznießer:innen der Förderprogramme für benachteiligte Gruppen, so sind viele von ihnen tatsächlich mehrfachbenachteiligt, aber weisen kaum einen Mangel an ökonomischem und Bildungskapital auf. Förderprogramme für Benachteiligte dieser Art dienen nicht selten der Bevorzugung von Botschafterkindern mit Universitätsabschluss oder Kindern aus Künstler:innen- und Hochschullehrer:innen-Familien.

Die Frauen, PoC und Migrant:innen, die bei Lieferdiensten und Gebäudereinigungsunternehmen arbeiten müssen und dort einem rigiden Kontrollsystem ausgesetzt sind, von den Vorarbeiter:innen hemmungslos angetrieben werden, Mindestlöhne beziehen und sich nicht gewerkschaftlich organisieren dürfen, weil die Betriebsleitung das nicht will, profitieren von der „progressiv-neoliberalen“ Politik wenig. Sie bleiben weiter „doppelt freie“ Lohnarbeiter:innen. Das heißt, sie dürfen in Ausübung ihrer bürgerlichen Freiheitsrechte zwar auf Klimademonstrationen gehen – natürlich nur, wenn sie sich Urlaub nehmen –, gleichzeitig müssen sie, weil sie über keine Produktionsmittel verfügen, ihre Arbeitskraft als Lohnsklav:innen an Tesla, Google oder Lieferando verkaufen. Zum Kampf gegen das erniedrigende Lohnarbeiter:innenschicksal der Unterklassen haben sich in den letzten Jahren keine Massendemonstrationen ereignet. Offenbar ist die Solidarität der führenden Aktivist:innen der Klima-, Frauen- und Antirassismus-Szene mit den klassenverwandten Eignern und Managern des digitalen und des Finanzkapitals größer als ihre Verbundenheit mit den ausgebeuteten Lohnsklav:innen.

Eine interessante Konstellation. Die progressiv-neoliberale Jugend des Bildungsbürgertums hält herzzerreißende Demonstrationen ab, um die gesamte Menschheit vor der Klimakatastrophe zu retten, ordert aber weiter bei Amazon und Zalando Bücher und Schuhe und bestellt sich die Pizza beim Lieferservice, der die Fahrer:innen bei Regen und Kälte auf den von ihnen selbst gestellten Fahrrädern für einen Stundensatz von 5 Euro durch die Stadt fahren lässt, gehetzt von einer Software, die ihre Effizienz misst und die Schnellen belohnt und häufiger zum Zug kommen lässt und mit besseren Touren bedient als die langsamen Versager:innen. Solidarität unter den Fahrer:innen, die dem ausbeuterischen Arbeitgeber gefährlich werden könnte, kann unter solchen Bedingungen natürlich kaum entstehen.

Häufig zeigt sich, dass Moralist:innen und Weltretter:innen in so großen Dimensionen, pittoresken Vorstellungen und wirklichkeitsfremden Abstraktionen denken, dass sie die Lebensrealitäten der ameisenkleinen Massenmenschen, die auf Gottes Erdboden notleidend und armselig dahinkriechen, nicht mehr wahrnehmen können.

Generation Corona

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